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Ein ganz bestimmtes jährliches Ereignis nähert sich unaufhaltsam...
Dafür vergebene Note: 12
1. Dezember, Jahr der Garnele, kurz nach Mitternacht
Papier raschelte leise, als Araghast Breguyar das vorletzte Blatt von seinem Tischkalender trennte und es in den überquellenden Papierkorb fallen ließ. Seufzend lehnte sich der Oberfeldwebel in seinem Schriebtischstuhl zurück und griff nach dem halb vollen Rumglas. Langsam ließ er die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Gefäß kreisen und betrachtete das Farbspiel im Schein der trübe brennenden Öllampe. Durch das Fenster schien der gerade über den Dächern der Stadt aufgegangene Halbmond ins Zimmer.
Araghast setzte das Glas an seine Lippen und trank einen kleinen Schluck, während er seinem schlechten Gewissen einen mentalen Tritt verpasste. In dieser Nacht hatte er sich das Extraglas verdient.
War Venezia Knurblichs freiwilliger Rücktritt wirklich schon ein Jahr her? Von einem Tag auf den anderen hatte der Kommandeur ihn, Araghast Breguyar, auf den Abteilungsleiterposten geschoben. Für den Oberfeldwebel war es einem Sprung in eiskaltes Wasser gleichgekommen. Plötzlich war er seine Püschologenstelle los und allein für die Koordination eines Sackes wildgewordener Geziefer gewesen. Araghast blickte aus dem Fenster über die Dächer der Zwillingsstadt Ankh-Morpork. Er hatte nie darum gebeten, Abteilungsleiter zu werden.
Letztendlich verhielt es sich mit der Wache wie mit der Mannschaft eines Segelschiffes. Araghast war lang genug zur See gefahren, um gewisse Prinzipien der Hierarchie an Bord verinnerlicht zu haben. Doch seine Versuche, dieses Schema auf seine Abteilung zu übertragen, waren nicht auf allzu fruchtbaren Boden gefallen. Immer wieder gab es jemanden, der der Meinung zu sein schien, überall seinen Senf hinzugeben zu müssen und im entscheidenden Moment Befehle in Frage zu stellen. Die Aufgabe, all die kleinen Egomanen und Möchtegernhelden der Abteilung dazu zu bringen, an einem Strang zu ziehen, glich der, einem Trampolinspringer während des Hüpfens das Filethäkeln beizubringen.
Araghast trank einen weiteren Schluck und stellte das Glas auf dem Romanheft ab, das vor ihm lag. Der Stuhl ächzte leise, als der Oberfeldwebel sich erhob und einen Rundgang durch sein Büro begann. Vor einem offenen Regal neben der Tür blieb Araghast stehen und ließ seinen Blick über die Regale wandern. Jeder Gegenstand, der dort im Halbschatten lag, erzählte seine eigene Geschichte von mittlerweile dreieinhalbjähriger Wache-Zugehörigkeit.
Sigmund Leids Phänomenomenologie des Geistes und Erich von Nichtsfjords Die 100 größten Verschwörungen der Scheibenwelt standen einträchtig neben einem schmalen Band namens Ein Silvesterlied in Prosa. Als er den nächsten Gegenstand betrachtete, musste Aragast unwillkürlich schmunzeln. Ohne Inhalt wirkte das gnomengroße Taubenkostüm, als hätte ihm jemand die Luft herausgelassen. Doch im nachhinein empfand Araghast die Idee hinter der Verkleidung als gar nicht einmal so schlecht. Doch leider hatte sich der Gefreite Übrigens bei der Erprobung der Tarnung zu nahe an einen hungrigen Wasserspeier herangepirscht, welcher in dem verkleideten Gnom ein lohnendes Mittagessen gesehen hatte. Das Resultat waren ein leicht ramponierter GiGa in Ausbildung, eine angeätzte Wasserspeierzunge und eine enttäuschte Rogi Feinstich gewesen, die sich bei der Herstellung des Kostüms nicht unbeträchtliche Mühe gegeben hatte. Nun ruhte die sogenannte Kamikaze-Ente, wie Araghast die Verkleidung insgeheim getauft hatte, ungenutzt im Erinnerungsregal des Abteilungsleiterbüros, denn Übrigens weigerte sich hartnäckig, ein zweites Mal die Taube zu spielen.
Das Licht der Öllampe flackerte leicht, als Araghasts Blick an einer dicken Akte hängenblieb. Beinahe zärtlich nahm der Oberfeldwebel das mit einer Juteschnur zusammengehaltene Papierbündel aus dem Regal und trug es zum Schreibtisch. In wenigen Tagen würde er diese Akte wieder brauchen, wie in jedem Jahr zwischen dem sechsten und dem dreizehnten Dezember. Als er seine Püschologenstelle abgeben musste, waren alle übrigen Fallakten zu Nyvania und Venezia gewandert, von wo aus sich nun die Püschologen der Abteilung RUM bedienten, da sich Nyvania für ein Jahr vom Dienst hatte befreien lassen und Venezia Knurblich schon für längere Zeit nicht mehr im Wachhaus erschienen war. Nur diese eine Akte hatte Araghast sich geweigert, herauszurücken. Dies war sein Fall. Er hatte diese püschologische Untersuchung begonnen und kein Püschologe der Scheibenwelt konnte ihm diese Jahr für Jahr fortgeführte Ermittlung nehmen.
Araghast trat um den Schreibtisch herum und nahm auf seinem Stuhl Platz. Er allein wusste, wie es sich anfühlte, wenn zwei verschiedene Seiten einer Persönlichkeit im Körper um die Vorherrschaft kämpften. Diese zweite Seite seines Selbst schien beizeiten ein eigenes Bewusstsein auszubilden. Mit Grauen erinnerte sich Araghast an die Zeit, in der er nicht in der Lage gewesen war, sein anderes Ich unter Kontrolle zu haben. Es hatte sich angefühlt wie eine Abart der Besessenheit.
Nachdenklich trank der Oberfeldwebel einen Schluck Rum, während sein Auge über die Akte schweifte. Die Person, von der die im Laufe der Jahre immer weiter gewachsene Berichtesammlung handelte, erschien nur für exakt eine Woche im Jahr, und verschwand für den Rest der Zeit spurlos in den Tiefen der Seele ihres Wirtskörpers. Araghast hatte alles getan, um den Grund für dieses regelmäßige Erscheinen herauszufinden. Er hatte dienstältere Wächter befragt, das Archiv gewälzt und bei seinen Untersuchungen sogar nicht davor zurückgeschreckt, Aussagen der Rohrpostdämonen aufzunehmen. Doch nichts hatte in irgendeiner Form Licht in das Dunkel gebracht.
"Wer weiß." sagte der Oberfeldwebel zu sich selbst. "Vielleicht werde ich ja dieses Jahr endlich etwas schlauer, was dich betrifft."
Und zum wiederholten Male las er im flackernden, trüben Licht der Öllampe den Namen, der in seiner eigenen kräftigen, ungelenken Handschrift auf dem abgenutzten Deckel der Akte geschrieben stand.
Weihnachtsras
Nur zu gut erinnerte sich Araghast an die SUSI-Kommandos, die an jedem Morgen der betreffenden Woche des vergangenen Jahres sämtliche Kaffeemaschinenfüllungen und Kantinengerichte akribisch auf Knollenspuren untersucht hatten, bevor sie sie schließlich zum Verzehr für die Wächter freigaben. In jeder Nacht hatten die FROGs in zwei Schichten im Wachhaus Wache gestanden, ausgerüstet mit Signalhörnern, um im Notfall die gesamte anwesende Belegschaft zu alarmieren.
Doch nicht auch nur der Zipfel der roten Mütze des Weihnachtsras hatte sich gezeigt.
Nach drei ereignislosen Tagen war eine schleichende Paranoia ausgebrochen, welche sich mit jedem Tag steigerte, und alle Wächter hatten den großen Endschlag am Abend des Dreizehnten erwartet.
Am folgenden Morgen war die Tür des Kommandeursbüros aufgeschwungen und Kommandeur Rascaal Ohnedurst, korrekt wie eh und je, war herausgetreten und hatte die Abteilungsleiter zur üblichen, wöchentlichen Besprechung befohlen.
Wo bei allen Göttern und Dämonen hatte der Weihnachtsras die ganze Woche über gesteckt?
Die knochigen Hände des Oberfeldwebels schlossen sich um die Lehnen seines Stuhles. Vor zwei Jahren hatte Johann Zupfgut die Weihnachtsras-Woche ausgenutzt, um seine Rachegelüste gegenüber dem Kommandeur zu befriedigen. Ob diese Geschichte etwas mit dem Ausbleiben der ausschließlich in Reimen sprechenden Gestalt mit der roten Mütze im vorigen Jahr zu tun hatte?
Es gab so viele Fragen und so wenige Antworten. Einige seiner Kollegen hatten sich, als Araghast das Gespräch auf das zweite Selbst des Kommandeurs gebracht hatte, ziemlich seltsam benommen. Fähnrich Picardo zum Beispiel war kreidebleich geworden und hatte sich hastig entschuldigt. Der Oberfeldwebel runzelte die Stirn. Mit Robin Picardo hatte er sowieso noch eine Rechnung offen und er gönnte ihm die offensichtlich tief sitzende Furcht vor dem Weihnachtsras herzlich.
Doch um den Fähnrich, der es gewagt hatte, ihm einen Assassinen auf den Hals zu hetzen, würde er sich später kümmern. Der Fall Weihnachtsras hatte in den nächsten beiden Wochen oberste Priorität.
"Wenn ich nur wüsste, was in deinem rotbemützten, knollenbenebelten Schädel vorgeht." murmelte Araghast beinahe unhörbar und griff nach einer dünnen Akte, die zuoberst auf dem sich gefährlich neigenden Stapel nahe der Schreibtischkante lag. Das Protokoll des Bewerbungsgespräches mit Esus von Tara hatte schon längst zum Kommandeur gemusst, und anstatt Reggie zu bemühen, konnte er es genausogut auch selbst vorbeibringen. Nachdem er sich mit einem weiteren Schluck aus seinem Glas gestärkt hatte, trat der Oberfeldwebel aus seinem Büro hinaus in den dunklen Korridor. Finsternis umfing ihn, als er die Tür des Zimmers schloss.
Araghast mochte die Dunkelheit nicht aufgrund irgendwelcher romantischer Vorstellungen. Er schätzte die Abwesenheit von Licht vielmehr für die Tatsache, daß es sich ohne ablenkende optische Reize einfach viel besser nachdenken ließ. Und es gab eine Menge von Dingen, über die er gründlich nachdenken musste.
Zuallererst gab es das allgegenwärtige Problem der unausgebildeten Abteilungsmitglieder. Die Hälfte der Abteilung befand sich zur Zeit in Ausbildung, zwei davon schon seit über einem halben Jahr. Harrys Bemühungen, sich in einer Stelle mit mehr persönlichem Kontakt zu seinen Mitwächtern zu behaupten, hatten schon beinahe etwas rührendes und tief in seiner Seele konnte er dem kleinen Gnom nicht einmal böse für sein fortwährendes Versagen bei den praktischen Übungen sein. Halbtag Baumfellerson hingegen war ein Fall für sich. In vierundzwanzig Tagen lief das Ultimatum, das der Abteilungsleiter ihm für das Beenden seiner Ausbildung gestellt hatte, aus, und Araghast hegte nur wenig Hoffnung, daß der Möchtegernheld von einem Zwerg noch einmal auf einen grünen Zweig kam. Und das, obwohl die Abteilung derzeit sowieso unter akuter Unterbesetzung litt.
Mit seinem scharfen Gehör lauschte der Oberfeldwebel den Hintergrundgeräuschen des Wachhauses, die ihm mittlerweile dermaßen vertraut waren, daß er sie für gewöhnlich kaum noch wahrnahm. Zwei Stockwerke unter ihm klappte eine Tür und die Stimme eines männlichen Wächters rief eine abfällige Bemerkung über die Dienste der dämonenbetriebenen Kaffeemaschine.
"Was trinkst du das Zeug auch, Ignatius?" antwortete eine weibliche Stimme.
"Kaffee ist ein essentieller Bestandteil des Lebens als Wächter, und wie sagte mein werter Landsmann Eurystidikles so schön: Trinke, was immer du im Augenblick benötigst, denn nur so wirst du bereit für die schweren Aufgaben sein, die das Leben dir stellen wird."
"War das jetzt Philosophie?"
"Nur die elementare Logik des Lebens. Ist dir kalt, so zünde dir ein Feuer an. Wird das Wasser knapp, suche dir einen Duschpartner."
"Danke, ich kann gut genug alleine duschen."
Noch einmal Rekrut sein... Araghast seufzte leise, als die beiden zum nächtlichen Tresendienst verdonnerten Wächter weiter über Nichtigkeiten diskutierten. Als Rekrut wurde man zwar an der kurzen Leine gehalten und durfte bestenfalls in Nichtigkeiten ermitteln, doch besaß man herrlich wenig Verantwortung. Niemand verlangte von einem, eine Abteilung zu leiten, von deren Spezialisierungsfähigkeiten man so gut wie gar keine beherrschte und der schlimmste Gegner dem man gegenüberstand hieß Frau Willichnicht. Für einen Augenblick sehnte sich Araghast beinahe in das Wachhaus an der Kröselstraße mit dem dort vorherrschenden Pastellfarbenverbot zurück. Letztendlich war es eine herrliche Zeit gewesen, voller Neugierde auf das was sie im Wacheleben erwarten würde, langen Abenden im Eimer, dem Schließen erster Freundschaften, und dem Gefühl, daß alle Rekruten irgendwie zusammengehörten. Jetzt, als Oberfeldwebel und Abteilungsleiter, stand er allein da. Er hatte die Abgründe, die hinter jeder Straßenecke Ankh-Morporks lauerten, kennengelernt. Einige der unteren Ränge fürchteten ihn, und seine hin und wieder unkontrollierten Wutanfälle, in denen er im Extremfall sogar mit Gegenständen nach seinen Untergebenen geworfen hatte, trugen auch nicht gerade dazu bei, seine Sympathiewerte zu steigern.
Mit einem metaphorischen schmerzhaften Stich in der Brust erinnerte sich Araghast daran, früher anders gewesen zu sein. Zu GRUND-Zeiten hatte er als ruhig und besonnen gegolten und war sinnloser Gewalt eher abgeneigt gewesen. Doch dreieinhalb Jahre Wachedienst und die Erweckung seines inneren Vampirs hatten ihn zu dem gemacht, was er heute war. Ein chronisch schlecht gelaunter, zynischer Mann mit einem Hang zur Schnapsflasche, der Freude an fiesen Tricks und cleveren Manipulationen hatte und der, wenn die Situation es erlaubte, auch gern einmal mehr zuschlug, um die unterdrückte Wut auf seine verfluchte Existenz und die Scheibenwelt im Allgemeinen überhaupt herauszulassen.
Wenn dieser verdammte Vampir nicht wäre... Zwar saß der gnadenlose Seelenjäger in einem mentalen Gefängnis tief vergraben in Araghasts Bewusstsein, doch nichtsdestotrotz existierte er.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus begann sich Araghast zu fragen, wie es sich mit dem Weihnachtsras verhielt. Genau wie sein eigenes vampirisches Erbe darstellte, was er selbst nicht war, konnte der Weihnachtsras für das genaue Gegenteil der Persönlichkeit Kommandeur Ohnedursts stehen. Und wie sein eigener innerer Vampir drängte er in regelmäßigen Abständen an die Oberfläche, der ständigen Unterdrückung müde, und übernahm den untoten Körper des Kommandeurs. Wo Rascaal Ohnedurst in den Augen der meisten Wächter den Inbegriff der Korrektheit verkörperte, stand der Weihnachtsras für das ultimative Chaos.
Araghast atmete tief durch und lauschte an der Tür des Kommandeursbüros. Nicht das leiseste Geräusch drang von jenseits der Tür an seine Ohren.
Der Oberfeldwebel klopfte an.
Die Zeit schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen. Sandkorn für Sandkorn rieselte sein Leben durch den engen Hals des Stundenglases, welches seinen Namen trug. Doch nichts regte sich hinter der dunklen Holztür.
Was soll es, verdammt, ging Araghast durch den Kopf. Letztendlich habe ich einen guten Grund, hierzusein. Die Akte wäre schon lange fällig gewesen und ich habe schlichtweg keine Lust, von einem schlechtgelaunten Reggie mit Wurstpellen beworfen zu werden, nur weil ich nach zehn Uhr noch eine Aktensendung habe.
Er legte seine Hand auf die Türklinke und drückte sie vorsichtig herunter.
Kaum, daß er die Tür des Kommandeursbüros einen Spaltbreit geöffnet hatte, kitzelte ihn der Hauch eines wahrhaft abstoßenden Geruches in der Nase. Araghast verzog das Gesicht und schüttelte wieder einmal den Kopf darüber, wie jemand ein derart widerliches Gemüse freiwillig zu sich nehmen konnte. Zu Anfang seines B-Wort-Entzuges hatte Araghast die intelligente Rote Beete einmal selbst ausprobiert, sicherheitshalber in einer Kabine des Aborts. Er war froh gewesen, daß sich die Würgekrämpfe nach einer halben Stunde wieder gelegt hatten und er immer noch lebte.
Auf leisen Sohlen trat Araghast ins Zimmer und ließ seinen Blick wachsam im Raum umherschweifen. Durch das geöffnete Dachfenster fiel das Mondlicht auf einen ziemlich mitgenommen aussehenden Schreibtisch. Dunkle Flecken zierten die Tischplatte und mehrere U-förmige Dellen erweckten den Eindruck, als ob jemand einige Male aus großer Höhe mit Stiefeln auf das Möbelstück gesprungen war. In einer dunklen Ecke des Raumes waren die Umrisse eines Weinfasses zu erkennen.
Einer plötzlichen Idee folgend durchquerte Araghast das Büro und klopfte mehrmals auf den Deckel des Fasses.
"Ist jemand zu Hause?" fragte er.
Niemand antwortete ihm.
"Oberleutnant Knurblich!" versuchte er es noch einmal und hockte sich schließlich deprimiert auf das Fass. Das letzte Mal hatte er Venezia Knurblich vor beinahe einem Dreivierteljahr im Wachhaus gesehen. Seitdem war die rothaarige, temperamentvolle Gnomin einfach verschwunden. Vermutlich wohnte sie nicht einmal mehr hier im Büro ihres Freundes Rascaal Ohnedurst. Araghast seufzte leise. Trotz der häufigen Meinungsverschiedenheiten die sie gehabt hatten, und dem oft recht herrschsüchtigen Wesen des Oberleutnants, vermisste er Venezia. Sie hatte für ihn immer zum Urgestein der Wache gehört und trotz ihrer Abneigung gegenüber Papierkram die Frösche mit fester Hand geführt.
Während er an Venezia Knurblich, Würstchenflecken auf seiner Uniform und tagelange Halbtaubheit infolge lautstarken Gebrülls von seiner Schulter aus dachte, begann Araghast sich zu fragen, ob er wirklich einen guten Abteilungsleiter abgab. Es war schwer genug gewesen, das Erbe von Venezia, Humph MeckDwarf und nicht zuletzt Rascaal Ohnedurst anzutreten, und rückblickend hatte er sich so manches Mal nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Zudem wurde er das unbestimmte Gefühl nicht los, von Kommandeur Ohnedurst besonders beobachtet zu werden. Mit seinem nicht mehr schlagenden Herzen hing der alte Knollensauger vermutlich immer noch stark an der Abteilung, die er vor vielen Jahren gegründet hatte.
Unwillkürlich blickte der amtierende Abteilungsleiter der Freiwilligen Retter Ohne Gnade nach oben zu dem massiven Balken, der sich ein Stück über der Kopfhöhe eines menschengroßen Wesens quer durch den Raum spannte.
Rascaal Ohnedurst. Früher oder später landeten seine Gedanken immer wieder bei der gespaltenen Püsche des Kommandeurs. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen bildete sich der Oberfeldwebel ein, zumindest ein limitiertes Verständnis der vampirischen Püsche zu besitzen, doch was hinter der Stirn des Kommandeurs vorging war und blieb ihm größtenteils ein Rätsel. Araghast gab sich einen inneren Ruck und sprang vom Fass. Nachdenklich wanderte er zum Schreibtisch herüber und legte die Akte auf den Tisch, möglichst weit entfernt von jeglichen Knollensaftflecken.
Ein Geräusch von oben ließ ihn zusammenschrecken und seine Hand glitt beinahe automatisch zum Griff des Dolches, der in seinem Stiefelschaft steckte. Als er aufblickte, sah er einen Schatten mit geschmeidigen Bewegungen zum Fenster herein auf den Balken und schließlich auf den Schreibtisch springen. Mit aufeinandergepressten Lippen und gesträubten Nackenhaaren wich Araghast zurück, als der weiße Kater mit der schwarzen Schwanzspitze den Rücken sich gemächlich auf der Tischplatte niederließ und seine Pfoten zu lecken begann. Normalerweise fürchtete er sich nicht vor Katzen. Doch die Art und Weise, auf die ihn das Haustier des Kommandeurs anfunkelte und die im Mondlicht aufblitzenden scharfen Fangzähne im Mund des Katers machten ihn mehr als nur nervös.
"Ich bin ja schon weg." murmelte Araghast und schlüpfte durch die Tür nach draußen auf den Flur. Erleichterung durchströmte ihn, als das Schloss einschnappte. Wieder zurück in seinem Büro griff er sein Rumglas und stürzte den Inhalt in einem Zug herunter. Anschließend blickte er aus dem Fenster über die Dächer der Stadt.
Eigentlich war es absurd. Es konnte bei Tieren gar nicht funktionieren. Ansonsten müsste jeder von Leopold von Leermachs ausgesaugten Hasen mit angespitzten Nagezähnen und von innen heraus leuchtenden Augen nachts auf der Suche nach Opfern durch die Stadt hoppeln. Irritiert schüttelte der Oberfeldwebel den Kopf. Das Glühen in den Augen des Katers war bestimmt nur durch das einfallende Mondlicht entstanden. Und Katzen besaßen als Fleischfresser nun einmal scharfe Eckzähne.
Einen leisen Fluch in überwaldianischer Sprache ausstoßend ließ sich Araghast in seinen Schreibtischstuhl fallen und zog die unterste Schublade des Tisches auf. Er zog den Korken mit den Zähnen aus dem Flaschenhals, spuckte ihn auf die Tischplatte und trank.
Nach drei kräftigen Schlucken hatte er es schließlich geschafft, sich die Idee der Existenz von Vampirkatzen auszureden und war bereit, sich wieder seinem ursprünglichen Problem zu widmen. Er stellte die Flasche neben sich auf den Tisch und zog die Akte Weihnachtsras zu sich heran.
Vielleicht hatte er auch in diesem Jahr wieder Glück und es geschah nichts. Doch wenn ein zweiter Zwischenfall von den Ausmaßen der Zupfgut-Krise auftreten sollte, hatte FROG dem Lauf der Dinge kaum etwas entgegenzusetzen. Araghast biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Irgendwie würden sie es schon schaffen. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sowohl den Wächtern als auch dem Weihnachtsras in der kritischen Woche nichts zustieß. Er war der Püschologe, der Regulator, der einzige der jemals einen ernsthaften Versuch unternommen hatte, das Phänomen Weihnachtsras tiefer zu ergründen. In seinem Kopf existierte eine genaue Liste von Fragen, die er dem zweiten Ich des Kommandeurs gern einmal gestellt hätte.
"Wer weiß." sagte er zu sich selbst, während er mit einem seiner Dolche die Schnur durchtrennte, welche die Akte zusammenhielt. "Eines Tages werden wir uns vielleicht begegnen, du und ich. Und dann bekomme ich vielleicht endlich heraus wer, beziehungsweise was du bist, Weihnachtsras."
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