Der Kuß der Muse

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von Oberleutnant Venezia Knurblich (FROG)
Online seit 01. 04. 2005
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Inmitten einer stürmischen Gewitternacht wird das Bereitschaftsteam der FROG zu einer Reihe von Morden gerufen... ob sie Schlimmeres verhindern können?

Dafür vergebene Note: 12

Ein Blitz zuckte vom Himmel. Nunja, eigentlich zuckten mehrere Blitze vom Himmel, nicht gleichzeitig sondern schön hintereinander, wie sich das für ein anständiges Gewitter nun mal so gehört, doch dieser eine Blitz zuckte auf eine ganz bestimmte Weise mit einem ganz bestimmten Ziel vom Himmel.
Im Gegensatz zu seinen Mitblitzen zeichnete sich dieses eine Exemplar durch eine ganz besondere Form von Dramatik aus, und das unterschied ihn von all den anderen Blitzen, die nichts weiter waren als ein natürliches Phänomen, was ein Gewitter so mit sich bringt.
Dieser Blitz zuckte also dramatisch vom Himmel, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht, [1] und schlug auf genau die richtige Art und Weise für einen gekonnten Auftritt in eine merkwürdig anmutende Eisenkonstruktion auf einem Dach in Ankh-Morpork, Mittelweg Nummer 23, ein.
Schade, dass kaum jemand bei diesem Mistwetter auf den Straßen war um dem Blitz zuzusehen... er hatte sich solche Mühe gegeben!

Ein manisches Lachen drang durch das Dachfenster, schwoll an und durchdrang die Gewitternacht, doch wenn man genau hinhörte, konnte man feststellen, daß dieses Lachen eher halbherziger Natur war. Hätte man es an einem sonnigen Frühlingstag gehört anstelle dieser stürmischen Nacht, wäre es wohl eher lächerlich denn furchteinflößend gewesen, aber all dies spielte keine Rolle, es hörte sowieso keiner.
Professor Horstenkiesel setzte zufrieden einen Haken auf seiner Was-ist-zu-machen-Liste, direkt hinter dem Stichpunkt "Lachen nicht vergessen", sah einen Moment darauf und beschloß dann, die Worte ganz zu streichen.
Er hielt sich für einen aufgeklärten und modernen Wissenschaftler und die alten Tradition waren seiner Meinung nach lange überholt. Gewitternächte hatten nichts mit Stil sondern mit freigesetzter Energie zu tun und alte Schlösser auf abgelegenen Bergspitzen waren nicht romantisch sondern lediglich praktisch, hatte man doch genug Platz und die Möglichkeit, daß Nachbarn vorbeikamen und sich über den Krach, den Gestank oder sonstiges beschwerten, war recht gering.
Es würde noch eine Zeit lang dauern bis er dieses lästige traditionelle Verhalten hinter sich gebracht hatte, sein Meister hatte großen Wert darauf gelegt und Schläge mit dem Rohrstock hatten den Verhaltenskodex tief in sein Hirn eingebrannt, aber er war auf dem besten Weg. Noch folgte er einigen der Traditionen, doch er lebte sie nicht mehr!
Leise summend ging der Wissenschaftler zu einem kleinen Schrank, nahm eine Flasche guten Rotweins und ein Glas heraus, schenkte sich ein, startete den Musikdämon und setzte sich in einen alten Sessel.
Lächelnd schloß er die Augen und lauschte Gartenplatz‘ 76ter, eines seiner Lieblingsstücke, während er ab und zu am Rotwein nippte.
Nun mußte er nur noch warten...

"Was für ein Mistwetter!" fluchte Kanndra, als sie den Aufenthaltsraum der Abteilung FROG betrat. "Es sollte
eine Sonderzulage geben, wenn es kippt wie aus Eimern."
"Warst du wenigstens erfolgreich?", fragte Valdimier ohne von seiner Zeitung aufzusehen.
"Ja, der Botschafter hat Ankh-Morpork ohne weitere Probleme per Schiff verlassen, die Alarmbereitschaft kann aufgehoben werden."
Der Vampir nickte. "Das ist gut, die letzten Tage waren anstrengend genug, sollen sie sich das nächste Mal doch in Klatsch oder sonstwo treffen!"
Seufzend ließ Kanndra sich auf einen Stuhl gleiten und griff nach der Kaffeekanne. "Und hier?"
Valdimier blickte nun doch auf, ein Tropfen der regennassen Haare der Späherin hatte sich auf seine Zeitung verirrt und natürlich ausgerechnet die Stelle durchweicht, die er gerade lesen wollte. "Na, das Übliche."
Kanndra seufzte. "Also nichts."

Etwas regte sich unter dem großen weißen Leintuch, unter dem ein Haufen Drähte und Kabel verschwand. Ein Stöhnen, sehr leise und sehr weiblich, nutzte den dramaturgisch günstigen Moment zwischen zwei besonders lauten Donnern.
Horstenkiesel war sofort auf den Beinen. Aus irgendeinem – sicher hochtraditionellen Grund – versuchte ein "Heureka" sich den Weg über seine Lippen nach draußen zu bahnen, aber er schaffte es, dieses merkwürdige Wort, von dem sicher niemand auf der Welt wußte, was es bedeutete, herunterzuschlucken.
Mit drei großen Sätzen war er an dem Metalltisch und zog mit einer schwungvollen Geste das Laken zur Seite. Verzückt starrte er auf seine Kreatur, die mit großen braunen von unglaublich langen Wimpern umrahmten Augen zurückblickte.
Sie war so wunderschön! Sicher, einige Nähte störten das Erscheinungsbild ein wenig, aber der Wissenschaftler hatte extra darauf geachtet, daß die unvermeidlichen Nahtstellen nur an Orten auftauchten, die man problemlos mit passender Kleidung überdecken konnte.
"Was... wo bin ich? Wer...?" erklang ihre Stimme, so fein wie Spinnweben und so wunderbar melodisch, daß sie Horstenkiesel einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Oh ja, sie war perfekt. Sie würde eine wunderbare Muse für die Künstler dieser Stadt sein.
Väterlich strich er ihr über die Wange. "Keine Angst mein Kind, es ist alles in Ordnung. Du hast lange geschlafen und es mag sein, daß deine Erinnerung etwas getrübt ist, doch ich verspreche dir, das legt sich wieder. Komm, du mußt dir etwas anziehen, es ist kalt..."
Er reichte ihr den Arm und half ihr von dem Tisch. Während er sie in den Raum führte, den er extra für sie eingerichtet hatte, unterdrückte er die Gedanken daran, wie furchtbar es sein mußte, die Erinnerungen von gut einem Dutzend Frauen zu haben, ohne daß auch nur eine von ihnen annähernd vollständig war.
In ihrem Zimmer ließ er sie erst einmal alleine, um zu seinem Rotwein zurück zu kehren. Lächelnd ließ er die Gedanken schweifen. Er würde sie Celest taufen, es war nur angebracht, daß sie einen Namen trug, der vom Himmel kam, wo es doch der Himmel in seiner Wut es war, der ihr Leben eingehaucht hatte.
Alleine durch ihr Erscheinungsbild und ihre Stimme würde sie schon die Muse sein, die er erschaffen wollte, wenn nun auch noch die eigens von ihm entwickelte und durch ihre Augen aktivierte Inspirationspartikelschleuder funktionierte, würden die Kunstwerke, die durch sie inspiriert wurden, Jahrtausendwerke werden!
Leider hatte er hier keine Möglichkeit herauszufinden, ob seine Erfindung, die sein Lebenswerk werden würde, ihren Dienst tat, aber sobald Celest sich ein wenig gefangen hatte, würde er sie losschicken und dann würde er es bald wissen.
Einen Künstler, der das Objekt der ersten Versuche werden würde, hatte er sich schon ausgeguckt...

"Ach nun komm schon, nur eine Runde zum Spaß", bettelte Venezia Knurblich zwei Tische von Valdimier und Kanndra entfernt Harry mit herzzerreißend flehendem Blick an.
"Veni, ich habe nein gesagt. Ich will das nicht spielen. Nie wieder und unter keinen Umständen. Und du darfst es auch niemandem mehr zeigen, hat dein Onkel gesagt", gab dieser etwas genervt zurück.
"Ach Harry, es muß ja keiner wissen... und du kennst es ja sowieso schon, also kann ja von zeigen keine Rede sein. Bitte!"
Harry blickte Venezia ernst an und legte die Stirn in Falten. "Veni, zum allerletzten Mal. Ich habe keine Lust, mit einer dicken Eisenkugel beschwert im Ankh zu versinken wegen einer Partie Drachenpoker!"
Die Gnomin verzog das Gesicht zu einem Schmollen. "Ich hab gedacht, wenn du von DOG hierher kommst, dann haben wir endlich was, womit wir uns die langen Bereitschaftsdienste vertreiben können."

Ernest war in erster Linie Künstler. In zweiter Linie hatte er nicht besonders viel Geld und seine Kunst war nicht sonderlich anerkannt und dadurch war er so deprimiert, daß er in dritter Linie ein Säufer war.
Wie schon viele andere Nächte davor an denen es ihm zu kalt war in seiner zugigen ungeheizten Ein-Zimmer-Wohnung befand er sich auch heute im "Zinnkrug", seiner Stammtaverne, und blickte zu tief in ein bis mehrere Gläser mit billigem gepanschten Wein.
Oft wachte er am nächsten Tag in irgendeiner Gosse auf mit einer Erinnerungslücke die so groß war wie der Kunstturm hoch, aber das machte ihm nicht viel aus; die Gosse war auch nicht unbequemer als sein Zuhause und Dinge, die es wert wären, im Gedächtnis zu bleiben, passierten eigentlich auch nicht.
Es wäre sogar schon überraschend, wenn sich die Tür öffnen würde und... ein von einem dunkelroten Brokatcape verhüllter Gast, der den Zinnkrug mit Sicherheit noch nie betreten hatte, kam – nein, schwebte – durch die Eingangstür und trug den leichten Hauch teuren Parfums mit sich. Er ließ die Tür hinter sich zufallen, blieb im Eingang stehen und blickte sich um, es war still geworden und das knappe Dutzend Augenpaare der anwesenden Gäste inklusive des Wirts glotzten zurück.
"Ich suche jemanden", klang eine Stimme wie eine Symphonie von Geigen unter dem Cape hervor. Schlanke feingliedrige Hände erhoben sich und streiften die Kapuze vom Kopf, blondes langes Haar, fein wie Spinnenweben, ergoß sich wie ein Wasserfall über die Schultern.
Die Stille wurde einen Moment lauter, doch dieser Moment währte nicht lange; Haken-Hugo, ein kleiner schmutziger Stammgast der nichts konnte außer dumm sein – er hatte nicht einmal einen Haken – lachte schmierig und stand auf um der Schönheit, die unter der Kapuze aufgetaucht war, in den Weg zu treten. "Na Schnucki, gehn wa zu mia un ich zeich dia wo des findest."
Die Frau musterte Hugo einmal kurz mit einem Blick, als wäre er Hundescheiße unter ihrer Sohle, dann schüttelte sie knapp den Kopf. "Nein, du bist nicht der, den ich suche." Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen ging sie – einen leichten Bogen um ihn herum machend – weiter in die Schankstube.
"Na, nich so schnell, du", versuchte Hugo es ein weiteres Mal und griff nach ihrem Arm.
Die Frau drehte sich zu ihm um, keine Regung lag in ihrer Miene. "Du bist mir im Weg", sagte sie leise, hob die Hände und legte sie auf Hugos Wangen. Dann griff sie zu, fest wie ein Schraubstock und Kopf und Körper von Haken-Hugo gingen getrennte Wege. [2]
Ernest schrie entsetzt auf, als Hugos Kopf über den Boden kullerte und nahe seines Tisches zum Liegen kam um ihn mit blinden Augen anzusehen als wolle er sagen: "Du hast es geschehen lassen."
Wieder sprach die Frau, und die Worte, auch wenn der Klang immer noch wunderschön war, schnitten in seinen Geist, so scharf, daß man sich damit ein Bein hätte abhacken können ohne es gleich zu bemerken. "Dich suche ich."
Ihn... sie meinte ihn! Der Künstler sah auf und sein Blick traf sich mit dem ihren, einen winzigen Moment war er wie erstarrt, dann sprang er auf und rannte. Rannte, so lange er konnte, bis seine Lunge brannte und noch ein Stück weiter. Er hatte den Himmel gesehen und der hatte sich als Hölle herausgestellt! Er ließ sich an einer Häuserwand zu Boden sinken, legte den Kopf auf die Knie und weinte.

"Aber das ist doch ein Mord, was haben wir denn damit zu tun?", versuchte Kanndra erneut, die Arbeit, die wie ein drohender Schatten über ihr und den anderen FROGs in Bereitschaft hing, abzuwenden.
Yogi Schulterbreit, der den Thresendienst in dieser Nacht übernommen hatte, zuckte leicht mit den Schultern. "Frau Lanfear hat gesagt, ich soll zu euch kommen. Es sind vier Morde in Folge, damit ein Serienmord und das fällt eher in die etwas besondere Sparte der FROG, hat sie gesagt. Außerdem seid ihr sowieso in Bereitschaft und sie müßte ihre Leute aus dem Bett holen, hat sie gesagt", wiederholte Yogi das inzwischen schon drei Mal Gesagte, wortgenau wie eine Platte mit einem Sprung.
Kanndra seufzte und griff nach der ziemlich schmalen Akte die auf die Schnelle zu dieser Sache angelegt worden war. "Na gut... es bleibt uns wohl kaum etwas anderes übrig."
Yogi nickte zufrieden. "Viel Erfolg, Ma‘am", murmelte er noch und verließ den Aufenthaltsraum.
"Dann wollen wir doch einmal sehen, was wir hier haben, hm?" Die stellvertretende Abteilungsleiterin der FROGs ging – freundlicherweise – zu dem Tisch, an dem die beiden Gnome saßen, setzte sich und winkte Valdimier heran. Dann fuhr sie sich – noch einmal tief seufzend – durch das gerade halbwegs trocken gewordene Haar und schlug die Akte auf. "Also, wir haben vier Morde. Einmal den Stammgast einer kleinen Schankstube, Zinnkrug heißt sie. Die Zeugen geben an, eine Frau kam herein und suchte wohl nach einem gewissen Ernest, der auch anwesend war. Einer der Gäste, Haken-Hugo, stellte sich ihr in den Weg. Sie hat ihn... Moment mal!" Kanndra blinzelte und blickte etwas verwirrt auf die Zeile in dem Bericht vor ihr.
"Na, was hat sie denn?", versuchte Valdimier, das Ganze etwas voranzutreiben.
"Sie hat... sie hat ihm den Kopf abgerissen, steht hier." Die Späherin runzelte leicht die Stirn und blickte in die Runde.
"Na, dann ist das wohl kein Mensch, würde ich sagen... die wenigsten menschlichen Frauen reißen so mir nichts dir nichts anderen Leuten die Köpfe vom Hals", unterbrach Venezia die Stille.
Kanndra schüttelte leicht den Kopf. "Ich nehme an, davon ist auszugehen. Weiterhin hat – Zeugenaussagen zufolge – die gleiche Frau auf ihrem Weg, diesem Ernest, der wohl geflohen ist, zu verfolgen, noch drei weiteren Leuten das Lebenslicht ausgeblasen. Zweien von ihnen brach sie quasi im Vorbeilaufen das Genick und einem Dritten hat sie offenbar mit der Faust den Schädel eingeschlagen. SEALS haben saubere Arbeit geleistet, hier ist eine genaue Beschreibung des Täters und auch von diesem Ernest, den sie offenbar suchte. Die Leichen liegen schon bei SUSI, wobei an der Todesursache wohl nicht viel zu deuten ist."
"Also muß diese Frau und am Besten auch dieser Ernest gefunden werden." Harry vermied es tunlichst, irgendwo in diesem Satz ein ‚wir‘ unterzubringen, das sollten am Besten die anderen erledigen, es konnte ja schließlich nicht so schwer sein eine Frau zu finden und schließlich war er noch in Ausbildung.
"Genau so ist es", nickte Kanndra. "Dann rüstet euch mal aus, ihr drei, ich gehe schnell Sidney wecken, ich fürchte, wir müssen da wieder raus um ihrer Spur zu folgen."
"Aber... aber was ist mit dem Welpenschutz?" quiekte Harry.
Venezia zog eine Augenbraue hoch und blickte den Gnom ein wenig spöttisch an. "Wir sind hier nicht bei DOG, das hier ist das wahre Leben und hier gibt es so etwas nicht..."

Professor Horstenkiesel war entsetzt, entsetzt und zutiefst irritiert. Das hätte nicht passieren dürfen, wie konnte seine Schöpfung ihm so etwas antun? Er wollte doch nur Kunst schaffen und nun? Nun war seine Kreatur zu einem Mörder geworden und er hatte sich mitschuldig gemacht! Sein Gewissen drückte auf ihn wie ein Zentnergewicht und so schlug er schweren Herzens den einzigen Weg ein, der in so einer Situation in Frage kam; den Weg zum Hauptgebäude der Stadtwache am Pseudopolisplatz.
Zitternd erhob Ernest sich. Offenbar hatte diese Frau ihn nicht weiter verfolgt oder sie hatte seine Spur verloren. Ihre Augen... er erinnerte sich mit aller Deutlichkeit an ihre wunderbaren Augen!
Ohne es wirklich zu merken, schlugen seine Füße den Weg zu seiner Wohnung ein, er brauchte jetzt dringend seine Staffelei und Farben, so riskant es auch sein mochte, nach Hause zu gehen, wenn diese Frau ihn suchte... er war zutiefst inspiriert, er mußte einfach malen!
"Laßt uns das schnell hinter uns bringen, ich bin müde und wenn ich müde bin, hab ich verdammt schlechte Laune", knurrte Sidney, während er sich sein Hemd in die Hose stopfte, zwei Armbrüste hingen bereits an Gurten über seinen Schultern.
"Alle bereit?" Kanndra blickte in die Runde, Harry saß mit mißmutiger Miene auf Valdimiers Schulter, Venezia auf ihrer eigenen. "Also, wir gehen wie folgt vor..."
Es klopfte einmal kurz und Yogi streckte erneut den Kopf zur Tür herein. "Ma‘am, ich unterbreche nur ungern, aber da ist ein älterer Herr, der dich sprechen möchte... naja, nicht direkt dich, aber von dem, was er erzählte, hat es etwas mit diesen Morden zu tun."
Erleichtert atmete Kanndra auf. Was auch immer es war, es war gut, sie hatte nämlich keine Ahnung, wie sie diese Frau finden sollten, wenn diese nicht zufällig eine Leichenspur durch die ganze Stadt hinterließ, vielleicht hatte dieser Mann ja eine etwas heißere Spur.
"Er soll reinkommen!" Die Späherin setzte sich wieder und gab den anderen ein Zeichen es ihr gleichzutun.
Noch nie hatte Ernest so gemalt wie heute, noch nie waren die Farben so von seinem Geist durch seine Hand auf die Leinwand gebracht worden. War es die drohende Gefahr im Nacken? Die Tatsache, daß jeden Moment die Tür aufgehen könnte und diese dämonische Frau dort stand, deren Anblick er sosehr fürchtete wie er ihn herbeisehnte? Er wußte es nicht und eigentlich war es ihm auch egal. Sollte er doch sterben diese Nacht, Hauptsache, er brachte sein Kunstwerk zu Ende. Er wußte, es würde grandios werden!
"Mein... mein Name ist Professor Horstenkiesel, und ich fürchte, ich bin in gewisser Weise für diese furchtbaren Morde verantwortlich", leitete der Mann am Tisch der Wächter das Gespräch ein.
"Wißt ihr, ich bin Wissenschaftler und ihr müßt mir glauben, ich habe das nicht gewollt! Ich weiß nicht, was schiefgelaufen ist, Celest hätte das nicht tun sollen, sie sollte doch nur inspirieren, das ist alles, was ich wollte", brach es unter Tränen aus dem Mann heraus.
Kanndra warf Venezia einen Blick zu, der irgendwo zwischen auffordernd und hilfesuchend lag. Einen Moment lang wußte die Gnomin damit nichts anzufangen, doch dann fiel es ihr ein; Richtig, sie war ja Püschologe, das hier war also ihr Gebiet!
"Herr Professor, setz dich doch erst einmal... du siehst ja aus als würdest du gleich umfallen, deine Beine schlackern ja wie aus Gelee", fing sie etwas unbeholfen an, in Etwa beruhigend auf den Mann einzureden.
"Das... das geht nicht, ich weiß nicht, ob wir viel Zeit haben... sie weiß, wo sie Ernest findet und ich fürchte um sein Leben!"
"Sie weiß wo er ist? Weißt du es auch, Herr Professor?" horchte Kanndra auf.
"Nun ja, ich weiß zumindest wo er wohnt. Wenn er da ist, wird sie ihn finden und ich weiß nicht, was sie ihm antut." Der Professor stützte sich mit einem Arm am Tisch ab, da seine Beine nachzugeben drohten.
"Gib uns die Adresse, wir holen ihn da raus. Veni, du bleibst bei dem Mann und bringst so viel in Erfahrung wie du kannst. Ich lasse Rogi in Bereitschaft rufen, wenn es etwas Neues gibt, was uns helfen kann, dann soll sie eine Nachricht schicken." Kanndra stand auf und ging zur Tür.
Valdimier legte den Arm auf den Tisch so daß Harry wieder auf seine Schulter klettern konnte, dann verließen die drei gefolgt von Sidney den Raum.

Ernest ließ sich erschöpft zu Boden sinken. Er war fertig mit seinem Bild, doch er fühlte sich ausgebrannt. Sein Innerstes war leer, abgesehen von einem seltsamen Gefühl von Sehnsucht, das langsam in ihm erwachte; Sehnsucht nach dieser Frau und dem Blick aus ihren wunderbaren Augen! Er blickte auf das Bild - ihr Bild – und verlor sich darin; er mußte sie wiedersehen!

Venezia saß im Schneidersitz auf dem Tisch, tätschelte ab und zu den Arm des inzwischen auf einem Stuhl zusammengesunkenen Professors und lauschte einer ziemlich wirren und zusammenhangslosen Geschichte über etwa ein Dutzend Frauen, die gestorben waren und zu einer Frau, die eine Muse war, zusammengesetzt wurden.
Wieder einmal wurde ihr nur allzu deutlich bewußt, daß sie von Püschologie eigentlich keine Ahnung hatte und sie nicht wußte, wie nun am Besten zu verfahren war, also ließ sie den Mann einfach reden, irgendwie schien es ihm gutzutun und vielleicht würde sie etwas Interessantes erfahren.

"Da oben in dem Haus muß es sein... die Dachwohnung, es brennt Licht", flüsterte Kanndra den drei Schützen in ihrer Begleitung zu. Das Gewitter hatte sich inzwischen entfernt, nur der Regen pladderte immer noch in Strömen vom Himmel. "Ihr wartet hier und haltet euch bereit, ich werde einmal auskundschaften, wie die Lage ist. Wenn ich pfeife oder wenn irgend etwas Ungewöhnliches passiert, dann stürmt ihr."
Die Späherin blickte Sidney scharf an. "Und ich möchte keine Toten sehen, wenn es nicht irgendwie zu vermeiden ist!"
Der Werwolf zögerte einen Moment, dann nickte er.
Kanndra vergewisserte sich noch einmal, daß alle bereit waren, nickte allen noch einmal zu und schlich dann los. Schnell war sie im Regen verschwunden.

Ernest rappelte sich auf. Er hatte einen Entschluß gefaßt, er mußte sie wiedersehen, koste es, was es wolle! Er griff nach einem Tuch um es über das Gemälde zu hängen, da flog auf einmal die Tür zu seinem Zimmer mit einem lauten Krachen auf und – wo sie schon dabei war – auch gleich aus den Angeln.
Der Künstler fuhr herum. Sie! Es war tatsächlich sie! Er sah sie an und ihre Blicke trafen sich. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus als er in ihre einzigartigen Augen sah. Schwindel erfaßte ihn, als eine neue Welle der Inspiration über ihn hinweg rollte und ihn zu begraben drohte.
Doch dann wandte sie ihren Blick ab, sah an ihm vorbei, direkt auf das Portrait, was er von ihr angefertigt hatte. Ihr Gesicht verzog sich, erst vor Zorn, dann vor etwas wie Abscheu mit einer Spur Angst. Dann schrie sie. Es war nur ein kurzer Schrei, aber er vibrierte vor Emotion. Was war es? Wut? Trauer? Ernest kam nicht dazu, genauer darüber nachzudenken, mit einem Satz war die Frau bei ihm, gab der Staffelei einen Schubs, so daß das Bild krachend zu Boden fiel, packte ihn, warf ihn sich über die Schulter und sprintete nach draußen.

Vorsichtig schlich Kanndra durch den Hausflur, als plötzlich im oberen Stockwerk ein Krachen zu hören war. Die Späherin zögerte keinen Moment. Sie pfiff, dann sprintete sie los, die enge Treppe zum obersten Stockwerk hinauf. Sie bog um die letzte Ecke und konnte den Bruchteil einer Sekunde diese Frau sehen, wie sie mit rasender Geschwindigkeit auf sie zukam, dann traf sie auf, schwer und zerstörerisch wie ein MUT-Geschoss und Kanndra wurde es schwarz vor Augen.

"If glaube, er follte ein wenig flafen, er fieht flimmer auf alf der Tod", murmelte Rogi, die inzwischen am Pseudopolisplatz angekommen war, leise und deutete auf den inzwischen schweigenden und vollkommen am Tisch zusammengesunkenen Professor.
"Ich nehme an, er hat auch alles gesagt... die Geschichte war ja lang und verwirrend genug", nickte Venezia und blickte stirnrunzelnd auf ihren kleinen Notizblock, auf dem sie sich das eine oder andere aufgeschrieben hatte. "Ich weiß nicht, ob wir hiervon etwas gebrauchen können, aber zumindest als eine Art Geständnis taugt es ja allemale."
"If bringe ihn rüber, daf fällt ja in gewiffer Weife in den Bereif Erfte Hilfe." Die Igorina trat an den Tisch heran, legte Horstenkiesel beinahe sanft die Hände um die Schulter und führte ihn ein wenig abseits zu einer eilig aufgestellten Pritsche. "Fie müffen flafen, Herr. Trinken Fie daf hier." Sie entkorkte ein kleines Fläschchen und hielt es ihm an die Lippen, der Professor schluckte artig, wahrscheinlich hätte er sogar Rattengift getrunken, so wenig war er bei sich.

Kanndra erwachte und blickte direkt auf Harry in Lebensgröße, der nur wenige Zentimeter von ihrem Kopf auf dem dreckigen Fußboden stand und sie besorgt anblickte.
"Meine Güte", stöhnte Kanndra und richtete den Oberkörper langsam auf. "Konntet ihr den Hammerwerfer der mich getroffen hat, wenigstens verhaften?"
Harry deutete das Treppenhaus nach unten. "Wir wollten gerade rein kommen, da kam diese Frau mit Herrn Ernest über der Schulter hinausgelaufen. Sidney und Valdimier haben die Verfolgung aufgenommen, aber ich dachte... ich meine, irgendwer mußte ja schließlich nach dir sehen und meine Beine sind sowieso viel zu kurz um einen laufenden Menschen zu verfolgen!"
Die Späherin nickte, stöhnte noch einmal und tastete sich ab, offenbar war alles in Ordnung, sie war zwar etwas ungünstig gegen die Wand gekracht als dieses... Ding sie frontal erwischt hatte, aber gebrochen schien nichts zu sein. "Verdammt, einige Minuten früher und wir hätten sie gehabt!" knurrte sie, während sie sich an der Wand abstützte und wieder auf die Beine zog.
Harry trat nervös von einem Bein auf das andere. "V... vielleicht gucken wir uns ein wenig in seiner Wohnung um? Wir könnten ja etwas finden und wir müssen ja sowieso auf Valdimier und Sidney warten, die finden wir nicht mehr..."
Kanndra blickte unschlüssig das Treppenhaus hinunter. Es paßte ihr gar nicht, die beiden da draußen diese Frau verfolgend zu sehen, während sie hier untätig war und nicht einmal wußte, wo sie waren und wie es ihnen ging, aber viel anderes blieb wohl nicht übrig. "Ja, komm..."

"Ich hab sie verloren... weißt du, wo sie hin ist?" Sidneys Hemd stand offen und hing über die Hose, während Regen über seine nackte Brust rann. "Bei dem Mistwetter konnte ich ihre Spur nicht verfolgen, zumal sie keinen eindeutigen Geruch hat."
Valdimier schüttelte leicht den Kopf. "Ich habe sie auch verloren... das Wetter ist einfach nicht für Verfolgungsjagden durch die Luft gemacht, man sieht kaum etwas."
Der Werwolf knurrte, stopfte das Hemd in die Hose und knöpfte es mehr schlecht als recht zu. "Verdammt, ich hätte schießen können, wenn sie nicht diesen verfluchten Kerl über der Schulter gehabt hätte!"
Der Vampir klopfte ihm auf die Schulter. "Komm, laß uns rein gehen und nach den anderen sehen..."

"Hier, das ist sie. Gut getroffen, findest du nicht?" Kanndra hob das Bild auf und zeigte es Harry, der es eingehend betrachtete und dann nickte.
In Wahrheit hatte der Gnom die Frau gar nicht wirklich gesehen, es hatte stark geregnet und zu allem Überfluß hatte er noch für einen winzigen Moment die Augen zusammengekniffen, als sie aus dem Haus gelaufen kam, aber wenn Kanndra das sagte, würde es wohl stimmen und was machte es für einen Sinn, jetzt zu sagen, er habe nicht hingesehen?
"Das nehmen wir mit, SEALS kann es sicher als Fahndungsbild gebrauchen. Hast du sonst noch etwas gefunden?"
"Leere Flaschen, dreckige Wäsche, Schmutz, altes Essen... nichts Ungewöhnliches", zuckte Harry mit den Schultern.
"Laß uns runter gehen und auf die anderen warten." Kanndra bückte sich und streckte dem Gnom die Hand hin, damit er auf ihre Schulter klettern konnte, dann gingen sie nach unten.

"Meine Güte, er hat sogar Quittungen für die Leichen! Ich meine, das ist noch zu überprüfen, aber offenbar ging da alles, aber auch wirklich alles mit rechten Dingen zu!" Venezia blickte zwischen ihren Aufzeichnungen, Professor Horstenkiesel und Rogi hin und her.
"Hmmm", brummte die Igorina und bedachte den Professor mit einem kritischen Blick. Als Traditionalistin mochte sie es gar nicht, wenn sogenannte aufgeklärte Wissenschaftler ihre Zeit mit Basteleien an Leichen und belebten Kreaturen verbrachten, man sah ja, was dabei heraus kam.
"Donnerwetter, 14 Frauen... nicht zu fassen, was man so in einem einzigen Körper unterbringen kann", fuhr Veni ihre Gesprächsbeschäftigung fort.
Wieder brummte Rogi. 14 verschiedene Teile waren gar nichts, aber das war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, eine igorphilosophische Diskussion mit Venezia anzufangen.

"Also stehen wir wieder da, wo wir am Anfang auch standen, mit dem Unterschied, daß diese Frau Ernest nun in ihrer Gewalt hat, ja?" Kanndra fuhr sich mit der Hand über die Augen. Eigentlich hatte sie gedacht, daß der Rest des Abends, nachdem dieser verdammte Diplomat endlich die Stadt verlassen hatte, gewohnt langweilig, ruhig und entspannend ablaufen würde, und nun das.
"Naja, immerhin hat sie ihn nicht gleich umgebracht, das läßt ja Spekulationen offen, daß wir ihn da noch lebend raus bekommen", versuchte Sidney, der Situation etwas Positives abzugewinnen.
Die stellvertretende Abteilungsleiterin winkte ab. "Dazu müssen wir ihn erst einmal finden. Laßt uns zurück zur Wache gehen."

"Und? Alles in Ordnung? Habt ihr die Stadt gerettet?" Venezia blickte den wieder eintretenden Kollegen neugierig entgegen. Eine amoklaufende Kreatur eines verrückten Wissenschaftlers, das war einfach furchtbar spannend... nun gut, Professor Horstenkiesel zeigte so gut wie keine Anzeichen des Verrücktseins, aber das waren Kleinigkeiten, die man im Sinne der Geschichte durchaus wohlwollend übergehen konnte.
Kanndra griff nach der Kaffeekanne und schenkte sich ein. "Nein, sie ist entkommen. Und schlimmer noch, sie hat Ernest entführt, wir haben keine Spur und wer weiß, wie viele Leichen sie auf ihrem Weg nach wohin auch immer hinterläßt. Ich fürchte, so langsam müssen wir Araghast holen, er muß entscheiden."
"Und was ist das?" Venezia deutete auf das in ein Bettlaken eingeschlagene Paket unter Sidneys Arm.
Der Werwolf grinste. "Ernest war so freundlich, uns ein Phantombild dieser Frau anzufertigen, bevor er sich hat entführen lassen." Sidney entfernte das Laken und stellte das Bild gut sichtbar auf einen der Tische.
"Daf ift fie? Fieht ja eigentlich ganf freundlich auf und... man fieht gar keine Nähte", mußte sogar Rogi neidlos anerkennen.
Venezia zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hat Ernest sie aus künstlerischer Freiheit weggelassen."
Valimier schüttelte den Kopf und setzte sich. "Nein, sie hat tatsächlich keine Nähte. Soviel konnte ich erkennen als sie an uns vorbeirannte."
"Hui, ihr habt sie sogar gesehen?" horchte Venezia auf. Sie mochte es eigentlich gar nicht, hier herumzusitzen und die anderen den Spaß haben zu lassen, auch wenn es bei diesem Wetter Schlimmeres gab.
"Gesehen ist gut, sie hat mich über den Haufen gerannt, als sie wie von der Tarantel gestochen mit Ernest auf dem Arm davon gerannt ist", knurrte Kanndra.
"Fehr intereffant... ein kompletter Kopf alfo. Keine Nähte, daf heift, der Kopf kann früheftenf am unteren Half angefügt worden fein." Rogi war aufgestanden und betrachtete das Gemälde fasziniert.
"Na, dein Schrei war zumindest spitze. Wir waren uns gar nicht sicher, einen Pfiff gehört zu haben und überlegten noch, ob wir stürmen sollen, aber dein Schrei war unüberhörbar", grinste Valdimier Kanndra an.
"Das war gar nicht ich, das war diese Frau. Ich hatte gar keine Zeit zu schreien", gab die Späherin zurück.
"Sie hat geschrien? Aber warum?" Harry hatte sich einen Platz an der Kaffeekanne gesichert und so ganz allmählich wurde ihm sogar wieder warm.
Kanndra runzelte die Stirn. "Ja, warum eigentlich? Sie hat geschrien und kurz darauf ist sie mit Ernest an mir vorbei... durch mich durch... wie auch immer gerannt. Sie sah... ich weiß nicht genau... verwirrt aus?"
"Sie machte ein wenig den Eindruck, als wäre sie auf der Flucht", fügte Valdimier hinzu.
Venezia grinste. "Na, das wäre ich auch, wenn Sidney und du bewaffnet und in Uniform vor mir stehen würden..."
Sidney schüttelte den Kopf. "Nein, sie ist ja vorher geflohen... wir waren noch gar nicht oben. Und – wenn sie erst geschrien hat und dann Kanndra umgerannt hat, dann hat sie ja offenbar noch nicht einmal Kanndra gesehen, als sie sich zur Flucht entschlossen hat."
"Sie ist also vor etwas Unbekanntem geflohen. Wenn wir herausfinden, wovor, dann können wir vielleicht feststellen, wo wir sie finden", schlußfolgerte Kanndra.
"Aber da war doch kaum etwas. Ob vielleicht Ernest etwas gesagt hat, was sie so erschreckt hat?" Harry runzelte die Stirn und dachte nach.
"Verdammt, wenn es das ist, dann ist die Spur auch kalt... an Ernest kommen wir ja nun schlecht ran." Valdimier seufzte tief. Sicher waren die Bereitschaftsdienste in denen nichts passierte, langweilig. Aber vielleicht war Langeweile dem hier doch vorzuziehen.
Venezia blickte nachdenklich zwischen dem Portrait der Frau und ihren Aufzeichnungen hin und her. "Ich... ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht... vielleicht weiß ich, wo sie ist."
Kanndra sprang auf. "Was? Wo?! Na sag schon, dann können wir das hinter uns bringen!"
Venezia schüttelte den Kopf. "So leicht ist das nicht, wir müssen erst herausfinden, wo das ist. Außerdem bin ich mir ja auch gar nicht sicher."
Sidney beobachtete Venezia, die durch ihre Unterlagen blätterte und ab und zu mit einem winzigen Bleistiftstummel etwas anstrich. "Vielleicht läßt du uns an deiner Idee teilhaben?"
Venezia nickte und blickte auf. "Also, es ist so: Der Professor hat vorhin angegeben, daß er diese Frau, diese Celest, aus 14 weiblichen Leichen zusammengesetzt hat, die er aus der Leichenhalle gekauft hat. Außerdem sagte er, er glaubt, die ist durchgedreht, weil sie nicht weiß, wer sie ist. Sie hat furchtbar viele Erinnerungen aber wohl keine davon vollständig."
Rogi nickte bedächtig. Sie wußte genau, wie nervig es war, wenn man zum Beispiel ein neues Auge bekam und sich plötzlich an Dinge erinnerte, die dieses Auge einmal gesehen hatte, ohne daß es die eigenen Erinnerungen waren.
Venezia fuhr fort: "Rogi sagte gerade, es ist ein vollständiger Kopf, weil es ja keine Nähte gibt und dieser Ernest hat Celest wohl gezeichnet. Was, wenn sie das Bild gesehen hat und sich... erinnert?" Die Gnomin guckte in die Runde. "Wenn das der Fall ist, werden wir sie vielleicht in dem ehemaligen Zuhause der Person finden, der dieser Kopf gehört hat. Oder an einem Ort, an dem sie gerne war..."
Kanndra stand auf. "Dann werde ich den Professor wecken. Wir brauchen wohl seine Hilfe, immerhin hat er dieses... Ding zusammengebastelt!"
"Natascha Winterwind", unterbrach Venezia sie.
Kanndra blieb wie angewurzelt stehen. "Wie bitte?"
"Ihr Name... Natascha Winterwind."
"Woher weißt du das?" Langsam setzte Kanndra sich wieder.
"Er hat... Quittungen über die Leichenkäufe. Und er hat sie mit sich geführt. Er sagte mir, er wollte, wenn die Wache ihn anhält, die Rechtmäßigkeit der Leichenkäufe beweisen können... ich glaube, er ist sehr gewissenhaft."
"Ich kenne von früheren Ermittlungen jemanden aus der Leichenhalle. Ich glaube, an die Adresse zu kommen, ist nicht das Problem." Harry seufzte und stand auf. Es war so schön warm an der Kaffeekanne und zur Leichenhalle war es ein weiter Weg... aber es ließ sich wohl kaum vermeiden.
Venezia zögerte einen Moment, dann sprang sie vom Tisch und ging in Richtung ihres Spindes. "Dieses Mal komme ich aber mit!"

Natascha Winterwind war ein Künstlername, geboren war sie einfach nur als Natascha in eine Familie, die so arm war, daß es nicht einmal für einen Nachnamen reichte.
Sie war... Tänzerin, zu schlecht als daß die Gilde der Stripperinnen sie aufgenommen hätte, und so kam sie nie aus der Armut, die sie schon von Kindheit an kannte, heraus und hielt sich über Wasser um sich in schmierigen Kneipen vor noch schmierigerem Publikum auszuziehen.
Über einer dieser Kneipe hatte sie ein Zimmer, in dem sich ihr Leben abspielte, bestehend aus billiger Schminke, einer Menge Alkohol und vielen, vielen Tränen.
Es war nicht schwer gewesen für die Wächter, diese Adresse herauszufinden, Harrys Kontakt hatte zwar nicht viel weiterhelfen können, der Name der Leiche tauchte zwar aus unerfindlichem Grund in den Büchern auf, aber über ihren Wohnort war nichts bekannt, doch glücklicherweise war einer der Leichenhallenarbeiter Stammkunde in dem Etablissement, in dem Natascha sich regelmäßig entblätterte und so konnte er den FROGs weiterhelfen.
Die sechs Wächter standen nun vor dem Hintereingang des Hauses, von dem aus man die kleinen Wohnungen im oberen Stock erreichen konnte.
"So, ich hab die Nase voll... dieses Mal stürmen wir gleich, ich habe keine Lust, noch einmal umgerannt zu werden und schließlich ist der Bewohner dieser Wohnung tot und der Wirt dieser Kneipe ist schon so oft straffällig geworden daß er sicher keine Anzeige einreichen wird", brummte Kanndra und blickte finster in die Runde.
"Guter Plan, es ist nicht mehr allzu lange bis zum Tag und ich würde es vorziehen, bis dahin fertig zu sein", nickte Valdimier, Sidney grinste und nahm seine Armbrüste griffbereit in die Hand.
Die stellvertretende Abteilungsleiterin vergewissterte sich, daß alle bereit waren, dann sagte sie: "In Ordnung. Zugriff!"

Ernest zeichnete. Staffelei, Farben und Pinsel hatte er hier nicht zur Verfügung, aber das machte nichts, die Gegenwart dieser Frau machte dieses Manko allemal wett und seine Bleistiftzeichnungen, die er für sie anfertigte, waren das Beste, was er jemals geschaffen hatte.
Celest saß auf dem Fußboden in dieser Wohnung, die noch kleiner und trostloser war als seine eigene, ihr Blick verlor sich irgendwo in der Ferne und mit leiser, wohlklingender Stimme beschrieb sie Szenen, die Ernest für sie auf das Papier bannte, jede von ihnen dunkel gefärbt von dem Schmerz, der in ihren Worten mit schwang.
Um die Frau herum lagen schon knapp ein halbes Dutzend Zeichnungen, eine jede von ihnen hatte sie nach ihrer Fertigstellung in die Hand genommen, lange betrachtet und mit einigen Tränen aus ihren wunderschönen braunen Augen belohnt.
Ernest war noch nie so ergriffen – so glücklich – gewesen!

"ALLE auf den BODEN! HÄNDE so daß wir sie SEHEN können!" brüllte Sidney, nachdem er die Tür eingetreten hatte, die Spitzen der Armbrustbolzen waren direkt auf Celest gerichtet, eine auf die Schulter und die andere – nur für den Notfall – direkt auf den Kopf.
Weder der Künstler noch die Frau rührten sich als die restlichen Mitglieder des Zugriffteams in den engen Raum strömten, Valdimier sicherte mit Harry auf seiner Schulter das Fenster, Rogi stellte sich in eine Ecke und Kanndra mit Venezia blieb direkt im Türrahmen stehen.
"Eine Wiese im Sommer... überall Blumen. Rot, blau, gelb... gerade erst aufgeblüht. Das Gras kitzelt unter den nackten Füßen und ich sehe Berge... ich glaube, es sind die Spitzhornberge, die sich über den gesamten Horizont erstrecken..." klang Celests Stimme leise durch den Raum, der Blick der Frau verweilte an einem Ort, an dem es keine Wächter und kein kleines dreckiges Zimmer gab, und Ernest zeichnete.
"HÖRT ihr schlecht? RUNTER hab ich gesagt!", versuchte Sidney es ein weiteres Mal.
"Sid, warte mal..." Kanndra hob die Hand und betrachtete das merkwürdige Bild daß sich ihr bot, schwer vorstellbar, daß diese Frau, die gerade so verletzlich wirkte, noch vor wenigen Stunden vier Menschen ohne mit der Wimper zu zucken umgebracht hatte. Langsam ging sie auf das seltsame Paar zu, bückte sich und hob eins der Bilder auf. Es zeigte ein kleines Haus inmitten viel größerer Häuserschluchten. Irgendwie wirkte es heimelig und behaglich, doch der Schatten der anderen Häuser erweckte einen bedrohlichen Eindruck. Die Späherin hielt Venezia das Bild unter die Nase. "Was meinst du?"
Die Gnomin nickte wissend. "Wie ich es mir gedacht habe, bestimmt Erinnerungen!" Veni war ein wenig überrascht über sich selber, vielleicht war dieses Püschodingens ja doch nicht so kompliziert, wie sie immer gedacht hatte.
Die Frau hatte mit ihrer Beschreibung abgeschlossen und ihr Blick klärte sich ein wenig, während Ernest ihre Worte bildlich umsetzte. Sie sah kurz zu den Wächtern, ein Hauch von Überraschung zog kurz über ihr Gesicht als würde sie die sechs jetzt zum ersten Mal wahrnehmen, dann blickte sie auf das Papier in Ernests Hand und Tränen kullerten schwer über ihre Wangen.
"Ich will doch nur, daß es endlich vorbei ist...", flüsterte sie kaum hörbar und ihr Blick verlor sich wieder, dieses Mal in das entstehende Bild.
"Tja..." Kanndra zuckte etwas hilflos mit den Schultern. "Und... was nun?"
"Man kann fie... deaktivieren", erklang es aus Rogis Ecke.
Harry runzelte die Stirn. "Ist das nicht in gewisser Weise Mord?"
Rogi zuckte mit den Schultern. "Fie ift fon geftorben. Vierfehn Mal um genau fu fein." Dann fügte sie leise hinzu: "Auferdem ift fie Ftümperarbeit."
Wieder blickte Celest auf. "Bitte... ich tue alles, wenn es nur vorbei ist!"
Sidney lehnte sich an eine Wand und schlenkerte ein wenig mit den Armbrüsten in seinen Händen. So hatte er dich das Ganze bestimmt nicht vorgestellt!
Nun war auch Ernest zurückgekehrt in die Realität. "Celest... verlaß mich nicht... ich kann ohne dich nicht leben!" hauchte er und legte der Frau leicht seine Hand auf das Knie.
Sie griff nach der Hand, führte sie zu ihrer Wange und schloß die Augen. "Es... tut mir leid, aber ich kann das nicht... ich kann nicht mehr. Zu viele Erinnerungen, zu viel Schmerz!" Dann erhob sie sich langsam, die Hand des Künstlers sank kraftlos zu Boden, während sich auch in seinen Augen Tränen bildeten.
"Ich bin bereit", sagte die Frau und blickte die Wächter einen nach dem nächsten eindringlich an.

Epliog
Celest wurde auf eigenen Wunsch deaktiviert. Bis zum nächsten Gewitter mußte sie noch in einer Zelle aushalten, in der Ernest sie jeden Tag besuchte, um ihr die letzten Tage ihrer Existenz mit seinen Zeichnungen erträglich zu machen. Nachdem Professor Horstenkiesel ihr den Lebensfunken wieder entzogen hatte, spendete er ihre Körperteile an die örtliche Igorvereinigung, in der Hoffnung, daß die Teile, die zu schön waren um vergänglich zu sein, nun in Händen lagen, die mit der Verantwortung wiederkehrender Erinnerungen umzugehen wußten.
Professor Horstenkiesel zerstörte nach der Deaktivierung Celests seine Maschine, verkaufte alles was er hatte um sich ein kleines Häuschen am Fuße der Spitzhornberge zu kaufen und sich voll und ganz der Blumenzucht zu verschreiben. Darüber, welch grandiose Erfindung sich in den Augen Celests verbarg, sprach er bis zu seinem Todestag zu niemandem ein Wort.
Ernest wurde nach Celests Vernichtung ein großer und berühmter Künstler, dessen Werke vor Emotion nur so strotzten. Doch so erfolgreich er als Künstler auch wurde, so einsam blieb er Zeit seines Lebens, konnte er den Blick aus Celests dunklen Augen doch nie vergessen. Schmerz ist vielleicht die größte Inspiration!
[1] Das ist tatsächlich der Fall, Blitze zeichnen sich im Allgemeinen durch eine recht kurze Lebenserwartung aus. Sie entstehen, zucken einmal kurz und das war es dann auch schon wieder. Meistens erreichen sie nicht mal den Boden, weil ihnen irgendwo unterwegs schon die Puste ausgeht. Aber nur weil dieser Blitz tatsächlich nie etwas anderes gemacht hatte, bedeutet das nicht, dass die Redensart als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht seine Gültigkeit verlor. Dieser spezielle Blitz war mit Leidenschaft bei der Sache!

[2] Der Nekrolog für Hugo war kurz: Er hat es bei jeder probiert, dieses eine Mal sollte er erfolgreich sein – für immer

Zählt als Patch-Mission.



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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

01.05.2005 11:22

Lob: Ein echter Fall! Indem zudem jeder Absatz für sich eine kleine, in sich geschlossene, Geschichte darstellte, was ein hohes Maß an Aufmerksamkeit bewirkte. Die männliche Hauptfigur (des Professors) war stark gezeichnet und ein echter Sympathieträger.

Kritik: Insgesamt gesehen war der Plot etwas zu vorhersehbar.

(Dennoch meine Nummer 1 :wink: )

Von Breda Krulock

01.05.2005 13:44

Ich kann da Ophelia nur zustimmen, war auch meine Nummer 1... ihr wißt doch, ich steh auf romatnisches Zeug, hätte am Ende sogar fast geweint, hab mich aber zusammengerissen :scheinheilig:
Die einzige Kritik die ich hätte, wäre... nun, du erwähnst einmal das Wort scheiße... das sag ich täglich, aber es hat mich dermassen rausgeworfen aus der Story, fand ich schade...aber trotzdem eine super geniale Geschichte! Du hast ab heute einen Fan :wink:

Von Yevel Linkefüsse

02.05.2005 19:39

Das war wirklich schön zum lesen, besonders die Schlussworte haben mir sehr gefallen, (wie wahr!..), und auch der Anfang mit dem Blitz fand ich sehr witzig. Die Vorhersehbarkeit ist ja, wenn man an eine berümte Legende anknüpft zum Teil nicht zu verhindern, doch ich find das auch nicht schlimm, das ist ja der Reiz im anlehnen an allgemeinbekannte Figuren, die Geschichte ist ähnlich aber nicht ganz gleich.

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