Die Klinik des leeren Glases

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von Stabsspieß Atera (SEALS)
Online seit 30. 11. 2002
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Atera ist in vollem Umfang geständig. Sie gibt zu viel Alkohol zu trinken und das auch im Dienst. Sie ist bereit an einer Therapie teilzunehmen, welche ich als Kommandeur der Wache unbedingt empfehlen würde, anstelle eine Therapie beim Püschologen.
Die Geschworenen gehen von leichter Schuld aus, fordern jedoch von Atera anstatt der Sitzung beim Püschologen eine Entziehungskur in der Klinik des leeren Glases.

Dafür vergebene Note: 14



Es war eine regnerische und stürmische Nacht. Der Regen zog in Strömen über das Land, legte sich wie ein dichter Teppich über die dunklen Kiefernwälder, ein grauer Vorhang aus klammer Nässe, mit dem der Wind spielte. Weit in der Ferne zuckte ein Blitz herab, nach einer unendlichen Weile war lautes Donnergrollen zu hören, das über die zerklüfteten Berge hereinbrach und sich mit lautem Hall ins Tal stürzte.
Wieder wurde die Nacht für einen kurzen Moment durch einen verästelten Blitz erhellt, Sekundenbruchteile spiegelte er sich an nassen glatten Stämmen wieder, warf seinen trüben Schein in schlammige Pfützen, die einen kleinen Weg durchzogen. Schlamm spritzte auf, als ein Wagenrad durch eine Pfütze rollte. Zu dem Rad gehörten noch drei weitere, so wie einen Aufbau, den man Kutsche nannte. Sie ruckelte über den Weg, der sich mal durch weite Einöden schlängelte, um gleich darauf wieder in einen finsteren Wald einzutauchen und um nun am Rand eines Nadelwaldes entlangzuführen, während sich auf der anderen Seite erste Ausläufer eines Gebirges vorschoben.
Der Regen trommelte auf das Dach der Kutsche, die Räder knarrten unter der Last und schoben sich ächzend durch den Schlamm vorwärts. Vorne auf dem Kutschbock saß eingehüllt in einen schwarzen öligen Regenmantel ein Mann, seine Schultern waren herabgesunken, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Hände bleich vor Kälte und verkrampft hielt er die Zügel der zwei Pferde, die müde und geschafft vorwärts trotteten. Nur dann und wann schienen sie die Ohren zu spitzen, inne zu halten und zu lauschen. Meist dann, wenn das Heulen begann. Tief durch den Regen und das Donnergrollen hindurch, konnte man es hören, nur schwach und weit entfernt, dennoch war das Geräusch so unablässig wie das Wetter selbst.
Mächtiger Donner ließ den Kutscher zusammenzucken und er schnalzte mit der Zunge, um die Tiere zu mehr Eile zu ermuntern. Er blinzelte durch den Regen in die Dunkelheit vor sich. Der Weg war nur schwach zu erkennen und er hätte sich wohler gefühlt, dürfte er die Laterne neben sich anzünden, doch selbst er wusste, dass in dieser Gegend schon eine schwache Lichtquelle Aufmerksamkeit nach sich zog. Und er wollte eigentlich so wenig Aufmerksamkeit wie möglich. Von innen wurde plötzlich gegen die Kutschdecke geklopft, das Seitenfenster wurde beiseite geschoben. Der Kutscher drehte sich nach hinten und sah nur die behandschuhte Hand seines einzigen Fahrgastes.
"Ja, Mi'lord? Was gibt es denn?", brüllte er, um das Gewitter zu übertönen.
"Wann - da?" Ein Teil der Frage wurde von plötzlichem Donnergetöse erfasst und von den Ohren des Kutschers weggetragen, ehe er sie vernehmen konnte.
"Ich weiß es nicht, Mi'Lord. Ihr wisst doch selber nicht, wo ihr hinwollt.", gab er laut rufend zurück, während der Regen an seinem Rücken kitzelte.
"Ich hab genug Geld um dich zu bezahlen, also sorge du nur dafür, dass wir unbeschadet ankommen.", rief der Mann im Inneren zurück.
"Natürlich, wo immer das auch sein mag, Mi'Lord." Das Seitenfenster wurde mit einem Ruck wieder geschlossen, der Kutscher schüttelte den Kopf. Ja, sein Fahrgast hatte eine Menge Geld, aber wenn man nur eine ungefähre Richtung wusste, dann kannte man auch gleichzeitig nicht den Ort, wo man endlich seine Bezahlung erhalten würde, was den Kutscher sehr verdross. Aber er hatte das Geld gesehen und es war echt. Und viel.
Irgendwo in der Nähe heulte ein Tier, die Pferde schnaubten nervös. Für einen Moment vermeinte der Mann auf dem Kutschbock glühende Augen in der Finsternis des Waldes zu erkennen. Schnell wandte er seinen Blick wieder auf den Weg vor sich. Man sollte die Straße immer im Auge behalten, erste Regel, die ihm sein Vater beigebracht hat. Immer ein Auge auf die Straße. Rechts und links lauern nur Gefahren.
Auf der Straße leider auch. Das war die zweite Regel. Er sah den großen Felsbrocken erst, als das linke Vorderrad schon darüber holperte. Die Pferde bäumten sich kurz auf, er hatte Mühe auf dem Kutschbock zu bleiben, das ganze Gefährt schwankte, aber es kippte nicht um und er dachte schon, sie wären mit einem blauen Auge davongekommen, als hinten ein furchtbares Krachen ertönte.
"Was ist da los?", rief der Fahrgast.
"Keine Bange, Mi'Lord, ich habe alles unter Kontrolle." Der Kutscher stieg umständlich hinunter und fluchte, als er mit den Stiefeln sofort in Schlamm steckte. Er stapfte hindurch zum hinteren Teil der Kutsche, die eine eigentümliche Schräglage besaß. Als er sie umrundete, merkte er auch woran das lag.
"Verdammter Dreck.", fluchte er.
"Hast du etwas gesagt? Warum fahren wir nicht mehr?", wurde aus der Kutsche gerufen.
"Nichts, Mi'Lord." Er betrachtete die Misere vor sich und hob seine Stimme an. "Es ist nur so, die hintere Achse ist gebrochen und wir stecken im Schlamm fest!" Es donnerte wieder.
"Warum fahren wir nicht?", brüllte der Mann zurück.
"Kommt doch raus und seht es euch selbst an!" Das tat er dann auch. Anfangs etwas pikiert stakte der Mann mit seinem schweren Mantel aus feinen Gezieferpelzen durch Matsch und Regen zu dem Kutscher.
"Also, was ist denn nun? Warum muss ich bei diesem unmenschlichen Wetter raus?" Der Kutscher deutete nur auf die Rückfront der Kutsche.
"Das Problem liegt vor euch, Mi'Lord." Die Hinterachse aus Holz war zur linken Seite hin gebrochen und aufgesplittert, so dass sich das volle Gewicht der Kutsche, nun ohne Halt, nach links neigte und fest in den Schlamm drückte.
"Wow, ganz wie in den Klickern.", sagte der Mann nur und schlang den Mantel enger um sich.
"Wie in den Klickern?", echote der Kutscher verständnislos. Der Mann nickte.
"Ja, dort bricht in einer stürmischen Nacht auch immer die Achse der Kutsche und die Menschen sind gezwungen in einer unwirtlichen Gegend Hilfe zu suchen."
"Hilfe? In dieser Gegend werden wir keine Hilfe bekommen.", gab der Kutscher verzweifelt von sich. Was war er nur für ein Trottel, er hätte diesen Auftrag niemals annehmen sollen, sein Vater würde sich im Grabe herumwälzen vor lauter Gram (wenn es dazu nicht zu klein gewesen wäre, er beschwerte sich darüber jedes Mal).
"Oh, natürlich nicht. In den Klickern finden die Leute auch immer nur Tod und Verderben.", erzählte der Mann mit beinahe fröhlicher Stimme.
"Nun, äh wie interessant, Mi'Lord." Sie standen eine Weile im prasselnden Regen und schwiegen. Schließlich straffte sich der Kutscher und ging ein paar Schritte durch die nasse, aufgeweichte Erde. "Ich geh und mach die Pferde los, Mi'Lord."
Der Mann kam hinter ihm hergewatet, er wischte sich hastig den Regen aus dem Gesicht, einzelne Tropfen klebten an seinem dünnen Schnurrbart. Er klopfte gegen seine Manteltaschen, holte erst eine fein geschnitzte Pfeife heraus und dann Tabak. Eine Weile hantierte er damit herum. Der Kutscher mühte sich mit seinen schmerzenden Fingern an den Ösen des Zaumzeuges ab und unterdrückte ein Fluchen, als es ihm immer wieder aus den Händen glitt. Als er es endlich geschafft hatte, die Pferde zu lösen und sie an den langen Zügeln herumführte, sah er wieder zu dem Herrn.
"Äh, Mi'Lord, ich glaube nicht, dass ihr es schaffen werdet bei diesem Wetter eure Pfeife anzuzünden.", gab er vorsichtig von sich. Der Mann winkte ab.
"Ich hab das noch bei jedem Wetter geschafft.", erwiderte er selbstgefällig. Der Kutscher stand so höflich wie es nur möglich war in dem strömenden Regen daneben und wartete pflichtschuldig bis es der Mann schließlich aufgab und eine ganze Reihe von Zündelhölzern genervt in den Schlamm warf. "Reiten wir los, Pfeife rauchen verbraucht jetzt zu viel Zeit.", erklärte er knapp. Der Kutscher nickte und half seinem Fahrgast auf das Pferd, ein breiter, stämmiger Falb, der mit den Hufen im Schlamm steckte, immer wieder seine Mähne schüttelte und nervös schnaubte.
Auch der Kutscher stieg auf sein Pferd und dann ergab sich ein kleines Problem. Er wendete sein Pferd und sah zu dem Mann ihm gegenüber, der offenbar entschlossen war die andere Richtung einzuschlagen.
"Wir müssen zurück, weiter den Weg entlang zu reiten, wäre töricht, Mi'Lord!", rief er laut, um das Gewitter zu übertönen. Der Mann wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und beugte sich vor.
"Was?", schrie er zurück. Ein Blitz fuhr hinter ihnen ein und die Pferde wieherten laut. Donner schwang sich durch die mächtigen Baumwipfel und der Wind strich heulend durch die Kronen. Der Kutscher trabte mit dem Pferd dicht an das andere und lehnte sich zu seinem Fahrgast.
"Ich halte das für keine gute Idee, wir sollten zurück und es bei einem bessren Wetter versuchen! Mit neuer Kutsche!" Der Mann schüttelte energisch den Kopf.
"Red kein Gewäsch, ich sage, wir reiten unbekümmert weiter. Wer weiß, vielleicht finden wir sogar Hilfe und ein warmes Plätzchen für die Nacht.", erwiderte dieser, dann zog er dem Pferd kräftig an den Zügeln und hielt es zu einem leichten Trab an. Der Kutscher sah hilflos hinterher.
"Mi'Lord!", rief er noch einmal. "Mi'Lord!" Der Ruf vermischte sich ungehört mit dem strömenden Regen. Der Kutscher blickte in beide Richtungen und folgte dann zögernd dem Mann. Lieber zu zweit in dieser Gegend, als alleine mit Duzenden von Wölfen. Und sein Vater hatte ihn immer gemahnt, dass man auf die Reisegäste aufpassen musste wie ein Luchs, sie seien das kostbarste Gut, das es zu schützen galt. Neben dem Gepäck.
Nach wenigen Metern hatte er den Herrn eingeholt, sein langer Mantel, schwer vom Regen, hing schlaff an den Seiten des Pferdes herunter, durch den Trab waren bald die Flanken der Tiere und ihre Beinkleider mit Schlamm und Dreck bespritzt. Der Kutscher beugte sich mit dem Oberkörper weiter hinunter und klammerte sich an die nasse Mähne des Pferdes. Er hasste es ohne Sattel zu reiten, vor allem bei dem Unwetter, der Rücken des Pferdes war rutschiger als der frisch gebohnerte Boden im Haus seiner Großtante und das wollte was heißen. Sie ritten schweigend dahin, der Wald zog neben ihnen vorüber und die Landschaft veränderte sich nicht viel. In der Nacht wirkte sie noch verlassener als ohne hin schon. Der Kutscher kannte zwar viele Wege, aber an diesen erinnerte er sich nicht und als der Fahrgast an einer Kreuzung forderte dort einzubiegen, hatte der Kutscher nicht widersprochen. Er legte kurz den Kopf in den Nacken und spähte nach dem Mond, doch nur Regentropfen wie dünne Fäden von Spinnnetzen ließen sich vom Himmel herab.
Allmählich stieg der Pfad etwas an und schlängelte sich Richtung Gebirge, was den Vorteil hatte, dass der schlammige Untergrund weniger wurde, doch es machte den Kutscher nur unbehaglicher zumute. Wo ritten sie in den Namen aller Götter nur hin? Sie erklommen einen Hügel und als sie um einen großen, scharfkantigen Felsbrocken bogen, der im Schein eines Blitzes wie ein gebeugter Steintroll wirkte, sahen sie plötzlich das Schloss.
"Sieh mal, dort finden wir sicher Hilfe.", sagte der Mann und deutete in die Richtung.
"Äh.." Der Kutscher sah auf das Schloss, das gleich einem Herrschersitz auf dem Hügel thronte und hinunter auf den dunklen Wald blickte. Blitze zuckten über den Himmel und schwere Wolken hatten sich zusammengebraut. Das Schloss schien dort geradeso als passender Vordergrund für das Gewitter errichtet worden zu sein. Es schoss, genau wie das Gebirge dahinter, hoch auf, besaß mächtige Erker und verwitterte Steinfiguren. Soweit in der Dunkelheit erkennbar, hatte wilder Efeu begonnen die Mauern mit seinem grünen Netz einzufangen.
Der Mann lenkte sein Pferd auf einen halbwegs befestigten Weg und ritt auf das Schloss zu.
"Mi'Lord, die Tatsache, dass dieses Schloss hier mitten im Nirgendwo steht lässt nichts gutes vermuten.", versuchte der Kutscher seinem Fahrgast etwas Vernunft einzutrichtern. Der Mann winkte nur mit der Hand ab.
"Es brennt Licht, sicherlich die Leute leben ein wenig zurückgezogen hier, aber dann sind sie sicher genauso erfreut über etwas Besuch.", erwiderte dieser. Mit dem Licht hatte er Recht, in einem der Fenster flackerte augenscheinlich der Schein einer Lampe. Der Rest aber war, nach reiflicher Überlegung des Kutschers, ausgemachter Unsinn.
"Vielleicht wollen sie ja zurück gezogen leben und deswegen keinen Besuch. Lasst uns lieber umkehren solange noch Zeit bleibt, Mi'Lord.", drängte er. Es donnerte und so konnte er die Antwort des Mannes nicht genau verstehen, aber das Wort 'Klicker' fiel, was den Kutscher nur noch nervöser machte. Was auch passiert, bleib beim Fahrgast, hatte sein Vater ihm immer gesagt. Der Kutscher rief sich Wörter wie Pflichtbewusstsein, Tapferkeit, Loyalität in Erinnerung. Er blickte zu den eigentümlichen Steinfiguren, die nun, nachdem sie etwas näher herangekommen waren, auch erkennbar waren. Sie hatten hässliche Fratzen und die Klauen waren unnatürlich gekrümmt, als würden sie alle auf ewig unsichtbare Kehlen von Geistern erwürgen. Wind heulte um die sehr hohen Spitzdächer, der Regen trieb in wahren Strudeln um das Schloss.
Zum Teufel mit dem Fahrgast! Zum Teufel mit dem Geld! Der Kutscher wand hektisch, trieb seine Stiefel heftig in die Flanken des Pferdes und galoppierte davon. Sein Vater wäre nicht sehr erfreut, oh nein, ganz sicher nicht, aber lieber Schande der Familie, als loyal und tot. Geld oder Leben. Manchmal konnte man eben nicht beides haben.

***


"Guck doch mal, sieht doch ganz nett aus.", sagte Vinni und deutete auf das Prospekt.
"Jaja, sehr schön.", brummte Atera und schnippte das Prospekt vom Tisch. "Ich versteh gar nicht, warum ich da hin soll. Habe ich das etwa nötig? Ich kann jederzeit aufhören."
"Das denke ich nicht.", warf Humph ein. Er deutete auf einen riesigen Berg an Flaschen in einer Ecke. "Das wurde alles in deinem Büro gefunden."
"Hat sich eben so angesammelt im Laufe der Jahre.", erwiderte Atera.
"Im Laufe einer Woche ist wohl der bessere Ausdruck.", fiel ihr Eca ins Wort und grinste. Atera verschränkte die Arme. Sie verstand wirklich nicht, was das ganze sollte. Gut, sie hatte im Dienst getrunken. Na und? Es war vielleicht ein, zwei, dreimal vorgekommen, na schön, vielleicht auch mehr. Aber hatte es jemanden gekümmert, hatte es irgendwen gekümmert bis IA kam? Stabsspieß Atera sah sich um, sie saß zusammen mit Humph, Vinni, Eca und Cim im Büro des Abteilungsleiters von F.R.O.G. und warteten gemeinsam auf das Eintreffen von Rince. Zuvor sollten ihre schönen 'Freunde' sie wohl überzeugen, dass diese Entziehungskur eine ganz sinnvolle Sache wäre, damit sie milde gestimmt packte und von dannen zog.
"Vielleicht ist diese Entziehungskur wirklich eine gute Möglichkeit, hm?", probierte es Ecatherina.
"Eine gute Möglichkeit für was? Mich loszuwerden?", schnappte Atera.
"Es wäre doch nur für zwei Wochen plus die Hin- und Rückfahrt, Schäffin.", wand Cim ein. "Und um S.E.A.L.S. brauchst du dir keine Sorgen zu machen, im Moment ist es eh ruhig in der Stadt, das kriege ich schon geregelt."
"Darum geht's doch gar nicht!", blaffte der Stabsspieß, drückte sich mit den Handballen vom Tisch ab, schob den Stuhl zurück wie ein trotziges Kind, das frühzeitig vom Essenstisch aufstand und stapfte im Büro umher. Sie hörte wie hinter ihr für einen kurzen Moment leise geflüstert wurde, dann war es wieder still.
"Um was geht es dann?", fragte Humph.
"Ach, ich.. ich sehe einfach nicht ein, warum ich kein Alkohol mehr trinken sollte. Es hat bisher noch nie meine Ermittlungen beeinträchtigt." Vinni hüstelte dezent im Hintergrund. "Und meine Kenntnisse über jedes alkoholische Getränk in Ankh-Morpork und Umgebung hat auch bereits bei dem ein oder anderen Fall weitergeholfen.", wich Atera hastig der Frage aus und stellte sich vor das Fenster, mit dem Haken [1] am rechten Arm das linke Handgelenk umfassend.
"So? Ich hörte, du hättest einige Rekruten beinahe dazu gebracht deine Zeche von über 60 Dollar bezahlen zu lassen...", warf Eca ein.
"Und während du noch bei G.R.U.N.D. einen Fall geleitet hast, bist du torkelnd und singend vor deinen Rekruten erschienen. Sie mussten dich mit klatschianischem Kaffee wieder nüchtern machen.", fügte Cim hinzu.
"Nicht zu vergessen die eigentliche Mission, die dir erst die IA Strafanzeige eingebracht hat..", merkte auch noch Humph an bis Atera sich schließlich zornig umdrehte und die anderen ansah. Sie setzte an etwas zu sagen, schloss dann aber wieder den Mund und ging eiligen Schrittes zur Tür.
"Ich hol mir was zu trinken." Sofort sprangen alle auf. "Herrje, ohne Alkohol, verdammt!" Die Abteilungsleiterin der S.E.A.L.S. rauschte aus dem Raum und knallte die Tür zu.

Vinni bückte sich und griff nach dem Prospekt, das Atera vom Tisch gefegt hatte. Er strich es wieder glatt und blickte erneut drauf.
"Sieht doch wirklich ganz nett aus.", sagte er. Die Broschüre zeigte vorne eine gemalte Abbildung der Klinik, die in der Tat sehr einladend und freundlich aussah. Klappte man das Prospekt auf, verkündeten innen vollmundige Versprechungen baldige Erfolge und eine andauernde Abstinenz. Hinten war eine Karte eingezeichnet, die den Weg beschrieb. Nach Überwald. "Dort liegt vielleicht das Problem, vielleicht geht es darum."
"Was redest du da?" Humph MeckDwarf sah ihn verwirrt an.
"Naja, ich meine, diese Klinik des leeren Glases liegt ja recht weit weg und soweit ich weiß, hängt Atera sehr an der Stadt... Ähm, vielleicht hat sie einfach Angst, dass sie Heimweh kriegt.", druckste Vinni ein wenig herum. "Und sie darf ja auch niemanden mitnehmen, also ist keiner da, den sie äh herumkommandieren kann." Er hielt inne und suchte nach einer besseren Formulierung. "Naja, ihr wisst ja wie das ist mit ihr einen Fall zu lösen." Die anderen nickten.
"Trotzdem.. sie und Heimweh, nie im Leben." Humph winkte ab. "Ich glaube, sie versteht einfach nicht worum es geht. Als Abteilungsleiterin sowie als Ausbilderin erfüllt sie eine Vorbildfunktion und wenn die jungen Wächter eher sie stützen müssen als umgekehrt ist das nun mal nicht gewährleistet. Außerdem war ihre Alkoholfahne manchmal schon recht peinlich.." Er hörte auf zu reden und schwieg.
"Es ist wahrscheinlich wirklich das beste, wenn sie bald geht, immerhin hat sie es bereits lange genug hinausgezögert.", merkte Cim an, der Hauptgefreite wollte noch etwas sagen, wurde aber rüde unterbrochen, als die Türe plötzlich aufging und Rince im Schlepptau mit Atera hereinkam.
"Sie hat an der Tür gelauscht!", polterte der Kommandeur sofort los. "Du hast deine eigenen Kollegen belauscht!" Er drückte Atera auf einen Stuhl.
"Natürlich, das hier ist Ankh-Morpork, jeder hier hat sicherlich mal sein Ohr an die Tür von jemand anderes-"
"Du bist S.E.A.L.S. -Abteilungsleiterin, du solltest ein Vorbild für jeden Wächter sein. Ein positives!", fiel ihr Rince ins Wort, während die anderen noch versuchten ebenfalls zu Wort zu kommen. Es begann eine hektische Diskussion in der alle durcheinander redeten bis ein lautes "RUHE!!!!!" durch den Raum gebrüllt wurde, das eindeutig von Kommandeur Rince stammte. Er nestelte am Kragen seiner Uniform und an seinem Hals hatten sich rote Flecken gebildet.
"So, jetzt-", begann er, als alle verstummt waren.
"Bevor du was sagst, ich werde morgen abreisen, damit ihr endlich zufrieden seid.", wurde Rince von Atera unterbrochen.
"Schön, das ist die richtige Einstellung." Er dachte kurz nach. "Ähm, na ja, sie könnte natürlich noch etwas besser sein.." Aber Hauptsache sie fängt die Entziehungskur erstmal an, fügte er in Gedanken hinzu. Auch die anderen schienen sehr erleichtert, immerhin hatten sie Atera allein für dieses "Gespräch" lange genug überreden müssen und die Laune der Wächterin war von Tag zu Tag nach dem IA Urteil nicht besser geworden. Im Gegenteil.

Es war ein kalter Sommermorgen als einige Wächter, noch müde und in ihren kurzen Uniformen leicht frierend, den ersten Stabsspieß der Wache verabschiedeten. Im Hof des Wachhauses stand ein einspänniger Eselkarren, die Sitzbank war gerade groß genug für eine Person und im Karren selbst lag ein zusammengeschnürtes Bündel. Der Esel, ein dickes, störrisches Tier, kaute gedankenverloren an einer Möhre und blickte mit lustlosem Ausdruck (falls Esel dazu überhaupt imstande sind) um sich.
"Hast du auch ihre Sachen durchsucht?", fragte Rince leise. Cim nickte.
"Zwei Flaschen, vier Flachmänner und eine Ampulle, wo 'Medizin' draufstand. Ich hab dran gerochen, das ist hundertprozentig äh.. hundertprozentiger Alkohol."
"Die beste Medizin, die es geben kann.", fügte Atera hinzu. Der Hauptgefreite rieb sich die schmerzende Hand und verschwieg, dass er auch in eine Tasche gegriffen hatte in der ein schleimiges, glubschäugiges, fettes Ding gesessen und ihn gebissen hatte. Je mehr Bekanntschaft er mit der Kröte machte, desto weniger mochte er sie. Der Stabsspieß warf noch einen Beutel mit Möhren und Äpfeln für den Esel in den Karren und schien nicht sehr erfreut, dass ihre Geheimverstecke aufgeflogen waren.
"Nun, dann komm erholt und äh entzogen wieder." Vinni lächelte zerkniffen in die aufgehende Sonne. Atera nickte und stieg auf den Karren. Sie zog sich einen Schlapphut tief ins Gesicht, in ihrer Hand hielt sie eine kleine Weidengerte.
"Gut, dann wäre ja alles geklärt. Bis bald.", sagte Atera nur noch. "Ich komme ganz bestimmt wieder."
"Daran zweifel ich keine Sekunde.", erwiderte Humph. Der Stabsspieß warf ihm einen Blick zu, der Feuer hätte gefrieren lassen können, schnalzte mit der Zunge, beschimpfte den Esel wie ein ordinärer Droschkenlenker, während alle höflich daneben standen und respektvoll schwiegen bis der Karren sich endlich in Bewegung setzte und ruckelnd aus dem Hof verschwand.
Die Wächter sahen ihr nach.
"Glaubst du, sie schafft es?", fragte Vinni in die eintretende Stille.
"Daran zweifel ich allerdings.", antwortete der Leutnant und hakte die Daumen nachdenklich am Gürtel seiner Uniformhose unter.
"Gehen wir rein, es ist noch kalt. Außerdem wartet mein erster, eigener Rekrut auf mich. Ich glaube, er heißt Houdini oder so." Der Kommandeur drehte sich um und der kleine Trupp an Wächtern folgte ihm. Die Stimmen wurden leiser, verebbten langsam.
"Zwei Dollar, das sies packt."
"Drei dagegen."

Wäre jemand um diese Zeit in dieser Gegend gewesen, hätte er etwas sehr sonderbares gesehen. Nun, natürlich war es in Ankh-Morpork nichts besonderes, aber in der Sto-Ebene -angelehnt an den Maßstab [2], was hier schon für merkwürdig gehalten wurde- war ein fluchender Zombie in abgetragener Kleidung und mit einem Haken anstelle einer rechten Hand in der Tat etwas Sonderbares. Aber es war niemand zugegen außer ein paar Kohlköpfen, die schnell dem Esel zum Opfer fielen.
Diesen Umstand hielten drei Banditen für eine gute Gelegenheit ihrem traditionellen Gewerbe nachzugehen. Hoch oben in der Krone eines dichten Baumes hockten sie am Rande des einzigen Forstes in der Umgebung und diskutierten über Art und Vorgehensweise des Überfalls.
"Wenn der Baum einen großen Ast hätte, der über die Straße ragen würde, könnten wir, genau in dem Moment wo er unter uns hinweg fährt abspringen, auf dem Karren landen und den Kerl von hinten überwältigen.", schlug der erste vor und baumelte locker mit den Beinen. Es bestand keine große Eile, da der Karren sich ungefähr mit dem Äquivalent einer Schnecke fortbewegte. Der zweite kaute auf einigen getrockneten, runzligen Apfelstücken herum, die ihm seine Mutter [3] mitgegeben hatte.
"Gute Idee.", sagte er.
"Er hat aber keinen großen Ast, der über die Straße ragt.", warf der dritte ein. Die anderen beiden warfen ihm den Blick zu, den man gemeinhin für Spielverderber reservierte. "Ich weise nur auf die Fakten hin.", verteidigte sich der dritte. Sie blickten wieder auf die Straße.
"Früher gabs noch gute Äste, große, runde Dinger aus Holz, jaja, wenn wir ein solches Exemplar hätten, dann könnten wir es auf die Straße rollen und uns wie in den guten alten Zeiten dahinter stellen.", präsentierte der erste Mann seinen neuen Vorschlag.
"Hmm, ja, ne gute Idee.", murmelte der zweite Bandit mit vollem Mund.
"Wir haben aber keinen solchen Ast.", erwiderte der andere. "Und seht mich so nicht an! Ich sage, lasst es uns wie immer machen." Er legte sich ein dunkles Tuch um Mund und Nase, so dass man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Der Karren war mittlerweile näher gekommen, die anderen beiden Räuber nickten und verhüllten ebenfalls ihre Gesichter. Der zweite erntete missbilligende Blicke für sein rot-weiß kariertes Tuch und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Sie kletterten vom Baum und traten gemächlich auf die staubige Straße. Der erste Bandit schwang lässig eine große Keule in der Rechten und blickte grimmig dem Karren entgegen.
"Die Zeiten werden auch immer schlechter.", sagte er und spuckte aus. Er hielt inne und fluchte, als er merkte, dass sein Mund ja unglücklicherweise mit dem Tuch bedeckt war.
"Halt! Geld oder Leben!", rief der dritte mit lauter Stimme und hob die Hand gebieterisch. Die Gestalt auf dem Karren zog mit der Hand an den Zügeln, brachte den Esel zum Stehen und hielt den Kopf weiterhin gebeugt, als fände sie ihre alten Stiefel sehr interessant. Hat wohl jetzt schon Schiß, dachte der erste und grinste ein jahrelang einstudiertes hässliches Banditengrinsen. Er vergaß dabei nur, dass es niemand sehen konnte.
"Ich fürchte, ich kann euch weder Leben noch Geld anbieten.", sagte in diesem Moment die Gestalt ruhig.
"Ach ja? Das werden wir ja noch sehen! Los, zeig dein Gesicht!", forderte der erste Straßenräuber.
"Schenau, zeg d'n Geschicht..", murmelte der zweite unter seinem Tuch. Die anderen beiden sahen ihn an.
"Isst du wieder heimlich während der Arbeit?" Der Angesprochene schluckte daraufhin hastig und schüttelte den Kopf.
"Äh gut, okay, wo waren wir stehen geblieben? Achja.. dort.. Zeig endlich deine miese Visage!!" Der erste schwang drohend seine Keule und trat angriffslustig ein paar Schritte nach vorne. Im gleichen Augenblick stand die Gestalt auf, warf den Mantel beiseite und zeigte... einen weiblichen Zombie in einer zerschlissenen Reisekleidung. Anstelle einer rechten Hand trug sie einen gebogenen Haken.
"Wollt ihr mich immer noch ausrauben?" Die untote Frau grinste siegessicher.
"Äh, ja. Warum sollten wir nicht?" Die drei Banditen schienen verwirrt, irgendetwas verlief gerade nicht nach Plan.
"Nun, weil ihr jetzt gesehen habt, wer ich bin. Ein Zombie. Weiblich. Kommt aus Ankh-Morpork. Fährt auf einem Eselskarren. Trägt einen Haken. Gut, der ist neu, das gebe ich zu. Trotzdem.. klingelt da nichts bei euch?" Beide Parteien musterten sich abwartend, die Banditen zuckten mit den Schultern, Gemurmel startete. Die Frau seufzte, holte ein schartiges Kurzschwert raus, ließ sich wieder mit einem Ächzen auf dem Kutschbock nieder und rollte den Schwertknauf unter der ausgestreckten Hand. "Hmm, vielleicht bin ich schon zu weit weg aus der Stadt. Also ihr.." Sie warf einen Blick zu den drei Männern vor ihr. "Banditen, ich werde Atera genannt." Gespannte Stille verstrich. "Ihr könnt jetzt schreiend und heulend davon laufen." Die Banditen tauschten einen kurzen Blick und ihre Mundwinkel zogen sich zu einem weiteren Grinsen hoch. Damit kannten sie sich aus. Selbstüberschätzung. Hat zu viele Geschichten gelesen, zu viele Klicker gesehen. Klarer Fall von Selbstüberschätzung. Sie wandten sich der Frau zu und klopften mit ihren Keulen abwartend auf die Innenseite ihrer Hand.
"Wir nehmen erst dein Geld an uns, dann gehen wir.", widersprach der erste Bandit.
"Was meins ist, ist meins und bleibt meins." Die untote Frau stieg vom Karren und hielt ihr Schwert bereit. Sie bewegte sich vorsichtig, schob einen Fuß vor den anderen, ließ ihren Blick über die drei Straßenräuber wandern... Wind rauschte durch den Forst neben dem Weg, ein Falke kreiste lautlos über die Felder. Nirgends war eine weitere Person zu sehen, die ihr hätte zu Hilfe eilen können. Der Blick der Frau verharrte bei einem Punkt, der sich wenige Meter hinter den Räubern befand.
"Der Trick ist alt, Weib.", sagte der dritte Bandit und kam näher.
"Ich habe nie Wert auf Tricks gelegt, hier draußen zählt nur eins.", erwiderte die Untote ruhig. Sie trennten jetzt nur noch wenige Schritte, aber noch wagte niemand den ersten Angriff zu starten.
"Frische Unterwäsche?", fragte der Mann, der sich hinter einem weiß-rot kariertem Tuch verbarg. Die anderen beiden verzichteten dieses Mal auf einen mahnenden Seitenblick, sie waren vollends konzentriert. Jahre der Erfahrung hatten ihre Sinne geschärft, ihr Handwerk geübt und routiniert. Sie kannten jeden Trick.
"Ach und das wäre?", fragte der erste trotzdem. Da lächelte die Frau.
"Das Gesetz."
"Hah, das Gesetz! Das Gesetz ist meilenweit entfernt.", gab der Bandit verächtlich zurück. Er trat noch einen Schritt vor, hob seine Keule, bereit sie niedersausen zu lassen. Die Frau sah weiterhin geduldig hinter die drei.
"Du irrst dich, das Gesetz ist nur ein Hauchbreit von dir entfernt." Und da konnten die ersten beiden Räuber nicht widerstehen und drehten sich um. Natürlich war niemand da und das dumpfe Gefühl im Magen nahm zu, das jedes Mal eintrat, wenn man auf den ältesten Trick auf der gesamten Scheibenwelt hereingefallen war.
"Ihr schaut in die falsche Richtung.", sagte die Frau und hieb, noch mitten im Satz, mit ihrem Schwert auf den dritten Banditen ein.

Atera war eine passable Schwertkämpferin, sie kämpfte nicht mehr allzu oft, aber wenn... dann war es.. passabel. Nein, sie legte wirklich keinen großen Wert auf Tricks, es sei denn, sie waren wirksam. Sie kämpfte, wenn es notwendig war und auch dann nicht mehr als notwendig. Viel zu anstrengend und unangenehm, man lief Gefahr auseinander zu fallen. Ihre einzige große Stärke im Schwertkampf war Erfahrung, Jahre an Erfahrung, Jahrzehnte, Jahr.. eben Erfahrung. Und zusammen mit Routine und Durchhaltevermögen war dies eine einigermaßen akzeptable Zusammenstellung. Durchhaltevermögen, das brauchte man. Man musste nur länger überleben. Und das konnte sie.
Zuerst schalte man den "Denker" aus, den sie unzweifelsfrei feststellte, als denjenigen, der sich nicht umgedreht hatte. Erst den Denker, dann den Rest. Das Dumme war nur, dass der "Rest" sich unglücklicherweise nicht an diese Regel hielt. Die zwei Banditen kamen auf sie zugestürmt, während sie dem dritten Räuber bereits einen Stich am Oberarm verpasst hatte. Sie schlug immer mit der flachen Seite zu, nicht, weil sie es nicht besser konnte. Oh nein, es gehörte viel Kunst dazu nur mit der flachen Seite zu kämpfen, aber sie hatte es lieber, wenn die Gegner am Schluss noch lebten und im Umlauf bringen konnten, wem sie über den Weg gelaufen waren.
Atera duckte sich unter einem Keulenhieb des zweiten hinweg und trat dem ersten "dorthin-wo-es-wirklich-weh-tat", dieser heulte laut auf, warf sich auf den Boden und rollte dort in stummer Agonie hin und her. Eine Keule traf sie am Rücken und sie strauchelte, doch es war nicht fest genug gewesen, dass sie zu Boden ging. Rasch drehte sich Atera wieder um und fuhr mit ihrem Schwert durch die Luft, um sich eine Atempause zu verschaffen. Die verbleibenden zwei kamen erneut auf sie zu, während der erste wieder im Begriff war sich aufzurappeln, doch bevor er gänzlich aufgestanden war, eilte Atera mit einem Sprung zu ihm und trat ihn wieder zu Boden. Sie hörte schwach eine Naht reißen, trotzdem machte sie weiter, trat, boxte, hieb, stach, biss, kratzte und kämpfte bis nur noch Schemen vor ihr hin und herwankten auf die sie unkontrolliert eindrang. Der Haken wischte durch die Luft, riss Haut auf, stach und kratzte.

Die Banditen schnauften angestrengt. So hatten sie sich das nicht vorgestellt. Niemand hatte ihnen gesagt, dass sie gegen eine Furie würden kämpfen müssen, die außerdem wild herumhopste, mit ihrem Schwert in der Luft fuchtelte und einen in die Finger biss, wenn man nicht aufpasste.

Nach wenigen Minuten war es vorbei, ohne viel Geschrei und Getöse. Normale Kämpfe gingen meist lautlos vonstatten, wer bei Kämpfen wildes Gebrüll und laute Schreie erwartete, der hatte noch niemals richtig gekämpft, fand Atera. Sie blickte auf die drei verwundeten Straßenräuber nieder, die verkrümmt und verdreht zu ihren Füßen lagen und leise schnauften. Mit einem Fetzen ihrer Kleidung wischte sie das Schwert ab, stach es kurz in den Boden, stützte sich darauf ab, als sie in die Hocke ging. Atera hob den Kopf des ersten Banditen hoch bis sie nah genug war, um ihm ins Ohr zu flüstern.
"Ich bin Atera. Ich bin das Gesetz.", sagte sie mit ruhiger Stimme, der Mann ächzte und sie ließ den Kopf wieder auf den staubigen, zertretenen Boden sinken. Atera erhob sich, nahm ihr Schwert an sich und ging zu ihrem Eselkarren zurück, dem Esel gab sie eine Möhre, den anscheinend der Kampf nicht sonderlich beeindruckt hatte. Sie nahm auf der Sitzbank Platz, lenkte den Esel vorsichtig um die drei Räuber herum und während der Karren noch an ihnen vorbeirollte, beugte sie sich noch einmal zu ihnen.
"Stadtwache Ankh-Morpork übrigens. Wünsche noch einen schönen Tag und Empfehlung an die Frau Mutter." Sie lüftete ihren Hut, setzte ihn wieder auf und fuhr fort.

Nach zwei Wochen

Wind heulte durch hohe dichte Baumwipfel, Äste knarrten, irgendwo im Unterholz raschelte es, ein Reh preschte auf den Pfad, wandte den anmutigen Kopf und lief dann weiter über eine Wiese zum nächst gelegenen Waldstück. Es verging eine Weile, in der nur der Wind in dieser Gegend herrschte, er fegte losen Staub über den schmalen Pfad, der am Rande eines weiteren Waldes verlief. Erste Gräser, die begonnen hatten, den Weg wieder für sich zu erobern, schwankten leicht in der Luft. Über der angrenzenden Wiese kreiste ein Raubvogel, stieß einen krächzenden Ruf aus und sauste dann hinab dem Boden entgegen. Holz knarrte bedrohlich, die Blätter wisperten leise miteinander. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen, diese Gegend war einsam...
"Knieweisch, Knieweisch, oh wie sin mir die Knie weisch!", erscholl plötzlich noch leise aus weiter Ferne, um mit jedem Male an Lautstärke zuzunehmen. Es schien eine Art Lied zu sein, das sich, genau wie der Pfad, seinen Weg durch die wilde urtümliche Umgebung suchte. "Oh Knieweisch, Knieweisch!" Die Stimme war rau und lallte fröhlich vor sich hin, hielt nur ab und zu inne, um, wie es den Anschein hatte, über den Fortgang des Textes zu sinnieren. "Du wirst aus Äpfeln gemacht und darum darum bisch duhu gesuhund!"
Ein Poltern war zu hören, das Knarzen von Wagenrädern. Eine Gruppe Vögel, die auf dem Weg nach Nahrung gesucht hatte, erhob sich rasch flügelschlagend in die Höhe, an der Kuppe eines Hügels tauchten zunächst zwei graue spitze Ohren auf, die in unwillkürlichen Abständen zuckten um brummende Fliegen zu vertreiben. Dann folgte ein Schlapphut und schließlich schoben sich die eigentümlichen Umrisse bis zur Spitze des kleinen Hügels und offenbarten eine singende Person, die auf einem Eselkarren saß. In der einzigen Hand schwang sie übermütig einen Flachmann, Flüssigkeit verteilte sich daraus ab und zu in trüb gelben Lachen auf der Erde, die rasch dort versickerte [4].
"Knieweisch, Knieweisch! Ich trink disch ausm Fingerhut, du tust mir soho guuuut! Knieweisch, Knieweisch.... du bist nicht nur zum Trinken guhut! Knieweisch, Knieweisch! Oh wie sin mir die Knie weisch!" Der Eselkarren rollte rumpelnd durch die längst zugewachsenen Furchen anderer Wagenräder. Die Gestalt auf dem Sitz hatte die Zügel lässig um einen gebogenen Haken am rechten Arm gewickelt und steuerte damit unbeholfen.
Sie passierten den Stamm eines Baumes an dem ein kleines Schild befestigt war, das in einen Seitenpfad in den Wald hinein deutete. Der Karren steuerte darauf zu, hielt kurz vor dem Schild, der Kopf des Lenkers wippte auf und ab, als dieser versuchte sich vorzubeugen um das Schild zu lesen ohne dabei herunterzufallen.
"Zur Klinik des.. des leeren Glases, jawoll..." Die Person rückte ihren Schlapphut zurecht, schien kurz nachzudenken, nahm noch einen Schluck aus dem Flachmann und bog dann weiterhin munter singend in den Wald ein. "Zur Klinik Klinik des leeren Glases fahr ich... nun und lass mir lass mir mein Glas dort füllen. Mit Knieweisch, Knieweisch... oh wie sin mir die Knie weisch..." Der Gesang wurde leiser, das Poltern des Karrens entfernte sich und Stille kehrte langsam wieder auf dem Weg ein. Die Kronen der hohen Nadelbäume rauschten und beugten sich interessiert über ihren neuen Gast.

Einen Tag später

Atera warf den letzten leider leeren Flachmann hinter sich. Ihre Geheimverstecke waren natürlich, ganz wie sie es erwartet hatte, aufgeflogen, doch sie wäre kein Stabsspieß hätte sie nicht ausreichend vorgesorgt. Nur hier in dieser Einöde gab es scheinbar kein Alkohol, selbst die letzten Dörfer, die Atera passiert hatte, besaßen keine Kneipe, nicht mal einen einzigen Tropfen Bier und nun war ihr eigener Vorrat aufgebraucht.
Mürrisch lehnte sie sich auf dem Sitz zurück und gegen das harte Holz.
"Weck mich, wenn wir da sind, Henry." Sie zog sich den Hut übers Gesicht und wachte erst wieder auf, als ihre Kröte laut quakte. In diesem Moment passierte der Karren eine weitläufige Holzpalisade, die sich wie eine Art eines großen Zaunes bis in die Ferne erstreckte. Atera schätzte die Höhe auf anderthalb Menschengröße, Bäume in der Nähe gab es nicht. Nur fein säuberlich beschnittene Büsche, sowie quadratisch angelegte Blumenbeete. Ein Querbalken über dem Eingang verkündete in eingeschnitzten Lettern und rot bemalt 'Die Klinik des leeren Glases'. Ein Kiesweg führte durch den Vorgarten, vorbei an einigen Bänken zu einem großen verschachtelten Gebäudekomplex. Vergitterte Fenster reihten sich aneinander, Ateras Blick glitt aufmerksam über das Gelände. Neben dem zweistöckigen Haus war ein kleiner Schuppen angebracht, in einem Zwinger schlichen zwei große Hunde umher, doch sie bellten nicht, als sie Atera sahen.
Sie brachte den Karren auf dem Kiesweg zum Stehen, steckte vorsichtshalber Henry in die Tasche, klopfte noch einmal dem Esel dankbar den Rücken und ging dann zu der großen Flügeltür, die wohl den Eingang darstellte. Atera griff zum Klopfer, der die Form einer Flasche besaß und ließ ihn auf das Holz zurückschlagen. Der Hall des Geräusches verklang bereits, als sich etwas oberhalb der Augenhöhe eine Klappe öffnete. Ein Mann schaute auf Atera hinab und dann hinter ihr zu dem Karren.
"Besucher oder Patient?", fragte er mit überwaldischem Akzent ohne sich lang mit einer Begrüßung aufzuhalten. Atera sah ihn misstrauisch an.
"Wo ist da der Unterschied?", fragte sie zurück.
"Der Unterschied liegt darin, dass Besucher drei Stunden bleiben können, um ihre Lieben zu sehen, Patienten hingegen mindestens zwei Wochen bleiben müssen, damit der Erfolg gewährleistet werden kann."
"Der Erfolg?" Der Mann nickte.
"Der Erfolg über den Alkohol."
"Hah, wenn man das heutzutage Erfolg nennt. Früher gab es noch richtiges Wetttrinken, hab jeden Kerl in der ganzen Umgebung von Ankh-Morpork unter den Tisch gesoffen. Und heute? Heute stecken sie einen in Kliniken, wenn man nur dem Whiskey etwas öfters zuspricht. Unter Triumph über den Alkohol verstehe ich was völlig anderes, ich verstehe darunter-"
"Patient?", wurde Atera grob unterbrochen.
"Ja, aber-"
"Reinkommen." Die rechte Flügelseite öffnete sich abrupt und Atera wäre beinahe regelrecht hineingezogen worden, doch sie wehrte die Handbewegung ab und trat erhobenen Hauptes selbst hinein. Hinter ihr schmiss der Mann die Türe fest ins Schloss. Es krachte dumpf und Atera befand sich in der Klinik des leeren Glases.
"Zur Anmeldung.", schnarrte der Mann, er trug eine Art graue Uniform, wie sie bei der Abteilung D.O.G. verwendet wurden, doch die des Mannes wies einen hohen Kragen und eine Menge kupferner Knöpfe auf. Der Mann deutete auf einen Schalter, der einsam in einem dunklen Empfangsraum stand. Der Boden war glatt, nirgends befand sich ein weiterer Einrichtungsgegenstand. Es wirkte... kalt.
Unbeirrt trat Atera zu der kleinen Theke hinter der eine Frau in einem grauen Kittel saß. Sie sah gelangweilt von einer Zeitung auf und schob einige Blätter Papier hinüber, dann schnippte sie einen Stift zu Ateras Seite und beachtete sie nicht weiter.
"Eintragen.", sagte die Frau nur knapp. Sie hielt plötzlich inne und wandte sich Atera erneut zu. Ein abschätzender Blick streifte die Untote. "Oder kannst du etwa nicht lesen und schreiben?" Die Frau am Schalter zog verächtlich die Mundwinkel hoch.
"Doch, dazu bin ich sehr wohl in der Lage, ich habe es nur nicht gern, wenn man mir sagt, was ich zu tun habe. Das weiß ich meistens nämlich selbst besser.", erwiderte Atera ohne sie dabei anzusehen und blickte nur auf das erste Blatt, das sie ausfüllen sollte.
"Ach, so eine bist du.", die Stimme der Frau war penetrant und troff geradezu vor Hochnäsigkeit. Atera klopfte nachdenklich mit dem Haken auf die Theke und trug ihren Namen ein. Danach gab es die Frage nach der Spezies, doch es befand sich nur die Auswahl Mensch und... sonstiges dort. Atera starrte wieder zur Frau, diese tippte mit ihrem Zeigefinger auf das Papier.
"Du musst sonstiges ankreuzen.", erklärte sie in einem lehrerhaften Tonfall.
"Schon klar." Atera drückte den Stift so fest auf, dass er sich beinahe durchs Papier bohrte, als sie das Kreuz bei Sonstiges machte. Es folgten einige weitere Fragen zu ihrem Trinkverhalten, die die Empfangsdame geduldig erklärte und die Atera mit immer weniger Geduld ausfüllte. Dann schob sie die Formulare wieder zurück, die Frau griff zu einem Stempel neben sich, verharrte kurz und wählte dann doch einen anderen. Atera vermeinte das schnelle Aufblitzen und Verschwinden eines breiten Grinsens bei der Frau zu erkennen, doch diese ließ sich nichts anmerken. Mit Schwung knallte sie den Stempel mittig auf das oberste Blatt und als sie ihn wieder hob, prangte nun ein großes blaues 'B' vorne drauf.
"Du kommst zu Schwester Beata.", erklärte die Frau am Schalter und wies in einen Gang zu ihrer Rechten.
"Ich habe keine Schwester und wenn es so wäre, würde sie erstens in keiner Entziehungsklinik arbeiten und zweitens bereits lange tot sein.", gab Atera zurück. Die Frau schüttelte tadelnd den Kopf.
"Nein, Schwester ist nur ein Begriff, es gibt fünf Oberschwestern, welche die Entziehung leiten, du erkennst sie an den weißen Kitteln. Nun ja, man kann wohl auch nicht wirklich erwarten, dass jemand wie du das kennen sollte." Die Frau lachte kurz und Atera zog ihren Haken, den sie unbemerkt immer tiefer gebohrt hatte, mit einem Ruck aus dem Holz. Die Frau verstummte.
"Jemand wie ich kennt Dinge, die jemand wie du noch nicht einmal kennen willst und auch nie zu Gesicht bekommen wirst, denn du wirst hier noch in dreißig Jahren sitzen während ich in zwei Wochen durch diese Türe spazieren werde." Sie zeigte mit dem Haken zur Eingangstüre.
"Abwarten.", sagte die Empfangsfrau nur kühl und das gab Atera mehr zu denken als alles andere.

Sie wurde von dem Mann in der Uniform durch den Gang geführt, so grau wie seine Kleidung war auch die Umgebung. Ihnen entgegen kam ein alter Greis in einem sackförmigen Gewand, er schlurfte an ihnen vorbei ohne auch nur einen Blick auf sie zu werfen. Einzelne Türen und weitere Gänge zweigten von dem großen Hauptflur ab. Überall war es still, nur ihre Schritte hallten wieder. Der Mann folgte einzelnen blauen Pfeilen, wie Atera auffiel, sowie blauen Markierungen auf dem Boden, die sich mit vier anderen Farben kreuzten, überschnitten oder daneben her verliefen. Dann kamen sie an eine weitere Türe, der Mann klopfte kurz an, öffnete selbige ohne Umschweife und trat ein. Atera folgte ihm und erblickte eine Gruppe Männer und Frauen in grauer Einheitskleidung, die in einem Stuhlkreis saßen. Jeweils vorne auf der Kleidung war ein riesenhaftes dunkelblaues 'B' gestickt.
"Schwester Beata, eine neue.", sagte der Mann höflich zu einer Frau, die einen weißen Kittel trug. Weiß war noch untertrieben, er war so weiß, dass es einem in den Augen tränte, das völlige Wegbleiben von Farbe, das Sinnbild von Reinheit und Sauberkeit. Dieses Weiß besaß der gestärkte Kittel. Die Frau trug eine passende Haube dazu, ihre blonden Haare waren streng zu einem Dutt geflochten und nach hinten gekämmt. Sie drehte ihren Kopf und Atera konnte zum ersten Mal ihr Gesicht sehen. Stahlblaue Augen, Gesichtszüge wie gemeißelt.
"Willkommen in der Klinik.", begrüßte sie Atera, erhob sich und ging, gefolgt von den Blicken der anderen, zu den beiden Neuankömmlingen. Sie musterte Atera kurz, reichte ihr aber nicht die Hand, sondern verschränkte diese hinter dem Rücken. "Gib ihr die Eintrittskleidung und geh mit ihr zur Untersuchung, danach führ sie wieder hierher.", forderte sie den Mann auf, der rasch nickte.
"Einen Moment, ich zieh nicht solche.. Dinger an wie die da.", mischte sich Atera ein. Da endlich besaß sie die volle Aufmerksamkeit der Frau im Kittel.
"Junges Fräulein, du wirst einen Anzug tragen wie jeder andere auch. Wir legen hier sehr viel wert auf Einheitlichkeit. Du wirst dich anpassen müssen.", herrschte sie Atera an. Mit funkelnden Augen sah die Untote zurück.
"Ich könnte deine Urgroßmutter sein, also nenn mich nicht Junges Fräulein.", zischte sie zurück. "Und ich ziehe an, was mir passt." Schwester Beatas Gesichts Ausdruck verfinsterte sich, als sie bemerkte, dass Atera ihre eigenen Worte umgedreht hatte.
"Du wirst dich einfügen. Wie jeder andere. Dies ist eine Klinik und die Schwestern als Autoritätspersonen müssen akzeptiert werden." Es klang weder wie eine Bitte, noch wie eine wünschenswerte Tatsache. Es war Fakt.
"Warum?", fragte Atera zurück und da erlebte sie einen Hauch von Verblüfftheit in der Maske der Schwester.
"Warum? Es gibt kein Warum. Hier nicht." Sie ignorierte Atera nach diesen Worten komplett und wandte sich dem Mann zu. "Schaff sie endlich zur Untersuchung. Und gib ihr die Kleidung, wenn erforderlich mit der nötigen Aufforderung.", befahl sie und marschierte zurück zum Platz. Der Mann in der Uniform zupfte Atera am Ärmel und schob sie unsanft aus dem Raum. Sie gingen wieder einen Teil zurück und in einen weiteren Raum, der mit grauen Kacheln ausgelegt war. Zwei vergitterte Fenster ließen das Mittagslicht hinein.
Eine dicke Frau in einem grauen Kittel kam mit energischen Schritten auf sie zu und gemeinsam mit dem Mann führte sie Atera in ein angrenzendes Zimmer. Die Türe schloss sich, man hörte Geraschel, dann laute Stimmen, die über die gekachelten Wände liefen bis hinaus auf den Gang.
"Nein, das ziehe ich nicht an."
"Und ob du das wirst." Ein Klatschen ertönte. "Halt sie fest! Halt sie doch fest!"
"Ich versuchs ja, Madam, pass auf den Haken auf!"
"Sie hat mich gekratzt! Halt endlich still, jeder trägt das!" Es polterte und das Geräusch klang ganz danach als ob ein Stuhl umgekippt wäre. Die Türklinke wurde heruntergedrückt, schnappte dann aber wieder zurück und man vernahm einen lauten Aufschrei.
"Mich hat was gebissen. Mich hat was in ihrer Tasche gebissen!!"
Quaak. Erneute Schreie ertönten, wieder krachte es.
"Ein Ding! Ein Ding aus den Kerkerdimensionen!"
"He, sprich nicht so über-" Plötzlich wurde es still, die Stimme brach ab. Das Geräusch eines niederfallenden Körpers war zu hören.
"Hätte das nicht ein bisschen schneller gehen können?", schnarrte die weibliche Stimme.
"Tut mir leid, die Spritze hat geklemmt, Madam. Was machen wir mit dem... Biest dort?" Ein kurzes Schweigen entstand.
"Haustiere sind hier nicht erlaubt. Schaff es nach draußen."
"In den Zwinger?"
"Nein, ich glaube nicht, dass dieses Fleisch den Hunden gut bekommt. Sie könnten krank davon werden. Bring es irgendwo in den Wald und setz es dort aus, solange es noch ruhig gestellt ist."
"Und was ist mit ihr?"
"Sie ist Patientin in der Klinik, da gibt es Regeln, die sie einhalten und befolgen muss. Sie wird auch noch einsehen, das es so das beste ist.", erwiderte die andere Stimme. "Ich bringe sie gleich selbst zu Schwester Beata.", fügte sie hinzu.
"Sehr wohl, Madam." Die Türe öffnete sich und ein reichlich mitgenommener Mann kam heraus, mit der rechten Hand hielt er einen kleinen zusammengeschnürten Sack weit von sich, während die linke von Beißspuren gezeichnet war und kleine tiefrote Blutstropfen gleich einer Perlenschnur den Kacheln entgegen strebten. Seine Uniform war teilweise aufgeschlitzt und über sein Gesicht verlief ein großer Kratzer. Er trat auf den Gang, sah sich kurz um. Er war leer. Der Mann blickte zu dem Beutel in seiner Hand.
"Du elendes Mistvieh.", fluchte er und schwang den Sack hin und her. Mit aller Kraft, die er besaß, ließ er seinen Arm kreisen, bereit den Sack gegen die Wand zu donnern, als er plötzlich kurz davor inne hielt. "Nein, wer weiß welche Flecken das gibt.", murmelte er und stapfte von dannen.

"Und dann habe ich immer mehr getrunken und mehr und bis schließlich Hulda meinte -Hulda ist meine Frau- es wäre genug und mich hierher geschickt hat." Der kleine rundliche Mann blickte verlegen zu Boden und spielte nervös mit seinen Händen. Atera seufzte leise. Da saß sie nun. Inmitten einer Gruppe Leidesgenossen, die alle durch mehr oder weniger unglücklichen Umständen an den Alkohol und dann in die Klinik geraten waren. Aber im Gegensatz zu Atera schienen sie sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Sie schwieg verdrossen und zupfte an ihrer neuen Kleidung, die man ihr verpasst hatte. Eine graue weite Hose, sowie ein sackförmiges Gewand mit zu langen Ärmeln. Vorne befand sich, wie bei allen anderen, eine große Stickerei in Form des Buchstabens 'B'. Fast wie von selbst ballte sich Ateras Hand zu einer Faust. Ihr passte das ganze überhaupt nicht. Diese Klinik war ein einziges-
Eine junge Frau stupste Atera freundlich lächelnd an und brachte sie so aus ihren Gedanken.
"Ist es nicht schön hier?", fragte sie im Flüsterton, während jemand anderes im Kreis zu erzählen begann, aufmerksam beobachtet von der Schwester.
"Natürlich, sehr schön.. all dieses Grau."
"Und so sicher." Die Frau wechselte zu einem beinahe schwärmerischen Tonfall. "All die Gitter vor den Fenstern, die Hunde, der große Zaun und die vielen Schlösser. Hier drin sind wir wirklich hundertprozentig sicher vor den gefährlichen blutrünstigen Geschöpfen in den Wäldern. Nichts wird uns geschehen, niemand kann hier rein."
"Nun, von äh dem Standpunkt habe ich es noch nie gesehen.", gab Atera zurück.
"Ich bin übrigens Doerthe.", stellte sich die Frau vor.
"Deine Eltern waren wohl nicht sehr einfallsreich, was? Atera." Sie schob umständlich den Ärmel zurück und reichte ihr die Hand, die Doerthe ebenso unbeholfen ergriff und schüttelte.
"Ich dulde hier keine Privatunterhaltung.", unterbrach da die schneidende Stimme von Schwester Beata das Gespräch. "Du, Zombie, wenn du schon so gerne redest, dann erzähl uns doch wie du zum Alkohol gekommen bist.", forderte die Frau im weißen Kittel auf. Die Köpfe drehten sich gespannt zu Atera.
"Da gibt es nichts zu erzählen.", antwortete diese und damit war für sie die Diskussion beendet. Aber nicht für Schwester Beata.
"Oh doch, hier kommt keiner mit einem einfachen 'Ich will nicht' davon, junges Fräulein. Du wirst reden.", bestimmte sie energisch.
"Erzähl lieber was.", flüsterte ihr Doerthe zu. Atera sah zu der Schwester und sie tauschten ein längeres Blick-Duell aus, was Atera selbst dann nicht beendete, als sie schließlich aufstand und anfing zu sprechen.
"Zum einen bin ich weder jung, noch ein Fräulein. Und ich werde euch etwas von der Zeit vor eurer Zeit sagen. Da hat man noch getrunken um Stärke zu zeigen. Man war angesehen, wenn man Alkohol gut vertrug. Das gesamte gesellschaftliche Leben spielte sich doch in Kneipen und Tavernen ab. Wein, Gin, Whiskey, Rum, Schnaps, Bier, ach ihr wisst doch am besten wo von ich rede. Dieser herrliche Geschmack, die wohlige Betäubtheit, das angenehme Brennen in der Kehle." Leises verzücktes Seufzen setzte ein. "Darum habe ich angefangen zu trinken, die Geselligkeit untereinander, kameradschaftliches Wetttrinken, der unnachahmliche Duft von Alkohol in der Luft und dieser Geschmack, dieser-"
"Genug!", wie ein Peitschenhieb schnitt Schwester Beatas Stimme durch Ateras Ausführungen.
"Bitte, wenn ich nicht reden soll, gerne." Atera grinste zufrieden, während neben ihr langsam die Seufzer verklangen, die restlichen Patienten rutschten unruhig auf ihren Stühlen umher. Schwester Beata wandte den Blick ab, als sie ihrerseits aufstand und Ateras Grinsen wuchs in die Breite über den kleinen Triumph.
"Der Stuhlkreis wird für heute aufgelöst, Konfrontationstherapie, sofort!", rief Schwester Beata erzürnt und läutete an einer Glocke neben ihrem Stuhl. Wie auf Befehl sprangen alle hastig auf. "Mitkommen!", befahl die Schwester barsch und ging mit langen Schritten an Atera vorbei zur Türe. "Fünf Helfer zum B-Raum!", rief sie über den Gang und das Geräusch von herbeieilenden Schritten erklang. Es vergingen nur wenige Augenblicke, als fünf Männer in grauen Uniformen zu der Gruppe aufschlossen, die sich inzwischen unsicher auf dem Gang gesammelt hatte. Atera unter ihnen, aber weniger unsicher, als neugierig, was als nächstes kam. Gefolgt von den Helfern trabten die Männer und Frauen hinter Schwester Beata her, die einen Seitenweg einschlug und dann in einen großen Raum trat, der gefüllt mit Einzeltischen war.
"Jeder auf einen Platz. Den Stuhl einen Meter entfernt.", befahl sie und schnell strömten die Patienten einem Sitz zu. Atera nahm sich den letzten nahe der Tür, ließ sich auf den Stuhl fallen, kreuzte die Beine und sah sich interessiert um. Abgesehen von den Tischen gab es an den Wänden merkwürdige Halterungen, die ganz so aussahen, als wären sie dazu konzipiert eine Person darin festzubinden. An der Frontseite unterhalb einer Fensterklappe stand ein hoher Schrank zu dem Schwester Beata nun hinging, einen Schlüssel aus ihrer Tasche holte und drei schwere Schlösser an der Schranktüre öffnete bevor die eigentliche Türe aufsprang. Innen konnte Atera einige kleine Gläser erkennen und in einem unteren Fach, was für eine Augenweide, Dutzende an Flaschen. Die fünf Helfer kamen zu dem Schrank und verteilten zusammen mit der Schwester jeweils ein Glas auf jeden Tisch. Atera bekam ihr Glas höchstpersönlich von Frau Beata, die sie dabei kalt ansah.
"Mal sehen, ob du mit Taten auch so gut bist wie mit Worten."
"Oh, da bin ich noch viel besser.", erwiderte Atera gelassen.
"Dann wird das besonders schwer für dich sein.", gab die Schwester zurück und ging, nachdem jeder in der Gruppe ein Glas auf seinem Tisch stehen hatte, erneut zum Schrank. Sie holte die erste Flasche hervor und zog den Korken heraus. Die Patienten begannen gierig zu schnuppern, doch Schwester Beata trat ungerührt zu Ateras Platz und ließ ganz langsam eine goldgelbe Flüssigkeit in das Glas laufen.
"Oh danke, wie freundlich, war schon am Verdursten.", sagte Atera, beugte sich vor und leerte das Glas mit einem Zug. Schwester Beata klappte den Mund auf und wieder zu. "Mmmh, Bentincks sehr alter besonderer Brandy, hätte nicht gedacht, dass es den hier oben überhaupt gibt. Ich vergaß ihn eben bei meiner Aufzählung, ich bin untröstlich. Mmh, aber sehr gut im Abgang, muss ich schon sagen.", redete die Untote munter weiter, als die Schwester endlich ihre Worte wiederfand.
"Wer hat dir gesagt, dass du das trinken sollst?", zischte sie Atera an.
"Oh, niemand, aber es hat mir auch keiner gesagt, dass ich es nicht tun soll oder?", gab diese ruhig zurück und verschränkte die Arme herausfordernd. Schwester Beata stützte sich mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und sah Atera finster an.
"Dann sage ich es dir jetzt und das gilt auch für alle anderen." Und dabei hob sie den Kopf und sah streng in die Runde. "Niemand rührt sein Glas an. Dies ist eine Herausforderung, wer dem Alkohol widersteht, hat auch der Sucht widerstanden. Das ist der erste Schritt zur Heilung." Sie füllte Ateras Glas auf und schritt dann die Reihen ab. Nervosität und Unruhe knisterten an jeder Ecke und die Anspannung schwappte förmlich durch den gesamten Raum. Als jeder sein Glas voll hatte, ging Schwester Beata nach vorne zu einem Pult, stellte sich mit verschränkten Armen hinter dem Rücken dort hin und ließ einen prüfenden Blick über die Anwesenden ergehen. Die Helfer hatten sich an der Türe positioniert, Atera warf einen raschen Blick zu ihnen und ihr entgingen nicht die Schlagstöcke an deren Gürteln.
"Stühle vorrücken an den Tisch. Blick auf das Glas gerichtet. Niemand berührt seins oder das eines anderen, niemand steht auf bevor ich es nicht erlaube.", herrschte Schwester Beata und sah kurz aus einem der Fenster. "Bis Sonnenuntergang." Ein Stöhnen entrang sich einzelnen Kehlen. Dann war das Scharren und Quietschen der vorrückenden Stühle zu vernehmen, danach folgte Stille, nur ab und zu unterbrochen von einem leisen Wimmern oder Seufzen.
"Ein Strohhalm." Entgegen den Anweisungen ruckten dennoch die Köpfe der anderen herum zu einer Untoten, die soeben fordernd die Hand ausstreckte. Sofort kam Schwester Beata zu ihr geeilt.
"Du hast vergessen 'Bitte' zu sagen.", erwiderte sie in einem beißenden Tonfall.
"Ich habs nicht vergessen, es liegt mir nur nicht viel daran zu bitten." Wieder startete ein Blickduell zwischen den beiden, was Schwester Beata dieses mal ganz einfach beendete indem sie Atera niederbrüllte.
"Du wirst hier noch lernen zu betteln!!!", schrie sie und jeder im Raum zuckte sichtbar zusammen. "Schafft sie mir aus den Augen!" Erregt deutete die Schwester auf die Helfer und zwei Männer lösten sich von der Wand, kamen auf Atera zu und griffen nach ihr. Diese boxte dem Linken unvermittelt in den Magen, sprang vor, zog das Glas mit dem Haken heran, brachte jedoch mit ihrem Körpergewicht den Tisch zum Schwanken, während bereits der rechte Mann sie am Kragen des Hemdes zurückzureißen versuchte. Atera schaffte es noch den letzten Rinnsal aus dem umkippenden Glas zu erwischen, als grob an ihr gezerrt wurde. Sie hörte die ersten Nähte reißen, ihr Kopf wippte, als es auch schon passierte. Sie fiel auseinander. Der Kopf löste sich ganz und der Rest des Körpers, nun ohne Kontrolle, strauchelte dem linken Helfer entgegen, der sich inzwischen von dem Schlag erholt hatte, und brachte ihn so zu Fall. Ein Fuß riss ab, der rechte Arm lag ein Stück weit entfernt.
Niemand sprang auf, um ihr zu Hilfe zu eilen, niemand rührte sich auch nur eine Handbreit. Atera sah aus ihrem Blickwinkel wie weiße Flachschuhe nah an sie herantraten. Sie musste aufsehen und auch dann reichte ihr Blick nur bis zu der Mitte eines strahlend weißen Kittels.
"Oh wie dumm, bist du entzwei gegangen?", sagte die Stimme von Schwester Beata in gespielten Mitleid. Atera schwieg und biss die Zähne knirschend aufeinander. "Wenn du ganz freundlich bittest, nähen wir dich wieder zusammen." Der linke Schuh klopfte wartend auf den Boden, Atera sah ihn dicht vor sich auf und nieder schnellen, der Boden vibrierte leicht. "Na, bist du immer noch nicht gewohnt zu bitten?" Und dann beugte sich die Schwester hinunter in die Hocke, ganz wie man es bei einem Kleinkind machte. Andere graue Schuhe kamen näher, stellten sich hinter sie. Atera sah zu Frau Beata in ihrem Kittel und schluckte ihren Zorn mühsam hinunter, sie versuchte sich zu beherrschen, was nicht weiter schwer war in ihrer Lage. Ruhig zu bleiben, gelassen zu sein... nun, das war schon etwas anderes.
"Kommt dir das Wort nicht über die Lippen, hm?" Schwester Beata rückte ihre Haube zurecht, ihre Miene schwankte zwischen ausdrucksloser Emotionslosigkeit und spöttischer Belustigung. Ohne den Blick von Atera zu nehmen, hob sie ihre Stimme und wandte sich an die restlichen Patienten. "Ist das nicht lustig, Kinder? Der Zombie ist auseinander gefallen und nun hat er neben seinem Körper auch noch seine Worte verloren. Wollen wir nicht alle mal kräftig darüber lachen?"
"Wage es nicht...", presste Atera leise hervor. Doch Schwester Beata lachte, ihre Stimme schwang sich zu einem volltönendem lauten 'Ha Ha Ha' in das ihr alle anderen folgten. Die Stimmen drangen bis hinauf in den Gang, breiteten sich weiter aus und schwappten glucksend, lachend, kichernd durch die Klinik. Als das Lachen endlich wieder verebbte und schließlich ganz verstummte, wurde die Schwester übergangslos ernst, richtete sich wieder auf und strich ihren Kittel glatt.
"Schafft sie in eines der Zimmer.", befahl sie knapp. Die Männer zögerten kurz.
"Sollen wir sie nicht erst zusammen nähen?"
"Möchtest du wieder zusammen gesetzt werden? Du brauchst nur zu bitten.", wandte sich Schwester Beata erneut an Atera.
"Dafür wirst du noch büßen, das schwöre ich dir.", gab sie mit aller Beherrschung, die ihr noch geblieben war, zurück.
"Wage es nicht mir zu drohen. Schafft sie endlich weg." Die Helfer nickten, zwei nahmen ihren Körper, während ein dritter Arm und Fuß unterklemmte. Der vierte hob schließlich ihren Kopf hoch und trug ihn in seiner Armbeuge davon. Atera hörte noch wie Schwester Beata in die Hände klatschte und zum Weitermachen aufforderte. Dann wurde die Türe geschlossen, die Männer brachten sie schweigsam durch schier unzählige Gänge, eine Treppe in den ersten Stock hinauf und dort in den Trakt, wo offenbar die Patienten untergebracht wurden. Sie öffneten ein dunkles Zimmer, legten Ateras Körper einfach auf dem Boden ab und zogen klickend die Türe wieder hinter sich zu.
Da war sie nun. Allein und in kompletter Finsternis.
Atera wusste nicht wie viel Zeit verging in der sie einfach nur in die Dunkelheit starrte. Sie dachte nach, dachte darüber nach wer ihr die ganze Sache eingebrockt hatte, doch irgendwie kam sie immer wieder zu dem gleichen Schluss, dass sie es wohl selbst gewesen war. Ein kleiner Gedanke schlich sich verstohlen in ihren Geist. Hätte ich doch nur nicht... Hätte ich doch nur nicht...
Und als sie das dachte, wurde sie nur noch wütender, da es genau der Gedanke war, den Schwester Beata sicherlich hatte erreichen wollen. Atera wusste nicht auf wen sie nun wütender sein sollte, auf eben jene Schwester oder doch sich selber...

Ein Lichtstrahl durchschnitt die Finsternis und somit auch Ateras Gedanken, als die Türe langsam geöffnet wurde. Der Umriss einer Person zeichnete sich ab, die in den Händen zwei Lampen trug. Sie kam vorsichtig in den Raum und das Licht trieb die Dunkelheit zu bloßen Schatten zusammen.
"Oh, hier bist du also! Ich hab mich schon gefragt in welches Zimmer du wohl kommst.", rief eine Stimme fröhlich aus. Atera seufzte.
"Hallo, Doerthe.", sagte sie matt. Die junge Frau stellte die Lampen ab und kniete sich vor Atera.
"Wir sind wohl Zimmergenossinnen.", erwiderte sie und sah dann zu Ateras Körper. "Soll ich dich zusammen nähen?"
"Ich bitte darum.", entgegnete die Untote.
"Du kannst ja doch bitte sagen.", rief Doerthe ehrlich erstaunt aus. Atera verdrehte die Augen.
"Es kommt nicht auf das Wort an, sondern auf die Person.", erklärte sie trotzdem ruhig. "Siehst du meine Taschen irgendwo? Dort müsste Nähgarn drin sein. Pass aber auf, in einen von ihnen hockt eine Kröte." Doerthe kicherte nur und schien keineswegs geängstigt.
"Eine Kröte. Du bist aber lustig." Sie erhob sich und ging in den hinteren Teil des Raumes, den Atera nicht einsehen konnte. "Ja, da sind Taschen." Etwas raschelte und die junge Frau kramte hörbar herum. "Ich habs!" Sie kam wieder eilig mit dem Nähgarn zurück, setzte sich auf den Boden und bugsierte Ateras Körper zu ihrem Kopf. "Das muss sicher schrecklich erniedrigend gewesen sein.", sagte sie, als sie anfing die ersten Stiche zu machen.
"Oh, danke für den Hinweis, wäre mir sonst nicht aufgefallen.", knurrte Atera.
"Nicht? Aber sei froh, dass du den Rest nicht mehr da warst. Die Übung war wirklich schwer." Atera hätte abgewunken, hätte sie ihre Hand schon koordiniert bewegen können.
"Pah, ein Klacks ist das."
"Du hast es ja gar nicht versucht.", wand Doerthe ein.
"Ja, aber hätte ich es, wäre es ein Klacks gewesen." Atera spürte wie ihr Kopf festgezogen wurde und Doerthe fügte die restlichen Nähte rund um ihren Hals ein.
"Es war aber wirklich, wirklich schwer. Viele haben es nicht geschafft. Mathilda zum Beispiel ist weinend zusammen gebrochen und Gudmund hat sein Glas zertrümmert.", erzählte die junge Frau fröhlich plaudernd. "Schwester Beata hat gemeint, das läge nur an deinen vorherigen Schwärmereien über den Alkohol und sie hat vielen eine Woche zusätzliche Therapie verordnet und gemeint, sie sollen sich mit ihren Beschwerden an dich wenden, du wärest ja indirekt Schuld daran."
"So, hat sie? Wie interessant." Atera richtete sich auf, nahm Doerthe Garn und Nadel aus der Hand und nähte ihren rechten Arm, sowie den Fuß selber wieder an. Probeweise bewegte sie alles und nickte dann. "Wie bist du eigentlich zum Trinken gekommen?", fragte sie.
"Ich hab in einer Schenke gearbeitet und aus Höflichkeit immer mitgetrunken und na ja, da kam eins zum anderen und hinterher konnte ich nicht mehr ohne. Meine Mutter hat mich hierher geschickt.", antwortete Doerthe und setzte sich auf ihr Bett, baumelte mit den Füßen und deutete dann auf die Taschen. "Du hast aber gelogen, da war gar keine Kröte drin." Atera fuhr sofort auf.
"Was?! Das kann nicht sein!" Sie stürmte zu den Taschen, wühlte darin und dann ließ Atera sie entsetzt fallen, der Stoff glitt ihr aus Hand und Haken, ihr Mund öffnete sich. Sie drehte sich wieder herum, Doerthe sah sie verstört und ängstlich an, als sie Ateras aufgerissene Augen bemerkte. "Wo ist er? Was haben sie mit ihm gemacht?"
"Mit wem?"
"Mit Sir Henry! Meiner Kröte! Er sollte in dieser Tasche sein!!" Mit zitternder Hand deutete Atera auf ein dunkles Bündel auf ihrem Bett. Doerthe blickte zu der Tasche und dann wieder zurück zu der immer noch fassungslosen Atera.
"Ich weiß es nicht, was für eine Kröte überhaupt?"
"Nicht eine! DIE Kröte schlechthin, das Prachtexemplar aus meinen Züchtungen! Mein Freund und Gefährte.." Atera ließ sich auf das Bett sinken und lehnte sich zurück. Über ihr tanzten die Schatten. "Das werden sie mir büßen, das werden sie mir alle büßen..", murmelte sie leise. Plötzlich schnellte sie mit einem Ruck wieder nach oben und zog umständlich ihr Hemd aus. Doerthe sah auf.
"Was äh hast du vor?", fragte sie beunruhigt. Atera winkte ab und holte ihr Nähgarn. Sie hielt die Nadel prüfend in die Höhe.
"Nur etwas richtig stellen.", erwiderte sie. "Leg dich ruhig schlafen. Morgen ist wieder alles in Ordnung."

Doerthe wälzte sich unruhig in ihrem Bett hin und her, es war früher Morgen, kurz bevor die Glocke anfing zu läuten, die alle regelmäßig weckte. Sie wachte immer wenige Augenblicke vorher auf und so grub sie sich aus Decken und Kissen hervor, richtete sich auf, berührte mit ausgestreckten Zehen den eisigen Boden und blickte, noch verschlafen die Augen reibend, zur gegenüberliegenden Seite.
Der dröhnende tiefe Klang der einsetzenden Glocke dämpfte ihren spitzen Aufschrei.
"Was hast du gemacht?!", rief sie erschrocken aus. Die Gestalt auf dem anderen Bett hob den Kopf und sah sie ausdruckslos an, in ihrer Hand spielte sie mit einer Nadel.
"Nur etwas richtig gestellt. Ich lasse mich nicht brandmarken wie Vieh." Zu ihren Füßen lagen Stücke einiger blauer Fäden. Doerthe sprang auf, ihre Füße tapsten klatschend auf dem Boden, als sie näher kam.
"Was hast du gemacht??", fragte sie wieder in einem entsetztem Tonfall und fuchtelte dabei mit den Händen in der unsinnigen Hoffnung damit dem Spuk ein Ende zu bereiten. "Schwester Beata wird dich umbringen!"
"Hah, das soll sie mal versuchen. Ich bin niemandes Eigentum." Die untote Frau stand auf, presste ihre Hand so fest zu einer Faust, dass Doerthe mit Erschrecken feststellen musste wie sich die Nadel durch das leblose Fleisch bohrte und sich die Spitze bereits durch den Handballen schob. Mit Ekel erfüllt wandte Doerthe sich ab und schüttelte sich voller Widerwillen. Zombies waren doch etwas Grausiges.
"Ich gehöre nur mir selbst.", sagte die Frau, die sich Atera nannte, hinter ihr. Dann verging eine Weile in der sie nur dastanden und der leiser werdenden Glocke lauschten. Schließlich war es ganz still, Doerthe hörte ihren eigenen angespannten Atem. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Aber diese steckte in der Faust der Untoten.
"Das wird sie nicht dulden.", flüsterte Doerthe, als sich die Türe öffnete. Zu spät um es irgendwie zu ändern, eilte Doerthe vor die Frau und verbarg so ihre Kleidung. Der Mann im Türrahmen starrte zu den beiden und runzelte die Stirn.
"Mitkommen.", beschloss er endlich. Sie und Atera folgten ihm und reihten sich in ihre Gruppe auf dem Gang.
"Was passiert jetzt?", fragte die Untote leise, während Doerthe ganz damit beschäftigt war nicht in Panik zu geraten. Noch hatte es niemand bemerkt, aber Schwester Beata war auch nicht anwesend. Unruhig reckte Doerthe den Kopf und hielt nach ihr Ausschau. Wenn sie das sah, war es vorbei. Aus und vorbei. An ihrem Ärmel wurde plötzlich gezupft und Doerthe fuhr erschrocken zusammen, als sie sah, dass es Atera war.
"Was passiert denn nun?", fragte jene.
"Sprich nicht mit mir, die Strafe könnte sonst auch auf mich zurückfallen.", gab die junge Frau zurück und trat vorsichtshalber einen Schritt zur Seite. Atera murmelte etwas unverständliches und wandte sich dann an Gudmund, einem kleinen dicken Mann. Doerthe atmete erleichtert auf und drängelte sich in die letzte Reihe. Jetzt konnte Schwester Beata ruhig kommen.

Der kleine dicke Mann namens Gudmund erblasste vollständig, er fing an etwas zu stottern. Atera sah ihn kritisch an.
"Was ist? Liegen meine Haare nicht richtig?"
"D-D-Dein Hemd... da - da-", begann er und deutete mit zittrigem Zeigefinger auf Atera. Unruhe trat in die Gruppe, immer mehr empörte Rufe und Aufschreie waren zu vernehmen.
"Was habt ihr alle bloß? Man könnte ja glatt meinen, ich hätte ein Sakri.. Sakra.. Frevel begangen.", entgegnete Atera ungerührt. In diesem Moment trat Schwester Beata um die Ecke, zielstrebig schritt sie auf ihre Gruppe zu, blieb vor der ersten Reihe stehen, stemmte die Hände in die Hüften und bemerkte nun, dass es keine eigentliche erste Reihe in dem Sinne gab, sondern nur ein zusammenhangsloser Haufen an Patienten, die alle gleichzeitig versuchten in der letzten zu sein. Abgesehen von einer Person.
"Du!", begann Schwester Beata. Atera erwiderte nichts, wartete nur ab und beobachtete die Augen ihrer Gegenübers bis sie Sekunden später eine wahrnehmbare Veränderung darin feststellte. Blanker Zorn, gepaart mit Erstaunen über solch eine offenbare Dreistigkeit. Es dauerte eine Zeit in der die Überraschung über das Gesehene verflog bis nur noch der Zorn blieb.
Andere Schwestern kamen näher, wisperten miteinander und glotzten auf Atera, als wäre sie aus einer anderen Welt. Dabei hatte sie nicht viel gemacht. Nur gestickt. Aufgetrennt und gestickt. Die ganze Nacht über. Nur für diesen Augenblick, in dem Atera voller Genugtuung ihr neues blaues 'A' auf dem grauen Gewand präsentierte.
"Was bei den Göttern soll das darstellen???", schrie Schwester Beata und ihre Unterlippe bebte dabei.
"Ein 'A'. Schade, ich hatte gehofft, man würde es erkennen.", gab Atera zurück, blickte auf das 'A' und strich letzte Falten aus ihrem Hemd. Die Zeit hatte nicht mehr gereicht für Genauigkeit, hier und da ragten noch nicht abgeschnittene Fäden hervor, Linien waren krumm und die obere Ecke zerfranst.
"Ich sehe, was es ist!", keifte die Schwester. "Nur, was soll das?? Ich dulde nicht, dass meine Autorität untergraben wird!" Atera sah in die Runde. Keiner traute sich in ihre Nähe. Patienten anderer Gruppen sahen alle zu ihr hinüber. Die Aufpasser hatten sich in Bewegung gesetzt und blieben hinter den anderen Schwestern stehen. Niemand wagte zu sprechen. Kurz: Sie hatte die volle Aufmerksamkeit.
"Du kannst hier nicht mit jedem so verfahren wie es dir gerade passt. Wir sind eigenständige Personen, wir können für uns selber denken.", sagte sie dann für jeden auf dem Gang hörbar.
"Der Alkohol hat doch euren Verstand vernebelt!!! Ihr wisst doch gar nicht mehr, was ihr tut. Solche wie ihr brauchen Disziplin und müssen absoluten Gehorsam leisten, sonst verliert ihr doch irgendwann ganz die Kontrolle und werdet zu stumpfsinnigen Bestien, die alles kurz und klein schlagen!! Ihr habt doch keinen Funken Verstand mehr in euch, das ist doch alles im Suff ertränkt worden!!!" Schwester Beata endete abrupt, ihre Stimme war heiser geworden zum Schluss, ihr Kopf hochrot und ihr Atem wild und schnell. Ihre Schultern zitterten unter dem weißen zerknittertem Kittel, Flecken hatten sich an ihrem Hals gebildet.
"Beruhig dich doch, Beata. Deine Haube ist ja ganz verrutscht.", sagte eine stämmigere Schwester, trat zu ihr heran und legte ihre Hand auf den Arm von Schwester Beata. Diese nickte nur matt, eine weitere Schwester war zu ihr gekommen, für einen winzigen Moment sackte sie zwischen den beiden regelrecht zusammen, doch dann fing sie sich wieder, straffte ihren Körper, rückte ihre Haube zurecht, steckte einige heraushängende Haare zurück. Als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht zu einer starren beherrschten Maske geworden. Ihr Arm ruckte nach oben, ihr Finger ruhte auf Atera.
"Bringt diese infame Person zu Herrn Knickebein, er soll sie abmahnen.", sagte Schwester Beata langsam, der Arm sank wieder, um gleich darauf zum zweiten Mal hoch zu schnellen. "Und ihn auch, er hat gestern Klinikeigentum zerstört."
"Was? Ich?", quiekte der kleine Mann entsetzt. "Es war doch nur ein Glas.", versuchte er sich zu verteidigen.
"Bringt sie weg." Schwester Beata blickte zur Seite, vermied jeden Augenkontakt mit Atera, als die beiden von zwei Männern abgeführt wurden. Leise hallte ihre Stimme wieder, als sie zum morgendlichen Appell rief und die weiteren Schritte aufzählte. Sie klang... müde.
Atera hätte sich boshaft vergnügt die Hände gerieben, wäre sie erstens im Besitz einer zweiten Hand gewesen und zweitens nicht gerade sehr nachdenklich.

Ein poliertes Messingschild mit der Aufschrift "Arthur Knickebein, Klinikleiter", das an einer Türe angebracht war, schien im Moment der einzige Fixpunkt für Gudmund, der mit gefalteten Händen auf der vorderen Kante seines Stuhles saß und gebannt dorthin starrte.
"Ganz wie früher in der Schule.", flüsterte er ehrfurchtsvoll. Atera zuckte mit den Schultern.
"Ich war nie in einer." Sie saßen in einer Art Vorzimmer, das, wenn man Gudmund Glauben schenkte, der Vorhölle glich. Dabei sah es nicht gerade sehr furchterweckend aus. Eine vertrocknete Pflanze stand in der Ecke, auf einem Tisch an der Wand flackerte eine Öllampe und im Schein zweier Kerzen saß eine Sekretärin an einem Pult und schrieb augenscheinlich etwas.
"Du warst in keiner Schule? Dann bist du ja quasi ungebildet.", gab der Mann von sich.
"Früher gabs eben so was noch nicht.", entgegnete Atera patzig. Seit mindestens einer Stunde ließ man sie schon warten und allmählich kam ihr der Gedanke, dass dies wohl die eigentliche Strafe war. "Früher gabs auch solche Kliniken nicht. Früher..." Bevor Atera weiterreden konnte, öffnete sich die Türe, die ein Mann mit verbrämten Gesichtszügen und einer Halbglatze kurz aufhielt, um dann gleich wieder im Raum zu verschwinden.
"Kommt herein.", rief er und winkte von seinem Schreibtisch aus. Der Raum selber war vollgestopft mit Holz wie es schien. Ein schwerer Tisch, kunstvoll geschnitzte mit dunklem Stoff bezogene Stühle, Holzparkett, ein wuchtiger Eichenschrank und einige Plaketten aus Holz an den Wänden. "Dies sind die zehn Grundsätze der Klinik des leeren Glases.", sagte der Mann, als Atera und ein sehr ängstlich wirkender Gudmund eingetreten waren. Arthur Knickebein deutete auf eine längliche Holztafel, die bis auf den Boden reichte und mit kleiner Schrift sehr eng beschrieben war. "Ich kann sie auswendig, habe sie ja selbst verfasst, aber eine Abmahnung bedeutet leider, dass sie einer von euch vortragen muss.", sprach er weiter und Gudmund nickte sofort eifrig. Knickebein rieb sich angestrengt den Nasenrücken, als der kleine Mann anfing.
"So, es geht los. Lydia, notierst du schon? Halt nur die zehn Sätze fest, die ich dir jetzt sage. Daraus soll dieser Halsabschneider von einem Schnitzer eine Holzplakette anfertigen. Also, erstens.. hehe, bringt all euer Geld her. Das notierst du natürlich nicht. Ähem, erstens: du sollst keinen Alkohol trinken. Punkt. Zweitens: Du sollst immer darauf hören, Komma, was dir die, äh wie nannten die sich gleich noch? Ah ja, was dir die Schwestern sagen. Punkt. Drittens: Hau bloß nicht ab, wir brauchen dein Geld noch! Hahahaha. Äh, das hältst du natürlich nicht fest, Lydia. Drittens also, du sollst dich nicht unerlaubt von der Klinik entfernen. Punkt. Viertens, du sollst weder Klinik äh dingsda, wie heißt denn gleich das Wort? Lydia, hilf mir doch mal. Ah ja, weder Klinikeigentum beschädigen, Komma, zerstören noch stehlen. Punkt. Fünftens, hatten wir schon Fünftens? Gut, du sollst, diese verdammte Fliege nervt aber gewaltig, äh wo war ich? Du sollst dem Personal keine Streiche spielen. Sechstens, ach ne, davor kam noch ein Punkt. Hast du den? Äh, sechstens, du sollst nie die verbotene rote Türe auf dem dritten Gang im Erdgeschoss, zwei Türen weiter öffnen. Das ist gut, hab ich mir selbst ausgedacht, schön mysteriös, nicht wahr? Was schreibst du da eigentlich die ganze Zeit? Nur die Sätze notieren! Siebtens: Du sollst den Klinikleiter nicht bei seinem Mittagsschlaf stören. Punkt. Das ist sehr wichtig, erinnerst du dich an die zwei Deppen, die hier einfach reinspazierten? Eine Frechheit war das. Achtens: Du sollst die Schwestern sofort in Kenntnis setzen, Komma, wenn du einen Regelverstoß beobachtest. Punkt. Wird zwar keiner machen, aber so was steht immer in solchen Grundsätzen. Also neuntens: Du sollst, verfluchte Fliege, Mistding, äh, du sollst unter keinen Umständen nachts durch die Gänge schleichen und als letzter Punkt, also zehntens: Vergiss den ganzen oberen Kram! Hahahaha! Das streichst du natürlich, Lydia. Du sollst dich niemals widersetzen kommt da hin. Schön, hätten wir das auch. Hilf mir diese Fliege zu erwischen, Lydia. Und hör auf zu notieren!" Gudmund räusperte sich, seine Stimme war immer kratziger geworden und er hatte sich hinknien müssen, um die letzten Punkte vorlesen zu können. Nun erhob er sich ächzend und sah fragend zu Herrn Knickebein, der entschuldigend mit den Schultern zuckte.
"Das war Lydias Schuld, diese dumme Kuh, brannte einfach mit dem Holzschnitzer durch. Hätte gleich misstrauisch werden sollen, als der mir ein 'Freundschaftspreis' machte.", erklärte er und lehnte sich zurück. "Ihr versteht deshalb sicher, dass ich nicht sehr erfreut wäre, müsste ich euch noch einmal abmahnen und diese grässliche Notiz hören. Also, ihr beiden, es wird euch eine Lehre sein, was auch immer ihr genau getan haben mögt, und ihr werdet jetzt immer die Regeln befolgen, nicht wahr?" Gudmund nickte sofort und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. "Und das junge Fräulein?" Arthur Knickebein beugte sich wieder vor und sah abwartend zu Atera, als sie nichts sagte.
"Ich bin nicht jung und ich bin kein Fräulein und ich möchte wissen, wo meine Kröte ist."
"Deine Kröte? Was für eine Kröte?" Der Klinikleiter schien verwirrt.
"Ja, Sir Henry, ich hatte ihn mitgenommen auf meiner Reise und nun ist er nicht mehr da. Er ist doch noch so klein, ich hänge sehr an ihm. Sollte ihm also etwas zugestoßen sein, ich wüsste nicht was ich tun sollte. Vermutlich würde ich vollkommen durchdrehen und alles kurz und klein schlagen.", sagte Atera ruhig und fügte nach einigem Nachdenken hinzu: "Nur als gut gemeinter Ratschlag zu verstehen." Den Leiter schien das nicht sonderlich zu beeindrucken.
"Was geht mich deine dusselige Kröte an? Sehe ich so aus, als wüsste ich, wo sie wäre? Haustiere sind hier eh nicht erlaubt."
"Ich hatte ihn noch, als ich hier herkam und später im Zimmer war er nicht mehr da... die Ankleide!", rief sie plötzlich aus. "Sollte ich nicht zur Ankleide gebracht werden, damit ich ein neues Hemd bekomme?", fragte Atera und wies auf ihre bestickte Kleidung.
"Äh ja, das stimmt. Schön, dass du einsichtig bist. Ich werde das gleich veranlassen." Herr Knickebein rief laut nach der Sekretärin und forderte zwei Männer zum Abführen der Patienten. Danach scheuchte er Atera und Gudmund wieder aus seinem Büro mit den Worten, sie sollen gefälligst draußen auf ihre Aufpasser warten.
"Du hast es auch gerochen oder?", fragte Atera direkt, nachdem sich die Türe hinter ihnen geschlossen hatte.
"Ich weiß nicht, was du meinst.", gab Gudmund unschuldig zurück.
"Doch.", widersprach die untote Frau. "Wir beide haben lange genug dem Alkohol zugeprostet, um zu wissen wie Gin riecht."
"Also ich weiß wirklich nicht, wovon du redest.", entgegnete der kleine Mann stoisch. Atera sah ihn noch einmal prüfend an, doch beließ es dabei.

Mit stapfenden Schritten näherte sich Atera dem Ankleide- und Untersuchungsraum. Sie legte eine so schnelle Gangart an den Tag, dass der Mann hinter ihr Mühe hatte zu folgen. Er wollte die Türe öffnen, doch Atera war schneller und stieß sie mit einem Ruck auf.
"Wo hast du ihn hingebracht??", rief sie laut und deutete mit einem 'Aha!' Schrei auf die Schwester, die sie gestern niederträchtig hatte betäuben lassen. "Wo ist er?" Sie wollte die Frau am Kragen packen und kräftig durchschütteln, doch der Mann hielt sie zurück.
"Wo ist wer?", fragte die Schwester überrumpelt zurück.
"Meine Kröte!" Atera versuchte sich loszureißen, wollte aber auch nicht riskieren, dass sich Nähte lösten.
"Ach, dieses hässliche Ding. Ich ließ es in den Wald schaffen. Haustiere sind hier sowieso nicht erlaubt." Atera riss die Augen auf.
"Du hast waaaas?? Dort wird er doch nicht überleben können! Du hast ihn in den Tod geschickt, Frau!"
"In zwei Wochen kannst du ihn ja suchen.", erwiderte die Frau spöttisch, sie wollte noch mehr sagen, kam aber nicht mehr dazu, da es in diesem Moment Atera geschafft hatte von der Umklammerung des Mannes freizukommen und mit einem wütendem Kampfesschrei auf die Frau losstürzte, gemeinsam mit ihr in einen großen Rollwagen mit Kleidung fiel und in dem grauen Meer versank. Der Mann zog seinen Schlagknüppel und wollte zu Hilfe eilen, als sich eine Hand, die eine Spritze festhielt, aus dem Kasten reckte.
"Alles in Ordnung, ich habe sie betäubt. Man sollte diese Verrückte gleich mit in dem Wald aussetzen." Die Schwester grub sich frei und schnaufte angestrengt.
"Ich glaube, damit würden wir ihr nur einen Gefallen tun.", gab der Mann zu Bedenken.

Und tief im Wald fielen Wassertropfen von Blatt zu Blatt, glitten über umgestürzte farnüberwachsene Baumstämme und benetzten weiße Lilienkelche, die am Rande eines Sumpfes wuchsen. Im Unterholz raschelte es, hohe Gräser knickten um, patschende Geräusche erklangen regelmäßig, kleiner Äste knackten. Irgendetwas schob sich langsam, aber doch beharrlich vorwärts. Wäre jemand dort gewesen, um aufmerksam zu lauschen, hätte dieser jemand leises Schnaufen hören können, nur ab und zu unterbrochen von einem unverständlichen glucksenden Geräusch. Kleine Tiere huschten rasch beiseite, als sich die Grashalme neigten und das Geschöpf näher kam. Es kroch über nasses Moos, stieß die Lilien unachtsam herunter, die mit einem Seufzer nachgaben und verschwand dann mit einem leisen Platschen in dem kleinen Sumpf. Das morastige Wasser kräuselte sich eine Weile, um dann wieder trügerisch glatt zu werden.

Die Suppe fiel mit einem dumpfen 'Plop' zurück in den Teller, es blubberte kurz. Atera rührte lustlos mit dem Löffel in dem Gebräu und sah sich mit trüben Augen um. Die Betäubung ließ nur stückweise nach und sie war noch immer mit einer undeutlichen Mattigkeit geschlagen. Vor ihr schwamm diffuser Nebel, der ab und an durch vorbeigehende Patienten oder Küchenpersonal aufgerissen wurde. Neben ihr saß Gudmund, der kleinlaut hatte einsehen müssen, dass sein linker Platz der einzige noch freie im gesamten Speiseraum gewesen war. Die anderen Männer und Frauen waren respektvoll (oder vorsichtigerweise) etwas zur Seite gerückt. Sie fürchten mich, dachte Atera. Sie fürchten mich, weil sie Schwester Beata fürchten. Aus irgendeinem Grund passte Atera nicht die Reihenfolge. Angewidert schob sie die Suppe von sich, sie musste nicht essen, wenn sie nicht wirklich wollte. Und hier inmitten 'Lebender' würde sie der Umstand, dass sie wie jeder andere ihre Suppe schlürfte, auch nicht lebendiger machen. Wenn sie es recht betrachtete, legte Atera auch gar keinen Wert darauf sich hier anzupassen.
"Ischt du das nich mehr?", fragte Gudmund mit vollem Mund und noch weiter schmatzend ein Brot kauend zog er den Teller zu sich. Gierig schaufelte er alles in sich hinein, während Atera schnell ihren Löffel im Hemdsärmel verschwinden ließ, sich bückte und das Besteck von dort in ihren Strumpf steckte. Wer weiß wozu der Löffel noch gut sein würde.
"Pudding!!", schnarrte die Küchenchefin laut, eine Schar jüngerer Helferinnen wieselten durch die Tischreihen und ließen kleine Schälchen mit einer gelben Masse vor den Patienten nieder. Ateras Schale drehte sich noch ein paar mal schwungvoll, um dann mit einem Klappern in Regungslosigkeit zu verharren. Probeweise stach Atera mit dem kleinen Löffel auf die Masse ein, aber nichts rührte sich oder griff an. Es wirkte zumindest essbar und sie lief außerdem nicht Gefahr daran zu sterben. Atera beugte sich vor, tunkte den Löffel in den Pudding, als plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, ihr linkes Ohr abfiel und mit einem leisen 'Flurp' in der Schale verschwand. Ihre Mattigkeit verflog augenblicklich. Das war ihr noch nie passiert. Jetzt ist es soweit, dachte sie, es wird Zeit für Nähgarn Stärke 6. Irgendwann musste es sie ja auch ereilen. Vorsichtig löffelte Atera im Pudding, noch war es niemanden aufgefallen. Sie hob den Löffel wieder an und blickte auf ein verklebtes Ohr inmitten einiger Puddingreste. Na toll, konnte es noch irgendwie schlimmer kommen? Als jemand begann lauthals zu lachen, fiel Atera ein, dass es immer eine Steigerung gab. Ein großer Mann mit Händen wie Bärenpranken prustete seinen Pudding quer über den Tisch, als er auf Ateras Löffel sah.
"Mir war ja bekannt, dass man Mandeln in Pudding findet, aber so was.", kicherte eine ältere Dame mit roter Nase.
"Sei so gütig und leih mir doch dein Ohr." Der Mann, der dies gesagt hatte, fiel vor Lachen über sein eigenes gelungenes Wortspiel beinahe von der Sitzbank.
"Ich verpass dir gleich einen Satz warmer Ohren.", knurrte Atera. Jetzt wurde auch die Küchenchefin auf den Tumult am fünften Tisch aufmerksam und kam sogleich aufgebracht herbei.

"Ruhe hier!!", brüllte sie in einem tiefen Alt. Aber die Menge bog und schüttelte sich nur weiter vor Lachen, während ein einzelner Zombie mit bleichem Gesicht dasaß und einen Löffel umfasst hielt. "Ruhe, sagte ich! Habt ihr denn keine Ohren mehr am Kopf?!"
"Wir schon, aber sie nicht." Der Mann fiel nach den Worten von der Bank, nicht vor Lachen, sondern einfach durch den Umstand, dass ihm eine volle Puddingschale mitten ins Gesicht geschleudert worden war.
"Vitalisten!", schnaubte die Untote wutentbrannt. Die Küchenchefin Marga wollte sie bändigen, doch ein Haken fuhr durch die Luft und riss ihr die Schürze auf. Kreischend versuchte sie ihre Blöße zu bedecken, als sie etwas Klebriges an ihrem Hinterkopf spürte. Sie fasste sich vorsichtig an die Stelle, dachte es wäre ihr eigenes Blut, aber als sie die Finger wieder vors Gesicht führte, war es... Pudding. Pudding wurde von überall geworfen. Und inmitten der Schlacht, die nun tobte, war die untote Frau auf den Tisch gesprungen, verteilte Hakenschläge, Schimpfwörter und Massen an Puddingschälchen.
"Bringt diese Wahnsinnige zur Vernunft!", donnerte die Chefin, aber niemand schien die einstige Autoritätsperson in dem Speiseraum zu hören. Marga kroch auf dem Boden herum, Leute traten ihr auf die Finger, überall lag glitschiger Pudding. Mit hochrotem Kopf, vor Scham und Wut, flüchtete sie unter einen Tisch und wartete auf das Ende der Schlacht. Über ihr kochte der Kampf hörbar noch, als endlich die Klapptüren am anderen Ende des Saals aufschwangen und eine Gruppe Uniformierter hereinströmte, die Schlagstöcke erhoben. Und ganz vorne stand Schwester Beata, Marga atmete erleichtert auf, auch wenn sie die Schwester nicht sonderlich mochte, wenn einer das Zeug dazu hatte diese außer Band geratene Masse zu beruhigen, dann sie.
Von ihrer Position unter dem Tisch sah die Küchenchefin wie die Untote von einer Bank sprang und auf Schwester Beata zukam. Die anderen puddingüberströmten Patienten wichen respektvoll zur Seite.
"Das hätte ich mir eigentlich denken können. Wer sonst außer dir sollte hier so einen Aufruhr veranstalten. Ich denke, eine weitere Abmahnung wird nicht viel Einsicht bei dir bewirken, deswegen muss ich wohl härtere Maßnahmen ergreifen. Bringt sie zur Ausnüchterungszelle.", befahl Schwester Beata. Kälte lag in ihrer Stimme und ein Raunen ging durch die Männer und Frauen, als das Wort Ausnüchterungszelle fiel. Der Zombie hatte die ganze Zeit über zu Boden geblickt und hinter ihrem Rücken mit etwas in ihrer einzigen Hand gespielt. Nun ließ sie die Hand plötzlich hervorschnellen, Marga schrie im gleichen Moment warnend auf, doch es war bereits zu spät. Schwester Beata taumelte nach hinten, nur wenige unbeholfene Schritte. Mit der Küchenchefin hatten eine Menge anderer Leute entsetzt aufgeschrieen und als nun ihre Rufe verebbten, wurde es still. Sehr still. Schwester Beata hielt sich ihre gerötete Wange und sah zu der Untoten.
"Das.. war ein Fehler.", presste sie hervor.
"Oh, wirklich? Dann schmeiß mich doch raus."
"Das hättest du wohl gerne, was? Zwei Wochen sind das Mindestmaß, ansonsten können wir den Erfolg nicht gewährleisten.", erwiderte die Schwester mühsam beherrscht. Immer noch rieb sie sich ihre Wange.
"Erfolg, pah, ich kann auf euren sogenannten Erfolg ruhig verzichten."
"Wäre dein Beitrag nicht schon längst bezahlt, würden wir dich vielleicht auch entlassen, aber die Klinik hat einen Erfolg zu wahren und unsere Quote muss bestehen bleiben. Du wirst noch eine echte Herausforderung und ich lasse mich nicht länger von dir zum Narren halten. Ab jetzt werden andere Saiten aufgezogen!", gab Schwester Beata zurück, sie ließ die Hand von ihrer Wange sinken und offenbarte so einen merkwürdigen geröteten Abdruck. "Führt sie in die Zelle."

Es war ein kahler Raum, nur mit einer kleinen Liege, aber ansonsten ohne einen weiteren Einrichtungsgegenstand. Oben gab es ein Dachfenster und Atera saß in der matten Pfütze blutroter Glut der untergehenden Abendsonne, die es gerade eben noch vermochte mit ihren letzten Strahlen das Fenster und somit auch den darunter liegenden Raum zu erreichen. Atera sah noch oben, das Fenster selber war aus dem Boden mehrerer Flaschen gemacht. Am Rahmen war ein Haken angebracht und es sah ganz so aus, als bräuchte man eine Stange, um es aufzudrücken. Atera probierte es trotzdem, zog nach einigen Mühen die Liege aus der Halterung, schob sie unter das Fenster und stieg darauf. Doch egal ob sie den Arm reckte oder es mit ihrem Haken versuchte, sie konnte zwar das Fenster berühren, kam aber nie so weit, dass sie es hätte aufstoßen können. Noch dazu blendete das Licht der Sonne. Entmutigt ließ sich Atera auf die Liege sinken. Sie seufzte leise, stützte ihre Ellenbogen auf die Knie, lehnte ihr Kinn auf die geballte Faust und strich gedankenverloren mit dem Haken durch ihre Haare. Es war vorbei. Sie musste es einsehen, es gab keinen Weg hier vorzeitig heraus. Verdammt dazu dieser Schwester zwei Wochen lang zu gehorchen, müsste sie auch noch dem Alkohol abschwören. Hah, in Ankh-Morpork hätte es Mittel und Wege gegeben Schwester Beata unschädlich zu machen. Auf legalem Wege natürlich. Wozu war sie sonst das Gesetz. Stabsspieß der Stadtwache Ankh-Morpork. Aber hier.... hier war sie niemand. Keiner hörte auf sie oder ließ sich beeindrucken. Hier war sie nur ein Zombie über den man lachte. Über den man lachte.. Atera knirschte mit den Zähnen. Ihnen würde das Lachen schon noch vergehen. Genau. Was gäbe sie jetzt für ein Fässchen besten Whiskeys. Und für Sir Henry. Weggenommen hatte man ihn hier, ausgesetzt inmitten von Überwald. Er würde dort doch nicht überleben können. Vielleicht war er schon längst tot...

Ein kleiner grüner Frosch hüpfte eilig von Blatt zu Blatt, die nur minimal unter seinem Gewicht nachgaben und weiter sacht auf der Sumpfoberfläche trieben. Der Frosch blieb schließlich auf einem ihm scheinbar angenehmen Blatt sitzen, watschelte ein wenig darauf herum, hatte dann eine günstige Position gefunden und begann in der Abendsonne sein Quaken anzustimmen. Es war ein einsames Quaken. Es hätte ihm auffallen müssen.
Die Oberfläche des kleinen Teiches, der aufgrund seines minimalen Anteiles an Wasser mehr einem Sumpf [5] glich, erzitterte kurz. Ein einzelnes Seerosenblatt schwankte und glitt dann lautlos in die Tiefe. Der Frosch schien weder irritiert noch besorgt, da er weder die Anzahl der Blätter gezählt hatte noch wusste wie man überhaupt irritiert oder besorgt wirkte. Er hielt nur kurz inne, wartete bis selbst das Zirpen der Grillen abklang und schmetterte dann von neuem sein Liebeslied an eine unbekannte und zu seinem Bedauern auch noch nicht aufgetauchte Froschdame. Das Blatt direkt neben ihm verschwand glucksend im Sumpf. Der Frosch nahm das zum Anlass, um sich mit einem weiten Sprung auf ein sicheres Blatt zu retten, doch noch während er zeitlupenhaft durch die Luft segelte, teilte sich das Wasser unter ihm, eine lange dünne Zunge schnellte hervor, rollte sich um den Froschleib, packte ihn so und zog ihn hinab in den Sumpf. Das ganze hatte nur einen Bruchteil einer Sekunde gedauert. Nur das verhaltene Zirpen der Grillen setzte etwas später wieder ein.

Ein Schrei gellte durch die leeren dunklen Gänge. Schritte eilten nach einer Weile näher, vier uniformierte Männer liefen über den Gang. Schwester Beata öffnete die Türe von ihrem Zimmer, trat in die Mitte des Ganges, stemmte die Hände in die Hüften und brachte somit die Männer abrupt zum Stehen.
"Was ist hier los?!"
"Ausraster in der A-Zelle, Madam. Macht einen Höllenlärm.", erklärte einer der Uniformierten.
"Das ist sie oder?", fragte die Schwester nur. Der Mann nickte. "Habt ihr eine Jacke dabei?" Einer aus der Reihe hielt eine graue Jacke mit überlangen Ärmeln hoch.
"Aber das wird nicht gehen, fürchte ich. Sie hat diesen Haken, Madam.", gab der angesprochene Mann zu Bedenken.
"Na und? Dann nehmt ihn ihr ab, wo ist das Problem?" Schwester Beata verschränkte die Arme und die Männer traten respektvoll einige Schritte zurück.
"Äh, nun das Problem ist.. der Haken ist ja irgendwie an ihr dran, so.. und sie kann ihn bewegen. Sehr schnell."
"Ihr werdet doch wohl mit einer dahergelaufenen Untoten fertig? Ich dulde keine Aufmüpfigkeit unter meinen Patienten!", erwiderte Schwester Beata barsch, drehte sich auf dem Absatz um und rauschte in ihr Zimmer zurück. Die Männer wagten noch nicht einmal den Kopf zu schütteln, sondern gingen folgsam weiter bis hin zu der Quelle der lärmenden Schreie und Wutausbrüche. Irgendjemand bollerte einmal kurz recht heftig und recht lautstark gegen eine Türe. Mit den Schlagstöcken in der Hand positionierten sich die Männer an den Seiten, dann öffnete der vorderste den Riegel und riss die Türe auf. Sein lautes 'Aha!' blieb ihm im Halse stecken.
"Die A-Zelle hat schon wieder ein Opfer gefordert...", flüsterte er nun. Er schob die Liege weg, die gegen die Türe gestoßen worden war und trat in den Raum. Vor seinem Gesicht baumelten zwei bleiche Füße. "Wir müssen sie da runterholen." Die Männer legten ihre Schlagstöcke weg und kamen näher.
"Die sieht mir aber schon so aus, als wäre sie länger tot.", sagte ein anderer.
"Wer weiß, wie lange die da schon hängt. Nun, helft mir doch.", erwiderte der erste wieder und griff nach der Frau, die sich am Haken des Dachfensters mit zusammengeschnürten Fetzen ihrer eigenen Kleidung erhängt hatte. Der Mann schüttelte traurig den Kopf und wollte an den Füßen der Frau ziehen, als eben jene Füße plötzlich zum Leben erwachten und ihn kräftig ins Gesicht traten. Er schrie auf, taumelte zurück, hielt seine blutende Nase. Doch noch jemand anders schrie. Mit einem wütenden 'Hiargh!' stürzte die Frau von der Decke, brachte mit der Wucht ihres Körpergewichts den nächsten Mann zur Fall, trat auf ihn ein. Sie schien so lebendig wie nie zuvor. Beziehungsweise so lebendig, wie es Zombies eben sein können. Der Mann mit der blutenden Nase hätte sich vor lauter Dummheit gerne an den Kopf geschlagen, hätte das nicht schon längst jemand anders für ihn erledigt. Er raffte sich wieder auf, ging genau wie seine Kameraden auf die Untote zu und wollte sie überwältigen, als er plötzlich sah, dass die Frau eine Spritze in ihrer Hand hielt. Weiß der Geier, wo sie die her hatte, dachte der Mann noch, da spürte er schon einen leichten Schmerz am Hals. Bevor er noch einen weiteren Gedanken denken konnte, umspülte ihn Schwärze und er taumelte dem Boden und der Bewusstlosigkeit entgegen.

Atera hatte die anderen beiden Männer ebenfalls mit der aus dem Ankleideraum mitgenommenen Betäubungsspritze außer Gefecht gesetzt, danach war sie leider leer gewesen und sie hatte den letzten mit einer komischen langen Jacke einwickeln und ihn k.o. schlagen müssen. Erschöpft zog sie die Männer ganz in den Raum, nahm einen Schlagstock an sich und fluchte auf, als sie bemerkte, dass keiner der Uniformierten einen Schlüssel dabei hatte. Das hatte sie leider fest eingeplant. Ohne Schlüssel würde sie weder den anderen Patienten zur Hilfe eilen können noch das große Tor draußen aufsperren können. Hektisch verpasste sie den Männern Knebel aus den Fetzen ihrer Kleidung, zog dem einem seine graue Hose aus und sich selber an. Sie war zwar zu weit und schlackerte heftig beim Gehen, aber für einen flüchtigen Blick würde es wohl reichen müssen. Atera schloss die Türe hinter sich und schob den Riegel vor. Im Gang verbreitete nur eine Öllampe an der Wand etwas Licht, kurzzeitig sah Atera vor ihrem inneren Auge eine lichterloh brennende Klinik, sie grinste hämisch. Dann ging sie an der Lampe vorbei.
Gut, was hatte sie dabei? Ein Löffel, eine leere Spritze, den Schlagstock, eine zu weite Hose und vor allem keinen Schlüssel. Zumindest wusste sie, wo sie war. Im zweiten Stock, also musste sie nach unten gehen und auf ihr nicht vorhandenes Glück hoffen, dass sie nicht entdeckt wurde und trotzdem einen Weg nach draußen fand. Atera bewegte sich vorsichtig eine Treppe hinunter, lugte immer wieder um die Ecken. Sie hatte keine Ahnung von dem Lageplan, vermutete aber, dass die Uniformierten im Erdgeschoss untergebracht waren und sich dort vielleicht irgendwo die Möglichkeit ergab einen Einzelnen mit Schlüssel zu überwältigen.
Während sie durch die Gänge schlich, dachte sie an ihren damaligen Eintritt bei der Wache. Man hatte ihr ein Schwert gegeben, eine Uniform, eine Dienstmarke und nach einem kritischen Blick ein Päckchen Nähgarn. Dann hatte man sie auf die Straße zur ersten Streife geschickt. Das wars. Keine großartigen Erklärungen, wenig Regeln [6], die es zu befolgen galt, keine Ausbildung und niemanden, der einem sagte, tu dies oder mach jenes. Nur sie, die Straße, ihr Schwert und die Macht der Uniform.
Und heute? Heute ließ man Neuankömmlinge Monate an Grundausbildung absolvieren, Berichte schreiben, Gesetze lernen. Atera vertrat die Ansicht, dass man nur durch Erfahrung dazulernte und wo ging das besser als in den Straßen von Ankh-Morpork? Nur so wurde man zu einem routinierten, geschärften Wächter, die Sinne so scharf wie sein Schwert. Atera dachte kurzzeitig an ihre eigene alte, schartige Waffe und schlich lautlos weiter durch die Klinik. Im Prinzip jedenfalls. Hah, damals... damals waren die Straßen das Zuhause der Wächter gewesen. Die Straße und die Nacht. Zeig mir doch einen der jungen Wächter, die sich wirklich auskennen in der Stadt, müssen doch schon Passanten nach dem Weg fragen, wie peinlich. Atera schüttelte verständnislos den Kopf, bemerkte noch nicht einmal, dass sie mit sich selbst redete und ging weiter, zwar ohne Uniform und Schwert, aber zumindest mit dem fast greifbaren Gefühl sie trotzdem irgendwie zu tragen.
Nach einer Weile hatte sie gefunden, was sie suchte: Eine große Schwingtüre mit dem verlockenden Schild 'Zutritt nur für Personal'. Atera stand atemlos davor, ihre Hand umgriff den Schlagstock fester, mit dem sie ganz langsam die Türe aufschob. Dahinter erstreckte sich ein dunkler Gang. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie richtig war, aber ihr Gefühl sagte ihr auch, dass viele Aufpasser in diesem Trakt waren und sollte sie entdeckt werden, ihre womöglich einzige Chance somit vertan wäre. Vertrödel deine Zeit nicht mit Denken, ermahnte sie sich selbst. Nach ihrer inneren Uhr müsste es nämlich bald soweit sein, dass die Nachtschicht einsetzte, falls es das hier gab (aber welche vernünftige Mannschaft kam schon ohne die Nachtwache aus?), die sicher draußen und auf den Gängen patrouillieren würde. Noch vor diesem Wechsel müsste sie am besten außerhalb des Gebäudes sein. Obwohl sie Ankh-Morpork vorziehen würde. Ja, bald würde sie die Stadt wieder sehen.
Und dann war sie wieder jemand. Stabsspieß der Wache, S.E.A.L.S. Abteilungsleiterin. Hah, ihr könnt mir nicht das Wasser reichen, denn ich bin bereits mit allen Wassern gewaschen.
So gestärkt stieß Atera regelrecht die Türe auf und trat mit herrischen Schritten ein. Kurz darauf verfiel sie erneut in den schleichenden Trott, der zwar erstens dämlich aussah, aber zweitens wirkungsvoll war und vor allem drittens bewirkte, dass ihr nicht dauernd die Hose rutschte. Mit dem Haken zog sie selbige gerade hoch und spähte dann um eine Ecke. In dem Seitengang fiel Licht aus einer Türe, Lachen und Stimmen waren deutlich zu hören. Es sah nicht danach aus, als könne sie daran unbemerkt vorbei. Aber vielleicht musste sie das auch gar nicht, denn noch während sie weitere Vorgehensweisen bedachte, trat ein Mann aus dem Raum und kam den Gang entlang auf sie zu. Rasch zog Atera ihren Kopf zurück und wartete mit dem Rücken zur Wand auf sein Vorbeigehen. Doch die Schritte verklungen, eine Türe wurde geöffnet, dann wieder geschlossen. Atera guckte ein zweites Mal in den Gang. Der Mann war verschwunden und sie nutzte die Gelegenheit den Weg genauer in Augenschein zu nehmen. Schräg gegenüber des geöffneten Raumes befand sich auf der linken Seite eine geschlossene Türe in die der Mann wohl gegangen war. Es verstrich auch kaum eine Minute, als er wieder herauskam und noch an seinem Gürtel nestelnd zurück zu seinen Kollegen ging. Auch nach dem Geruch zu urteilen, der beim Öffnen der Türe aufgetreten war, schloss Atera, dass sich dahinter der Abort verbergen musste.
Einen Augenblick später schlich sie schon Schritt für Schritt auf die Türe los. Noch hatte sie niemand gehört, noch war kein weiterer in den Gang getreten. Noch lief alles nach Plan [7]. Sie hatte die Türe erreicht, wartete auf das nächste Gelächter der Männer, um unter diesen Geräuschen selbige zu öffnen. Ihre Hand wanderte zur Klinke. Sie war so angespannt und konzentriert, sicher hätte ihr Atem kurzzeitig ausgesetzt, hätte sie welchen besessen.
Dann grölten die Männer etwas auf überwaldisch und jemand schien auf einen Tisch zu hauen. Das Klappen der Türe fügte sich problemlos in die Geräuschkulisse, als Atera in den Abort trat.

Der Aufpasser spielte mit seinem Schlüsselbund in der Hand, wirbelte ihn klimpernd um die eigene Achse, während er zum Abort ging. Eine leise Melodie pfeifend öffnete er die Türe, ignorierte den beißenden Geruch, ließ die Hose runter und setzte sich auf den Balken. Mit den Füßen klopfte er den Rhythmus des Liedes weiter und blickte zu den Kacheln am Boden. Er bemerkte erst, dass noch jemand anders im Raum war, als sein Kopf an den Haaren heftig hochgerissen wurde, er in ein bleiches Gesicht sehen musste und dann eine Faust auf ihn zuraste.

Atera rannte die Gänge zurück, hastete über die Treppen, die Schlüssel immer an sich gedrückt. Jetzt ging es um Schnelligkeit. Sie musste aus dem Gebäude sein bevor der Uniformierte wieder zu Bewusstsein kam oder ein anderer ihn entdeckte. Die Untote bog in den nächsten Gang und befand sich wieder in dem Bereich, wo die Patienten untergebracht waren.. Hektisch probierte Atera die ersten Schlüssel aus und riss dann die Türe auf.
"Wir sind frei!", rief sie. "Los, jetzt ist die Zeit zum Fliehen gekommen!" Zwei Männer blickten verschlafen auf, der eine murmelte nur etwas und rollte sich dann wieder in seine Decke.
"Lass uns in Ruhe, wir wollen schlafen.", murrte der andere. Atera starrte ihn entgeistert an.
"Was? Schlafen? Du hast die einmalige Chance von diesem Ort zu gelangen.", gab sie zurück.
"Mann, kapierst dus nicht, Flickentante? Wir sind alle freiwillig hier." Der Mann legte sich wieder hin und machte weder Anstalten aufzubrechen noch seine Sachen zu packen. Er schlief einfach weiter. Wutschnaubend warf Atera die Türe ins Schloss und ging zu ihrem eigenen Zimmer. Ohne ein weiteres Wort ging sie zu ihrem Bett, nahm ihre Sachen an sich und rüttelte dann an Doerthe.
"Was-?", begann diese müde.
"Du hast hier und jetzt die Gelegenheit mit mir zu fliehen. Ergreifst du sie?", fragte Atera ohne sich zu erklären.
"Aber ich will doch vom Alkohol los kommen.", murmelte die junge Frau, hielt sich die Ohren zu und drehte sich weg.
"Dann eben nicht!" Trotzdem öffnete Atera alle weiteren Türen, doch überall stieß sie nur auf Empörung und Ablehnung. Im letzten Zimmer fand sie Gudmund und da ihr Plan nicht vorsah alleine zu fliehen, zog sie ihn kurzerhand aus dem Bett.

"He, was soll-"
"Beeil dich, die Wärter kommen gleich. Wenn sie dich hier entdecken, ist es aus mit dir.", sagte Atera nur und zog ihn auf die Beine. "Folge mir und dir wird nichts geschehen."
"Aber-" Gudmund wurde aus dem Zimmer geschubst und stolperte in seinem Nachthemd auf den Gang. Atera drückte ihm seinen Reisebeutel in die Arme und drückte ihn weiter nach vorne. "Was ist denn-" Wieder konnte der kleine Mann seinen Satz nicht zu ende bringen, da in diesem Moment Fußgetrappel seine Aufmerksamkeit forderte.
"Renn!", rief Atera und eilte in entgegen gesetzter Richtung. Sie kam nur einige Meter weit, trat dann auf ihre eigenen zu langen Hosenbeine und fiel hin. Fluchend rappelte sie sich wieder auf, zog mit dem Haken an ihrem Arm die Hose hoch und rannte weiter. Gudmund folgte ihr nach kurzem Zögern ohne recht zu wissen, was eigentlich los war. Aber irgendetwas Schreckliches musste anscheinend passiert sein. Gemeinsam liefen sie die Treppen hinunter, versuchten nur jede zweite Stufe zu nehmen, was an Gudmunds kurzen Beinen und an Ateras langer Hose scheiterte. Irgendwie gelangten sie ins Erdgeschoss und passierten dunkle Gänge.
"Wir müssen nach draußen!", rief Atera im Laufen. Gudmund nickte nur schnaufend, Schweiß rann ihm bereits in Strömen über das Gesicht. Sie durchquerten die Eingangshalle, die Empfangsdame war nirgends zu sehen, dafür aber der Portier, der mit erhobenem Schlagstock auf sie zukam.
"Was habt ihr hier zu suchen? Bleibt stehen, bis ich eure Schwester verständigt habe.", begann er. Es war das unnachahmliche scharrende Geräusch zu hören, als Atera ihr Schwert zog.
"Auf den Boden, Hände über den Kopf und keinen Mucks.", befahl sie barsch. Der Mann zögerte. Er blickte auf seinen einfachen Holzstock und dann zu ihrem Schwert. Schließlich entschied er sich dafür zu gehorchen, diese Frau war gemeingefährlich, wer weiß, was so eine Verrückte austicken ließ. Da konnte doch schon ein falsches Wort genügen...
Gudmund machte einen weiten Bogen um den Uniformierten am Boden und folgte Atera zur Türe, die bereits am Schloss herum fummelte. Endlich hatte sie es geschafft, stieß die Türe auf, als das Läuten der Glocke einsetzte.
DENG-DENG-DENG-DENG
"Zum Tor!! Renn!", rief die Untote und eilte über den Kiesweg. Gudmund stolperte, raffte sich wieder auf, keuchte, blickte zurück. Hinter ihm sah er den Zwinger. Die kleine Drahttür schwang im nächtlichen Wind.
"Die Hunde!" Er lief Atera hinterher und prallte beinahe gegen das Tor.
"Was ist mit den Hunden?" Atera probierte den ersten Schlüssel am großen Vorhängeschloss aus und fluchte.
"Sie sind nicht im Zwinger!", heulte Gudmund auf. Ein Knurren hinter ihm veranlasste ihn sich umzudrehen. Vor der Eingangstüre standen drei große Hunde, fletschten die Zähne und sahen zu ihnen. "Atera!", drängte er flehentlich. Weitere Schlüssel wurden ausprobiert, doch keiner wollte passen.
"Ich mach ja schon.", gab der Zombie zurück. Die Hunde liefen los. Ihre Pfoten knirschten auf dem Kiesweg.
"Das Tor!! Schnell!!", schrie, kreischte Gudmund beinahe schon. Die Glocke dröhnte in seinen Ohren. Der erste Hund war fast bei ihnen angekommen, setzte zum Sprung an, das mit Reißzähnen bestückte Maul weit aufgerissen. Gudmund kniff die Augen zusammen, hörte nur noch das Einrasten des Schlüssels und wie er nach hinten gezogen wurde.
Atera schmiss im letzten Moment das Tor zu. Sie hörten drei dumpfe Aufpralllaute, das Schaben von Klauen am Holz, kurz darauf Jaulen. Gudmund atmete erleichtert auf.

***


Es war eine regnerische und stürmische Nacht. Blitze zuckten. Der Himmel war tintenschwarz und mit Wirbeln dunkler Wolken, die großzügig den Regen verteilten. Dunkle hohe Nadelbäume ragten wie die Speerspitzen eines Heeres auf. Donner krachte gegen das Gebirge.
Zwei abgerissene Gestalten stolperten aus einem Wald.
"Ich kann nicht mehr.", jammerte die kleinere. Er stützte sich an einen Baumstamm, keuchte wild.
"Wir müssen ihn suchen!", beharrte die andere Person. Sie wischte sich den Regen aus dem Gesicht und starrte auf den matschigen Weg, der sich am Wald vorbei wand. Ein Blitz zerriss für kurze Zeit die dunkle Nacht und offenbarte ein altes Holzschild angeschlagen an einem Baum. "Hmm, ich kann mich nicht an diese Stelle erinnern.", murmelte die Person und stapfte durch den Matsch zum Schild.
"Soll das heißen, du weißt nicht wo wir sind?", fragte die andere nach, ein kleiner, untersetzter Mann.
"Doch, natürlich.", erwiderte die Person. Der Mann wirkte etwas erleichterter. "Wir sind in Überwald." Der Mann seufzte leise. "Zum... Abenteuer steht hier drauf. Was soll das denn heißen?"
"Ich will nach Hause!", jammerte der Mann. "Lass uns wieder zurück zur Klinik gehen, Atera."
"Bist du verrückt? Wir können nicht zurück zur Klinik, sie würden uns vierteilen oder schlimmeres."
"Oder.. s-schlimmeres?"
"Oder schlimmeres.", bestätigte die Person. "Lass uns in dieser Einöde etwas Leben oder eine Untoten Entsprechung suchen, wo wir nach dem Weg fragen können." Sie dachte kurz nach. "Folgen wir mal dem Schild." Der Mann nickte schließlich und watschelte mit hängenden Schultern hinter der anderen Person hinterher. "Was für eine Einöde.", sagte diese wieder. Die beiden entfernten sich, stapften durch Regen und Schlamm. Unbeobachtet von allen, nur zwei unwichtige Eindringlinge, zwei Punkte auf der großen Karte, die sich Überwald nannte. Es raschelte ganz leise im Unterholz, als sich etwas leise vom Waldesrand zurückzog und wieder im Dunkeln verschwand.

Der Weg gabelte sich schließlich an einer Kreuzung. Nirgendwo war ein Schild zu sehen und Atera sah zuerst nach rechts. Ein schmaler Weg verschwand wieder im Wald. Sie sah nach links. Der Weg wurde dort breiter und ging, gut sichtbar, am Rande des Waldes entlang.
"Nehmen wir den da.", entschloss Atera und bog nach rechts.
"Was?? Aber warum? Lass uns lieber den ausgebauten Pfad nehmen, da ist es sicherer.", protestierte Gudmund heftig.
"Nein, weil dort im Gras liegt ein Schild, das in diese Richtung zeigt." Atera nickte zuerst zu einem Büschel Gras vor ihren Füßen, wo ein Holzbrett hervorlugte und dann in den linken Weg. Gudmund sah sie verwirrt an. "Folgen wir etwa einem Schild, wo drauf steht 'Geht nach links.'?"
"Vielleicht ist es ein gut gemeinter Rat?", spekulierte der kleine Mann, aber Atera war, ohne ihn weiter zu beachten, schon dabei den rechten Pfad einzuschlagen. Sie gingen erneut in einen Wald, der Regen war hier weniger, doch dafür konnten sie kaum die eigene Hand vor Augen sehen. Düsternis hatte sich zwischen den dicken Baumstämmen versteckt und kroch nun hervor, um die beiden Wanderer einzuhüllen. Atera schritt, nach beiden Seiten sehend, mit ihrem Schwert in der Hand voran, doch auch sie erschrak jedes Mal und fuhr herum, wenn es irgendwo im Unterholz raschelte.
Sie gingen schweigend eine Weile, stolperten über herausragende Wurzeln und schlugen Zweige, die ihnen übers Gesicht streiften beiseite. Seit der Flucht aus der Klinik, waren ihnen zwar einige der Wärter gefolgt, aber sie hatten sie im Wald abhängen können. Nur dabei musste Atera eingestehen, dass sie absolut keine Ahnung hatte, wo sie sich nun befanden. Und Sir Henry hatten sie auch nicht gefunden. Überwald war groß...
Die nächsten Gedanken brach die Untote ab, noch ehe sie genauer Gestalt annehmen konnten.
Plötzlich sah sie aus weiter Ferne Lichter, die durch den Wald schienen. Auch Gudmund hatte sie bemerkt und gemeinsam beeilten sie sich darauf zuzuhalten. Licht bedeutete zumeist auch Personen in der Nähe. Ob gut oder feindlich gesonnen, würde sich noch zeigen.
Die beiden ehemaligen Patienten kamen aus dem Wald hinaus und an einen offenen Platz. Jetzt sahen sie auch woher das Licht kam. Auf einem großen Hügel stand ein riesiges, hohes Schloss, in den Fenstern flackerten augenscheinlich Kerzen und kunstvoll gehauene Steinfiguren ragten an den Erkern und Ecken hervor.
"Wir haben Glück. Dort bekommen wir sicher Hilfe.", sagte Atera und folgte dem gewundenen Pfad den Hügel hinauf.
"D-dort? Das sieht nicht sehr einladend aus.", bemerkte der kleine Mann zögernd.
"Wir haben aber nun mal keine Alternative." Atera zog Gudmund kurzer Hand hinter sich her bis hin zum riesigen Tor des Schlosses, das einen eisernen Klopfer besaß. Es krachte zweimal laut, als ihn Atera gegen das Holz schlug. Dann folgte eine zeitlang Stille, gepaart mit einem mulmigen Gefühl. Der Regen ließ allmählich nach, wurde zwar weniger, aber sie waren eh schon so vollkommen durchnässt, dass ein Wetterumschwung nichts verbessert hätte.
"Losungswort?", schnarrte da plötzlich eine Stimme. Eine Klappe im Tor hatte sich geöffnet und der Kopf eines Mannes war zu sehen.
"Äh, Losungswort?", fragte Gudmund zurück und rieb sich fröstelnd über die Arme.
"Lasst uns einfach rein.", forderte Atera.
"Nein, das geht nicht so einfach. Erst das Losungswort, das ihr bestimmt mit den Unterlagen bekommen habt.", erklärte der Mann trocken.
"Unterlagen? Was für Unterlagen?" Atera sah verständnislos zu dem Mann und sagte dann das, was sie immer zu sagen pflegte, wenn sie irgendwo nicht weiterkam. "Stadtwache Ankh-Morpork. Ich bin erster Stabsspieß der Wache und begehre massiv Einlass." Sie wischte sich den Regen aus dem Gesicht und wrang sehr unspektakulär ihre Haare aus. "Vor allem, weil es hier draußen verdammt kalt und verdammt nass ist.", fügte sie hinzu.
"Du.. du bist eine Wächterin?", fragten Gudmund und auch der Pförtner in einem Ton.
"Ja, können wir jetzt endlich rein und drinnen weiter reden?" Der Mann hinter dem Tor nickte hastig und sah dann noch mal nach draußen. "Aber äh, könntet ihr vielleicht den Dienstboteneingang nehmen? Einfach rechts herum und an der kleinen Tür klopfen. Ich öffne dann." Mit einem Ruck schloss sich die Klappe wieder.
Missmutig über diese Verzögerung, stapfte Atera über den Morast und die durch den Regen sumpfige Graslandschaft nach rechts, im Schlepptau Gudmund. Beide gingen an der Mauer entlang bis sie endlich zu einer Türe fanden und ihnen der Pförtner sofort die Türe öffnete und sie eilig hereinbat.
"Was für ein Glück, dass du von der Wache bist.", fiel er gleich mit der Tür ins Haus. Atera murmelte irgendwas unverständliches, sah ihn misstrauisch an und blickte sich dann um. Sie standen in einem engen Gang, alte Holzbohlen knarrten unter ihren Schritten und links und rechts zweigten Türen ab. "Der Dienstbotentrakt.", erklärte der Mann auf ihre fragenden Blicke. "Weißt du, dies ist ein ganz besonderes Schloss."
"Aha.", machte Atera desinteressiert. Das einzige, was sie interessierte war der Weg nach Hause, der Weg zu ihrer Kröte und eventuell auch der Weg zu einem kräftigen Schluck Whiskey. Ja, jetzt einen guten Tropfen.. Henry finden und dann endlich zurück. Niemand würde bemerken, dass sie geflohen war, sie würde einfach sagen, sie hätte bestanden und wäre nun geheilt. Es würde keinem auffallen. Keinem, außer ihr selbst.
Atera ließ die Schultern hängen.
"Äh, und du bist wirklich Wächterin?", vergewisserte sich der Mann noch einmal und sah Atera beinahe flehend an, während Gudmund hinter ihnen herging und sich umsah.
"Ja, Wächtern. Was gibt es denn?"
"Es ist so, wir.. he, nicht anfassen, das ist Kulisse!", rief der Pförtner plötzlich und Gudmund fuhr ertappt zusammen, der gedankenverloren über die Mauersteine gestrichen hatte.
"Kulisse?" Atera sah ihn verwirrt an.
"Ja, wir sind kein ähm richtiges Schloss." Der Mann sah verlegen zu Boden. "Wir bieten Abenteuer für reiche Adelige und wohlhabende Bürger an, die etwas mehr Aufregung im Leben wollen." Er machte eine allumfassende Geste in den Raum, die drei waren in eine große Halle getreten. "Dies soll ein richtiges Vampirschloss darstellen. Ihr wisst schon, wie in den Klickern. Und fremde Reisende kommen zu uns, retten die Jungfrau, fechten mit dem Vampir, erkunden die geheimnisvollen Geheimnisse des Schlosses. So etwas eben."
"Aha.", machte Atera wieder desinteressiert. "Und was hat das jetzt mit mir zu tun? Ich würde einfach gerne den schnellsten Weg nach Ankh-Morpork wissen.. und ihr habt nicht zufällig eine kleine niedliche Kröte gesehen oder?"
"Nun, uns ist da, glaube ich, ein kleines Malheur passiert..", begann der Pförtner. "Unser letzter Kunde ist seit mehr als zwei Wochen überfällig."
"Ich bin zwar Wächterin, aber erstens von der Stadtwache, deswegen geht mich das hier nichts an und zweitens bin ich bestimmt keine Geldeintreiberin."
"Es geht auch nicht um Zechprellerei, mit so was werden wir fertig. Unser Kunde ist nur einfach nicht erschienen. Seine Frau ist bereits in heller Aufregung, wenn ihm etwas zugestoßen ist, würde das unseren ganzen guten Ruf ruinieren.", erklärte der Mann.
"Und nun soll ich ihn wieder finden oder was?", blaffte Atera zurück und stapfte durch die Halle.
"Äh ja, das wäre nett."
"Vergiss es. Ich will nur nach Hause. Und vielleicht etwas zu trinken, meine Kehle ist trocken."
"Zu Trinken?" Der Mann horchte auf und besah sich die beiden durchnässten Gestalten. Graue Kleidung.. ein aufgestickter Buchstabe. Sein Gesicht hellte sich auf. "Natürlich, ich gebe euch zu trinken. Wir haben den ganzen Keller voll."
"Atera, nicht.." Gudmund zupfte sie am Ärmel. "Wir sollen doch nicht trinken. Schwester Beata hat gesagt-"
"Es interessiert mich nicht, was diese Beata gesagt hat. Siehst du sie irgendwo hier, hm?" Gudmund sah sie nur verzweifelt an, aber die Wächterin folgte dem Mann durch verschiebbare Gänge mit Statuen und Wasserspeiern aus Pappe bis sie im Keller angelangt waren. Neben allerlei Kostümen und Requisiten fanden sich auch drei riesige aufgebockte Fässer.
"Dies ist unser bester, allerbester Tropfen. Eigens für unsere erlesenen Kunden, die dann mit dem Vampirgrafen zu Abend speisen.", verkündete der Pförtner, der anscheinend mehr Mädchen für Alles war und schritt auf die Fässer zu. Ein breites Grinsen hatte sich in seinem Gesicht eingeschlichen. "Alles für euch. So viel ihr trinken könnt."
"Ah, das ist doch mal ein Wort." Atera hielt ihre Hose mit ihrem Haken fest und ging auf die Fässer zu. "Ihr habt nicht zufällig eine passende Hose für mich?", fragte sie, während ihr Blick gierig über die Fässer wanderte und die Trinkbecher, die daneben standen.
"Hose? Frauen sollten keine Hosen tragen.", merkte der Mann an. "Aber wir haben einige Röcke und Kleider aus unserem Sortiment 'Angebissene Jungfrau'." Der Mann hüstelte verlegen.
"Darüber reden wir später. Ich will erstmal nur was zu trinken, so ein Waldspaziergang strengt an." Die Untote schritt zum ersten Zapfhahn, hielt einen Becher darunter und drehte ihn auf. Im Hintergrund fing Gudmund an zu wimmern.

Es regnete in Strömen. Wieder einmal. Wind heulte auf. Baumwipfel rauschten. Wieder einmal. Der Mond stand hell am Nachthimmel. Zumindest hätte er das, wäre der Himmel nicht über und über mit dunklen, regennassen Wolken verhängen. Der Wald lag ruhig da, nur ein Pfad führte durch ihn. Düster war es, dunkle Stämme und Nadelbäume ragten in die Höhe. Eine Eule drehte auf der Suche nach Beute ihre Runden über den Wipfeln und war so zugegen, um etwas Merkwürdiges zu beobachten.
Ein weißer Punkt bewegte sich durch die Schwärze, taumelte wie ein angeschlagener Nachtfalter hin und her. Die Eule segelte weiter hinunter und nun konnte man den Punkt genauer erkennen. Es war eine Frau in einem weißen wehenden Kleid. Ihre Haare waren schwarz wie Ebenholz, ihre Haut bleich wie Schnee und ihre Lippen so.. so leb- und farblos wie sie es nur bei einem Zombie sein können.
Die Frau torkelte den Weg entlang, lallte und nuschelte sehr undamenhaft vor sich hin.
"Knieweisch.. Knieweisch.. oh, wie sin mir die Knie weisch!", sang sie sehr laut und schief, der Saum des Kleides war mittlerweile durch Erde und Schlamm verdreckt, ihre Haare fielen ihr immer wieder wirr ins Gesicht und sie hatte Mühe eine gerade Linie beizubehalten.
"Atera.", drängte in diesem Moment ein Mann, der hinter ihr her lief und sie bei Zeiten stützte. "Lass uns umkehren. Das war eine sehr dumme Idee."
"Wasch denn fürne Idee?", fragte die Frau zurück und stolperte vorwärts.
"Diesen.. verloren gegangenen Kunden zu suchen. Wie hast du dich dazu nur breit schlagen lassen? Warum hast du wieder angefangen zu trinken?"
"Geh doch nach... nach Haus, wenn's dir nich pascht."
"Nein.." Der Mann sah ängstlich drein. "Zu Hause wartet nur meine schreckliche Frau auf mich.. erst muss ich dem Alkohol abschwören, vorher kann ich nicht zu ihr äh zurück.", antwortete er und folgte der untoten Frau in dem weißen Kleid.
Sie gingen eine Weile schweigend weiter: Vielmehr schwieg der Mann verdrossen und die Frau sang lauthals. Der Weg wand sich durch den Wald hinaus und schlängelte sich an einem Gebirge entlang.
"Sei doch etwas leiser, Atera.", bat der Mann und blickte sich immer wieder um. "Wer weiß, was für Kreaturen hier in diesem Wald hausen."
"Ja, meine liebe kleene Kröde, die nu gantsch allein un einscham im Wald is.", erwiderte Atera und knallte urplötzlich gegen eine Kuschte, die sich in ihren Umrissen soeben aus der Nacht geschält hatte. "He, geh mir ausm Wech." Die Untote schlug gegen die Kutschwand. "Was soll das? Geh weg!", rief Atera und trat erbost mit dem Fuß gegen ein Wagenrad, was halb im Schlamm versunken war.
"Kann ich vielleicht behilflich sein, die Dame?", sagte in diesem Moment eine Stimme und Atera fuhr herum. Zumindest hatte sie vorgehabt herumzufahren. Stattdessen schwankte sie und kippte seitwärts einem hoch gewachsenen Mann in die Arme. Gudmund kippte ebenfalls, allerdings aus Ohnmacht.

Ein Quaken weckte Atera, sie blinzelte matt und ihr Kopf schmerzte höllisch. Sie musste geträumt haben, irgendwas von einer Klinik.. und... Sie blinzelte erneut und wollte sich aufrichten, doch sie konnte sich nicht bewegen. Irgendetwas trommelte unablässig gegen ihren Kopf.
"Was..", begann Atera und blickte dann vor sich auf die fetteste, hässlichste und schmutzigste Kröte, die die Scheibe je gesehen hatte. "Sir Henry!", rief die Wächterin freudig aus. Atera drückte sie an sich [7a], was der Kröte ein leises Quaken entlockte.
"Gut, ich bin froh, dass er wirklich dir zu gehören scheint.", sagte eine Stimme und endlich sah sich Atera weiter um. Es war dunkel und sie konnte sich nicht bewegen, weil sie eingeklemmt auf einer kleinen Kutschbank lag und es trommelte nicht auf ihren Kopf, sondern offenbar auf ein Kutschdach. Regen. Das war Regen. Mühsam zogen die Gedanken in ihrem Kopf Kreise um die kürzliche Vergangenheit und entblößten wie bei einer Zwiebel Schicht für Schicht die dämmernde Erkenntnis. "Ich bin in einer Kutsche!", stellte Atera fest. Sie erinnerte sich nicht, wie sie hierher gekommen war, doch spürte sie, dass sie sich bewegten. Die schwache Erinnerung an ein ähnliches Erlebnis [9] stieg in ihr auf und zerplatzte an der Oberfläche einer weiteren Erkenntnis. "Ich werde entführt." Sie tätschelte beruhigend den Kopf von Henry und dachte angestrengt nach. Irgendetwas Entscheidendes hatte sie vergessen... wenn nur ihr Kopf nicht so schmerzen würde.
"Nein, ich bringe dich nur dahin zurück, wo du hingehörst.", war aus der Dunkelheit zu vernehmen. Atera fiel wieder ein, dass eben auch jemand gesprochen hatte. Langsam schwand der Schleier der Betäubtheit von dir.
"Wer bist du? Gib dich zu erkennen.", forderte sie. Die Untote kniff die Augen zusammen und spähte zur gegenüberliegenden Bank. Ein Mann saß in der Kutsche, groß und dürr, hagere Wangenknochen und einen langen, krummen Nasenrücken.
"Habe die Ehre mich vorzustellen." Er senkte kurz das Haupt und seine grauen, dünnen Haare fielen nach vorne. "Graf Vla." Atera musste bei dem Namen merkwürdigerweise an Pudding denken. Sie blickte ihn an, ihre Gedanken brauchten noch eine Weile, um eine weitere Frage zu formulieren.
"Ich heiße Atera. Wie.." Sie überlegte kurz. Warum schmerzte ihr Kopf nur so? "Wie komm ich hierher?" Bei der Frage sah sie ihre Kröte an, als wüsste sie die Antwort statt des Grafen.
"Du bist betrunken gegen die Kutsche gelaufen, die mein Diener und ich gerade wieder funktionstüchtig machten. Ein sehr bezauberndes Kleid übrigens, mein Kompliment.", antwortete Graf Vla und Atera sah darauf schnell an sich hinunter. In der Tat, sie steckte in einem weißen.. Kleid. Mit Spitze. Und da erinnerte sie sich wieder an alles. Die Flucht aus der Klinik, das merkwürdige Abenteuerschloss, das sinnlose Besaufen im Keller und wie der Verwalter des Schlosses sie dazu überredet hatte diesen verschwundenen Kunden zu suchen, das Herumlaufen im Wald, die erfolglose Suche mit...
"Wo ist Gudmund?", platzte es aus Atera raus.
"Der Mann, der bei dir war?" Der Graf räusperte sich verlegen. "Er fiel in Ohnmacht, als er mich sah. Offenbar hat er mich wieder erkannt." Die Wächterin musterte den Mann vor sich noch einmal genauer. In der Dunkelheit hatte sie nicht gleich die bleiche Hautfarbe erkannt.
"Du bist ein Vampir.", stellte sie fest. Graf Vla nickte. "Was heißt das, er hat dich wieder erkannt?"
"Nun, der Herr stand vor gerade einmal zwei Wochen vor meiner Burg und wollte eingelassen werden, seine Kutsche hatte offenbar einen Unfall gehabt. Als mein Diener die Tür öffnete, erschrak der Mann und fiel sehr unglücklich hin. Ich vermute, er hat dadurch einen Gedächtnisschwund erlitten." Der Graf hielt kurz inne. "Ohne beleidigend zu werden, Madam, ich dachte, er wäre einer der Verrückten aus dieser Klinik und habe ihn dorthin gebracht."
"Das erklärt so manches.", murmelte Atera nachdenklich. "Wo ist Gudmund jetzt? Falls er überhaupt so heißt."
"Mein Diener weckte ihn wieder auf, aber bevor wir ihn befragen konnten, rannte er weg. Rief irgendetwas davon, dass er es seinem Kutscher gleich tun will." Der Graf zuckte mit den Schultern und wirkte dabei wie ein Geier, der im Begriff war mit seinen Flügeln zu schlagen.
"Seltsam.. nun, zumindest verbindet Gudmund und mich etwas. Wir gehören beide nicht in die Klinik."
"Du bist aber doch eine Patientin oder war meine Vermutung nicht richtig?"
"Doch, das schon.", erwiderte Atera. "Aber unfreiwillig!", setzte sie rasch nach. "Außerdem nehme ich an, dass Gudmund auch unfreiwillig dort war, auch, wenn er es nicht wusste. Immerhin hast du ihn dort hingebracht, Graf."
"Ganz recht. So wie dich nun auch.", gab der Vampir ruhig zurück. Atera wollte wütend auffahren, aber das Hämmern in ihrem Kopf bei jeder Bewegung und ein großer Klumpen Kröte hinderte sie daran.
"Das wirst du nicht tun!", widersprach die Wächterin aufgebracht. "Ich bin schließlich nicht umsonst aus der Klinik ausgebrochen."
"Warum bist du denn geflüchtet?", fragte Graf Vla zurück und er hielt Atera mit einem stechenden Blick fest. Einsam rumpelte die Kutsche weiter durch Überwald, der Regen war prasselnd zu hören, ab und zu das Schlagen einer Peitsche, die Laute der Pferde. "Deine Schweigsamkeit liegt vielleicht dort begründet, dass du vor deiner Herausforderung geflohen bist und es so eine Niederlage geworden ist.", führte der Vampir fort.
"Herausforderung? Das ist keine Herausforderung! Ich könnte jederzeit aufhören." Atera verschränkte demonstrativ die Arme.
"Wirklich?" Der Graf zog seine ergrauten Augenbrauen zusammen. "Und darum hast du auch wieder getrunken?" Er sah Atera an. "Glaub mir, ich lebe sehrrr sehrr lange in Überwald. Es hat sich hier einiges verändert. Meine Nachbarn sind Veranstalter von so genannten Abenteuer Reisen, ich musste einen Vertrag unterzeichnen, dass ich keinen ihrer Kunden aussauge. Pah!"
"In der Stadt hat sich auch viel geändert. Jetzt wirst du schon schief angeguckt, wenn man nur ein paar Gläser.. Flaschen mehr als üblich trinkt. Gefährdung im Dienst heißt es. Und ehe man sich versieht, ist man in einer Klinik, um den Alkohol zu bekämpfen. Pah!"
"Aber das sind die heutigen Herausforderungen.", erwiderte der Vampir. "Man muss sich anpassen, nur so kann man weiter bestehen. Die Herausforderungen von einst sind die Fehler und Schwächen von heute."
"Pah." Atera grummelte leise etwas. Ihr passte das ganz und gar nicht. Und noch viel weniger passte ihr, dass Graf Vla leider Recht hatte. "In Ankh-Morpork gibt es eine Vereinigung von Vampiren, die das so genannte Schwarze Band tragen und sich losgesagt haben vom menschlichen Blut.", sagte sie nach eine Weile. Der Mann ihr gegenüber schnaufte verächtlich.
"Siehst du, das meine ich. Die gute alte Zeit... vorbei. Heute kämpft man andere Kämpfe." Die Kutsche hielt plötzlich mit einem Ruck, jemand klopfte gegen das Dach. "Oh, wir sind anscheinend schon da." Der Graf tat mit gebeugten Rücken die kleine Türe auf und trat nach draußen. Atera richtete sich umständlich auf und folgte dem Vampir, während sie merkte, dass sich wieder einige Körperteile zu lösen begannen. Oh ja, dachte sie, es wird höchste Zeit für Nähgarn Stärke 6.
Draußen begann es so eben zu dämmern. Atera blickte in die Ferne. Das Sonnenlicht wälzte sich unendlich langsam über die Berge von Überwald, floss über die dunklen Wälder, glitzerte rotgolden an den Kronenspitzen und malte ein Lächeln in das Gesicht der Wächterin. Unzählige Regentropfen auf Blättern, an Baumstämmen und Grashalmen wurden durch das erste Licht des Morgens offenbart. Sie sah zur Klinik, die ruhig dalag. Das Tor stand weit geöffnet, die Blumen wehten im leichten Wind, der akkurat geschnittene Rasen, die sauberen Steinfliesen, nur benetzt von Wasser in denen sich der Himmel spiegelte. Der Graf und die Wächterin standen neben der Kutsche und blickten zur Klinik des leeren Glases. Rot und flimmernd waren ihre Umrisse zu sehen, zerfransten unter dem Licht, dass sich weiter über die Scheibe bewegte und ausbreitete.
"Eine Frage noch.", sagte Atera leise und hielt Henry auf dem Arm. Der Wind zerrte leicht an ihrem weißen Kleid. "Wie hast du eigentlich meine Kröte gefunden?"
"Mein Diener hat sie in unserem Burgteich gefunden. Dein Geruch haftete an ihr, sagte er, deswegen nahmen wir an, dass es deine Kröte wäre. Warum auch immer.", erklärte der Vampir. Atera nickte und drehte sich um. Auf dem Kutschbock saß ein... Etwas. Ehe sich dieses Bild in Ateras Kopf einbrennen konnte, wandte sie sich rasch wieder um. Schweigen.
"Ein Igor?", fragte die Untote nach.
"Ich glaube schon.", antwortete der Untote. Er starrte unbewegt nach vorne. "Denk an meine Worte.", wiederholte er. "Deine Herausforderung liegt da drinnen." Atera nickte und trat nach vorne, der Klinik entgegen.
"Und ich habe dort noch etwas zu klären.", sagte sie und ein grimmiges Lächeln setzte sich in ihrer Miene fest.

"Besucher oder.. du?!"
"Lass mich ein, ich will sofort zu Schwester Beata.", forderte Atera und der Mann an der Türe ließ sie verdutzt ein. Verwirrt starrte er zu dem Zombie. Er hatte noch nie erlebt, dass die Patienten zurückkamen. Freiwillig. Atera sah sich um und ging zielstrebig am Pförtner vorbei.
"Was soll das? Bleib stehen!", forderte der Mann und eilte ihr nach, während Atera schon am Empfangsschalter vorbei war, von wo ihr eine aufgebrachte Empfangsdame hinterher keifte. Die lauten Rufe ließen weitere Uniformierte heran kommen, die erstaunt kurz vor Atera stehen blieben. Es dauerte auch nicht lange bis das laute Klappen von Schuhen ankündete, dass jemand weiteres auf dem Weg zu ihr war.
"Schwester.", begrüßte Atera den Neuankömmling.
"Zombie.", erwiderte Schwester Beata mit forschen Schritten auf sie zukommend, während sie ihre Hände in den Seitentaschen des Kittels gesteckt hatte. "Ich hätte nicht gedacht, dass du wieder zurückkommst. Du schienst mir mehr ein Feigling."
"Ich möchte diese Konfrontationstherapie machen.", erwiderte Atera ohne auf Schwester Beatas Provokation einzugehen. Diese sah die Untote misstrauisch an.
"Woher der plötzliche Sinneswandel?", fragte sie. "Ich denke, Herr Knickebein hat zu deiner Flucht auch noch einiges zu sagen.", setzte sie sofort zischend nach und machte eine Kopfbewegung zu einem der Männer. Es vergingen nur wenige Minuten bis der Leiter auftauchte und laut seufzte, als er Atera sah.
"Das ist aber eine Freude!", rief er aus und betrachtete sie. Die Wächterin maß den Mann mit einem abschätzenden Blick.
"Du bist der Leiter dieser Klinik, Herr Knickebein. Du solltest ein Vorbild sein.", sagte sie.
"Ich äh verstehe nicht ganz." Arthur Knickebein wurde ein wenig kleiner.
"Ich denke, du verstehst ganz gut. Weißt du, ich bin auch Leiterin. Von einer Abteilung in der Stadtwache. Und ich werde wieder ein Vorbild sein." Ein Quaken von Sir Henry unterbrach ihre Anklage.
"Sie hat die Unverschämtheit sofort eine Konfrontationssitzung zu verlangen.", wandte sich Schwester Beata an den Leiter. "Ich denke, hier ist erst einmal eine harte Strafe angebracht. Ein Exempel, das-" Herr Knickebein schüttelte hastig den Kopf und wischte sich mit einem Tuch Schweiß von der Stirn.
"Äh, nein nein, nicht nötig. Sie soll die Therapie einfach fortsetzen, wenn sie die Sitzung schafft, ist sie geheilt.", sagte er und wich Ateras Blick aus.
"Aber..", versuchte die Schwester es erneut, doch der Leiter drehte sich einfach um und eilte zurück in sein Büro.

Begleitet von einem Plätschern füllte sich das kleine Glas mit alkoholischer Flüssigkeit. Atera ließ den Blick davon nicht los, ihre Hand lag ruhig auf dem Tisch, auf der anderen Seite der Haken. Alkohol.. Sicher ein guter Brandy. Wie sich das Licht darin bricht, richtig golden. Die glatte Oberfläche...
Es ist eine mentale Sache, es ist eine mentale Sache, redete Atera zu sich selbst. Ich brauche kein Alkohol. Ich kann ohne Alkohol auskommen. Sie seufzte leise. Früher war das eine Stärke gewesen viel Alkohol zu trinken und heute? Heute endete man sinnierend vor einem Glas in Überwald. Einem vollen Glas.
Die Wächterin sah kurz nach draußen. Es war bereits mittags. Alkohol. Sie starrte erneut zum Glas. Alkohol. Was hatte er ihr schon gebracht? Atera dachte nach. Sie war untot. Untote brauchten kein Alkohol. Und Alkohol würde sie auch nicht wieder lebendiger machen. Aber es ließ vergessen... ach ja, vergessen. Ihre Hand hob sich und sie griff nach dem Glas. Kurz davor zögerte sie wieder. Es ist nur eine mentale Sache. Wenn du wolltest, könntest du aufhören.. und sie hatte nun begriffen. Es hatte sich etwas geändert. Sie hatte Verantwortung bekommen, sie konnte nicht mehr einfach Arbeit auf andere abwälzen, sich im Eimer verkriechen und trinken. Früher war das noch möglich gewesen, aber noch etwas hatte sich geändert. Die Wache. Alles hatte sich geändert. Und sie... sie würde aufhören. Jetzt.
Die Herausforderungen von einst sind die Fehler und Schwächen von heute.
Mit einem Ruck stand Atera auf.
"Es wird wirklich Zeit für Nähgarn Stärke 6.", sagte sie, als ihr Kopf nicht mehr rollte.

Zwei Wochen später

Der Gestank war das erste, was von der Stadt zu bemerken war. Erst eine Weile danach war sie endlich zu sehen. Dieser Moloch aus pulsierendem Leben und Nicht-Leben. Atera zog an den Zügeln und hielt, sehr zum Verdruss von Karren hinter ihr, mitten auf der Straße. Sie war wieder zurück. Ankh-Morpork. Die Stadt hatte sie wieder und sie hatte die Stadt wieder. Wie lange war sie fort gewesen? Atera wusste es nicht genau, nur, dass es zu lange gewesen war. Hinter ihr wurden die anderen Ankömmlinge unruhig und begannen sie zu beschimpfen. Die Wächterin drehte sich um und warf ein paar Flüche zu ihnen, um dann mit dem Karren weiter zu rollen. Sie wühlte sich durch den dichten Verkehr, betrachtete die Häuser um sich und die Bürger, die sich am Karren vorbei schoben. Auch wenn sie es nie offen zugegeben hätte, Atera hatte die Stadt vermisst. Und für einige Momente begann sie sogar diese richtig zu mögen.
Der Moment dauerte solange bis sie in die nächste Straße gebogen war. Dort lehnte ein großer Karren an einer merkwürdigen Stange. Der Karren war eindeutig überladen. Aber mit was? Atera traute ihren Augen kaum. Menschen.. Menschen dicht gedrängt auf einem Karren. Und Hühner, Zwerge, -war das da ein Pferd auf dem Karren?- Untote, Gemüse, einfach alles.
"Da ist man einmal weg und schon bricht das Chaos aus." Atera schüttelte leicht den Kopf, hielt ihren Eselkarren an, stieg ab und stapfte entschlossen auf dieses Monstrum zu. "Ankh-Morpork Stadtwache.", begann sie mit lauter Stimme.

Der Rekrut am Tresen sah auf, als eine ihm unbekannte weibliche Gestalt hinein kam, die eine weitere Gestalt am Kragen gepackt hatte und nun in den Raum schleifte.
"Kann ich helfen?", fragte der Rekrut.
"Oh ja, ich habe hier einen gemeingefährlichen Eselkarrenlenker, der seinen Karren vollkommen überladen hat.", sagte die Frau.
"Und äh, wer bist du?" Daraufhin sah ihn die Frau erbost an. Erst jetzt merkte der Rekrut einen seltsamen Haken an ihrer Hand.
"Wer ich bin? War ich etwa solange weg? Stabsspieß Atera bin ich." Der Mann, den sie einfach abgeladen hatte, rappelte sich wieder auf.
"Bring sie wieder zu Vernunft. Sie glaubt mir nicht. Ich habe ihr von der Gilde erzählt..", wandte er sich hilfesuchend an den Rekrut.
"Fang nicht schon wieder von der Gilde an. Selbst ein einfacher Rekrut würde nicht darauf herein fallen.", fiel ihm Atera ins Wort und blickte zu dem verwirrten Rekruten. "Bei diesen Karrenlenkern muss man mit allen Wassern gewaschen sein. Gilde des öffentlichen Verkehrs, also wirklich. Wo kämen wir denn da hin?"
"Äh, Madam, diese Gilde gibt es äh wirklich. Sie wurde erst kürzlich eingeführt."

Ein lautes 'WAAAS?!!' ließ Kommandeur Rince aus seinem Mittagsschlaf aufschrecken. Er brauchte einige Zeit, um die Stimme zu identifizieren, aber dann schmunzelte er. Als das Geschrei nicht aufzuhören schien, erhob er sich ächzend aus seinem Stuhl, öffnete die Türe seines Büros und rief Atera nach oben.
"Ich sehe, du bist wieder zurück.", begann er und setzte sich wieder.
"Wer hat diese Gilde erlaubt?? Das war ein gemeiner Trick mich dafür aus der Stadt zu-"
"Und ich sehe, dir geht es blendend.", unterbrach Rince sie schnell. Atera ließ sich murrend auf den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken. Der Kommandeur musterte sie kurz und unterdrückte ein prüfendes Schnüffeln. "War es... erfolgreich?" Atera holte ein zusammen gerolltes Pergament aus der Tasche und reichte es Rince, der es neugierig entfaltete. Ab und zu warf er einen finsteren Blick über den Blattrand zu der Untoten vor ihm, während er las. "Tätlicher Angriff auf das Klinikpersonal. Konsum von Alkohol. Anstiftung zum Konsum von Alkohol. Zerstörung von Klinikeigentum. Flucht aus dem Klinikgebäude. Das klingt nicht gerade positiv.", sagte er. "Hier steht du hast eine Schwester geschlagen.." Er zögerte kurz. "Mit einem Ohr?"
"Äh ja, quasi eine ähm Ohrfeige." Entgegen seines Willens musste Rince grinsen.
"Aber hier steht auch, du bist freiwillig zurückgekehrt und danach ist alles vorbildhaft verlaufen?", fragte er und Atera nickte.
"Das freut mich sehr zu hören. Damit ist deine Entziehung nun endgültig abgeschlossen." Die Wächterin erhob sich darauf rasch.
"Gut, dann äh wäre ja alles geklärt. Ich gehe dann mal und hefte dieses Schreiben einfach zur Akte, dann hat auch alles seine äh Richtigkeit." Der Stabsspieß salutierte halbherzig und verabschiedete sich dann beinahe etwas überstürzt vom Kommandeur, der sich dem Rest des Dokumentes widmete.

Atera hatte kaum ein paar Schritte aus dem Büro getan, als die laute Stimme von Rince ertönte.
"Was ist das für eine Rechnung? Du hast den Speiseraum verwüstet?! Und wir müssen dafür zahlen?! Atera!!"



[1] Seit ihr bei der Segelregatta ihre rechte Hand in den Ankh fiel, trägt sie an dieser Stelle einen Piratenhaken, da ihr das Benutzen von "Ersatzteilen" nicht so sehr behagt

[2] Der Maßstab bestand zum größten Teil aus merkwürdig aussehenden Kohlköpfen

[3] Es ist erstaunlich, aber auch Wegelagerer haben Mütter. Entgegen der Meinung vieler wachsen sie nicht einfach auf Bäumen

[4] Wobei es eher den Anschein hatte, dass sich die Tropfen durch den Boden brannten.

[5] Man stelle sich in dem Zusammenhang ein herausgeschnittenes Stück aus dem Ankh vor

[6] 'Töte keine Zivilisten, wenn es nicht unbedingt sein muss' und 'Im Monat nur zwei verstorbene Großmütter'

[7] Pläne waren sehr wichtig. Atera versäumte nie ihre Pläne so an die fortlaufenden Gegebenheiten anzupassen, dass weiterhin alles nach Plan verlief.

[7a] So etwas lernte man in dem längst vergriffenen Buch "Kröten- oder die Kunst einen Schlammklumpen zu umarmen"

[9] Siehe dazu "Die verlorengegangene Schtrahdivarie"




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