Roger Igoratius machte sich Vorwürfe. Von Anfang an hatte er geahnt, dass es nicht klappen konnte, doch was geschehen war, hatte er nicht erwartet. Er hätte das nie zulassen dürfen. Traurig schüttelte er den Kopf. Der Igor schaute sich in der ehemaligen Zelle um. Sein Blick blieb an der Ablage der Apothekerkommode haften. Er streckte seine Hand aus, um zu berühren, was dort lag, aber ohne dass er es wollte, verharrte seine Hand über dem Gegenstand, der so viel Unheil angerichtet hatte: eine Spritze, deren Nadel getrocknetes Blut enthielt und ein Fläschchen mit einem letzten Rest durchscheinender Flüssigkeit. Wie hatte sie es nur verstecken können? Er hatte ihr doch alles abgenommen gehabt. Er ließ die Hand sinken und sie baumelte schlaff an seiner Seite als er sich zum Obduktionstisch umdrehte. Dort lag sie, seine geliebte Igorina. Er unterdrückte die Tränen als er daran dachte, wie er sie aufgefunden hatte. Dabei hatte er nur wissen wollen, wie es ihr ging. Er fand sie reglos in ihrem Schreibtischstuhl. Die Spritze steckte noch im Arm. Langsam nahm er ihre kalte Hand und hielt sie sich an die Wange. „Oh, Rogi!“ entfuhr es ihm leise. „Dein eigenef Beruhigungfmittel.“ Unter dem Tisch schnaufte etwas. Der Igor hatte den Hund fast vergessen. Das Tier war öfter bei Rogi zu Besuch aber unter diesen Umständen war es seltsam. Ein merkwürdiges Tier, das sicher keiner Rasse aus Überwald entsprach. Ein typischer Ankh-Morporker Mischling in dem sich gleich mehrere Rassen vereinten und auch so manch andere Art. In diesem Hund steckte eindeutig ein djelibebyanisches Flusspferd auch Djelpferd genannt, aber es war nicht die Zeit sich weiter Gedanken um den Hund oder dessen Besitzer zu machen, solange dieser sich ruhig verhielt. Behutsam bettete er die Hand wieder auf ihren Bauch. Was sollte er jetzt tun? Hier in Ankh-Morpork hatte er kaum eine Chance sie wieder zu beleben. Schon seit Wochen gab es hier keine Gewitter mehr und der Winter war in der Zwillingsstadt erstaunlich mild ausgefallen. Der Frühling ließ auf sich warten und seine feinen Sinne konnten keine Gewitterprognose feststellen. Er verfluchte die Umstände. Wären sie in Überwald gewesen, würde das passende Gewitter nicht lange auf sich warten lassen. Vielleicht schaffte er es, sie nach Überwald zu bringen? Er musste es einfach versuchen! Entschlossen suchte er sich das Operationsbesteck aus der Kommode zusammen. Mit einem ihrer Skalpelle in der Hand, wandte er sich dem Obduktionstisch zu und schloss kurz die Augen. Er wusste was er zu tun hatte, jeder Igor wusste was in diesem speziellen Fall zu tun war, doch sein Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, wem er diesen Dienst erweisen musste. Er atmete tief durch und betrachtete noch einmal ihren Körper in seiner Schönheit. Zärtlich strich er ihr über die Nähte auf ihrer rechten Wange und wanderte mit seinen Fingern zu ihrer Stirn. Vorsichtig setzte er mit der anderen Hand das Skalpell an die Naht und verharrte dort. Der Igor betrachtete die vorbei laufenden Schemen durch das Gitterfenster. Hatte er denn eine andere Wahl? Das war der einzige Weg. Er schaute wieder auf seine Hände. Das Skalpell immer noch über der Naht schwebend, konnte er seine Tränen nicht länger unterdrücken, als er den ersten Schnitt machte.
Jahr der vielwurzligen Ziegenschlecker
Stolz beobachtete er, wie seine Tochter mit Nadel und Faden umging. Er hatte extra neues Garn besorgt und ihr einen eigenen Satz Nadeln zum Geburtstag geschenkt. Und nun nähte sie ihm einen zweiten kleinen Finger an. Natürlich hatte er sich um die komplexen Nervenverbindungen selbst gekümmert – ihr dabei aber jeden Handgriff erklärt. Es war bemerkenswert wie aufmerksam sie schon mit ihren fünf Jahren das 'Große Handwerk' verfolgte. Seine Frau sollte es nur besser nicht erfahren. Bei dem Gedanken biss er sich kurz auf die Lippe. Sicher, sie war nicht strikt dagegen, auch Igorinas waren gute Chirurgen. Vielleicht sogar besser, zumindest was die Nähte anging. Aber traditionsgemäß gehörten die Frauen hinter den Herd. Und Igorina wollte vermutlich nur nicht, dass er der Kleinen Flausen in den Kopf setzte. Aber dazu musste er nicht viel tun. Seine Tochter überraschte ihn in dieser Hinsicht immer wieder aufs Neue. Seinen Gedanken nachhängend schaute er auf die feine Naht, die so gar nicht zu dem Rest seiner Hand passen wollte. „Papa? Ist daf fo in Ordnung?“ Sein Blick fokussierte sich auf ihr Gesicht, das bisher noch keine Nähte aufwies. Er lächelte, als er wieder auf seine Hand sah und strich ihr mit der freien durch das Haar. „Aber natürlif, Mauf! Nur weiter fo.“ „Igor?“, hörte er die Stimme seiner Frau hinter sich und er zuckte schuldbewusst zusammen. „Hatten wir nicht darüber gefprochen, was diese Operationen angeht?“ „Fatf, fie hat wirklich Talent!“ „Wir reden später darüber!“, sagte seine Frau bestimmt und er konnte den stechenden Blick im Nacken regelrecht fühlen. „Igorina du follteft mir doch beim Stricken helfen.“ „Mama! Bitte nur noch zwei Ftiche!“ Er konnte nicht anders und fiel mit ein: „Ja! Bitte nur noch fwei Ftiche!“ Er zwinkerte seiner Tochter zu, bevor er sich halb zu seiner Frau umdrehte und ihr sein vernarbtes Lächeln zeigte, als wäre er die Unschuld in Person. „Du bift unverbesserlich!“, sagte sie zu ihm, doch wirklich böse schien sie nicht mehr auf ihn zu sein. „Spatz, komm einfach gleich fu mir ja?“ Das kleine Mädchen nickte schnell und konzentrierte sich wieder auf die Hand ihres Vaters.
Igorina ging langsam die Treppe zum Turm hinauf. Manchmal hatte sie das Gefühl, Igor nähme seine Rolle als Vater nicht ernst genug – oder war es eher das Gegenteil? Und die Kleine war unersättlich, wenn es darum ging, etwas Neues zu lernen. Doch leider nicht, wenn es ums Sticken, Stricken oder Nähen ging. Das alles schien ihre Tochter zu langweilen. Aber auch das musste getan werden! Sie seufzte kurz. Früher oder später musste die kleine Igorina begreifen, was ihre Aufgaben waren. Sie hoffte und wünschte es sich. Sie hörte kleine Schritte schnell näher kommen und eine kleine Hand umfasste die ihre. Die beiden Igorinas gingen so ein paar Schritte weiter die Treppe hinauf. „Bift du böfe?“, brach das Mädchen das Schweigen. Die Igorina hielt kurz inne und stolperte fast als sie die Stufen weiter erklomm. „Nein, Spatz.“ Sie beließ es dabei. Sie würde das mit ihrem Mann klären. Die Kleine war erst fünf und es war nicht angebracht, sie wegen der Fehler ihres Vaters zurechtzuweisen. Die kleine Hand löste sich aus ihren Griff und das Mädchen hüpfte erleichtert voran. Doch was, wenn ihre Tochter einen moderneren Weg einschlagen würde? Es gab genug Igors und Igorinas, deren Werdegang nicht wirklich den Traditionen entsprach. Doch was war ein Igor ohne Kodex, ohne Traditionen? Nichts weiter als ein wandelndes Ersatzteillager. Äußerlich vielleicht ein Igor, doch für sie gab es bei den Modernen kaum einen Unterschied zu den hirnlosen Zombies, die Nachts die Friedhöfe unsicher machten[1]. Ein lautes, lang gezogenes Knarren, gefolgt von einem kurzen Quietschen riss sie aus den Gedanken und verriet ihr, dass die Kleine die Tür zur Kammer geöffnet hatte. Als sie den Raum ebenfalls betrat, war ihre Tochter schon dabei, die derzeitige Arbeit aus einer der vielen Kisten zu holen. Staub wirbelte dabei auf und flirrte in den Lichtstrahlen, die durch die kleinen Fenster drangen, die rund um das Turmzimmer eingelassen waren. Die kleine Igorina kniete vor der inzwischen wieder verschlossenen Kiste und entwirrte die beiden Wollknäuel. Es war immer wieder dasselbe, dabei hatte sie ihr doch gesagt, wie die Sachen aufzuräumen waren, damit dieses Durcheinander erst gar nicht entstand. Vergebens! Sie schloss die knarrende Tür und nahm auf einem der zwei Stühle im Raum Platz. Sie beobachtete noch einen Moment das Chaos das ihre Tochter anrichtete. „Schatz, laff mich das machen.“ Sie schob die Hände des Mädchens bestimmt beiseite und griff sich den Haufen Wolle der aus einem angefangenen Pullover, einem fast fertigen Schal, dem jeweilig zugehörigen Wollknäuel und mehreren Stricknadeln bestand. Mit einem tiefen Seufzer machte sie sich ans Werk. Wenn das nicht immer so viel Zeit kosten würde! Aber nein, jedes Mal war die Kleine schon wieder in Gedanken mit etwas anderem beschäftigt. Aber sie deswegen bei jeder Kleinigkeit zu beaufsichtigen, war auch nicht richtig. Nun, es würde Zeit sparen. „Tut mir Leid.“ „Habe ich dir nicht fon hundert Mal gesagt, dass die Arbeit ordentlich wegzuräumen ist?“ „Ja, Mama.“ „Nicht in diesem Ton!“ Es klatsche laut als ihre Hand auf die Wange ihrer Tochter traf. Das Mädchen zuckte wie erwartet zurück. Bald würde schon allein die Drohung von Schlägen das Gegenteil bewirken. „Tutmirleid!“, schniefte das Mädchen. Die Igorina konzentrierte sich wieder auf das Wollknäueldesaster. Dass ihre Tochter sie dabei die ganze Zeit wie erstarrt beobachtete, nervte sie dabei nur umso mehr. Wortlos reichte sie dem Mädchen den Schal und nahm die Maschen für den Pullover wieder auf. Für einen Moment herrschte in dem Turmzimmer geschäftiges Schweigen und sie wünschte sich, es könnte immer so sein, ohne dass sie ihre Tochter - wie so oft - zum Weitermachen animieren müsste. Ein lauter Knall ertönte aus den unteren Bereichen des Schlosses. Das Mädchen sprang auf und wollte der Ursache des Geräusches auf den Grund gehen. „Hier geblieben!“ „Aber...“ „Waf, aber?“, schnitt die ältere Igorina jedes weitere Wort ab. „Waf dort unten im Labor passiert geht nur deinen Vater und den Herrn etwaf an! Verstanden?“ Die kleine Igorina setzte sich wieder und nickte mit gesenktem Kopf. „Bitte Kleinef, verfteh doch wo dein Platz ist.“
„Wo ift mein Igor? Ift daf mein Igor?“, sprach er leise. „Ef macht 'Ja, Meifter!' Daf ift ein Igor! Aber nift mein Igor!“ Der Igor räusperte sich kurz und strich seiner Tochter eine Strähne aus dem Gesicht. Die rote Wange verriet ihm, dass seine Frau und die Kleine mal wieder aneinander geraten waren. „Weiter machen!“ „Oh, ja, natürlif. Wo war ich?“ Er spielte den Unwissenden nur zu gerne aber seine Tochter durchschaute das schon lange. „Daf weift du genau!“ Er befeuchtete sich die Lippen. „Wo ift mein Igor? Ift daf mein Igor? Ef macht...“ Er brach ab, beugte sich schnell zu dem Mädchen vor und kitzelte sie an beiden Seiten gleichzeitig. Die Kleine lachte und kicherte und wand sich unter seinen Fingern. „Papa aufhören!“ Doch von solchen Zwischenrufen ließ er sich nicht irritieren. „Daf ift meine Igorina!“, lachte er und ließ von seiner Tochter ab. Sie atmete schwer als er sie bis zum Hals zudeckte. Der Igor schmatze ihr einen Kuss auf die Stirn und das Bett gab ein ächzendes Geräusch von sich als er aufstand. „Flaf gut, Mauf.“ „Gute Nacht, Papa!“ Er löschte die Kerze auf dem Nachttisch, indem er Daumen und Zeigefinger ableckte, und mit einem Zischen wurde es dunkel im Raum. Nur der Lichtschein durch den Türspalt warf Schatten in das Zimmer. Als er die Tür weiter öffnete, bis er hindurch passte, quietschte es für einen kurzen Moment leise. Das musste noch besser werden aber er würde ihr sicher nicht dabei helfen. Diese Erfahrung sollte jeder Igor für sich machen und er war sich sicher, dass seine Tochter diese mit Bravour meistern würde. Er lächelte als er daran dachte, dass er die knarrende Tür im Alter von elf Jahren verinnerlicht hatte. „Papa?“, fragte das Mädchen leise und erinnerte ihn daran, dass er immer noch im Türrahmen stand. „Laff die Tür bitte offen.“ „Natürlif, Mauf. Flaf jetft!“ Der Igor ließ die Tür zwei Daumen breit geöffnet und machte sich weiter auf dem Weg zu seiner Frau.
Die Igorina war in der Küche, wie so oft um diese Zeit, und bereitete das Essen für morgen vor. Ihr Mann schlurfte zu ihr und mit jedem Schritt, den er näher kam, verkrampfte sich ihr Körper. Oh das war nicht gut. Der schöne Teil des Abends war wohl vorbei. Aber er würde keinen Rückzieher machen. Dicht hinter ihr blieb er stehen und sah erst jetzt, dass sie mit einem Messer Fleisch zerteilte. „Gibt ef morgen Würftchen?“, fragte er betont freundlich. Sein Blick glitt einen Moment zum Fleischwolf und wieder zurück. Zu spät. Die Messerspitze bohrt sich in seine Schulter. Er ließ sich nichts anmerken. Die Fingerknöchel der Igorina traten weiß hervor, als ihre Hand sich verkrampfte. „Igor du musst damit aufhören, sie so zu verziehen! Glaub ja nicht, daf ich nicht merke, daf du sie mit ins Labor nimmft. Ganz zu schweigen von den Operationen. Und wehe dir, du nimmft fie noch einmal mit zum Friedhof!“ „Fatf?“, versuchte er es zaghaft. „Igor komm mir nicht so! Ich meine ef Ernst! Du...“ „Fatf, Bitte...“ „Laff mich ausre...“ „...leg daf Meffer weg!“, sprach er ruhig weiter. Seine Frau starrte kurz entgeistert auf das Küchenmesser, als würde ihr erst jetzt bewusst werden, dass es noch immer in ihrer Hand war. Doch nur für kurz und ihre Wut flammte wieder auf. Sie erhöhte den Druck, kurz bevor sie das Messer heraus zog und sinken ließ. Und der Igor presste sich die Hand auf die schmerzende Wunde. „Muffte daf fein?“ Er nahm kurz die Hand weg und analysierte anhand der Blutmenge, wie tief die Verletzung war. Es war kein Grund zur Sorge und das wusste sie ebenso. „Ftell dich nicht so an!“ „Gut, ich verftehe, daff du wütend bift. Aber ich kann ef nicht oft genug fagen: Fie hat Talent! Fau dir nur die Naht hier an.“ Seine Frau schnaubte nur, als er seine Hand mit dem zweiten kleinen Finger vorzeigte. „Fieh doch mal riftig hin!“ Er wurde etwas lauter und sie ebenso. „Meinft du, ich wüsste daf nicht? Ich weiß es nur zu gut!“ Sie deutete an die Wand und er folgte ihrem Fingerzeig. „Diese Stickerei hat fie gemacht. Ich war erft mit neun so weit wie sie jetzt mit fünf!“ Erstaunt und verwundert über diese so unbekannte Seite seiner Tochter, betrachtete er das Gebilde an der Wand. Gestickte Spinnen, Fledermäuse, Schneeflocken, ja, sogar Spinnweben konnte er erkennen und mit jedem weiteren Blick offenbarten sich neue Details. Das alles umrahmte den Igorkodex in der Mitte der Stickerei. Er seufzte schwer und zog sich einen Stuhl heran, auf den er sich fallen ließ. „Ef tut mir leid.“ Die Igorina sagte nichts. Sie griff nach einer Schublade, entnahm ihr eine Lederrolle und setzte sich auf seinen Schoß, ehe sie sein Hemd aufknöpfte. Er achtete nicht darauf, wie sie ihm, mit Geschirrtuch und Alkohol bewaffnet, das Blut abwischte. Noch immer betrachtete er die kunstvolle Stickerei an der Wand. Als er einen kurzen Stich spürte, wusste er, dass seine Frau ihm gerade eine neue Naht verpasste. Etwas, was er normalerweise selbst tun musste. Sie verzieh ihm also ebenfalls. Er genoss die Stille und sah weiterhin auf die Stickerei. Er entdeckte gerade ein weiteres Detail – ein Einmachglas mit Augen, doch all das war unwichtig im Vergleich zu dem Spruch der so prachtvoll gerahmt wurde.
Niemals widersprechen, niemals beklagen, mach nie eine persönliche Bemerkung, stelle keine Fragen und öle nie die Türen.
***
Vorsichtig löste Roger die Kopfhaut der Igorina von der Metallplatte. Das Skalp legte er behutsam in ein vorbereitetes Einmachglas und füllte es mit Alkohol und Balsamierflüssigkeit auf. Das Glas verschloss er sorgfältig und stellte es in ein Regalfach, bevor er sich wieder um die Igorina kümmerte. Er wischte mit einem Tuch über die Schädeldecke aus Metall. Sie war teilweise gerostet aber er entdeckte die Schrauben, die die Platte am Knochen fixierten. Mit einem Schraubenzieher löste er sie. Als er die Metallplatte abnahm, fiel ihm beinahe das Gehirn der Igorina entgegen. Zittrig legte er es in einen Beutel, der von der Firma Keinesorge eigentlich dazu gedacht war, Einkäufe vor dem Regen zu schützen. Der Igor-Clan hatte darin sofort den perfekten Ersatz für die sperrigen Metallbehälter erkannt gehabt. Er fügte noch Eis und eine spezielle Nährlösung hinzu, die das Gehirn intakt halten sollte. Er verknotete den Beutel sorgsam und legte das Gehirn in Rogis Truhe, die kaum noch Platz bot. Roger seufzte und der Hund schnaufte. Das Ausmisten der Kiste würde ihn nur unnötig Zeit kosten. Er betrachtete den Körper der Igorina und bedachte die nächsten Schritte. Ihr Gehirn allein würde ausreichen, doch umso mehr man vom Körper für die Wiederbelebung erhalten konnte, desto besser waren die Aussichten auf Erfolg. Und es wäre von Vorteil, wenn Rogis Körper komplett verschwand. In diesem Zustand sollte die Familie sie nicht sehen. Er richtete sich wieder auf und begann damit, ihr Uniformhemd aufzuknöpfen. Der Igor starrte dabei auf die Narbe an ihrem Hals, die soviel verwachsener und gröber zu sein schien, als alle anderen. Er wusste woran die Naht Rogi erinnerte und er presste die Lippen aufeinander. Roger streifte der Igorina das Hemd ab, soweit er konnte, und griff wieder zum Skalpell. Er eröffnete die Bauchhöhle hinauf bis zum Brustbein und teilte den Schnitt dort zu beiden Schultern hin auf. Das Blut war schon am Gerinnen und quoll nur langsam hervor. Roger fing an, schneller zu arbeiten. Der Zerfallsprozess schritt zunehmend fort und er musste retten was zu retten war.
Jahr des nervösen Zitteraals
Igor humpelte schnell zu seiner geliebten Igorina. Sie hatten nicht viel Zeit, doch er war zuversichtlich. Schließlich hatte er das Labor schon fertig aufgeräumt. Als er die Küche betrat, faltete sie gerade das Geschirrtuch zusammen. Als Igorina sich zu ihm umdrehte, lächelte sie und er erinnerte sich wieder daran, wie er sie bei Tante Igorina kennengelernt hatte. Seither hatte sie sich nicht mehr verändert. Sie war perfekt von oben bis unten[2], wie es sich für eine Igorina gehörte. Umso glücklicher konnte er sich schätzen, dass sie beide zusammen gekommen waren. Auch wenn ihm sein Cousin das immer noch übel nahm. Aber er hatte eindeutig die besseren Weichteile bei der Lotterie gewonnen, als Vater gestorben war. „Da bift du ja endl...“, sie brach den Satz ab und schaute sich suchend um. „Wo ist unfere Tochter?“ Aus seinen Gedanken gerissen wirbelte er um die eigene Achse. „Fie war doch bei dir!“ „Du weift doch wie rebellisch sie derzeit ift“, brachte sie stockend hervor und ihr Blick glitt nervös zur Uhr über dem Eingang. Rebellisch war gut. Die kleine Igorina hatte einfach mehr Interesse an 'Männersachen', wie seine Frau immer so gern sagte. Die Kleine war wahrscheinlich nahe dran, eine von diesen Modernen zu werden, doch er störte sich nicht daran. Er hatte diese Phase genauso durchgemacht, auch wenn er zugeben musste, dass er sich damals nicht für 'Frauensachen' erwärmen konnte. „Fie ift ficherlich nur oben im Turm“, versuchte er die Lage zu beruhigen. „Wir haben doch kaum noch Feit, der Mob steht schon vor der Tür und rennt gleich das Tor ein!“ Der Igor schluckte schwer, als sich ein flaues Gefühl in der Magengegend breit machte.
Eine Spinne wuselte über den kalten Steinboden. Gehetzt krabbelte sie das nächste Hindernis hinauf, als kleine schnelle Schritte ertönten. Sie hörten abrupt auf. Stoff raschelte, als der Neuankömmling seine Taschen durchsuchte. Ein Streichholz kratzte über die kalte Wand und die kleine Flamme zeigte das Gesicht eines Mädchens. Sie entzündete eine Kerze und stellte sie auf einem steinernen Sarg ab. Im Kerzenschein erkannte man eine kleine Naht oberhalb ihres rechten Auges. „Itfi komm furück! Ich bekomme wegen dir noch Ärger!“ Gebückt und mit einer weiteren Kerze bewaffnet, durchsuchte sie den Raum. Ihre Vogelspinne hatte sich hierher geflüchtet, das hatte sie genau gesehen! „Jetft hab dich nicht fo! Du warft nie in ernsthafter Gefahr!“ Seufzend setzte sie sich auf den Boden nieder und lauschte in die Stille. Lautes Gebrüll ließ sie hochfahren. Der Mob war da! Es würde mehr als nur Ärger geben. „Itfi, ich verfpreche dir, du wirft nie wieder in deinem Leben eine Katfe oder einen Kater fehen! Und nun komm fon!“, flehte das Mädchen. Sie rannte zum Sarg, um die Kerze wieder mitzunehmen. Wenn sie auch nur ein wenig Chaos hinterließ, würde ihre Mutter wieder den Kodex runter beten und was er zu bedeuten hatte. Itzi krabbelte geradewegs auf die Kerze zu, als ein lauter Schlag ertönte. Das Igorinamädchen hielt den Atem an, als sie im selben Moment ihr Haustier entdeckte. Zittrig vor Aufregung streckte sie Itzi die Finger entgegen. Die Spinne krabbelte langsam auf die Hand und verharrte dort, um sich an der Haut zu wärmen.
Igor hastete die Treppe runter. Der Turm war leer und von seiner Tochter keine Spur. Angestrengt dachte er nach, wo sie stecken könnte, als er einen nur zu vertrauten Ruf hörte. „Igor!“ „Ja, Meifter?“ Igor fluchte innerlich, als er hinter seinem Meister auftauchte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Sie wollten doch schon längst weg sein. Doch der Herr musste ausgerechnet jetzt nach ihm rufen. „Was geht da draußen vor sich?“ Jetzt wurde es schwierig. „Nun, Meifter, du haft ef wohl mit deinem letften Ekfperiment übertrieben.“ „Was war daran denn verkehrt?“ Der Professor schien wirklich von seiner Unschuld überzeugt zu sein. Igor seufzte innerlich. „Nun, die Menfen im Dorf waren nift fonderlif begeiftert, alf ef Feuer regnete!“ „Hahaha. Das kleine Malheur mit dem Ofen aber das ist doch...“ Ein Knall unterbrach den Wissenschaftler. „Was war das? Wir haben doch nichts verbrochen!“ Entrüstet nahm er seine Brille ab, um sie zu putzen. Da war es wieder. Das Wir. Es war typisch für verrückte Wissenschaftler. 'Mach dies, Igor', 'Mach das, Igor' aber wenn es um einen wütenden Mob ging, hieß es immer: Wir. Wenn das Experiment geglückt wäre, hätte der Professor wahrscheinlich wieder alles 'alleine' gemacht. Es war schon immer so gewesen und würde sich wahrscheinlich nie ändern. „Meifter, daf wird mir wahrfeinlif mehr wehtun, alf dir.“ Der Igor spannte sich an. „Wie meinst du...?“ Eine Kopfnuss hinderte ihn am Weiterreden. Der Professor sank zu Boden und blieb regungslos liegen. Der Igor wischte sich kurz über das Gesicht, wie um das Geschehene fort zu wischen, bevor er auf dem Absatz kehrt machte. Er rannte zurück zur Küche, in der Hoffnung seine beiden Igorinas anzutreffen. Doch das Einzige, was er fand, waren die beiden Reisetaschen. Gehetzt sah er sich um, als ein Geräusch ihm verriet, dass das Tor aus den Angeln gerissen wurde.
Als die kleine Igorina aus der Gruft empor kam, setzte sie ihren gepackten Rucksack auf. Mutter hatte ihr am Abend vorher gesagt, sie solle sich zur Abreise fertig machen und sie wusste genau, was das bedeutete. Auf dem Weg zum Hinterausgang musste sie durch die Eingangshalle. Ihr Blick streifte das Tor, vor dem sich der wütende Mob versammelt hatte. Sie hämmerten dagegen. Vor Schreck rutschte ihr fast das Herz in die Hose. Wie erstarrt blieb sie stehen und betrachtete das Portal, das der Menschenmenge kaum noch Widerstand bot. Sie sollten schon längst weg sein! Itzi krabbelte schuldbewusst in den Nacken der Igorina. Der Balken, der das Tor versperrte, brach. Das Gebrüll auf der anderen Seite wurde lauter, als letztendlich auch die Angeln barsten und das Tor auseinander fiel. Mit geweiteten Augen sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine wütende Menschenmenge. Ein Anblick auf den sie sehr gerne verzichtet hätte. Jemand packte sie und riss sie vom Boden. Sie blickte in das entsetzte Gesicht ihrer Mutter. So war das alles sicher nicht geplant gewesen. Ihre Mutter presste sie fest an sich. Ein Schrei ließ sie zusammen fahren. Erst, als sie beide hart auf dem Boden aufschlugen, bemerkte das Mädchen, dass es ihre Mutter war, die geschrien hatte. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Spinne kroch durch eine Öffnung ins Innere ihres Rucksacks, während die junge Igorina nur noch schluchzen konnte. Ihre Mutter lag bäuchlings auf dem kalten Stein und rührte sich nicht. Ein Armbrustbolzen ragte aus ihrem Rücken. Ihre Mutter hatte zwei Herzen. Ein Schuss mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Millionen. Jemand trat an die leblose Igorina heran und schob sie mit Hilfe seines Stiefels zur Seite. „Scheint so, als hätten wir den Igor erwischt.“ Die Armbrust noch immer im Anschlag drehte er sich zur kleinen Igorina. Das Mädchen starrte in die leeren Augen ihrer Mutter und bemerkte nicht mehr den Mob, der in die Eingangshalle strömte. Der Dorfbewohner, der die Igorina auf dem Gewissen hatte, näherte sich dem weinenden Mädchen. „Rühr fie nift an!“ Sie erkannte die Stimme ihres Vaters, der einem Rammbock gleich auf den Mann zugestürmt kam. Kurz darauf fiel die Armbrust mit einem Krachen zu Boden. Der Armbrustschütze sank hinterher. Der Igor rieb sich den schmerzenden Kopf. Die Rufe des Mobs wurden wieder lauter. Er packte sie, brachte sie in Sicherheit. Sie hörte ihren Vater aufschreien und er strauchelte einen Moment, bevor er weiter rannte. Ein paar Bolzen flogen an ihnen vorbei und ihr Herz raste. In der Küche angekommen, wurde sie abgesetzt. Schlösser rasteten knackend ein, als der Igor den Weg in die Küche versperrte. „Ich wollte daf nicht! Itfi, fie ift einfach...“ Sie musste immer noch weinen. „Fon gut, Kleinef. Daf ift egal. Du muft jetft verfwinden!“ „Du kommft nicht mit?“ Sie zitterte bei dem Gedanken. „Ich kann deine Mutter da nift liegen laffen!“ Er atmete schwer und ihr Gehör verriet ihr, dass nur noch ein Lungenflügel intakt war. „Mauf, fei brav und geh fu Tante Igorina, ja?“ Das Mädchen nickte und schniefte laut, als sie versuchte sich mit dem Ärmel das Gesicht zu trocknen. Sanft schob er sie Richtung Hinterausgang: „Geh jetft, warte nicht auf mich!“ Die Igorina sah kurz zurück, als sie die Tür öffnete. Ihr Vater nahm eine Knochensäge aus einer der Reisetaschen. Entsetzt blickte sie ihn an, als er einen Geheimgang öffnete. Blut markierte seinen Weg. Ihr Vater schaute zu ihr zurück: „Geh! Ich faff daf fon.“ Sie riss die Tür auf und rannte los. Panisch dachte die Igorina an die zwei Armbrustbolzen im Rücken ihres Vaters. Sie hyperventilierte, als sie über die Mauer das Grundstück verließ. Ihre Gedanken rasten und Schuldgefühle machten sich breit. Sie hätte auf ihre Mutter hören sollen. Hätte sie sich mehr an die Richtlinien des Kodex gehalten, wäre das alles nicht passiert. Auch wenn der Kodex nicht viel auszusagen schien, so war er für einen Igor der Inbegriff dessen, was Gehorsam und Pflichtbewusstsein ausmachte. Oder es zumindest ausmachen sollte. Egal, was nun kommen mochte: Sie würde sich an die Traditionen halten und nicht einer von diesen Zombies werden, wie ihre Mutter die modernen Igors gerne nannte. Sie hoffte nur, sie könnte dies ihrer Mutter noch sagen. Hundegebell ertönte und erinnerte sie daran, dass das Dorf hauptsächlich aus Jägern statt Bauern bestand. Sie hatte kaum Gelegenheit ihre Schritte zu beschleunigen, als die Hunde sie eingeholt hatten und zu Fall brachten. Orientierungslos und benommen versuchte sie, aufzustehen. Die Hunde hatten sie eingekreist und verbellten sie aufgeregt. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg, als zwei Männer aus dem Dickicht traten. Die Tiere verstummten, als die Jäger näher kamen. „Karl, ich weiß net! Das is net richtig!“, sagte der Kleinere von beiden. „Krieg dich wieder ein. Das hier is schnell erledigt.“ Der Jäger griff nach seinem Messer. „Die is doch noch'n Kind. Mein Cousin hat mal gesacht, dass kein einziger Igor mehr zu ihnen ins Dorf kommt, weil sein Nachbar seinen toten Vater net an die Igors rausgerückt hat. Dabei wär dessen Vater wohl ohne einen Igor nie so alt gewodde!“ Er stockte mit einem Blick auf das Mädchen. „Was passiert erst wenn wir ne Igorfamilie abmurksen?“ „Du Idiot, das isses doch! Wenn hier kein Igor überlebt, bekommt auch kein anderer Igor es mit!“, brüllte er seinen Kollegen an. „Wir hätten den Ärger nicht, wenn Manfred die Igornia nicht erschossen hätt!“ „Jan, sei endlich still und lass mich das hier erledigen!“ Der kleine Mann öffnete wieder den Mund, doch er überlegte es sich anders und sagte nichts. Stattdessen schaute er sich ängstlich um, als vermute er hinter jeder Ecke jemanden, der sie beobachtete. Die Igorina hatte aufmerksam zugehört, doch sie brachte keinen Ton heraus; nicht einmal ein Hilfeschrei wollte ihre Kehle verlassen. Karl schritt auf sie zu, das Messer fest in der Hand. Die Igorina schloss die Augen. Nun hörte sie das aufgeregte Hecheln der Hunde und die Schritte des Jägers ganz deutlich. Ihre Knie zitterten und gaben nach. Sie fand sich auf allen Vieren wieder, als ihr Kopf plötzlich ruckartig nach oben gerissen wurde. Kaltes Eisen berührte ihren Hals. „Karl, hinter dir!“, schrie der verunsicherte Mann. Ihr Herz raste. War das ihre Rettung? War ihr Vater ihr doch noch gefolgt? Er musste es sein! Doch der Jäger hatte schon zum tödlichen Schnitt angesetzt. Der Schmerz ließ sie aufschreien. Plötzlich wurden ihre Haare losgelassen. Sie fiel zu Boden und mit ihr der Jäger. Den Kampf, der um sie herum entstand, nahm sie kaum war. Nur die danach eintretende Stille wurde ihr bewusst. Keine Hunde, keine Jäger, nur ihr schwerer Atem. Ihr wurde kalt, als sie noch kältere Hände vom Boden hoben. Sie blinzelte und sah das Profil einer blassen schwarzhaarigen Frau. Kurz darauf verlor sie das Bewusstsein.
Tante Igorina war bestürzt. So eine Tragödie war noch nicht vorgekommen, so lang sie sich erinnern konnte. Traurig betrachtete sie das Mädchen, das einen warmen Kakao schlürfte. Vor nicht mal einer Stunde noch hatte die Kleine die Schwelle des Todes übertreten. Nicht, dass der Tod das endgültige Ende eines Igors wäre aber Kindern gönnte man nun einmal ihre Kindheit und der Tod gehörte sicherlich nicht dazu. Glücklicherweise hatte sie immer einen Blitzvorrat im Haus und ihr Neffe hatte ganze Arbeit geleistet, um das Igorinamädchen zu retten. Das Einzige, was noch an das Unglück erinnerte, war die frische Naht am Hals. Die alte Igorina schaute aus dem Fenster und sah der Vampirin nach, die in einer Kutsche verschwand. Wenn sie alles richtig verstanden hatte, war die Frau auf dem Weg in die Hauptstadt gewesen und hatte den Tumult um das Mädchen gehört. Was genau geschehen war, würde sie aber erst erfahren, wenn sie die Kleine selbst fragte. Diese hatte bisher noch kein Wort gesagt aber zwei Igors waren unterwegs zum Ort des Geschehens. Als Verwalterin der Geschäftsstelle 'Wir sind Igors' wusste sie genau, wer in dem kleinen Schloss bei Schütten gearbeitet hatte und sie ahnte Schlimmes. Seufzend machte sie noch eine Tasse Kakao. Ungeachtet der Tatsache, dass sich weiße Flöckchen an der Oberfläche bildeten, rührte sie weiter um und setzte sich zu dem Kind. „Möchteft du noch einen Kakao?“ Die Kleine starrte in ihre inzwischen leere Tasse: „Ef war meine Schuld!“ „Das ist doch Unfinn! Wie kommft du denn auf sowas?“ Fragend betrachtete sie das Mädchen, das sich kaum traute zu antworten. „Ich hab nach Itfi gesucht, anftatt für den Aufbruch bereit zu fein!“ Die Kleine vergrub ihr Gesicht hinter den Armen auf dem Tisch. Erst jetzt bemerkte Tante Igorina die Vogelspinne im Nacken des Mädchens. Vergebens suchte sie nach tröstenden Worten. Sie strich ihr beruhigend über den Rücken, als sie die schlurfenden Schritte ihres Neffen hörte. „Ich bin gleich wieder bei dir!“ Schnell stand sie auf, um dem Igor entgegen zu gehen. Zusammen gingen sie nach draußen und sie blieb schockiert stehen. Sie konnte nicht fassen, was sie sah und war froh, als der Begleiter ihres Neffen die beiden Leichen mit einem Laken verdeckte. „Waf ift da nur paffiert?“ „Alf wir daf Floff erreichten, war ef fo gut wie aufgeräuchert. Wir fanden die Beiden im Graben.“ Ihr Neffe schüttelte den Kopf, als er ihren Blick sah: „Nichtf mehr fu machen. An der Ftelle, an der die Kleine angegriffen wurde, haben wir übrigenf fwei tote Männer gefunden.“ Irritiert hob die Igorina die Brauen. Die ganze Sache wurde immer schlimmer. „Fo wie die beiden auffahen, hat die Vampirin kurfen Profeff mit ihnen gemacht“, fuhr der Igor fort, „Wer war fie eigentlif?“ „Oh, fie heißt Ayami Vetinari“, antworte sie ihm aus den Gedanken gerissen, während sie versuchte, sich damit abzufinden, dass es tatsächlich eine Waise in der Igorfamilie gab.
***
Roger wischte sich mit dem schon benutzen Tuch die Hände ab und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Er hätte sich die Mühe sparen können, aber das kümmerte ihn nicht. Rogi lag eröffnet vor ihm und er nahm ihre Knochensäge in die Hand. Schnell sägte er entlang des Brustbeins die Rippen an. Er atmete tief ein und schlug mit der Unterkante seiner Faust den störenden Knochen heraus. Roger legte Knochensäge und Brustbein beiseite aber als er das Herz sah, musste er die Augen schließen. Kein schöner Anblick. Er bezweifelte, dass es überhaupt noch funktionstüchtig war. Einst hatte das Herz seiner Mutter gehört und er erinnerte sich noch gut daran, wie er es Rogi in der Nacht, als sie sich kennen lernten, eingepflanzt hatte. Sie war durch einen Einsatz bei seinem alten Herrn im Schloss gelandet und sie war ihm sofort aufgefallen. Er wusste gleich, dass sie etwas Besonderes war, doch inzwischen musste er über seine Naivität lächeln. Sie war nicht nur etwas Besonderes. Sie war die Eine. Es nützte nichts, darüber nachzudenken. Er entnahm das Herz und betrachtete es genauer aber Rogi damit wieder zu beleben war unmöglich. Die Erkenntnis, die darauf folgte, war ernüchternd und er musste sich am Obduktionstisch abstützen. Er brauchte dringend frische Ersatzteile! Roger betrachtete immer noch das unnütze Organ als es unter dem Tisch knurrte. Der Igor trat einen Schritt zurück und betrachtete den Hund der ihn aufmerksam ansah. „Haft du Hunger?“ Das Tier wedelte mit dem Schwanz und schnupperte aufgeregt. Roger beugte sich hinunter und suchte am Halsband nach einem Schildchen. „Mortimer alfo“, sagte er und richte sich wieder auf. „Laff ef dir fmecken.“ Roger warf ihm das Herz vor die Schnauze.
Jahr des unbeugsamen Rechtecks
Die Igorina war gern in der Folterkammer, hier konnte sie Schmerz für wenige Augenblicke die Trauer vergessen lassen. Sie schaute kurz zu der eisernen Jungfrau, doch die dadurch zugefügten Wunden waren immer aufwändig zu versorgen und alleine schwer zu handhaben. Nein, die Streckbank war genau richtig. Ein spezielles Modell, mit einer komplexen Mechanik ähnlich einem Uhrwerk, gestattete es ihr, das Folterinstrument alleine zu bedienen. Die junge Igorina war inzwischen sehr geschickt darin, sich selbst festzuschnallen. Und mit Hilfe einer Kerze wurde der Mechanismus in Gang gesetzt. Befreien konnte sie sich wieder, indem sie beim Festschnallen Fäuste machte. So konnte sie bei jeder Gelegenheit aus den Fesseln flutschen. Sie befestigte ein Seil an dem Pendel, das die Zahnräder in Bewegung brachte und band das andere Ende an einen Haken an der Wand. Dazwischen war ein Kerzenständer genau unter dem Seil ausgerichtet. Sorgfältig zog sie die Spannfeder mit Hilfe einer Kurbel auf. Jede Umdrehung wurde durch den Widerstand der Feder schwieriger. Die Zahnräder rasteten mit einem Klicken ein. Die Igorina entzündete die Kerze und schwang sich auf die Streckbank. Sie zog die Riemen an ihren Füßen so fest sie konnte, bevor sie sich zurück lehnte und ihre Hände durch die vorbereiteten Handschlaufen zwängte. Gespannt beobachtete sie die Kerze, die das Seil jeden Moment durchtrennen und so das Pendel in Bewegung setzen würde.
Der Zug an ihren Beinen und Armen verstärkte sich langsam. Zufrieden stellte sie fest, dass sie jede Faser ihres Körpers spürte. Allmählich wurde es interessant. Kugelten sich zuerst die Schultern aus oder riss eine Sehne? Jeder Pendelschwung trieb die Zahnräder an und somit auch den Zug der Streckbank. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte Zahnrad Nummer Zehn gleich eine volle Umdrehung gemacht. Was bedeutete, dass die Spannfeder der Kurbel ebenfalls eine Umdrehung nachgab und sich die Seile um mehre Zentimeter statt Millimeter spannten. Kurz darauf riss eine Sehne. Der Schmerz fuhr ihr in den linken Arm und sie löste reflexartig ihre Fäuste. „Laff daf, Igorina!“, drang die Stimme des Onkels an ihre Ohren. „Alf du ef daf lefte Mal übertrieben haft, muffte ich dir fwei neue Beine geben!“ „Fie find etwaf fu kurf für mich, Onkel.“, konterte sie und befreite ihre Hände aus den Schlingen. „Keiner tfwingt dich, fie fu behalten. Aber beffere wirft du in nächfter Feit kaum kriegen.“ Und es ging los. Er hielt ihr einen Vortrag. Aber sie hörte ihm kaum zu, sondern genoss das wohltuende Gefühl, als der schlimmste Schmerz vorüber ging. „..gehörten Frau Mittwich. War immer gut tfu Fuff. Fie muffte jeden Tag Tfwanfig Kilometer[3] laufen um fu ihrer Grofmutter fu kommen. Und daf durch den Fnee. Ohne Fuhe!“ „Ift ja gut, Onkel! Ich hab'f verftanden. Waf ift denn lof, daff du hier runter kommft?“ Mit einem Mal wirkte ihr Onkel wie ausgewechselt und er sah sich verstohlen um. „Der neue Herr ift da!“ Die Igorina runzelte die Stirn. Sie mochte den Grafen Bella de Elstyr. Er war immer freundlich zu ihr und er konnte mit einer Peitsche umgehen. Aber sie wusste, dass dieser schon seit ein paar Wochen aus nichts weiter als einem Aschehaufen bestand. Als sie ihren Onkel immer noch fragend anschaute sprach er weiter: „Fein Neffe. Famt Familie! Und weift du waf fie gefagt haben?“ „Waf denn?“, fragte die Igorina mehr aus dem Drang heraus, das Gespräch in einem Dialog zu halten. „Fie wollen keine Fpinnweben! Keinen Ftaub!“ „Wie furchtbar!“, platze es aus der Igorina heraus und sie war sich selbst nicht sicher, ob sie das ernst meinte. Ihr Onkel seufzte und setzte sich neben sie auf die Streckbank. Er machte einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck auf sie. „Ich fürchte, du mufft gehen.“
Ihr Onkel sollte Recht behalten. Die Vampirfamilie die das Schloss besetzte, war alles andere als traditionsbewusst. Es war ohnehin an der Zeit auf den eigenen Füßen zu Stehen[4]. Die Igorina schaute sich ein letztes Mal in der kleinen Kammer um, die sie die letzten Jahre bewohnt hatte. Es war gerade mal Platz für eine Matratze und einen kleinen Tisch samt Stuhl. Ein paar Bücher lagen noch dort. Alle mit medizinischem Hintergrund; Von Chirurgie bis Kräuterkunde. Die würde sie hierlassen. Denn, egal wer ihr Meister werden würde, er würde eine Igorina wollen und das würde für sie bedeuten, sich auch so verhalten zu müssen. Die große Arbeit, wie sie unter Igors genannt wurde, war den Männern vorbehalten. Ihr Onkel hatte sich nichts aus ihrem Selbststudium gemacht und ließ sie auch Operationen an Fetzen durchführen, doch wenn es um Verbesserungen an ihm oder ihr ging, so durfte sie höchstens assistieren. Immerhin gab es dazu reichlich Gelegenheiten und er war auch nie um ein Lob verlegen und das schätze sie an ihm. Ab jetzt würde das anders werden und sie würde sich fügen. Sie seufzte und nahm ihre Reisetasche neben sich auf. Ihre einzigen Habseligkeiten waren etwas Kleidung, ein Set Nadeln, dazu Garn und ein Operationsbesteck. Andenken an ihre Eltern. Der Griff der Tasche fühlte sich ungewohnt an, dabei musste sie erst vor Kurzem vor dem Mob fliehen. Doch sie wusste, sie würde mit ihrem Onkel wieder zurückkehren. Bleibtdemschlossfern gänzlich verlassen zu müssen, war ihr natürlich immer bewusst gewesen,. Aber es ging so schnell! Sie war mit ihrem Onkel im Hof verabredet gewesen und er wartete schon auf sie. Vor ihm lag eine gezimmerte Kiste aus Holz. „Bift du foweit?“ „Ich weif, ef ift Tradition. Aber muff daf wirklich fein?“ „Keine Forge, du haft genug Proviant. Dafür habe ich geforgt.“ Sie verdrehte die Augen. Als wenn das ihre einzige Sorge gewesen wäre. Sie sollte nun zum ersten Mal per Post verschickt werden und sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Sie hatte keine Angst im Dunkeln oder vor der Enge. Was sie beunruhigte, war das Unbekannte. „Wo schickft du mich hin?“ „Fur Gefäftftelle. Du wirft auch fon erwartet.“ „Nach Bad Füfein?“ Sie war etwas erleichtert, denn das war kein unbekannter Ort. Wenn auch nicht der mit den schönsten Erinnerungen. „Alfo gibt ef noch keine Anftellung für mich?“ „Keine Forge. Igorina wird ficher etwaf für dich finden. Achja...“ Ihr Onkel kramte in der Innentasche seines Mantels und förderte einen zerknitterten Umschlag zu Tage. „Gib ihr daf bitte.“ Die junge Igorina nickte, als sie plötzlich zu Boden geworfen wurde. „Fetzfen laff daf! Böfer Junge!“ Fetzen ignorierte ihren Onkel. Sabber tropfte auf ihr Gesicht und der warme Atem des Hundes stank nach etwas, das er auf dem Friedhof gefunden haben musste. „Runter von mir!“ Sie schob den Hund beiseite und ergriff die Hand ihres Onkels. „Wie ef auffieht, wollte fich Fetfen auch noch verabfieden.“, sagte der Igor, als er sie wieder auf die Beine zog. „Ja, ich werde ihn auch vermiffen.“ Sie kraulte den Hund hinter seinem Schlappohr. Er neigte den Kopf in die Richtung und hechelte aufgeregt. Ja, sie würde einiges vermissen. Ihr Onkel hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, die Rolle ihrer verstorbenen Eltern einzunehmen. Und der alte Igor hatte ihr auch nie etwas vorgeworfen, was ihre Mutter, also seine Schwester, anging und dafür liebte sie ihn. Die Igorina umarmte ihren Onkel, der ihr nur verwundert den Rücken tätschelte. „Ift ja gut, Kleinef.“ Er löste sich von der Igorina. „Ef wird Feit.“ Zwei Männer kamen durch das Tor und fluchten ausgiebig. „Und ich sag noch wir müssn' vorher anhalten aber nein du weist's ja besser.“ „Ja, is ja gut. Wir regeln das hier und wenn das Ersatzrad drauf is, kann's doch weiter gehen. Ich bin sicher, der Igor hier hilft uns.“ Das waren wohl die Herren, die sie mitnehmen sollten. Die Igorina schaute in ihre Unterkunft für die nächsten Tage. Ein Kissen, eine Decke, etwas Packpapier. Na, hoffentlich schaffen sie den Rückweg, ohne dass das Rad bricht. Der alte Herr hat ganze Arbeit geleistet, was die Straße betrifft. Sie seufzte und stieg in die Kiste, die der Igor ihr wie ein Geschenk zu präsentieren schien. Ihre Tasche schob sie zwischen ihre Beine. Als sie sich zurücklehnte, merkte sie, woraus das Kissen bestand. Ein Trinkschlauch und getrocknete Spinnen, eingewickelt in ein Laken. Doch dann fiel ihr etwas anderes auf. „Bekomme ich kein Brecheifen?“ „Die erfte Reife ift immer etwaf Befonderef und die follft du nicht vorfeitig beenden.“ Ihr Onkel zwinkerte ihr zu und legte den Brief auf ihr ab. „Vergiff daf nicht.“ „Waf foll daf heifen...“ Es wurde dunkel um sie, als der Igor den Deckel auf die Kiste legte. „...vorfeitig beenden?“ Das hatte ihr niemand gesagt. Traute ihr Onkel ihr etwa nicht? Sie seufzte, als auch der letzte Lichtschimmer durch die Hammerschläge des Igors verschwand. Die Igorina verlor das Gefühl von festem Boden unter sich, als die Kiste angehoben wurde. Es schaukelte stark und ihr wurde langsam klar, warum jeder Igor mit einem starken Magen ausgerüstet wurde. Sie stütze sich mit den Händen an den Seitenwänden ihrer Unterkunft ab. Wenigstens durfte sie liegen. Ihr Onkel hätte durchaus auch ein anderes Format wählen können. Die Igorina stieß sich den Kopf, als die Kiste plötzlich abgestellt wurde. Sie biss die Zähne zusammen. Wenn das so weiter ging, würde die nächste Zeit nicht angenehm werden. Plötzlich rutschte sie zum Kopfende und das 'Kissen' erwies sich als besonders unbequem, als das Gewicht ihres Körpers auf ihrem Nacken lastete. Es schabte Holz auf Holz als sie endlich verladen wurde. Wieder in waagerechter Position, drückte sie sich vom Kopfende ab und versuchte, sich zu entspannen. Doch nichts zu tun zu haben ging ihr jetzt schon auf die Nerven. Es rumpelte kurz und sie schaukelte hin und her. Der Wagen hatte sich wohl endlich in Bewegung gesetzt, also war die Panne behoben. Sie schloss die Augen und lauschte den Geräuschen der Umgebung. Nichts. Selbst die Männer hatten sich nichts zu erzählen. Nur die holprige Straße sorgte für Abwechslung und sie hatte alle Mühe sich nicht ständig an den Seitenwänden zu stoßen. Vermutlich war es das Beste, die Fahrt über zu schlafen. Die Igorina drehte sich auf die Seite und presste den Rücken an das Holz. Als das geschafft war, zog sie die Beine an und ihre Knie drückten gegen die andere Seite der Kiste. So eingeklemmt, hatte sie die Arme endlich frei. Sie verschränkte ihre Hände hinter dem Kopf und nahm ihn so schützend zwischen ihre Ellenbogen. Sie atmete ein paar Mal tief ein und stimmte ihren Körper zum Schlafen ein.
Der alte Igor sah dem Karren mit seiner Nichte lange hinterher. Das störrische Kind war ihm tatsächlich ans Herz gewachsen. Fetzen jaunerte und fiepste leise an seiner Seite. „Ift ja gut, Junge. Fie kommt unf ficher befuchen.“ Er klopfte dem Hund beruhigend auf die Flanke. Igorina würde für die Kleine hoffentlich schnell eine Anstellung weit weg von dieser Vampirin finden. Er war froh, sich nicht mit diesen Anfragen an die Geschäftsstelle herumschlagen zu müssen. Doch nun war seine Nichte nicht mehr in seiner Reichweite. Natürlich würde die Familie weiter auf sie achten aber sie weiter bei ihm zu verstecken, war nicht mehr möglich. Und würde sie erst mal einem Meister dienen, wäre sie auf sich allein gestellt. Er seufze schwer, als er den Rückweg ins Schloss antrat. Vampire konnten ja so abscheuliche Monster sein. Aber ein Igor urteilte niemals über seinen Meister, das verbot der Kodex. Würde er es tun, könnte er nicht mehr vernünftig arbeiten. Aber diese Vetinari war ein anderes Kaliber und er hatte genug von ihr gehört, um zu wissen, dass sie nicht fair spielte. Ebenso wie die neuen Herrschaften im Schloss. Es war mitten am Tag und er hörte schon, wie sich die Geschwister wieder stritten. Die Gräfin versuchte das alles zu beruhigen und redete auf ihren Mann ein. Er ignorierte die Familie De Elstyr. Solange sie nicht nach ihm riefen, waren sie ihm egal und er konnte sich um die richtige Atmosphäre kümmern. Als er das Schloss betrat, traf ihn fast der Schlag. Sie hatten sauber gemacht! Die Herrschaften hatten den restlichen Bediensteten im Schloss aufgetragen Staub zu wischen? Und noch schlimmer – keine Spur von den tropfenden Kerzen oder seinen geliebten Spinnweben. Es war furchtbar! Die ganze Atmosphäre zerstört. Er richtete sich auf und nahm eine für seine Verhältnisse gerade Haltung an, als ihm noch etwas einfiel. Er öffnete das Tor hinter sich ein weiteres Mal. Kein Geräusch. „Diefe Miftkerle“, zischte er und durchwanderte das Schloss. Er überprüfte jede einzelne Tür und bei der einen oder anderen fluchte er hingebungsvoll. Alle Angeln geölt! Dabei hat es teilweise Jahre gedauert, das richtige Quietschen zu erzeugen. Er rieb sich die Stirn. „Igorina, hol mir meine Peitfe und...“ Er hatte die Hand ausgestreckt und erwartete im gleichen Moment, dass ihm die Peitsche gereicht wurde, bis ihm klar wurde wo die Igorina nun steckte. Alter Narr, gerade Mal ein paar Minuten ist deine Nichte fort und du vermisst sie schon. Er ließ die Hand sinken und seufzte niedergeschlagen. Mit dem alten Herrn wäre das nicht passiert. Graf Bela De Elstyr war ein wahrer Gentleman. Wusste meine Spinnweben zu schätzen und hat mich jeden Tag ausgepeitscht. Ja, mit seinem altern Herrn hatte er wirklich Glück gehabt.
In der Geschäftstelle 'Wir sind Igors' schaute die Igorina und Leiterin des Unternehmens auf die Standuhr. Sie trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Die Lieferung verspätete sich und das passte ihr gar nicht. Sie konnte nur hoffen, dass es nichts mit der Vampirin zu tun hatte. Sechs Jahre waren seit der Tragödie in Schütten vergangen und seit zwei Jahren schrieb ihr die Vampirin von damals nun schon Nachrichten, wann die Igorina in ihre Dienste treten könne. Die Igorina betrachtete den Stapel Semaphore-Nachrichten, Briefe und Telegramme, alle unterschrieben mit den Initialen AV. Als würde sie es jemals dazu kommen lassen! Da waren sie und ihr Cousin sich einig und vermutlich auch die ganze Familie. Doch selbst da gab es nicht viele Eingeweihte. Sie nahm das Bündel Papiere und stopfte es entschlossen in den Ofen der Küche. Gegen eine Vampirin als Herrin war natürlich nichts einzuwenden aber diese Frau hatte der jungen Igorina das Leben gerettet. Oder diese zumindest rechtzeitig zu ihr nach Bad Schüschein gebracht. Einem Vampir das eigene Leben zu verdanken... nicht auszudenken, wie diese Lebensschuld ausgenutzt werden konnte! Nein, dieses intrigante Spiel würde sie nicht mitspielen. Sie nahm ein paar Zündhölzer aus der Schublade und entzündete die Papiere. Sie legte einen Holzscheit hinzu und schloss die Ofenklappe mit einem Knall. „Tante, fie ift endlich da“, sagte jemand hinter ihr. „Hab mir den halben Tag die Beine in den Bauch geftanden, bevor die Herren mich bei der alten Windmühle eingefammelt haben.“ Ihr Neffe war in die Küche gekommen und hatte ein Brecheisen in der Hand. „Und warum?“ Der Igor zuckte mit den Schultern. „Ich habe nicht gefragt, aber daf Erfatfrad war nicht mehr in feiner Verankerung unter dem Karren.“ Wenn man als Igor schon keine Fragen stellte, so musste man doch auf gewisse Dinge achten. „Na, dann wollen wir mal.“ Die Igorina ging mit ihrem Neffen im Schlepptau nach draußen, wo die besagten Männer dabei waren, die Kiste abzuladen. Die Leiterin der Geschäftsstelle kniff kurz die Augen zusammen, als die Lieferung unsanft auf dem Boden landete.
„Vielen Dank, die Herren“, sagte sie, während sie den Lieferschein unterschrieb. “Ich möchte übrigens nächfte Woche ein Paket aufgeben.“ „Selbe Größe?“ Sie schaute kurz zu ihrem Neffen. „In etwa. Aber ein anderes Format.“ Der Mann nickte ihr nur zu und gesellte sich zu seinem Kollegen auf dem Karren. Der Wagen rollte davon und die Igorina wartete, bis dieser hinter der nächsten Biegung verschwand. Ihr Neffe drehte das Brecheisen unschlüssig in der Hand, als sie sich zu ihm umdrehte. „Na los! Worauf warteft du noch?“ Der Igor setzte die Eisenstange an und hebelte den Deckel auf. Gerade mal ein Spalt von wenigen Millimetern war entstanden und schon bekam er Hilfe aus dem Inneren der Kiste. Die Abdeckung fiel zur Seite. Eine Hand streckte sich nach oben. „Kann mir hier jemand raufhelfen?“ Der Igor war sofort zur Stelle und ergriff die Hand der jungen Igorina. „Willkommen in Bad Schüschein“, begrüßte sie ihre Nichte dritten Grades. „Komm erftmal rein. Igor kümmert sich um deine Sachen.“ Die junge Igorina schlurfte ihr hinterher in das Haus. Die beiden Igorinas begaben sich in die inzwischen warme Küche. Sie setzte einen Kessel Wasser auf. In den sechs Jahren hatte sich einiges geändert bei der jungen Igorina. Wesentlich mehr Nähte überzogen sie, doch die Augen waren gleich geblieben. Sie hatten noch immer den selben traurigen Ausdruck wie damals. „Und, wie geht ef meinem Cousin?“ „Befwert fich jeden Tag über die neuen Herrfaften. Er vermifft den alten Grafen wirklich.“ Nicht nur er. Dort wäre die Igorina viel sicherer gewesen. Aber den jüngeren Familienmitgliedern der De Elstyrs war nicht zu trauen. Sie betrachtete noch einmal das Mädchen, das sich langsam zu einer jungen Frau entwickelte. Viel länger hätte sie dort auch nicht bleiben können. Doch sie sprach ihre Sorgen nicht aus. „Einen Tee?“ Ihre Nichte nickte ihr zu und setzte sich an den Tisch. „Oh, noch waf. Mein Onkel hat mir noch einen Brief für dich mitgegeben.“ Ein zerknitterter Umschlag landete auf dem Tisch. Ihr Neffe kam nun ebenfalls, mit der Reisetasche in der Hand, in den Raum. Die alte Igorina goss den Tee auf und füllte zwei Tassen. „Allef erledigt.“ „Gut, dann kümmere dich bitte um Igorina, ja?“ Neffe und Nichte runzelten gleichzeitig die Stirn. „Ich meine ihre schiefe Haltung.“ „Oh ja, natürlich.“ Der Igor humpelte in eine Ecke und holte einen Hocker, den er mitten in den Raum stellte. Er deutete mit einer Hand darauf und nickte der jungen Igorina zu. Ihre Nichte setzte sich in Bewegung und kaum hatte sie sich wie aufgefordert auf dem Möbel niedergelassen, tastete der Igor die Wirbelsäule ab. „Oh ja, die Reife hat ganf fön Fpuren hinterlaffen. Aber daf haben wir gleich.“ Er packte sie unter den Armen und drückte ein Knie gegen einen bestimmten Punkt am Rücken. Es knackte laut, als die Wirbel wieder in die richtige Position sprangen. Aber die Untersuchung war noch nicht beendet. „Jetzt fön locker laffen“, sagte der Igor, als er den Kopf gleich einem Schraubstock umfasste und kurz darauf zur Seite riss. Es knackte ein weiteres Mal. „Und, wie geht ef dir jetzt?“, fragte sie und stellte die zwei Tassen auf dem Tisch ab. „Fon viel beffer.“ „Ich bin sicher, Igor kann dir den einen oder anderen Trick zeigen.“ „Alf Paket verfendet fu werden ift halb fo flimm, wenn man weif, wie man fich die Gelenke aufkugelt“, grinste er und erntete einen skeptischen Blick ihrer Nichte. „Und wieder einrenkt natürlich.“ „Macht das unter euch aus aber jetzt lass uns bitte allein.“ Der Igor gehorchte und verließ die Küche ohne ein weiteres Wort. Die Igorina setzte sich an den Tisch und betrachtete kurz den Umschlag. Er war zugenäht, statt mit Wachs versiegelt, also eindeutig von ihrem Cousin. „Komm, setz dich zu mir.“ Als die Igorina bei ihr war, schob sie ihr eine Tasse zu. „Gibt ef fon eine Anftellung für mich?“ „Neugierig was? Aber nein, du haft, denke ich, noch viel zu lernen. Solange bleibst du hier.“ „Waf follte ef denn noch über Näharbeiten fu wiffen geben, waf meine Mutter mir nicht fon beigebracht hätte?“ Die Igorina nahm durchaus den Trotz ihrer Nichte wahr, doch sie ignorierte ihn. Was ihr weitaus mehr auffiel war das Lispeln. Mehrere Jahre von einem Mann großgezogen zu werden, war bei der Igorina nicht ohne Folgen geblieben. „Ich rede nicht von Näharbeiten. Wobei du auch da noch etwaf lernen kannst, wenn es nicht um Nadel und Faden geht.“ Ihre Nichte wurde rot, als ihr die Richtung des Gesprächs bewusst wurde und sie selbst musste lachen. „Keine Sorge, das hat noch Zeit. Worum es mir geht, sind Kosmetik und Frisuren. Oder kennst du dich damit aus?“ „Oh, ähm, daf...“ Die junge Igorina schüttelte den Kopf. „Dachte ich mir.“ Sie atmete tief ein. „Auferdem geht dein Cousin hier bald und dann brauche ich eine helfende Hand. Wenn ich dann der Meinung bin, dass du soweit bist, bekommft du eine Anstellung.“ Ihre Nichte erwiderte nichts, sondern trank nur ihren Tee. Das Gespräch war dem Mädchen wohl peinlich. Die Igorina seufzte und nahm sich den Brief vor ihr. Sie riss den Umschlag an der Seite auf und die junge Igorina beobachtete sie gespannt. Sie entfaltete den Brief und las die wenigen Zeilen ohne dem Mädchen Einblick zu geben.
Liebe Igorina,
ich hoffe, unsere Nichte ist wohl behalten bei Dir angekommen. Behalte sie bitte so lange Du kannst bei Dir. Sie leistet gute Arbeit aber ich fürchte, sie ist mehr Igor als Igorina, wenn du verstehst. Ich hoffe die Vetinari lässt dich in Ruhe. Der alte Herr hat mir von deren Hartnäckigkeit erzählt und das war vor über fünfhundert Jahren. Meiner Erfahrung nach, werden Vampire im Alter, was diese Eigenschaft angeht, immer schlimmer. Ich muss immer noch daran denken, als meine Schwester in die Dienste der Vetinari trat. Unsere Nichte soll nicht in ihre Fußstapfen treten. Pass gut auf sie auf.
Herzlich, Dein Dich liebender Igor
Sie lächelte kurz, als sie den Brief zusammenfaltete und in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ. „Waf freibt er?“ „Oh Liebes, solche Fragen solltest du dir abgewöhnen.“ Deine Mutter wusste wenigstens, wann es angebracht war den Mund zu halten. Doch selbst das nützte ihr nichts. Sie wollte unbedingt eine Familie und die Vampirin war alles andere als begeistert, als ihre Igorina sie verließ. Sie betrachtete das Mädchen vor sich eingehend, dass sich verschüchtert auf die Unterlippe biss. Egal was deine Mutter auch für sie getan haben mag, die Vetinari will darauf nicht verzichten, wie es scheint. Jetzt muss ich nur herausfinden, worum es dabei geht.
***
Mortimer kaute noch immer auf dem Herzen herum, als der Igor dabei war, die letzten Darmschlingen aus der Bauchhöhle zu ziehen. Er füllte sie dabei gleich in einen Beutel, der zwischen Rogis Beinen lag und verschaffte sich einen Überblick über die restlichen Organe. Zumindest Magen und Darm waren in Ordnung und Roger trennte sie vom Rest des Körpers. Er verpackte sie getrennt voneinander und begann damit, Rogi mit Eis zu füllen. Als er fertig war, setzte er sich kurz, um sich eine Pause zu gönnen und wieder etwas Gefühl in die kalten Finger zu bekommen. Roger konnte immer noch nicht ganz fassen, was er tat. Aber wenn er jetzt aufgeben würde, sähe er kaum noch einen Sinn darin, weiter in Ankh-Morpork zu bleiben. Er hatte alles geopfert um Rogi in die Stadt zu folgen. Sie mit Sicherheit endgültig zu verlieren, würde alles zunichte machen, was er sich aufgebaut hatte – ja womit er die Igorina überraschen wollte. Selbst seine Wahl eines eigenen Namens war nur ein Versuch gewesen, ihr zu gefallen. Natürlich hatte ihn das Leben in Ankh-Morpork mitgerissen und beeindruckt aber er hätte mehr auf sie achten müssen. Schon als er in der Stadt ankam, stand es schlecht um sie und er konnte gerade noch das Schlimmste verhindern. Dieses Mal war er zu spät gekommen und die Gewissensbisse plagten ihn. Hatte er wirklich alles versucht um Rogi zu helfen oder hatte er sich von dieser Wächterin ebenso blenden lassen wie die Igorina? Er strich sich mit der Hand über die Stirn, ohne sich Gedanken über das Blut zu machen, das an dieser klebte. Er betrachtete ein weiteres Mal die leere Spritze auf der Ablage. Es war an der Zeit die Beweise zu vernichten.
Jahr der doppelköpfigen Fledermaus
Die Igorina stapfte den Weg zur Geschäftsstelle hinauf. Den ganzen Tag war sie nun schon gelaufen und durch die Kälte spürte sie ihre Füße langsam nicht mehr. Es war schon dunkel und in dem Gebäude brannte kein Licht. Entweder war niemand da oder es schliefen alle. Besser sie blieb leise. Sie betrat das Haus durch den Hintereingang und kam somit direkt in die Küche. Die Igorina stellte ihre Tasche auf dem Tisch ab und ging weiter zum Ofen. Sie musste sich erst mal aufwärmen. Die Igorina nahm ein paar alte Zeitungen aus dem Korb in der Nähe und öffnete die Klappe. Sie hielt mitten in der Bewegung inne und legte das Papier vor sich ab. Dort war schon etwas im Ofen und es schien wesentlich offizieller. Neugierig griff sie nach dem Stapel. Es waren eindeutig Briefe. Alle mit dem gleichen Siegel verschlossen. Ungeöffnet im Ofen gelandet? Was hatte das zu bedeuten? Neugierig öffnete sie einen und überflog die Zeilen. Sie runzelte die Stirn und brach das Siegel eines weiteren Umschlags. „Igorina? Was machst du hier?“ Sie schreckte hoch und sah ihre Tante, eingewickelt in etwas, das mal einen Morgenmantel hatte darstellen sollen, im Eingang stehen. „Die Familie von Beutefang wird von einem Mob belagert. Die Welpen find grof genug, da dachte ich...“ Ihre Tante hob eine Hand. „Ich versteh schon. Aber was soll das?“ Der Gesichtsausdruck der älteren Frau verfinsterte sich und die erhobene Hand deutete auf das Bündel Briefe. Sie durfte sich jetzt nicht in die Ecke treiben lassen. Ihre Tante verheimlichte offensichtlich etwas und sie würde herausfinden was es war. „Daf felbe könnte ich ebenfallf fragen.“ Ihr Gegenüber seufzte deutlich hörbar. Ihrer Tante musste klar sein, was sie wusste. Es war nicht zu leugnen. Igors hatten ein Gespür für ihren Namen, ob gerufen oder geschrieben. Es war klar, von wem in den Briefen die Rede war. „Wer ift 'AV'?“, fragte sie geradeheraus und ihre Tante straffte die Schultern. Die Leiterin der Geschäftsstelle sah von den Briefen wieder zu der jungen Igorina. Diese ballte ungeduldig eine Hand zur Faust, in der anderen noch immer den Brief umklammert. Sag es einfach. Du kannst nicht Lügen. „Ayami Vetinari. Aber fie...“ Ihre Tante stockte und war sichtlich bemüht, die richtigen Worte zu finden. „Igor und ich waren unf schon damals einig, dass es so besser wäre.“ Ihr Onkel wusste es also auch. Als wäre sie noch ein kleines Kind! Sie bestimmte ihr Leben schon lange selbst. Natürlich immer dem jeweiligen Meister angepasst, doch sonst hatte keiner das Recht ihr Vorschriften zu machen. „Wie lange verheimlicht ihr mir daf fon?“ Ihre Tante biss sich auf die Zunge und ihre angespannte Haltung sackte in sich zusammen. „Inzwischen find es zehn Jahre.“ Sie schnappte nach Luft. Zehn verdammte Jahre! Seit ihrem achten Lebensjahr. Die junge Igorina trat einen Schritt zurück, als lange verdrängte Erinnerungen wieder zum Vorschein kamen. „Wie viele Briefe gibt ef von diefer Vetinari?“ „Zu viele. Bitte Liebes versteh doch! Es...“ Sie ignorierte ihre Tante. Langsam wurde ihr klar, was hier vorging und sie musste es genau wissen. „Fie ift die Frau, die mich hierher gebracht hat?“ Sie setzte sich schnell, aus Angst den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Fie hat mir daf Leben gerettet.“ Die alte Igorina zögerte und nickte schließlich nur. Was sollte sie auch sagen. Igors hatten viele Geheimnisse aber nicht unter sich. Das hatte sie zumindest bisher geglaubt. Das Leben hatte einen hohen Stellenwert. Bei so manchen Familienversammlungen wurde sogar darüber gestritten ob das Leben dem Kodex voranzustellen war! Das eigene Leben war zumindest wichtiger als das des Meisters, soviel stand fest. Ihre Tante zog den Morgenmantel enger um sich und ging zum Ofen. Die Klappe war noch immer geöffnet. Sie beobachtete, wie die Igorina den Ofen anheizte und Wasser aufsetzte. Sie konnte ihrer Verwandtschaft nicht böse sein. Sowohl ihr Onkel, als auch ihre Tante, meinten es gut mit ihr, dass wusste sie. Aber jetzt konnte sie nur daran denken ihrer Pflicht nachzukommen und ihre Dienste der Frau zur Verfügung zu stellen, in deren Lebensschuld sie stand. „Tante?“, fragte sie fast schon schüchtern, “Warum habt ihr...“ „Oh, verdammt, ich bitte dich! Alf wäre das nicht offensichtlich“, unterbrach sie die Ältere scharf. „Wir wollten dich schützen, aber jetzt... du denkst sicher nur noch daran zu ihr zu gehen. Ihrer Aufforderung nachzukommen.“ Ja, so dachte sie und vermutlich gehörte das zum Wesen eines Igors dazu. Wie nur konnte ihre Tante sie daran hindern wollen, ihrer Verpflichtung nachzukommen? Sie schwieg und nickte der Älteren zu. „Siehst du! Das wollten wir vermeiden. Es ist nicht richtig sein Leben einer Person zu verschreiben.“ „Aber genau daf tun wir.“ „Ach, du weißt was ich meine. Natürlich tun wir das aber jedes Arbeitsverhältnis kann auch beendet werden. Und ich frage dich: Wie viel Respekt kannst du von ihr erwarten? Um Himmels willen! Sie ist eine Vampirin und keine von den Guten.“ So war das also. Vampire waren die bevorzugten Arbeitgeber eines Igors und das hatte viele Gründe. Einer der nebensächlichen war, dass man tagsüber seine Ruhe hatte. Doch was wesentlich reizvoller war und was jeder Igor an Vampiren schätzte: Sie kannten den Kodex sehr genau. Vielleicht sogar genauso gut wie die Familie selbst. Eine perfekte Symbiose zwischen Meister und Diener. Ein gefährlicher Pakt, denn die Blutsauger hatten dadurch allzu viel Macht über einen. Diese Vampirin nutze also das Wissen der Lebensschuld aus? Aber das war auch ihr gutes Recht. Oder steckte da noch mehr dahinter? Ihre Tante stellte eine Tasse Tee vor ihr ab und setzte sich zu ihr. Die junge Igorina klammerte sich mit beiden Händen an das Gefäß, um sich aufzuwärmen. „Muff ich fonft noch etwaf wiffen?“ Sie bekam keine Antwort, stattdessen trank die Ältere einen Schluck Tee. Das Schweigen hielt einige Sekunden, bevor ihre Tante doch noch das Wort ergriff. „Du wirst zu ihr gehen?“ „Daf ift meine Pflicht.“ Die Ältere atmete tief ein. „Dann solltest du wissen, dass deine Mutter in ihren Diensten stand.“
Marridad hauchte sich in die behandschuhten Hände um wieder etwas Gefühl in die Finger zu bekommen. Er schlang den Schal enger um sich, während er weiterhin die Männer dabei beobachtete, wie sie die Kiste von der Ladefläche des Karrens zu schieben versuchten. Sie schien festgefroren zu sein. Kein Wunder bei den Temperaturen aber hier oben hatte er schon immer das Gefühl gehabt, dass es zehn Grad kälter war, als im restlichen Überwald. Er bedachte die Kiste mit einem kritischen Blick. Kein guter Zeitpunkt für die Igor zu Igor-Zustellung. Er hatte schon viele Igorinas kommen und gehen sehen und keine schien den Ansprüchen ihrer Majestät zu genügen. Er wusste nichts von der Korrespondenz zwischen ihrer Hoheit und dem Unternehmen 'Wir sind Igors'. Es ging ihn auch nichts an. Aber was diese Zustellung betraf, so erwartete ihre Majestät anscheinend mehr von der Igorina, als von all ihren Vorgängerinnen. Zumindest entnahm er das dem Verhalten der Vampirin, als er ihr die Nachricht der Geschäftsstelle vor ein paar Tagen überreicht hatte. Dieses Lächeln jagte ihm selbst in seiner Erinnerung immer noch einen Schauer über den Rücken. Er verscheuchte das Bild vor seinen Augen und konzentrierte sich wieder auf die beiden Männer. Genau in diesem Moment löste sich die Kiste mit einem Ruck und kippte von der Ladefläche. Nachdem der dumpfe Aufschlag im Schnee ertönte, setze sich der Kammerdiener in Bewegung. Er hoffte für die beiden Männer, dass der Igorina nichts passiert war. Ansonsten müsste er dafür sorgen, dass die beiden Herren noch vor Sonnenuntergang weit genug entfernt waren. „Sofort öffnen, wenn ich bitten darf“, sagte Marridad, als er am Karren angekommen war. Die beiden Männer sprangen von der Ladefläche. Einer von ihnen war mit einem Brecheisen bewaffnet und kam der Aufforderung augenblicklich nach. Aus der Nähe betrachtet, war die Holzkiste noch viel kleiner, als er dachte und fast genauso hoch wie breit. Die Abdeckung fiel zur Seite und zum Vorschein kam ein Haufen alter Decken. Marridad runzelte die Stirn und trat näher heran, als sich der Haufen bewegte. Er griff nach einem Zipfel und zog daran, doch darunter tauchte nur eine weitere Decke auf. Die Männer packten nun ebenfalls mit an und die Igorina wurde sichtbar. Sie stütze sich an den Kanten ab um sich aufrichten. Sie blinzelte und gähnte laut, hatte aber nicht den Anstand sich die Hand vor den Mund zu halten. Er verzog missbilligend das Gesicht, fand jedoch sein Lächeln wieder als die Igorina ihn ansah. Der Kammerdiener musterte sie und musste zu seiner Überraschung feststellen, dass er schon wesentlich schönere Igorinas begrüßen durfte. Es war nicht seine Art, auf so etwas zu achten, aber die Igorina vor ihm unterschied sich so gravierend von ihren Verwandten, dass es ihm schwer fiel, sich auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Sie befreite sich aus dem Gewirr von Decken und zog unter sich eine Tasche heraus, bevor sie aus der Kiste stieg. Dabei stachen ihm die Hosen ins Auge, die sie trug und die so gar nicht zu seiner Vorstellung einer Igorina passen wollten. „Willkommen, Igorina“, sagte er schnell, als ihm bewusst wurde, dass er sie immer noch anstarrte. „Mein Name ist Marridad und ich bin für dich zuständig, solange ihre Hoheit nichts anderes wünscht. Ich hoffe, du hast die Reise gut überstanden?“ Als Antwort neigte sie den Kopf von links nach rechts und es knackte deutlich hörbar. „Den Umftänden entfprechend“, sagte sie schließlich und betrachtete ihre geröteten Hände. „Ich muff mich aufwärmen.“ „Natürlich“, antwortete er schnell und steuerte die Burganlage an. Die Igorina folgte ihm, ebenso wie die Männer, denen er Proviant für die Rückreise zugesichert hatte. Er entschied sich für den Seiteneingang zum Küchentrakt, denn dort brannte immer ein Feuer. Er betrat schnell den Durchgang zum wärmsten Raum des Schlosses, in dem zu jeder Zeit geschäftiges Treiben herrschte. Die Igorina trat an ihm vorbei zur Feuerstelle und streckte ihre Hände vor. Der Kammerdiener lächelte den Damen der Küche entschuldigend zu, als er sah, wie ein paar der Mädchen die Beinkleider der Igorina anstarrten. Nun, er würde sich darum kümmern müssen. Marridad wandte sich den beiden Lieferanten zu und wies ihnen einen Platz in der Küche zu. „Es wird sich gleich jemand um euch kümmern.“ Die Männer brummten nur etwas Unverständliches und er konnte es ihnen nicht verdenken. Mehre Tage in diese abgelegene Gegend zu reisen, schlug bisher jedem auf das Gemüt. Er stupste auf dem Weg zur Feuerstelle ein Küchenmädchen an und deute auf die beiden Herren. Sie nickte ihm zu und damit war dieser Punkt für ihn erledigt. Er räusperte sich leise, doch das reichte um die Aufmerksamkeit der Igorina zu erlangen. „Du solltest dich angemessener kleiden.“ „Wie du wünft, Herr.“ Er hatte mit Widerworten gerechnet, was bei einer Igorina natürlich ausgeschlossen war. Aber bei dem ersten Eindruck, den sie ihm vermittelte, hätte es ihn nicht überrascht, wenn es so gewesen wäre. Er würde sie auf Herz und Nieren prüfen. Marridad lächelte kurz in sich hinein, als ihm der Wortwitz der Situation aufging. „Nun, wenn wir schon bei dem Thema sind. Deine erste Aufgabe wird es sein, den Bestand der Garderobe der Bediensteten zu inspizieren und diese gegebenenfalls in Stand zu setzen oder wenn nötig, neue Kleidung herzustellen.“ „Fehr wohl, Herr.“ „Wenn du soweit bist, führe ich Dich jetzt in die für Dich vorgesehene Räumlichkeit.“ Der Kammerdiener nahm das Nicken zur Kenntnis und wies der Igorina den Weg zum Korridor. „Ich nehme an, du wirst dich hier in kurzer Zeit zurechtfinden, also komme ich gleich zum Wesentlichen.“, sagte Marridad, in seiner gewohnt ruhigen Art. Der natürliche Orientierungssinn der Igors in fremder Umgebung faszinierte ihn immer wieder aufs Neue und erleichterte die Einarbeitung ungemein. „Wichtig: kein Staub in den privaten Räumen ihrer Majestät! Das betrifft deren Büro, das Schlafgemach, das Kaminzimmer und vor allem das Klavierzimmer.“, sagte er und bog in den nächsten Korridor ab. „Und ich wäre dir sehr verbunden wenn du es im Allgemeinen unterlassen würdest, Staub zu verteilen.“ „Flafgemach?“, fragte sie ihn mit erhobenen Augenbrauen. Das hatte bisher jede Igorina irritiert. Daher war er mit dem fragenden Blick vertraut. Aber bisher hatte keine es direkt angesprochen. „Du hast mit Sarg und Gruft gerechnet, nicht?“ Sie nickte bestätigend. „Nun, du wirst sehen, dass ihre Hoheit in vielen Dingen nicht dem Typus entspricht. Aber ernsthaft: Lass dich nicht dazu hinreißen!“ Der Kammerdiener blieb stehen und öffnete eine schmale Tür. Marridad deutete in den kleinen Raum. „Hier hast du natürlich freie Hand.“ Die Igorina stellte ihre Tasche im Raum ab, hatte aber sonst kein Auge für die Kammer, als sie wieder zu ihm in den Gang trat. „Deine Reise war sicher anstrengend aber ich möchte noch etwas klarstellen, bevor ich dich für heute entlasse.“ „Ich muff mich nicht aufruhen, Herr.“, sagte die Igorina beleidigt. “Die Herrin wird ficher heute Nacht nach mir rufen.“ Marridad hob beschwichtigend eine Hand. „Verzeih aber ihrer Majestät Ayami Vetinari, Königin der Nacht und Herrscherin von Überwald, wird ein einfaches Herrin nicht genügen.“ Sie neigte entschuldigend das Haupt. „Davon abgesehen rate ich dir ausgeruht zu sein, falls ihre Hoheit tatsächlich schon diese Nacht nach dir verlangt. Deine Vorgängerinnen hat sie im Grunde ignoriert.“ „Aber fie...“ Sie brach ab und er hatte den Eindruck als wäre die Igorina gestrandet. Sie rieb sich die von der Kälte noch immer geröteten Hände. Sir wirkte angespannt und Marridad bereute seine Zurechtweisung. Die Igorina sah wieder auf und erstarrte regelrecht, als hätte sie einen Geist gesehen. Kurz darauf spürte er eine kalte Hand auf seiner Schulter. „Danke, Marridad. Ich übernehme ab jetzt.“
Ayami Vetinari schlenderte den Gang entlang. Die Igorina folgte ihr in angemessenem Abstand. Ja, die Igorina hatte sie eindeutig wiedererkannt. Die Vampirin lächelte und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Seit dem sie den Herzschlag der Igorina mitten am Tag wahrgenommen hatte, konnte sie nicht mehr schlafen. Reglos hatte sie in ihrer Schlafstätte verharrt. Merkwürdig in Anbetracht dessen, dass sie schon seit acht Jahren auf die Igorina gewartet hatte. Sechs Jahre dieser Zeitspanne schrieb sie an die Geschäftsstelle. Als Antwort wurde ihr immer eine Igorina geschickt. Nur nicht die, nach der sie verlangte. Oft hatte sie daran gedacht, der Leiterin von 'Wir sind Igors' einen Besuch abzustatten, doch das hätte sie auch nicht weiter gebracht. Ayami gestattete es sich, tief einzuatmen. Es war ungemein befriedigend, dass diese Geduldsprobe nun vorbei war. Sie würde diesen Moment solange auskosten wie möglich, denn sie wusste noch nicht, ob die Igorina auch ihre Erwartungen erfüllen würde. Natürlich könnte sie dies in wenigen Sekunden in den Gedanken der Igorina ablesen aber wozu sich den Spaß verderben, wenn die Vorfreude schon so erfrischend war? Sie betrat ihr Arbeitszimmer und trat an das Fenster. Die Sonne war gerade am Horizont verschwunden. „Schließe die Tür!“ Die Igorina gehorchte und trat nervös in den Raum. Die Vampirin nahm sie in Augenschein und setzte sich an ihren Schreibtisch. Die Dienerin war aufgeregt und angespannt, das war dem Herzschlag deutlich zu entnehmen. „Stelle deine Fragen!“ „Waf wünft Ihr von mir?“ „Alles zu seiner Zeit.“, sagte sie ruhig. “Ich bin sicher, du möchtest eigentlich etwas ganz Anderes wissen, nicht wahr?“ Die Igorina schnappte kurz nach Luft, wie ein Fisch außerhalb des Wassers. „Waf... waf ift damalf paffiert?“ „Ich fürchte, dies kann ich nicht zu deiner Zufriedenheit beantworten. Ich war auf dem Weg in die Hauptstadt und nahm den Umweg über Schütten in Kauf, um deine Mutter aufzusuchen. Ich kam zu spät.“ Die Vampirin fletschte kurz die Zähne über die Dummheit dieser Menschen. „Das Schloss brannte und deine Eltern waren schon tot. Ich konnte nur noch ihre Körper vor den Flammen retten, dann hörte ich dich.“ Sie legte die Hände ineinander und stütze ihr Kinn darauf. Die Igorina starrte an die Decke und bedachte ihre nächste Frage. „Waf hat meine Mutter für Euch getan?“ „Lass mich das mit einer Gegenfrage beantworten“, sagte sie und lächelte. „Was weißt du über Kräuterblut?“ Die Antwort kam prompt: „Allef.“
***
Er legte das Spritzbesteck und das offene Fläschchen in eine Schale, die er mit Alkohol gefüllt hatte. Nachdenklich betrachtete er die kleine Flasche und fragte sich, wo der Deckel steckte. Das Fläschchen war eindeutig aus einem älteren Bestand, denn Rogis Ampullen waren inzwischen mit einer durchlässigen Beschichtung versiegelt. Sie hatte also von Anfang an eine Notreserve gehabt. Er biss die Zähne zusammen, als er merkte, dass er wütend wurde. Aber das brachte ihn auch nicht weiter. Er suchte den Boden mit seinen Augen ab und blieb bei dem schlafenden Hund hängen. Er zog am Halsband und Mortimer stand aufgeregt auf und leckte Roger über das Gesicht, als müsste er sich dafür entschuldigen, geschlafen zu haben. Der Igor schob das Tier beiseite und griff nach dem Verschluss, der unter dem Tisch gelegen hatte. Er roch daran und warf den Deckel ebenfalls in die Schale. Er atmete erleichtert auf. Nun würde die Wache sicherlich auch ihre Schwierigkeiten damit haben, die Wahrheit herauszufinden. Dabei gab es nur ein Problem. Er war nicht der einzige, der von Rogis Sucht wusste. Aber darum konnte er sich jetzt nicht auch noch Gedanken machen. Mortimer wedelte weiterhin mit dem Schwanz, doch als der Igor ihn nicht beachtete, legte der Hund sich vor die Tür. Roger nahm wieder das Skalpell zur Hand und löste die Leber heraus. Auch dieses Organ hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen. Er wusste sich nicht anders zu helfen und füllte es in einen Beutel. Das Eis entnahm er diesmal aus Rogis Bauchhöhle.
Jahr der pockigen Kröte
Die Igorina stach sich mit dem Skalpell in die Fingerkuppe und drückte mit dem Daumen einen Tropfen Blut hervor. Sie wischte ihn mit einem sauberen Tuch ab und wiederholte den Vorgang. Den neu gewonnenen reinen Tropfen des Lebenssaftes zog sie mit einer Pipette auf. Sie wickelte das Tuch um den verletzten Finger und wandte sich der vorbereiteten Flasche Kräuterblut zu. Sie setzte die Pipette an den Flaschenhals an und gab den Blutstropfen der Kräuteressenz hinzu. Sie verschloss die Flasche mit einem Glasstopfen und stellte sie zu ein paar anderen in eine Holzkiste. Ihre Majestät war nun schon über ein Jahr in Ankh-Morpork und seither hatte sie nichts weiter zu tun gehabt, als die Königin der Nacht mit Kräuterblut zu beliefern oder dem Kammerdiener Marridad zur Hand zu gehen. Es war ernüchternd, immerzu den gleichen Tätigkeiten nachzugehen und es gab Momente, in denen sie sich weit weg von Überwald und seinen Traditionen wünschte. Sie war nie länger als ein paar Monate bei ein und derselben Anstellung gewesen. Über kurz oder lang sorgte schon ein Mob dafür, dass das Arbeitsverhältnis beendet wurde. Bei ihrer Herrin Ayami Vetinari verbrachte sie ihren bisher längsten Dienst. Warum hatte ihre Majestät sie nicht mit in die Stadt genommen? Sie hätte sicher auch in Ankh-Morpork die nötigen Kräuter erwerben können. Wenn auch vielleicht nicht so frische, wie aus dem eigens angelegten Kräutergarten. Sie seufzte schwer. Vermutlich wäre eben dies das Argument der Königin gewesen, wenn sie es gewagt hätte, ihr in die Stadt zu folgen. Dennoch wünschte sie sich nichts sehnlicher, als bei ihrer Herrin zu sein. Was war denn ein Igor schon ohne seinen Meister? Die Igorina griff nach einer weiteren Flasche und fügte dieser, mit ebenso großer Sorgfalt wie zuvor, einen Tropfen ihres Blutes hinzu. Als sie das Gefäß mit Kräuterblut verschlossen hatte und zu den anderen stellte, spürte sie einen leichten Luftzug, der ihr verriet, dass Marridad den Raum betreten hatte. „Waf wünft du, Herr?“ Der Kammerdiener seufzte leise: „Ich wollte dir nur mitteilen, dass ihre Majestät sich auf dem Rückweg nach Überwald befindet.“ Sie hielt in der Bewegung inne und wandte sich Marridad zu. Er lächelte wie immer. „Eine weitere Lieferung deinerseits ist also nicht nötig.“ Die Igorina nickte ihm zu und der Kammerdiener verschwand ebenso leise wie er gekommen war. Sie konnte es kaum glauben. Endlich kehrte Ayami zurück. Die Freude darüber hielt allerdings nur kurz. Für die Igorina würde sich nichts ändern. Ihr wurde nun klar, dass sie gehofft hatte, Ayami in die Stadt folgen zu können. Weit weg von ihrem Alltag in Überwald. Aber dieser Wunsch hatte sich mit der Auskunft des Kammerdieners in Luft aufgelöst. Sie seufzte und griff nach der Holzkiste. Die Igorina machte sich auf den Weg in das Kellergewölbe und steuerte auf einen der Weinkeller zu. Dort angekommen drehte sie die Öllampe auf, die an einem Haken von der Decke hing. Sie stellte die Kiste auf einer anderen ab und fuhr erschrocken hoch, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Sie versuchte es einzuordnen. Hier versteckte sich jemand. Die Igorina umschloss den Hals einer Flasche Kräuterblut, fest entschlossen, diese als Waffe zu gebrauchen und hob sie an - als sie von hinten gepackt wurde. Eine Hand legte sich auf ihren Mund. Sie versuchte sich loszureißen und holte mit der Flasche aus. „Ganf ruhig. Ich bin ef.“ Sie entspannte sich etwas, als sie die Stimme ihres Onkels erkannte. Der Griff lockerte sich und er trat zurück. Sie drehte sich schnell zu ihm um. Als sie sich bewusst wurde, dass sie noch immer ihre Waffe erhoben hatte, ließ sie die Flasche schnell sinken und drehte sie nervös in ihren Händen. „Waf bitte machft du hier?“ „Nicht fo laut. Ich follte nicht hier fein.“ Sie runzelte die Stirn. „Warum diefe Heimlichtuerei? Du hätteft auch fo fu befuch ko...“ „Ayami foll nicht wiffen, daf ich hier war.“ Sie verzog das Gesicht, als ihr Onkel ihre Majestät einfach beim Vornamen nannte. „Fie legt fiel Wert auf ihre Titel, alfo fei nicht fo refpektlof“, blaffte sie den Igor an. Er seufzte und sah sie bedrückt an. „Wir machen unf einfach Forgen, Igorina.“ Sorgen hin oder her, in das Schloss ihrer Herrin einzudringen war nicht richtig. „Und mit ‚wir’ meinft du meine Tante und dich?“ Er nickte, als er antwortete: „Du bift nun fon fo lange hier und wir haben nichtf von dir gehört.“ „Wie bift du überhaupt hier rein gekommen?“, erwiderte sie, ohne auf seine Worte einzugehen aber ihr wurde schnell klar, dass eine Kiste mehr oder weniger bei einer Vorratslieferung nicht aufgefallen wäre. Ihr Griff um die Flasche wurde wieder stärker, als ihr noch etwas bewusst wurde. „Du wollteft mir nachfpionieren!“ Der Igor schüttelte entsetzt den Kopf und trat einen weiteren Schritt zurück. „Aber nein. Waf denkft du von mir?“ Nein, von ihm erwartete sie das wirklich nicht. So etwas traute sie eher ihrer Tante zu. „Aber Igorina möchte wiffen, waf du für deine Herrin machft“, sagte er leise. Sie schnaubte, als ihr Onkel somit ihre Vermutung bestätigte und drückte ihm die Flasche in die Hand. „Daf ift allef, waf fie fon mir möchte.“ Der Igor runzelte die Stirn und öffnete den Verschluss leicht. Seine Augenbrauen hoben sich, als er den Geruch des Kräuterblutes wahrnahm. Schnell drückte er mit einem Daumen den Glasstopfen wieder auf den Flaschenhals. Ihr Onkel packte ihr linkes Handgelenk und betrachtete ihre Fingerkuppen. Die zahlreichen vernarbten Verletzungen erkannte er sofort. Er seufzte kurz, als sie ihre Hand aus seinem Griff befreite. Er gab ihr die Flasche wortlos zurück und sie stellte sie zu den anderen, hinter sich, in die Holzkiste. „Ift fie immer noch ‚Königin der Nacht’?“ „Waf follte daf eben?“ Ihr Onkel ging nicht auf ihre Frage ein, als er munter weiter redete. „Weift du, mein Herr hatte diefen Titel auch mal. Aber natürlich heift ef dann ‚Dunkler Prinf’. Er war nie fonderlich ftolf darauf, wenn du mich fragft. Aber der Wettkampf den Löwenhof von Kreuffahrt alle hundert Jahre auftrug, war fehr beliebt damalf.“ „Onkel, wovon redeft du?“ Der Igor winkte ab und trat auf sie zu. Er umarmte sie und drückte sie fest an sich. „Fie wird dich nicht gehen laffen. Nur Wenige kennen daf Geheimnif von Kräuterblut.“ „Ich weif, Onkel, defwegen bin ich hier. Ich ftehe in ihrer Fuld.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung. „Nein, du veftehft nicht. Du ftehft in ihrer Fuld ein Leben lang und fie gehört nicht fu der Forte Vampir, die fich fo einfach befeitigen läfft.“ „Du dienft dem Grafen de Elftyr und feiner Famile auch fon ewig.“ „Und mir werden immer wieder Jahrfehnte der Paufe gegönnt, denn er ift ein fairer Fportfmann.“ „Fpar dir den Vortrag und komm fum Punkt.“, sagte sie und verschränkte die Arme. „Lebenffuld hin oder her, wir find keine Fklaven, Igorina.“ Bei diesen Worten ergriff er wieder ihre Hand, sodass die verletzten Fingerkuppen zu sehen waren. „Waf bitte foll ich deiner Meinung nach tun?“, sagte sie und erste Zweifel nagten an ihr. Sie kannte Ayami Vetinari kaum und wie viel länger konnte sie die Bedürfnisse ihrer Hoheit befriedigen, ohne sich dabei selbst zu Schaden? Sie zog ihre Hand schnell weg. Er wich ihrem Blick aus und sie wusste, dass er keine Antwort darauf hatte. „Wirft du gut behandelt?“, fragte er stattdessen. Sie nickte und lächelte ihm zu. An Respekt mangelte es sicher nicht und sie hatte durchaus gewisse Freiheiten, die sie unter anderen Umständen nicht gehabt hätte. Sie drückte die Hand ihres Onkels. „Macht euch keine Forgen. Ef geht mir gut.“
Ayami lehnte sich entspannt zurück, als die Kutsche die Grenzen zu ihrem Herrschaftsgebiet passierte. Das moderne Überwald mit seinen Städten und dichten Siedlungen war ihr ein Dorn im Auge. Das Schlimme daran war nicht einmal, dass die umliegenden Clans das Land regierten, sondern dass alle auf Lady Margolotta und auf deren Spiel hereinfielen. Gleichgewicht der Politik. Lächerlich! Diese Frau war ein einziges Ärgernis und hatte es sogar geschafft, Havelock um den Finger zu wickeln. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich ihre Interessen kreuzen würden. Aber ausgerechnet ihr eigener Urenkel? Die Vampirin ballte die Fäuste, entspannte sich aber augenblicklich wieder, als sie die Türme ihres Schlosses erblickte. Ihr Vater hatte dieses Land schon regiert und hier würde ihr selbst Lady Margolotta nicht in die Quere kommen. Hier war sie uneingeschränkte Herrscherin. Sie zog energisch den Samtvorhang des Fensters zu, als die Sonne hinter einer Wolke hervortrat. Sie schloss die Augen und versuchte etwas Schlaf zu finden, doch ihre Gedanken kreisten um Ankh-Morpork. Sie seufzte. Eine anstrengende und lehrreiche Zeit. Aber Havelock wollte sie für seine eigenen Zwecke ausnutzen und war selbst kaum zugänglich für ihre Argumente. Sie konnte nur hoffen, dass dieses lächerliche Klonkspiel, welches er mit Margolotta immer und immer wieder austrug, sich nicht auf seine Entscheidungen auswirkte. Manchmal fragte sie sich, wie lange ihr Urenkel diese Stadt noch regieren konnte. Sie wäre gerne stolz auf ihn gewesen, doch ihre Zeit bei der Wache hatte sie gelehrt, dass Havelock nicht immer die richtigen Entscheidungen traf. Zumindest hatte sie ihn das eine oder andere Mal umstimmen können. Sie holte eine Schatulle unter der Sitzbank hervor und öffnete sie. Ihre Dienstmarke der Stadtwache von Ankh-Morpork reflektierte das sanfte Licht im Inneren der Kutsche und sie klappte den Deckel schnell wieder zu. Außerhalb der Karosse änderten sich die Geräusche. Es knirschte unter den Rädern, als diese den gepflegten Kiesweg erreichten und sie nahm das Treiben auf dem Gelände des Schlosses wahr. Als die Kutsche das Tor passierte, bemerkte sie die beiden Herzen, die eindeutig zu einem Igor gehörten. So nah kam man sich selbst beim Liebesakt nicht! Sie schloss die Augen und ließ ihren Geist wandern, bis sie die Gedanken des Igors erreichte. Er sperrte sie aus. Untypisch. Aber es gab etwas, das Igors nie verbargen und diese Information würde ihr vielleicht schon reichen. Sie öffnete schlagartig die Lider und blinzelte leicht. Interessant. Der Onkel, und viel wichtiger noch, mütterlicherseits. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass sie nach so langer Zeit gleich zwei Quellen für Kräuterblut gefunden haben mochte? Die Räder kamen zum Stillstand. Die Tür öffnete sich und wie erwartet begrüßte sie ihr Kammerdiener. Aber sie achtete nur auf die Herzschläge des Igors. Er hatte das Grundstück verlassen. Und er wurde schneller. Ein Pferd. Das nützt ihm nichts. Ihr Jagdtrieb war geweckt, doch sie gemahnte sich selbst zur Ruhe. Sie stieg aus der Kutsche und trat in den Schatten des Hofes. Marridad machte einen Diener, während sie zum Himmel sah. In ein paar Stunden erst würde es dämmern. Der Kammerdiener sah sie etwas verunsichert an. Sie überbrückte den Weg in ihre Gemächer in einer Geschwindigkeit, in der Marridad ihr nicht folgen konnte. Sie hatte eine Jagd zu planen.
Marridad klopfte leise an die Tür, wohl wissend, dass die Königin der Nacht schon längst von seiner Anwesenheit wusste. Doch erst nach dem obligatorischen „Herein“ betrat er das Arbeitszimmer. Auf einem Tablett balancierte er einen frisch zubereiteten Kelch Kräuterblut, wie Ayami es wünschte. Die Wahl des Gefäßes gefiel ihm nicht sonderlich. Der Becher bestand aus schlichtem Ton und war nur an den nötigsten Stellen versiegelt worden. Aber die Igorina ignorierte seine diesbezüglichen Einwände. „Habt Ihr alles zu eurer Zufriedenheit vorgefunden, Majestät?“ Sie achtete nicht auf ihn, während sie die Dokument auf ihrem Schreibtisch in einer Geschwindigkeit durchlas, die einem nur als Vampir gegeben war. Er wartete geduldig. Erst, als sie das letzte Dokument beiseite legte, richtete sich ihr Blick auf ihn. „Marridad setz dich! Ich habe ein paar Fragen bezüglich der Igorina.“ Der Kammerdiener stellte das Kräuterblut vor ihr ab und klemmte sich das Tablett unter den Arm, bevor er sich setzte. Seit ihrer Ankunft schon war sie wie unter Strom. Irgendetwas war vorgefallen, doch was? Er hatte alle Dokumente des Schriftführers angefordert, ihre Gemächer wurden rechtzeitig vorbereitet und auch sonst hatte er keine Ahnung, was als Auslöser für das Verhalten der Königin in Frage kam. Die Bediensteten traf zumindest keine Schuld. Und auch der Igorina war nichts vorzuwerfen – im Gegenteil. Das Einzige, was ihn an ihr störte, war ihr Mangel an Benehmen. „Wenn ich darf, Hoheit, würde ich gerne allgemein von meinen Erfahrungen mit ihr berichten.“ Sie hob eine Braue und lehnte sich zurück, gab ihm aber mit einem Wink zu verstehen, dass er weiterreden solle. „Sie hat mindestens fünfzehn Menschen hier das Leben gerettet, Majestät.“ Es war ihm wichtig, dass sie das wusste und den gehoben Brauen nach zu urteilen, war sie ebenso überrascht über die Igorina und deren Tendenz, dem männlichen Handwerk ihrer Spezies nachzugehen, wie er es gewesen war. „Wie kam es dazu?“ „Der Winter letztes Jahr war sehr hart. Viele waren krank, doch Igorina schaffte es, die Epidemie abzuwenden. Der junge Adrian verlor einen Arm beim Holzfällen. Sie nähte ihn wieder an. Der Schmiedelehrling von Henning fiel in die Esse. Keiner glaubte, dass er es überleben würde, doch sie hat ihn nicht aufgegeben.“ „Danke, das reicht, Marridad.“ „Die Liste ließe sich weiter fortführen. Dennoch, trotz all ihrer Verpflichtungen hier im Schloss, hat sie die Lieferungen für Euch stets voran gestellt.“ Ayami nahm den Becher vor sich zur Hand und trank einen Schluck daraus. Sie störte sich nicht an den Äußerlichkeiten, für sie zählte nur der Inhalt. „Nun zu meinen Fragen: Hatte die Igorina Besuch oder bekam sie Nachrichten von ihrer Familie?“ „Nein, keine von denen ich erfahren hätte“, sagte er, doch ihrem Blick nach zu urteilen war sie mit dieser Antwort nicht zufrieden. „Soll ich diesbezüglich Nachforschungen anstellen, Majestät?“ „Nein“, sagte sie betont ruhig. „Dadurch wird die Jagd nur interessanter.“ Er straffte die Schultern und seine Nackenhaare stellten sich auf. Eine Jagd auf wen oder was? Er hatte sie schon wütend erlebt und das glich ihrer jetzigen Laune in gewisser Weise. Aber diesmal lächelte nicht nur ihr Mund. „Soll ich eventuelle Vorbereitungen treffen, Hoheit?“ Sie lachte kurz auf. „Lass das Fenster offen!“
Der Igor trieb das Pferd weiter an und klammerte sich an den Hals des Tieres. Seine Nichte hatte ihm einen schnellen Schimmel geliehen. Am nächsten Tag wäre dieser rechtzeitig zurück gewesen. Doch er und seine Nichte hatten nicht mit der vorzeitigen Rückkehr von Ayami gerechnet. Die Vampirin musste die Nachricht von unterwegs aus verschickt haben oder der Kammerdiener hatte den Auftrag gehabt, diese Neuigkeit so spät wie möglich zu überbringen. Er konnte nur hoffen, dass sie seine Anwesenheit nicht bemerkt hatte oder er es zumindest noch schaffte, außerhalb ihres Einflussbereiches zu gelangen. Der Hengst wieherte laut und bäumte sich auf. Der Igor krallte sich in die Mähne des Pferdes, doch im selben Moment zog etwas an seinen Haaren und riss ihn vom Pferd. Der weiche Waldboden dämpfte seinen Aufprall. Der Schimmel tippelte aufgeregt neben ihm. „Ganz ruhig! Braver Junge!“ Er drehte sich um und beobachtete dabei, wie Ayami dem Hengst behutsam über den Hals strich. Er zog die Brauen hoch, als er bemerkte, dass sie Reiterhosen trug. Eine einfache Bluse und darüber ein Jackett. Die traditionelle Tracht bei einer Hetzjagd – bis auf die Farben zumindest. Sie trug alles in schwarz. Der Hengst suchte nach etwas Essbarem, als die Vampirin sich dem Igor zuwandte. Sie reichte ihm die Hand und er griff danach, ohne genau sagen zu können, ob es seine eigene Entscheidung war. Wieder auf den Beinen klopfte er seine Kleidung ab. Staub wirbelte auf. „Waf wünft Ihr von mir, Hoheit?“, fragte er ruhig und strich sich das Haar zurück. Er versuchte keine Angst zu zeigen und erinnerte sich an die Knolle Knoblauch, die er verschlungen hatte, kurz bevor er auf das Pferd gestiegen war. Sie war einfach neugierig. Er musste sich nur dumm stellen, dass konnte er gut. „Warum entwendest du eines meiner besten Pferde, Igor?“ Er biss sich auf die Zunge. Das war Auslegungssache, doch in diesem Fall wäre sie im Recht. Der Igor trat instinktiv einen Schritt zurück. Zugegeben das machte ihn doch etwas nervös. Das und die entblößten Eckzähne der Vampirin, als diese ihm zulächelte. Hier draußen war er auf sich allein gestellt. Aber auf sie traf dies genauso zu. „Ich kann daf erklären, Hoheit. Ich befuchte Igorina und fie...“ „Also war es ihre Idee?“ Sie hob eine Braue. „Nein“, sagte er schnell und klopfte sich gegen die Brust, als er sich verschluckte. „Daf Pferd hätte ich Euch von Kromerftadt auf mit dem nächften Händler furückgeschickt.“ „Verstehe“, sagte sie und sah zum Himmel. Er folgte ihrem Blick und eine Wolke schob sich vor den Mond. Oh, dieses Biest! Er konnte vielleicht nicht so gut im Dunkeln sehen wie sie, doch auf die eine oder andere Überraschung durfte sie sich gefasst machen. Der Igor war nicht unvorbereitet verreist und strich über seine Jacke, um sich des Pflockes auf der Innenseite zu vergewissern. Er schaute wieder zu ihr hin. Oder zumindest zu der Stelle, an der sie bis eben noch gestanden hatte. Er fluchte leise und wirbelte um die eigene Achse, als er hinter sich ihre Stimme hörte. „Deine Nichte leistet wirklich gute Arbeit, Igor. Ebenso wie deine Schwester es damals tat.“ Er sog die Luft zischend ein. Sie wusste also wer er war und trotzdem spielte sie mit ihm. Nun gut wenn sie schon an diesen Punkt angelangt waren, konnte er ebenso gut verhandeln. „Ich wäre euch verbunden, wenn ihr meine Nichte gehen laffen würdet.“ „Sei nicht dumm, Igor. Man bekommt nur einmal im Leben eine solche Gelegenheit.“ Er schnaubte abfällig. Für sie war es tatsächlich ein Spiel. Sie konnte mit seiner Nichte machen, was sie wollte und würde ungeschoren davonkommen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Die Wolke war am Mond vorüber gezogen und sie stand direkt vor ihm. „Aber lass mich dir eine Frage stellen, die eventuell meine Meinung ändert.“ Er blinzelte. „Was weißt du über Kräuterblut?“
Die Igorina stand auf einem der mit Zinnen besetzten Türme und schaute in die Ferne, in der Hoffnung, etwas zu sehen. Aber das Licht des Mondes reichte nicht aus, um etwas zu erkennen. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Onkel in Sicherheit war. Seit Ayamis Aufbruch zur Abenddämmerung hatte sie ein flaues Gefühl im Magen und das war nie ein gutes Zeichen. Meistens war solch ein Gefühl Grund genug, die Reisetasche zu packen und so schnell es ging zu verschwinden. Aber nicht in diesem Fall. Die Igorina umschlang sich und rieb ihre Arme um sich aufzuwärmen. Der Himmel verdunkelte sich, als ein Schwarm Fledermäuse den Lichtkegel des Mondes streifte. Ihre Majestät kam zurück. Der Schwarm zog einer Wolke gleich über den Himmel und steuerte auf das Schloss zu. Die Igorina duckte sich, als die Fledermäuse über sie hinweg flogen und hinter ihr den Turm hinab stürzten. Sie schaute noch einmal zum Waldrand und versuchte, zwischen die Baumkronen hindurch zu sehen aber von ihrem Onkel keine Spur. War er der Vetinari tatsächlich entkommen? Sie konnte es nur hoffen. Warum nur hatte Marridad sie erst so spät informiert? Wusste er vielleicht auch nicht früher Bescheid? Aber selbst wenn sie es gewusst hätte, ihr Onkel war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sie hob die Brauen als sie gerufen wurde. Die Igorina erschien hinter ihrer Herrin, die aus dem Fenster sah. Ayami Vetinari drehte sich zu ihr um. Die Königin trug ein schlichtes schwarzes Kleid aus Baumwolle. Die Igorina runzelte die Stirn über das Erscheinungsbild der Herrscherin, ließ es jedoch unkommentiert. „Waf wünft Ihr, Hoheit?“ „Setz dich, Igorina“, sagte Ayami und deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Sie gehorchte und das Unbehagen wuchs. Die Igorina senkte den Blick zu Boden, als die Herrscherin ihr gegenüber Platz nahm. „Dein Onkel steht dir sehr nahe, nicht wahr? Zumindest vermittelte er diesen Eindruck.“ Sie sah ängstlich auf und die Königin lächelte ihr zu, doch als freundlich konnte man dies nicht bezeichnen. Ayami amüsierte sich über etwas, das allein ihr bekannt war. Der Herzschlag der Igorina beschleunigte sich und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Die Vampirin war immer respektvoll gewesen, doch als Igor hatte man durchaus ein Gespür für seinen Meister und Ayami hatte eindeutig eine grausame Ader. Sie kam nicht oft zum Vorschein und die Igorina behandelte dies natürlich diskret, doch jetzt hatte sie Angst, dass ihr Onkel der Vampirin zum Opfer gefallen war. Als sie und ihr Onkel bemerkten, dass Ayami nicht auf dem Weg sondern schon längst angekommen war, konnte sie ihren Onkel kaum noch aufhalten. „Kleine Familien haben auch etwas für sich, findest du nicht?“ Ayamis Ellenbögen ruhten auf der Schreibtischplatte und mit ihren Fingerspitzen formte sie ein Dach. Die Igorina schloss die Augen. Das durfte nicht wahr sein! Lebensschuld hin oder her, wenn ihrem Onkel etwas passiert war... Sie konnte diesen Gedanken nicht zu Ende bringen. Allein die Vorstellung, ihn zu verlieren, war grauenhaft. „Ihr habt doch nicht...?“ „Ihn töten? Denkst du das wirklich von mir?“ Sie hielt die Luft an und wagte es weder zu antworten, noch sich zu bewegen. Ayami las sie wie ein offenes Buch. „Keine Sorge, er ist wohlauf. Zumindest sollte ein gebrochener Arm kein Hindernis für ihn sein.“ Sie stand ruckartig auf und stütze sich auf der Schreibtischkante ab. „Ich muff gehen“, brachte sie gepresst hervor. Sie musste sich selbst davon überzeugen, dass er noch lebte. „Du gehst wenn ich es sage! Und gehen wirst du“, sagte die Königin der Nacht ruhig und richtete den Blick auf die Hände der Igorina. „Jetzt aber hörst du mir zu.“ Sie setzte sich, als wenn sie jemand an den Schultern herab drückte. Ihre Finger krallten sich in den Stoff ihrer Kleidung. „Sieh mich nicht so an! Dein Onkel hat angefangen.“ Sie riss die Augen auf. „Er hat Euch den Arm gebrochen?“ Die Worte verließen ihren Mund und ihr Gehirn kam zu spät, um sie aufzuhalten. Ayami lachte auf. „Nein, Igorina. Er wollte mich töten.“ Die Dienerin schwieg und sah wieder zu Boden. „Gut, wir verstehen uns also.“ Eine Schublade wurde geöffnet und etwas schabte über die Tischplatte. „Ich habe mich entschlossen, Dich nach Ankh-Morpork zu schicken.“ Die Igorina sah auf und betrachtete die vor ihr stehende Schatulle. Das rötlich-braune Holz deutete auf Mahagoni hin. Die Ecken waren mit Messing beschlagen worden. „Ihr entlafft mich, Hoheit?“ „Nein, Igorina. Du bekommst eine neue Aufgabe.“ Die Königin der Nacht deutete auf die Holzbox. „Öffne sie!“ Die Dienerin griff vorsichtig danach und hob den Deckel an. Was war das? Eine Brosche? Und was hatte das zu bedeuten? „Dies ist eine Dienstmarke der Stadtwache von Ankh-Morpork, Igorina. Um genau zu sein ist es meine und...“ Die Igorina öffnete den Mund. “Lass mich ausreden. Nach allem, was ich gehört habe, werden deine Fähigkeiten dort von Nutzen sein.“ Sie erwiderte nichts. Ihr Onkel hatte sich heimlich Zugang zum Schloss verschafft und sie wurde dafür bestraft. Die Igorina konnte sich nur fügen, wenn sie es nicht noch schlimmer machen wollte. „Für wie lange, Hoheit?“ „Das, Igorina, hängt von mehreren Faktoren ab.“
Die Igorina trocknete das Geschirr und sah dabei aus dem Fenster. Beiläufig beobachtete sie, wie ein Karren die Einfahrt zur Geschäftsstelle hinauf rollte. Sie runzelte die Stirn. Neben dem Fahrer saß jemand, der ihr vage vertraut vorkam, doch erst als er vom Karren sprang und auf das Haus zusteuerte, erkannte sie ihn. All die Jahre hatten sie sich geschrieben, doch das letzte Mal gesehen hatte sie ihn, als er die junge Igorinawaise bei ihr abholte. Als sie die vielen kleinen Anzeichen bemerkte, die auf einen Kampf hindeuteten, krampfte sich ihr Magen zusammen. Sein Frack hatte einen Riss und sein Gesicht zeigte mehrere frische Kratzer. Ihr rutschte die Tasse aus der Hand und zerschellte am Boden. Sein rechter Arm hing merkwürdig verdreht an seiner Seite. Sie stieß die Tür nach draußen auf und rief im selben Moment ihren Neffen. Die Tür schwang wieder zurück und sie hörte einen dumpfen Aufprall hinter sich. „Au...Tante?“ Sie ging geradewegs auf ihren Cousin zu und achtete nicht auf ihren Neffen. Wenn er ihr nicht gleich folgen würde, bekam er dafür später was hinter die Ohren. „Was ist passiert?“, fragte sie aufgeregt und schaute kurz dem Karrenlenker hinterher, der seine Reise allein fortsetzte. „Oh, Igorina, bitte verfeih mir“, sagte der Igor und sah dabei zu Boden. „Ich habe verfagt.“ Ihr Neffe kam mittlerweile neben ihr zum Stehen und hielt sich die Nase. „Wafn lof?“ „Ich fürchte, ich habe allef nur noch flimmer gemacht.“, sagte ihr Cousin und sah sie besorgt an. Sie runzelte die Stirn und dachte an ihren letzten Kontakt mit ihm. Er wollte zur gemeinsamen Nichte und wie es aussah war er dort gewesen. Anders ließ sich sein Verhalten und vor allem Erscheinen nicht erklären. „Die Vetinari ist wieder zurück?“ Er nickte ihr zu und sie biss die Zähne zusammen. „Komm erft mal rein und wärm dich auf. Wir kümmern unf um dich.“ Sie legte einen Arm um ihn und führte ihn in das Haus. Er setzte sich auf einen Hocker und ihr Neffe betastete den Arm des alten Igors. „Igor?“, fragte sie und wartete, bis sie seine Aufmerksamkeit hatte. „Wie geht ef Igorina?“ „Ihr geht ef gut. Beffer alf erwartet aber fie ift immer noch fo naiv.“ „Worum geht es eigentlich?“ Der Igor seufzte. „Um Kräuterblut. Die ganfe Feit fon ging ef nur darum.“ „Daf ift allef?“, fragte ihr Neffe leicht verwundert und hörte mit der Behandlung des gebrochenen Armes auf. „Ha! Wenn du wüffteft“, schnaubte der ältere Igor. Kräuterblut war jedem Igor ein Begriff. Aber nicht alle kannten sein Geheimnis. Die meisten Igors kannten die Herstellung und den Gebrauch von Kräuterblut nur um Vampiren über den schlimmsten Durst zu helfen, denn sonst setzte man sich als Igor einer Gefahr aus, der man oft anders gar nicht mehr Herr werden konnte. Aber es konnte noch mehr. Der junge Igor schaute sie fragend an, doch sie würde ihm sicher nicht das Geheimnis verraten. Dabei war es nur eine weitere Zutat die man benötigte und das Wissen wie man bei der Herstellung verfahren musste. Ein Tropfen Blut und die Kräuteressenz änderte ihre Eigenschaften. Dieses Wissen war nur für erfahrene Ohren bestimmt. Sie packte ihren Neffen an der Schulter und deutete mit einem Daumen der freien Hand hinter sich. „Geh und kümmere dich um deine Aufgaben!“ „Aber...“, setzte ihr Neffe an und schaute dabei auf den gebrochenen Arm des Älteren. „Geh verdammt! Du haft fon genug gehört. Daf geht nur Igor und mich etwaf an.“ Der junge Igor verließ nur widerwillig den Raum und erst als sie sich sicher war, dass er außer Hörweite war, setzte sie sich zu ihrem Cousin. „Du hast doch nicht unfere Nichte eingeweiht, oder?“ „Um Himmelf Willen, Nein!“ „Deine Schwester?“ „Feint fo“, sagte er nur und sah zu Boden. Die Igorina rieb sich mit der rechten Hand die Schläfe. Sie mussten etwas unternehmen. Sie berührte ihren Cousin sanft an der Schulter und er sah sie traurig an. „Wir müssen sie lofwerden. Endgültig.“ Er schüttelte jedoch den Kopf. „Ich bin mit der Vetinari einen Handel eingegangen.“ „Noch ein Grund mehr“, sagte sie entschlossen. In der Nähe des Türrahmens klapperte etwas und die Igorina stand schnell auf. Sie lief zum Durchgang und sah gerade noch wie ihr Neffe den Besen aufhob. Er klammerte sich an den Besenstiel und sah sie schuldbewusst an. Dieser kleine Gauner hatte gelauscht und durch ihren Blick wurde seine bucklige Gestalt noch kleiner. „Tutmirleid.“ „Du hast dich soeben freiwillig gemeldet.“
Der Igor neben ihm wurde langsam nervös. Das war nicht gut aber nun war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Er überprüfte noch mal seine Ausrüstung am Gürtel. Pflock und Hammer waren griffbereit, ebenso wie das Weihwasser. Er umschloss den Schildkrötenanhänger an seiner Halskette und atmete tief ein. Der Knoblauchgeruch, der an seiner Kleidung und Haut haftete, stieg ihm in die Nase. „Igor, bist du soweit?“. „Ja, Herr“, antwortete der Diener und wog den Vorschlaghammer in seinen Händen. Der Vampirjäger öffnete leise die Tür und betrat den Raum dahinter. Schwere Samtvorhänge verdunkelten den Raum und er verharrte einen Moment, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Mit einem Mal verfluchte er, dass er den Auftrag angenommen hatte. In einer Gruft, Krypta oder in einem einfachen Keller war ein Vampir leichter auszumachen. Er war in einem Sarg. Hier hingegen erwartete ihn ein großes Himmelbett und wenn er Pech hatte, war die Vampirin sich seiner Anwesenheit schon bewusst. Er schüttelte den Gedanken wieder ab. Im Schlafgemach war es dunkel, doch nur ein Zug an den Vorhängen und die Vampirin im Bett wäre dem Sonnenlicht ausgeliefert. Er gab dem Igor einen Wink näher zu kommen und deutete auf die Fensterfront. Der junge Diener bewegte sich erstaunlich leise mit seinem humpelnden Gang – vielleicht sollte er in Erwägung ziehen, einen Igor für zukünftige Aufträge anzustellen? Er zog Pflock und Hammer aus der Halterung und folgte dem Igor. Er blieb am Fußende stehen. Vorsichtig zog er an der Decke, um den Körper freizulegen. Er hielt den Atem an, doch sie rührte sich nicht. Er ließ die Bettdecke zu Boden gleiten und ging weiter zur Seite. Er schaute kurz zum Igor, der ein Ende des Vorhangs in der Hand hielt. Er nickte ihm zu. Angespannt suchte er nach der richtigen Stelle und setze den Pflock an. Als er den Hammer hob und am höchsten Punkt war, riss der Igor den Samtvorhang runter. Er ließ den Hammer niederfallen aber im selben Moment umklammerte eine eisige Hand seine Faust, die sich um den Pflock schloss. Der Hammer traf aber der Pflock schwebte immer noch unverrückbar über dem Brustkorb der Vampirin. Die Stange samt Vorhang fiel klappernd zu Boden und das einfallende Licht wurde nur noch durch die Bleifenster aufgehalten. Sie öffnete die Augen und die an Dunkelheit gewöhnten Pupillen verengten sich zu kleinen Punkten. „Igor, schnell!“, rief er, doch seine Worte gingen in dem krachenden Klirren unter. Der Diener hatte schnell reagiert und mit dem Vorschlaghammer ein Fenster eingeschlagen. Sie stieg ungerührt aus dem Bett und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Einen kurzen Augenblick sahen sie sich in die Augen, dann bog sie sein Handgelenk nach hinten und zwang ihn in die Knie. Man hatte ihn vor Ayami Vetinari gewarnt. Aber dass sie der Sonne so ohne Weiteres standhielt, hatte er nicht erwartet. Der Vampirjäger ließ den Hammer fallen und griff nach dem Weihwasser. Er traf sie und das Wasser durchtränkte augenblicklich ihr seidenes Nachthemd, doch sie packte ihn an der Gurgel. „Igor, Plan B“, schrie er, ohne zu wissen was Plan B war. Einen Plan B hatte er bisher nie gebraucht. Plötzlich flog der Kopf der Vetinari zur Seite und ihr Griff lockerte sich. Er befreite sich und richtete sich schnell auf. Ayami fasste sich mit der Hand an die Schläfe und begutachtete das Blut auf ihren Fingerspitzen. Er wich zurück und trat näher an die Fensterfront. Sie leckte das Blut von ihren Fingern und ihre Kopfverletzung begann sich wieder zu schließen. Gut, das kostete sie Kraft, ob sie wollte oder nicht. Er schaute kurz zum Igor, der ein weiteres Mal mit dem schweren Hammer ausholte. Sein Schlag wurde mit Leichtigkeit von ihr mit nur einer Hand abgefangen und mit einer weiteren Handbewegung war der Vorschlaghammer in ihrem Besitz. Sie holte aus und er konnte nur noch sehen, wie der Igor gegen den Bettpfosten geschleudert wurde. Sie senkte den Hammerkopf auf den Boden und ließ den Griff los. Der dumpfe Aufprall auf den Teppich ließ ihn zusammenzucken, als sich ihr Blick auf ihn richtete. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er konzentrierte sich und bemühte sich, ihr nicht in die Augen zu sehen. Von mir bekommst du keine Informationen. Die Vampirin verzog das Gesicht und einen Augenblick später war sie bei ihm. Als sie direkt in das Sonnenlicht trat, in dem er Schutz gesucht hatte, riss er den Anhänger von seinem Hals. Das durfte nicht sein. Sie konnte doch nicht so einfach die Naturgesetzte umgehen! Er schaute kurz zum Igor, der leblos am Boden lag. Sie packte mit beiden Händen seinen Kopf und er erkannte endlich Anzeichen der Schwäche. Ihre Haare waren an den Schläfen ergraut und der Prozess setzte sich langsam fort. Schnell klammerte er sich an den Fensterrahmen und verletzte sich dabei an den Scherben. Ayami fauchte ihn regelrecht an, als sie merkte, dass er sich nicht so ohne Weiteres aus der Sonne zerren ließ. Der Griff um seinen Kopf wurde stärker und ein Wort brannte sich in seinen Sinn: „Wer?“ Na, von ihm würde sie es nicht erfahren. Als Vampirjäger hatte er eines gelernt: Um einem Geschöpf wie Ayami etwas zu verheimlichen, musste man so viel Denken wie möglich; und die zahlreichen erfolgreichen Pfählungen halfen dabei. Er tischte Ayami eine Erinnerung nach der anderen auf, nur nicht die, die sie wollte. Die Kräfte der Vampirin wurden zusehends schwächer. Ihre Haut wurde grau und rissig und ein Teil ihrer linken Wange wurde wie Staub vom Wind fort getragen. Der schraubstockartige Griff ihrer Hände lockerte sich merklich, doch nun visierte sie seinen Hals an. Sie kam ihm gefährlich nahe aber ihrem angewiderten Schnauben nach zu urteilen, wirkte der Knoblauch. Mit einem schnellen Handkantenschlag schlug er nach Ayami und presste ihr das heilige Sympol auf die Brust. Sie schrie auf und wich zurück. Sie konnte kaum noch aufrecht stehen und stützte sich am Bettpfosten ab. Nun erkannte er das ganze Ausmaß ihrer geschundenen Erscheinung. Ihr Haar war inzwischen weiß und von ihren makellosen Gesichtszügen war nichts mehr zu erkennen. Sie schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Ihre Zähne und Fingernägel waren deutlich länger geworden, doch ihre Augen strahlten weiterhin eine Gelassenheit aus, die ihn beunruhigte. Sie richtete sich stolz auf und ein Träger des Nachthemds rutschte ihr von der Schulter. Sie schaute zu dem Igor neben ihr, der sich tatsächlich rührte. Der Diener war sogar überraschend schnell wieder auf den Beinen. doch die Vetinari nutze seine Benommenheit und stürzte sich auf ihn. Aber für einen Igor war sie schon zu schwach. Der Diener schubste sie einfach von sich und sie landete auf dem Boden. Er musste lächeln. Jetzt hab ich dich. Die Vampirin öffnete den Mund und er hörte kaum was sie sagte aber kurz darauf erschien eine Igorina hinter ihr und sah entsetzt auf die Herrin zu ihren Füßen. Der junge Igor ließ sich davon nicht beirren. Er hatte sich wieder mit dem Hammer bewaffnet und stürmte auf die Vetinari zu. Sein Schlag jedoch wurde von der Igorina abgefangen, die erst jetzt die Anwesenheit der beiden Männer wahrnahm. Der Diener war verunsichert durch die Verwandte die ihn verwundert ansah und trat einen Schritt zurück. Der Vampirjäger fluchte leise und stürmte auf Hammer und Pflock zu, die jener auf dem Boden zurück gelassen hatte. Er musste jetzt handeln bevor es zu spät war. Ayami war schneller. Er hatte noch nicht mal sein Werkzeug in der Hand, da bohrten sich die Zähne der Vetinari in den Hals der Igorina. „Daf darft du nicht“, schrie der Igor und holte aus, doch die Vetinari bekam mit jedem weiteren Schluck ihre Kraft wieder und der Igor blieb wie eine Statue stehen. Der Vampirjäger konnte sich ebenfalls nicht mehr rühren und musste mit ansehen, wie Ayami Vetinari zu ihrem jugendlichen Äußeren zurück fand. Das durfte sie wirklich nicht. Sie bediente sich großzügig an der Igorina und es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass dem eigenen Diener nur das abverlangt wurde, was dieser selbst zu leisten bereit war. Niemals durfte ein Vampir diese Grenze überschreiten. Die Igorina jedoch machte keine Anstalten sich zu wehren, wenn sie nicht ebenso gefangen war wie er und Igor. Er versuchte sich zu konzentrieren um der Gedankenkontrolle zu entgehen, doch das leise Wimmern der Igorina lenkte ihn ab und er bemerkte ihre Tränen. Ihr Körper erschlaffte, doch Ayami hatte noch immer nicht genug. „Aufhören!“, schrie der junge Diener und die Vampirin ließ sofort von der Igorina ab. Donner grollte. Es schauderte ihn als sich der Himmel verdunkelte. Ayami Vetinari drehte sich zu dem Igor um und schüttelte bedauernd den Kopf. Sie hielt die Igorina mit nur einem Arm umklammert und legte den Finger ihrer freien Hand an die Lippen. Die Königin wollte ihr Mahl ungestört fortsetzten. Der Igor dachte nicht daran ihr diesen Gefallen zu tun. „Du bringft fie um.“ Sie lächelte. „Was willst du dagegen unternehmen, Igor?“ Die Kälte ihrer Stimme fröstelte ihn und die Verzweiflung stand dem Diener ins Gesicht geschrieben. Oh nein! Fall nicht darauf rein! Seine Gedanken rasten, doch er war weiterhin gezwungen, alles stumm mit anzusehen. „Ich gebe dir, wonach du verlangft.“ Der Jäger seufzte innerlich. Nun war es zu spät. Ayami ließ die Igorina los, die sich auf den Knien abfing, und entließ den Igor aus seiner Starre. Den Hammer ließ der junge Mann sinken, als er auf die Vampirin zu trat. Er neigte vor ihr den Kopf zu Seite. Sie berührte kurz seine Schläfe und strich mit den Fingern weiter seinen Hals hinab, bevor sie ihn mit dem Mund fast zärtlich berührte. Der Igor schloss nur die Augen, als sie zubiss. Er wollte aufschreien und er konnte in Gedanken förmlich hören, wie die Vetinari ihn verhöhnte. Er hoffte der Igor würde sich rechtzeitig wehren und Ayami überrumpeln aber es war hoffnungslos. Dafür rührte sich die Igorina, von der er glaubte, sie könne jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Mit zittrigen Knien richtete sie sich auf und berührte die nackte Schulter ihrer Herrin. Sie wurde ignoriert. Die Dienerin zog unter sichtlicher Anstrengung an Ayami und wisperte kaum hörbar: „Hoheit, ef reicht! Ihr habt genug.“ Die Vetinari schien jedoch nicht gewillt, ihren Blutrausch zu beenden. Die Igorina drängte sich zwischen sie und den Igor aber Ayami gab nicht nach. „Hoheit, Bitte“, flehte sie und die Vampirin warf den Kopf in den Nacken. Der junge Diener fasste sich an den Hals und wich ein paar Schritte zurück. Er war deutlich angeschlagen und lehnte sich an die Wand. Die Igorina wich ebenso zurück, doch zu spät. Die Hand der Vampirin fuhr ihr über das Gesicht. Die Igorina ging zu Boden und er sah nur noch, wie das Blut aus den Wunden drang. „Kümmere dich um sie“, sagte Ayami zu dem Igor, der sich mit Mühe zu seiner Verwandten bewegte. Der Vampirjäger schluckte, als sich Ayami Vetinari mit blutunterlaufenen Augen zu ihm umdrehte. „Und nun zu dir, Fedder van Hälschen.“ Sie hatte also in Igors Gedanken die gewünschten Informationen gefunden. Er korrigierte sich: Der Igor hatte ihr die Informationen überlassen. Die Vetinari war nur noch einen Meter von ihm entfernt, als er sich wieder bewegen konnte. Angespannt starrte er auf den Pflock in seiner Hand, doch sie wartete nur darauf, dass er einen Fehler machte. Er versuchte sich zu beruhigen und befestigte sein Werkzeug wieder am Gürtel. Sie lächelte. Das Blut bedeckte noch ihre Zähne, doch ihre Augen gewannen wieder an Normalität. „Ihr habt gewonnen“, sagte er und deutete eine Verbeugung an. „Zugegeben, euer geschickter Einsatz der Igorina hat mich überrascht.“ Ihr Lächeln erstarb und er erkannte, dass die Vetinari sich durchaus bewusst war, dass sie zu weit gegangen war. Sie kam näher und packte ihn am Kragen. Seine Füße baumelten über dem Boden und er konzentrierte sich darauf, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu behalten. Gleich würde es vorbei sein, dessen war er sich sicher. Aber er hatte nicht vor, sich deswegen aus der Fassung bringen zu lassen. Er wollte mit Würde abtreten. Sie ging mit ihm näher auf das zerstörte Fenster zu und warf ihn hinaus. Sein Mantel flatterte im freien Fall und er schloss die Augen. Fedder spürte einen leichte Berührung auf seiner Brust und sein Fall stoppte. Verwundert öffnete er die Lider und blickte Ayami in die Augen. Ihre Hand lag direkt über seinem Herzen. „Du bist ein guter Verlierer“, sagte sie trocken und entfernte sich. Er fiel, doch nicht mehr weit. Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen und ihm wurde schwarz vor Augen. Seine Hände griffen in Gras, als er versuchte, sich aufzurichten. Er hörte es rascheln, als sich Schritte näherten. „Darf ich behilflich sein, Herr?“ Sein Unterarm wurde gepackt und der Fremde half ihm auf die Beine. „Mein Name ist Marridad und ihre Hoheit bittet dich, ihr Gast zu sein.“ Er wäre lieber gestorben.
Ayami saß in einem Sessel im Kaminzimmer und lauschte dem Prasseln des Feuers. Verzückt hielt sie sich ihre Hand dicht vor das Gesicht und roch an dem Blut, das daran klebte. Sie rieb leicht ihren Daumen an den Fingerspitzen um den Geruch zu verstärken. Das Blut der Igorina war köstlich gewesen. Aber sie hatte einen hohen Preis dafür bezahlt. Die Igorina würde ihr nicht mehr trauen. Doch der Vampirjäger hatte ihr keine Wahl gelassen. Van Hälschen war nahe daran gewesen, ihre Existenz vorzeitig zu beenden. Zumindest wusste sie nun, wo ihre Grenzen lagen. Dank des Kräuterblutes waren diese zwar erheblich dehnbarer, als im Vergleich zu den Möglichkeiten anderer Vampire, eben dies hatte den Igor-Clan jedoch dazu veranlasst, sie ins Visier zu nehmen. Sie ballte die Fäuste, als die Wut wieder aufflammte. Sie bereute, dass ihr Zorn die Igorina getroffen hatte. Aber diese hatte nicht das Recht gehabt, ihr zu widersprechen. Sie schloss die Augen, als sie die Anwesenheit ihres Kammerdieners vor der Tür bemerkte. Sie bat ihn herein, ohne ihre Stimme zu erheben. Marridad betrat zögerlich den Raum und sie konnte es ihm nicht verdenken. Er brachte ihr das gewünschte Kräuterblut und stellte den Becher auf dem Beistelltisch neben ihr ab. Der Kammerdiener räusperte sich leise und Ayami öffnete die Augen. Er kam ohne Silbertablett, wie sonst üblich. Ein Zeichen dafür, dass er sich beeilt hatte oder abgelenkt gewesen war. „Die Igorina wird uns verlassen, Majestät?“, fragte er unsicher. Sie neigte den Kopf zu Seite und deutete ein Nicken an. Diese Entscheidung stand nun schon seit Wochen fest und sie hatte die Dienerin so gut wie möglich auf die Stadt vorbereitet. „Wie geht es ihr?“ Marridad zögerte einen kurzen Moment. „Der Igor meint, sie wird ein Auge verlieren.“ „Er kann sich an Van Hälschen bedienen.“ Der Kammerdiener schluckte. „Wie Ihr wünscht, Hoheit.“ Er neigte den Kopf und wandte sich zum Gehen. „Marridad, glaubst du ich mache einen Fehler, wenn ich sie gehen lasse?“, fragte sie, ehe er die Tür erreichte. Er drehte sich wieder zu ihr um und sein Blick streifte kurz ihre blutverschmierte Hand. „Sie ist eine große Hilfe und Ihr schätzt ihre Dienste, Hoheit.“ Dabei richtete sich sein Blick auf das Kräuterblut. „Das beantwortet nicht meine Frage.“ „Vergebt mir, Majestät. Ich würde mir nie anmaßen eure Entscheidung in Zweifel zu ziehen.“ Ayami lächelte. Die Loyalität des Kammerdieners war geradezu beruhigend, nachdem ihr Schlaf so vehement gestört worden war. „Verzeih, dass du es so erfahren musstest aber mein Entschluss steht nicht erst seit heute fest.“ „Was immer auch passiert sein mag, Hoheit, bitte habt Nachsicht mit der Igorina.“ „Keine Sorge, wir hatten nur einen kleinen Disput.“, sagte sie und sog ein weiteres Mal den Geruch des Blutes ein.
***
Der Igor verpackte ein Organ nach dem anderen in separate Beutel, nicht ohne jedes vorher kritisch zu prüfen. Die Milz schien glücklicherweise noch gut in Schuss zu sein aber theoretisch war dies eines der Organe, auf die er im Notfall auch hätte verzichten können, ebenso wie die Gallenblase. Gerade die lebensnotwendigen Organe waren unnütz geworden, durch Rogis fahrlässiges Handeln. Er schnaubte, als er an die vielen Jahre dachte, die sie den systematischen Zerfall ihres Körpers schon vorangetrieben hatte. Er hätte sie aufhalten müssen. Aber sie hatte deswegen schon ein Herz verloren und aus Angst sie zu verlieren, hatte er nachgegeben. Täglich hatte er ihr eine Dosis vorbereitet und für sie bereitgelegt aber er war nie so lange geblieben, um ihr bei dieser abscheulichen Tat zuzusehen. Ihm wurde bewusst, dass er den Abstand zu ihr von sich aus gesucht hatte.
Jahr der unaufmerksamen Wachtel
Der Eselskarren schaukelte gemütlich hin und her. Der Fahrer hatte keine Komplikationen auf seiner langen Reise bis hierher gehabt und das konnte gut an seinem Fahrgast liegen. Hubert nahm normalerweise keine Begleitung mit. Er und sein Zugtier waren sich Begleitung genug. Vor allem mied er Zwerge, die Post aus allen Dörfern der Region einsammelten. Den kleinen Mistkerlen war nicht zu trauen. Bei einer Igorina jedoch konnte man durchaus eine Ausnahme machen. Er schob den Strohhalm in seinem Mund von links nach rechts und drehte sich zu der Igorina um. Ein Seufzen entrang sich seiner Kehle bei ihrem Anblick im Heu. Er wusste, Igors waren sehr beliebt bei Frauen und er konnte sich auch durchaus vorstellen wie eine Igorina ihn... „Ift allef in Ordnung, Herr Hagner?“, unterbrach die Igorina seine Gedanken. „Oh, ähm, ja, natürlich. Wir erreichen bald die Sto-Ebene, dann ist es nicht mehr weit bis nach Ankh-Morpork“, entgegnete Hubert schnell und wandte sich wieder der Straße zu.
Alle Wege führen von Ankh-Morpork weg, hatte die Igorina schon in Überwald gehört und sie fragte sich wirklich, was sie in dieser Stadt erwartete. Sie hätte natürlich auch per Post reisen können, doch sie wollte von Anfang an sehen, was auf sie zukam. Wahrscheinlich hätte ein Paket mit ihr als Inhalt bei der Wache nur Verwirrung gestiftet und eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die sie hätte beantworten müssen. So kam ihr Herr Hagner und sein Heutransport sehr gelegen. Eigentlich war auf dem Karren hauptsächlich Silber aus Überwald, welches der Karrenlenker in Ankh-Morpork verkaufen wollte, doch mit einer Heufracht kam man wesentlich billiger durch den Zoll, hatte er ihr unverblümt erklärt. Langsam zogen sie an den Kohlfeldern vorbei, als der Igorina ein widerlicher Geruch in die Nase stieg. Irritiert sah sie sich um, doch sie konnte seine Quelle nicht ausmachen. Die Augen tränten bis sie durch den Mund atmete. Es roch stark nach… ja, wonach eigentlich? Sie rümpfte die Nase. Verwesung kam dem Geruch wohl noch am nächsten. „Ha, Ankh-Morpork ist nicht mehr weit, man riecht es schon!“, grinste Hubert und trieb den Esel weiter an. „Daf kommt von Ankh-Morpork?“, fragte sie erstaunt und bekam ein Nicken als Antwort. Sie überlegte schnell und durchwühlte ihre Reisetasche. Kurze Zeit später holte sie einen Spiegel hervor und kramte anschließend nach ihren Operationsinstrumenten. Sie musste etwas unternehmen. Die empfindliche Nase, die sie von ihrer Tante bekommen hatte, musste angepasst werden. „Herr Hagner, kannft du für ein paar Minuten anhalten?“ Hubert drehte sich um und sah ein merkwürdiges Gerät in der Hand der Igorina. Er hielt den Karren am Straßenrand an und die Operation begann. Es dauerte keine zehn Minuten, bis die Igorina tief einatmete: „Fon viel beffer! Wir können weiter, Herr Hagner.“ Hubert peitsche mit den Zügeln und der Esel trabte los. Er drehte sich nicht mehr zu der Igorina um. Irgendwie war ihm der "Appetit" vergangen. Kurz vor dem Stadttor hielt der Wagen ein weiteres Mal. „Nun, ich denke, hier trennen sich unsere Wege.“ „Vielen Dank, Herr Hagner!“, verabschiedete sich die Igorina und sprang mit ihrem Gepäck vom Wagen. Nun war es soweit. Nun musste sie die Kröselstraße finden und sich als Wächterin bewerben. Entschlossen trat sie durch das mittwärtige Tor und betrachtete die breite Straße vor sich. Die Menschenmengen hatte sie allerdings nicht erwartet. Alles war voll mit Karren und Personen aus aller Herren Länder. Sie wich einigen Passanten aus, um nicht angerempelt zu werden und bahnte sich ihren Weg durch die Straße. Die größte Stadt, die sie bis jetzt gesehen hatte, war Bums gewesen. Die Hauptstadt von Überwald wirkte im Vergleich zu Ankh-Morpork wie ein bedeutungsloses Dorf. Ein Straßenschild war an einer Hauswand befestigt. Oberer Breiter Weg las sie und kramte in ihrer Hosentasche nach einem Zettel. Laut ihrer Wegbeschreibung sollte es nicht allzu schwer sein, zur Kröselstraße zu kommen. Fasziniert nahm sie die Eindrücke in sich auf und ging zielstrebig die Straße entlang. Der Auftrag ihrer Herrin war klar: Sie sollte der Stadtwache beitreten. Und die Igorina war zuversichtlich, schließlich hatte dies so gar nichts mit den Arbeiten zu tun, die sie bisher verrichtet hatte. Eine willkommene Abwechslung, nach Allem, was passiert war.
Als sie den berüchtigtsten Teil der Stadt betrat, ging sie es etwas langsamer an. Sie wurde davor gewarnt, in den Schatten unvorsichtig zu sein. Ein kurzes Stöhnen ließ sie aufhorchen und sie blieb stehen. „Ift da wer?“, frage sie und bereute diese Worte zugleich. Genauso gut hätte sie sich ein Schild umhängen können mit der Aufschrift: „Leichte Beute“. Ein weiterer Laut drang aus einer Seitengasse und sie biss sich auf die Zunge, als sie den Jungen sah. Die Blutlache bei ihm, ließ Böses erahnen. Sie sah sich um, ob noch jemand zu sehen war, doch hier waren die Straßen, im Gegensatz zum Rest der Stadt, leer. Schnell näherte sie sich dem Verletzten und stellte ihre Reisetasche neben ihm ab. Nach seinem Aussehen zu urteilen, war er wohl noch nicht einmal volljährig. Aber am Leben. Sein Hemd war blutgetränkt und die Igorina vermutete eine Stichwunde. Entschlossen befreite sie den bewusstlosen Jungen von seinem Hemd und kümmerte sich um die Verletzung. Etwas zum Verbinden hatte sie nicht und so versuchte sie, mit dem Rest des Hemdes auszukommen. Als die Igorina fertig war, wachte der Junge auf und wollte sie von sich stoßen. Sie reagierte jedoch schnell und hielt ihn an den Handgelenken fest. „Ruhig Junge, fonft geht die Naht wieder auf!“
Hendrik Lemm sah sie irritiert an und versuchte die Narben und das Lispeln einzuordnen. Sein ganzer Körper schmerzte. Er dachte, er würde in dieser Gasse sterben, doch sein Bauch war verbunden. Irritiert begutachtete er die Reste seines Hemdes, das nun verhinderte, dass er weiter blutete. „Du hatteft Glück! Ef wurden keine inneren Organe verletft. Trotfdem, du haft viel Blut verloren.“ Die Anstrengung war an seinem Gesicht ablesbar, als er versuchte, die Situation einzuordnen. „Ich lebe noch?“, hauchte er leise.
Sie überlegte, wie sie nun weiter mit dem Jungen verfahren sollte. War es angebracht, ihm Fragen zu stellen? Nun, er war noch jung und doch schien er schon für sich selbst verantwortlich. „Wir gehen beffer fur Wache, dort kann man dir ficher helfen“ Er schüttelt heftig den Kopf und wollte sich schon losreißen, doch die Igorina hielt ihn weiter fest. „Nein, alles, nur nicht zur Wache!“ „Haft du ein Fuhaufe?“ Der Junge verzog kurz das Gesicht, als er anwortete: „So etwas ähnliches“ Sie stand seufzend auf und half ihm auf die Beine. Was konnte sie groß tun? Hier zurücklassen konnte sie ihn nicht, sonst hätte sie sich nicht die Mühe machen brauchen, die Wunde zu nähen. Sie beobachtete den Jungen, wie er mit zusammengebissenen Zähnen seine Jacke zurecht rückte, während sie ihn stützte. Doch als Hendrik gehen wollte, wäre er beinahe gestürzt, wenn die Igorina nicht zur Stelle gewesen wäre. „Wie ef feint, ift dein linkef Bein auch nicht in Ordnung. Ich werde dich beffer begleiten und ef mir dann bei ... dir anfehen.“ Henne zögerte kurz und entgegnete schließlich ein knappes "Danke" als sie weiter gingen.
Sie gingen tiefer in die Schatten. Die Igorina hatte viel über den Stadtteil gehört, doch so hatte sie ihn sich wirklich nicht vorgestellt. Die Leute, an denen sie vorbei liefen, waren ihr fast schon unheimlich. Von Kuttenträger bis verrucht schien alles dabei zu sein. Die Gassen und Häuser waren schäbig und verwahrlost. Ein kurzer Aufschrei ließ die Igorina zusammenfahren. „Und hier lebft du?“ Als Antwort bekam sie ein stummes Nicken. Kurz darauf deutete er auf einen Hauseingang eines, wie es schien, leer stehenden Gebäudes. Der Verletzte klopfte kurz an die Tür, wobei der Igorina ein gewisser Rhythmus auffiel. Es wurde schnell geöffnet und sie betraten einen kleinen Eingangsbereich, der definitiv nicht für längere Aufenthalte gedacht war. Direkt hinter der Igorina wurde die Tür zugeschlagen und ihr Herz machte einen kurzen Aussetzer als sie kaltes Eisen an der Kehle spürte. „Was soll das?! Du weißt doch das wir hier keine Fremden dulden!“, hörte die Igorina eine raue Mädchenstimme hinter sich. „Lass ihn los“, sagte das Mädchen direkt in ihr Ohr, als der Junge keine Antwort gab. „Daf geht nicht.“ Bei jedem Wort spürte sie das Messer an ihrem Hals umso mehr. „Ist er wieder da?“, kam eine Stimme aus dem Nachbarraum näher. Um die Ecke schoss eine, wie die Igorina fand, jüngere Ausgabe ihres Patienten. Der Kleine blieb abrupt stehen. „Heike lass sofort die Igorina los! Henne ist verletzt!“ Das Eisen verschwand und die Igorina rieb sich kurz den Hals, als das Mädchen in ihr Blickfeld trat. Kurze Haare und flachbrüstig, kaum von einem Jungen zu unterscheiden, wenn ihre Stimme nicht gewesen wäre. „Er muff fich hinlegen“, traute sich die Igorina wieder das Wort zu ergreifen und schielte dabei auf Hendrik, der mit eingeknicktem Kopf nur noch durch sie aufrecht stand. Der Bruder, wie die Igorina vermutete, winkte sie zu sich und ging wieder in den Raum, aus dem er gekommen war. „Ich beobachte dich“, sagte das Mädchen und deutete dabei mit dem Messer auf die Igorina, als sie Hendrik in das Nebenzimmer geleitete. Der Raum war nicht wesentlich größer, bot aber Platz für ein paar Möbelstücke. Eine Öllampe an der Decke erhellte den Raum. Der Junge deutete auf ein altes Sofa, das seine besten Tage schon hinter sich hatte. Es knarrte, als sie den Verletzten darauf ablegte. Henne stöhnte kurz auf als sie den provisorischen Verband löste, um die Wunde zu kontrollieren. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie das Mädchen den kleineren Jungen am Handgelenk packte und ihn zu sich zog. „Michi, bist du dir sicher das das eine Igorina ist? “, flüsterte sie. „Ja, schau doch nur ihre Hände!“ Michi war sichtlich aufgeregt. Die Igorina schaute kurz auf ihre Hände. Was er wohl meinte? „Boah, Krass! Zwei Daumen!“, sagte das Mädchen im selben Moment. Mit ein paar Schritten war das Mädchen bei ihr und beobachtete sie bei der Arbeit. „Ihr habt hier nicht fufällig Verbandfzeug?“, fragte die Igorina skeptisch. „Paul!“, rief Heike als Antwort und ein weiterer Junge betrat den Raum. „Was issen nu schon wieder?“, doch als Heike den Blick auf Henne freigab blieb Paul stehen. „Man, was is passiert? Und was macht die da!“ „Besorg einfach schnell Verbandszeug, Mann!“, mischte sich nun Michi wieder ein, der sich ernsthaft Sorgen um seinen älteren Bruder machte. Paul nickte und rannte los. Mit einem Knall schloss sich die Eingangstür des Hauses. Michael kam nun ebenfalls an die Seite der Igorina, als sie gerade die Wunde freilegte und die feine Naht sichtbar wurde. Die Igorina nickte zufrieden und begann mit der Untersuchung des linken Beines. Als sie den Knöchel abtastete, stöhnte ihr Patient erneut auf. „Lass das, verdammt!“, zischte er ihr zu. Immerhin, er ist wieder bei Bewusstsein. Sie wandte sich ihrer Reisetasche zu und kramte darin, als sich Michael plötzlich zu Wort meldete: „Warum habt ihr alle den gleichen Namen?“ Die Igorina runzelte kurz die Stirn, als sie mit einer Dose in der Hand ihrem Patienten wieder die volle Aufmerksamkeit schenkte. Der kleine Bruder starrte immer noch gebannt auf die Naht. Heike hingegen war nicht mehr zu sehen. Die Igorina vermutete, dass diese wieder ihren Posten an der Tür bezogen hatte und hoffte, dass sie von einer weiteren Messerattacke verschont bleiben würde. „Ich meine“, redete der kleine Bruder weiter, „Das muss doch einen Grund haben, warum ihr alle Igor heißt.“ Nachdenklich betrachtete er die Naht. „Du heißt doch Igorina, oder?“, schob er schnell hinterher. Sie nickte. „Ef ift Tradition und man erwartet ef von unf“, antwortete sie und musterte den Knaben, als sie die Stimme von Hendrik wahrnahm. „Lass gut sein, Michi. Wir haben Überwald vor sechs Jahren verlassen!“ So war das also. Die beiden waren Landsmänner. Sie schraubte die Dose auf und begann, den Knöchel mit der Salbe einzuschmieren. Kräuterduft breitete sich aus. „Und? Ein Igor war zumindest nicht schuld, dass wir ausgewandert sind.“, entgegnete Michael seinem Bruder, der daraufhin nur die Augen verdrehte. In dem Moment kamen Heike und Paul zurück in den Raum. Der Junge atmete schwer. „Ich hoffe“, keuchte Paul, „ich hoffe, ein frisches Laken geht auch.“ Die Igorina nickte und riss das Laken in dünne Streifen. Die Jugendlichen versammelten sich dabei um sie. „Ihr solltet zumindest einen Nachnamen wie Feinstich haben", nahm Michi seinen Gedanken wieder auf. Die Igorina sah ihn skeptisch an. „Rogi Feinstich!“, grinste Hendrik sie und seinen Bruder an. Die Igorina machte ihre letzten Handgriffe, bevor sie etwas sagte: "Rogi Feinftich?" „Ja du weißt schon: Rogi... Igor...“ Michael lachte auf, als ihm klar wurde, dass Rogi rückwärts Igor hieß und im selben Moment wurde es auch der Igorina klar. „Ich werde darüber nachdenken“, vertröstete sie die Beiden. Sie richtete sich wieder auf und stieß dabei gegen Paul, der sich sofort entschuldigte. Doch Hendrik fiel auf, dass Paul etwas aus der Tasche seiner Retterin entnommen hatte. „Paul!“, richtete sich Hendrik wütend auf und verzog kurz das Gesicht vor Schmerz. „Mach die Hand auf!“ „Hey, beruhige dich!“ „Scheiße, Paul, man bestiehlt keine Igors! Also Hand auf und gib es ihr zurück!“ „Schon gut, beruhige dich!“ Er öffnete die Hand und ihm stockte der Atem bei dem, was er sah. „Eine Dienstmarke?“, brachte Heike hervor. „Henne, du hast uns eine Wächterin angeschleppt!“ Dabei zückte das Mädchen wieder ihr Messer und kam ihr gefährlich näher. Hendrik starrte auf die Dienstmarke und wusste nicht, was er sagen sollte. Die Igorina beförderte ihn behutsam zurück auf das Sofa. „Ich bin keine Wächterin.Noch nicht.“ Sie nahm die Marke wieder an sich. „Raus!“, schrie Heike und kam weiter auf sie zu. Die Igorina hob beschwichtigend die Hand, in der sie noch die Dienstmarke hielt. Nach dem darauf folgenden Blick des Mädchens ließ sie die Hand schnell wieder sinken und presste ihre Reisetasche schützend an sich. Sie suchte den Blick der Jungen, während sie weiter rückwärts stolperte, doch diese sahen nur zu Boden. Die Igorina machte auf dem Absatz kehrt und verließ, so schnell sie konnte, das Gebäude. Als die Tür krachend ins Schloss fiel, verlangsamte sie ihre Schritte. Ein Igor sollte immer wissen, wann es an der Zeit war, zu gehen.
Sie musste endlich zum Wachhaus, es war schon spät genug. Die Jungendbande hatte sie lange genug aufgehalten und sie hätte gleich sehen müssen, was ohnehin schon offensichtlich war. Ein Haufen Krimineller! Kein guter Anfang. Nachdem der größte Schreck vorbei war, versuchte sie, die Orientierung wiederzufinden. Sie hatte es nicht mehr weit, wie sie feststellte. Kurz blieb sie vor dem Wachhaus stehen und musterte es von außen. Sie betrachtete einen Moment lang die Dienstmarke in ihrer Hand. Was sie hier wohl erwarten würde? Sie atmete noch einmal tief durch und umklammerte die Dienstmarke, bevor sie die Tür zum Wachhaus öffnete. Ein Rekrut stand am Tresen und als er das Anliegen der Igorina hörte, drückte er ihr ein Formular und einen Stift in die Hand. Vor- und Nachname wurden von ihr verlangt. Sie musste an die Brüder denken. Sie überlegte kurz, bevor sie alles ausfüllte und unterschrieb mit 'Rogi Feinstich'.
***
Der Igor betrachtete skeptisch die beiden Lungenflügel. Roger kamen die Tränen und er konnte nichts dagegen machen. Er wischte sie immer und immer wieder fort aber seine Nerven lagen blank. Die Erkenntnis, dass der Körper der Igorina mehr zerstört war, als gedacht, versetzte ihn in Panik. Seine Atmung beschleunigte sich und auch dagegen war der Igor machtlos. Roger hyperventilierte. Der Hund nahm seine Aufregung wahr und sprang ihn an. Der Igor griff schnell nach einem der Keinesorge-Beutel und atmete in diesen aus und dieselbe Luft wieder ein. Er setzte sich, als sich seine Atmung wieder beruhigte. „Waf mache ich nur, Mortimer?“ Der Hund setzte sich und neigte den Kopf zur Seite. Seinen Namen hatte er verstanden aber den Rest wohl kaum. Roger seufzte und betrachtete seine zittrigen Hände. Er könnte nun genauso gut eine Beruhigungsspritze vertragen.
Jahr der Garnele
Die FROG waren in Stellung. Ein Tipp hatte sie hierher geführt und die Straße war geräumt. Eine Bombendrohung war immer ernst zu nehmen, vor allem, wenn es sich um eine der Postamtsfilialen handelte. Mit Hilfe der SEALS wurde das Gebäude evakuiert und die Wächter hatten alle Mühe, die schaulustigen Bürger hinter der Absperrung zu halten. Rogi stand bei Araghast, etwas abseits vom eigentlichen Geschehen. Sie musste anerkennen, dass die Neulinge sich schon gut in das Team integriert hatten. Sie lehnte an einer Hauswand und starrte in die Dunkelheit ihr gegenüber, in der sie Mindorrah vermutete. Über ihr war Ktrask auf dem Dach. Sidney und Valdimier waren nahe am Haus und warteten auf ein Zeichen. Kanndra und Max spähten die Lage aus. Xantes saß auf der Schulter des Püschologen. Rogi war sich nicht mehr sicher, wo Igor positioniert war. Er würde sicher Ärger machen. Ein rotes Licht blinkte auf. Darauf hatte die Igorina gewartet. Die beiden Späher hatten wohl endlich alle Informationen, die sie brauchten. Rogi machte sich Notizen. „Was sagt sie?“, fragte sie der Abteilungsleiter. „KDCUBL“ Die Igorina betrachtet kritisch die aufgeschriebene Buchstabenreihe. „Ist das ein Code?“ „Äh, nein, För. Ich glaube fie hat Probleme mit den Lichtdämonen“, antworte Rogi und beobachtete weiter das wirre Aufblinken, das letztlich schnell aufhörte. Kurze Zeit später blinkte es grün. Rogi nickte. Plan B. Die grünen Dämonen waren einfach viel zuverlässiger, doch so konnte man auf Dauer nicht die trainierten Farbcodes einhalten. Ein Problem das schleunigst behoben werden musste! Die Kommunikationsexpertin schrieb fleißig mit. „Fie haben die Bombe gefunden!“ „Von den Attentätern keine Spur?“, hakte Araghast nach, als er Xantes absetzte. Die Igorina schüttelte den Kopf. Sie sah dem kleinen Gnom hinterher, bis er in der Dunkelheit verschwand. „Sag ihr, Xantes ist auf dem Weg. Jetzt müssen die Experten ran.“ Breguyar knirschte mit den Zähnen und machte auf die Igorina keinen zufriedenen Eindruck. Sie nickte ihm zu und ihre Hand glitt zum Gürtel. Die Kommunikationsexpertin entschied sich ebenfalls für einen grünen Dämonen. Gekennzeichnet durch einen in entsprechender Farbe gehaltenen Deckel. An ihrem Gürtel, der extra für diese Einsätze konzipiert worden war, waren noch drei weitere Gläser durch Schlaufen befestigt. Rot, Blau und Gelb. Sie schüttelte das Glas leicht und der Dämon fluchte ausgiebig, war aber durch die Gefäßwände nicht zu verstehen. Rogi betrachtete den Lichtdämonen genervt und schwenkte das Glas leicht hin und her. Das Ergebnis war ein hin und her schwankender Dämon, der schließlich anfing grün aufzuleuchten. Kurz darauf hielt sie ihre freie Hand vor das Glas und begann damit, durch auf- und abwedeln, ebenfalls ein blinkendes Signal zu erzeugen. Kurz darauf sah sie, wie die Knallpulverexperten zusammen das Gebäude betraten und die beiden Späher es im Gegenzug verließen. Am Eingang gestikulierte Max um die Lage der Bombe zu verdeutlichen. Der Halbvampir lehnte sich mit verschränkten Armen zurück an die Hauswand und sah die Straße hinunter zu der Gruppe der Angestellten des kleinen Postamtes. Die Igorina folgte kurz dem Blick des Abteilungsleiters, bevor sie sich wieder auf das Geschehen im Haus konzentrierte. Igor und Xantes waren die Einzigen, die noch das Gebäude betreten durften. Die Bombe war von Max entdeckt worden und nun hofften alle, dass die beiden Knallpulverexperten Erfolg haben würden. Nun, nicht alle. Rogi beobachtete Igor genauer, wie er das Gebäude betrat, jeden Schritt, jede Bewegung. Sie versuchte sich sogar noch durch eines der Fenster den Überblick zu verschaffen. „Los, weiter zurück!“, gab Araghast den Befehl an alle. Die Igorina drehte sich kurz zu ihrem Vorgesetzten um und als sie wieder Igor ins Visier nehmen wollte, war er nicht mehr zu sehen. Ihre Kollegen versammelten sich bei ihrem Abteilungsleiter. „Hoffen wir, dass unsere Knallpulverexperten Erfolg haben“, meldete sich Valdimier zu Wort. Doch es dauerte nicht lange, da kam Xantes hinaus gerannt. "In Deckung!", schrie der Gnom aus vollem Halse und warf sich auf den Boden, als der Knall der Explosion ertönte. Ein Fenster zersprang und sofort entwich der Rauch nach draußen. "Alle in Ordnung?", frage der Abteilungsleiter von FROG und klopfte sich den Staub von der Uniform. Die FROG-Sanitäterin betrachtete den Schaden. Das Dach war halb eingebrochen und die Fenster im oberen Stockwerk waren zum größten Teil zersprungen. Dagegen schien der untere Teil des Gebäudes geradezu unversehrt. Sie drehte sich zu ihren Kollegen um, doch bis auf ein wenig Staub und Dreck war jeder unversehrt. Selbst der kleine Gnom, der dem Haus am nächsten gewesen war, wies keine Verletzungen auf. "Wo ift Igor?", fragte Rogi den kleinen Knallpulverexperten, der sich gerade aufrappelte. "Er wollte es noch versuchen, doch er meinte, er kommt noch rechtzeitig raus. Wir...", Xantes schluckte schwer. "Wir haben noch eine Bombe entdeckt!" Rogi rannte los. Sie brauchte Gewissheit und zwar schnell. "Rogi! Warte!", schrie Araghast, doch die Igorina war schon im Gebäude verschwunden. Valdimier beugte sich zu dem Gnom hinunter. "Xantes, ist da noch eine Bombe?" Der Knallpulverexperte sah unsicher in die Augen des Vampirs und zuckte mit den Schultern. "Wir hatten doch alles durchsucht", warf Max ein. "Nicht die Schließfächer der Mitarbeiter.", sagte Breguyar und verzog das Gesicht.
Rogi keuchte, als sie oben bei der Treppe ankam. Rauch kam ihr entgegen, sie griff in die Hosentasche, nach ihrem Taschentuch und bedeckte damit Mund und Nase. Sie musste Igor finden! Er gehörte zur Familie – war ein Kollege. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich um und versuchte, von hier aus die Orientierung wiederzufinden. Sie bahnte sich gebückt einen Weg durch den Gang. Der Boden unter ihr knirschte gefährlich, doch sie ließ sich davon nicht beirren. Eine weitere Rauchwolke versperrte ihr die Sicht. Die Augen tränten und langsam spürte sie die Hitze des Feuers. Sie kam ihrem Ziel näher! Sie brauchte nicht lange, um den Raum zu entdecken. Er war verwüstet und durch das kaputte Fenster hatte das Feuer auch jetzt noch genug Nahrung, um sich auszubreiten. Doch sie fand, was sie suchte. Unter einem Balken sah sie Igors mechanische Hand. Sie bahnte sich einen Weg zu ihm. Für einen kurzen Augenblick sahen sich beide in die Augen. Der Igor lag auf dem Rücken und der Balken drückte schwer auf seinen Brustkorb. Das Atmen fiel ihm zusehend schwerer. Vergeblich versuchte er, sich gegen das Gewicht zu stemmen. Igor sah Rogi flehend an und streckte seinen freien Arm zu ihr in die Höhe. Die Igorina zögerte. Alles in ihr sagte, sie müsse ihm helfen. Aber sie wollte nicht. Sie hasste ihn. Eine derartige Familienschande war ihr einfach noch nicht untergekommen. Er widersprach allen Traditionen und vor allem dem Kodex. Sie nahm das Tuch vom Gesicht und betrachtete ihn nochmals. Igor wimmerte leise. Als sich ihre Blicke wieder trafen, erkannte Igor, dass dies sein Todesurteil war. Sie verweigerte ihre Hilfe und die Lippen von Igor formten ein verzweifeltes „Wieso?“. Doch zum Sprechen hatte er keine Kraft mehr. Als sein ausgestreckter Arm schließlich erschlaffte, packte sie diesen und fühlte den immer schwächer werdenden Puls. Die Igorina wartete. Sie wartete auf sein Ende. „Rooogi!“, rief jemand im unteren Stockwerk nach ihr. Sie ließ Igors leblosen Arm unsicher los. Nervös sah sie sich um, doch da war Max schon bei ihr. Ob es nun ihre oder Igors Angst gewesen war, die der schwarze Mann gewittert hatte, konnte sie nicht sagen. Erst jetzt nahm sie ihre Umgebung wieder mit allen Sinnen wahr und der Rauch brannte in ihrer Lunge. Mit einem lauten Krachen brach ein weiterer Balken ein und versperrte den Eingang, über den sie den Raum betreten hatten. Weitere Teile des Dachstuhls fielen herab und das Feuer bekam neue Nahrung. Die Hitze schlug den beiden FROGs schlagartig entgegnen. „Rogi, wir müssen hier raus!“, beeilte sich Max zu sagen und griff nach Rogis Arm. „Oh“, sagte der Schwarze Mann, als er Igor erblickte. Die Sanitäterin beugte sich nach unten und mit Hilfe des Spähers schaffte sie den Balken, der auf dem Knallpulverexperten lag, beiseite. „Ist er...“, begann Max und wusste nicht recht, was er weiter sagen sollte. Rogi nickte nur und hievte Igors Leichnam auf ihre Schultern. „Verfwinden wir von hier!“ Er nickte und deutete auf das kaputte Fenster.
Unten bereiteten die FROGs eine weiche Landung vor. Sie hatten einen Karren mit einer Ladung Heu angehalten und diesen nun vor dem kaputten Fenster bereitgestellt. Unter lautem Protest des Bürgers, dem der Karren gehörte. „Sie können nicht einfach meinen Karren missbrauchen! Meine Ladung muss pünktlich ankommen, bevor die Heupreise wieder sinken.“ „Beruhigen sie sich! Sie bekommen den Karren gleich wieder“, versuchte Araghast den Händler zu besänftigen. „Ha! Beruhigen! Ich bin schon spät genug dran! Also sagen Sie mir nicht ...“ Ein lautes Rumms unterbrach den Mann und er starrte auf seine Ladung, in der nun Igor lag. Xantes entfuhr vor Schreck ein Schrei, der dem Schwarzen Mann sehr gelegen kam, um im Schatten der Flammen zu erscheinen. Der Karrenbesitzer hingegen starrte noch immer entgeistert auf den Toten in seiner Heuladung, während Max die Leiche von der Ladefläche zog. „Das ist ja die Höhe! Ich bin doch kein Leichensammler!“, beschwerte sich der Händler, wurde jedoch von weiteren Einwänden abgehalten, als Rogi im Heu landete. Die Igorina hustete ausgiebig, als sie vom Karren stieg. Der Händler sah sie entgeistert an. „Guten Tag, Herr Hagner“, lächelte die Igorina dem Karrenbesitzer entgegen und war froh, dass dieser schon lange keinen Silberschmuggel mehr betrieb. „Rogi? Alles in Ordnung?“, fragte Valdimier und sein Blick wandere zum toten Igor. „Ich konnte nichtf mehr für ihn tun“, log die Igorina.
***
Der Igor durchsuchte Rogis Taschen nach Hinweisen darauf, was passiert sein mochte. Aber das Einzige, was ihm auffiel, war das Fehlen einiger Utensilien aus ihrer Umhängetasche. Die Klemmen fehlten, ebenso wie ein Skalpell. War sie, kurz bevor er gekommen war, auf einem Einsatz gewesen? Der Vehörraum war bewacht worden als er kam. Er hatte die Rekruten nicht sonderlich beachtet. Ihnen gegenüber verhielt er sich immer so, als hätte er jedes erdenkliche Recht, sich im Keller der Wache aufzuhalten und ein kurzer Salut genügte meistens, um dies zu unterstreichen. Normalerweise betrat er das Wachhaus nur wenn weniger Betrieb herrschte. Aber er hatte Rogi zu lange nicht mehr gesehen und sich Sorgen gemacht. Er war so wütend gewesen, auf sie und ihre Kollegin. Einfach einen Entzug zu planen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken! Das Ergebnis hatte er vor Augen als er zur ausgeweideten Rogi schaute. Irgendwas hatte die Igorina zu einem Rückfall veranlasst. Aber wäre sie wirklich daran gestorben, wenn sie sich ihre übliche Dosis gespritzt hätte? „Waf ift nur paffiert, Mortimer?“ Der Hund neigte den Kopf etwas weiter beiseite und beobachtete ihn aufmerksam. „Du bift keine grofe Hilfe, weift du?“ Mortimer bellte einmal, als wolle er dies bestätigen.
Jahr des focierten Geckos
Dass sie zum Feldwebel befördert worden war, war noch verständlich gewesen und vermutlich sogar folgerichtig, nach all den Außeneinsätzen, die sie die letzten Wochen hinter sich gebracht hatte. Da war das wohl kaum zu vermeiden gewesen. Doch dass sie als Abteilungsleiterin einberufen wurde überraschte sie nicht nur – sie stand unter Schock! Und als wenn es nicht schon schlimm genug gewesen wäre, war es die Abteilung SEALS. Die Igorina verstand die Scheibe nicht mehr. Sie hatte bisher nur Erfahrungen in zwei Abteilungen gesammelt und das waren FROG und GRUND. Wenn sie so darüber nachdachte, schien die Leitung der Freiwilligen Retter ohne Gnade noch schlimmer zu sein. Den Job als Ausbildungsleiterin konnte sie sich eher vorstellen. Ja, damit hätte sie Erfahrung gehabt. Sie war lange genug Stellvertreterin von Hauptmann Llanddcairfyn gewesen um zu wissen, dass er die meiste Arbeit an sie abgewälzt hatte. Warum also zu den Streifegängern? Es ergab überhaupt keinen Sinn! Das musste irgendein grausamer Plan von Rascaal Ohnedurst sein. Als Kommandeur und IA-Stammagent hatte sie ihn lange genug erlebt. Mehr als ihr lieb war. Aaps hatte nur fies gegrinst, als er ihr das Memo überreichte. Keine Schimpftiraden wie sonst, sondern nur dieses gemeine, wissende Lächeln. Am liebsten hätte sie ihn an seiner Krawatte gepackt und ihn bis zur Besinnungslosigkeit geschüttelt, nur war der Kommunikationsdämon schon wieder weg, ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Und nicht nur sie hatte eine Nachricht bekommen. Cim Bürstenkinn, der bis dahin den Posten inne gehabt hatte, kam mitten während ihres Gesprächs mit Rascaal in dessen Büro. Und natürlich war ihm die Entscheidung des Kommandeurs alles andere als recht gewesen. In gewissem Sinne waren sie beide Opfer von Rascaals Machenschaften. Dem Vektor, wichtiger noch: dem Ranghöheren jedenfalls würde sie nunmehr aus dem Wege gehen, soviel stand fest! Das Gespräch war nun über zwei Stunden her und trotzdem pulsierte das Blut in ihren Ohren. Ihr war heiß und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie musste sich dringend beruhigen. Ihre eingeteilte Dosis des Beruhigungsmittels war von Roger zwar gut gemeint und ohne wäre sie schon längst durchgedreht. Doch solche Situationen waren dabei einfach nicht bedacht. Es gab genug Zwischenfälle in ihrem Alltag, die nicht die morgendliche Spritze abdeckten. Sie griff dann jedes Mal zu dem Medikament, welches sie für Menschen angefertigt hatte. Zwar hatte es keine so hohe Konzentration wie ihr eigenes Beruhigungsmittel aber es reichte zumindest aus, um das Zittern der Hände zu unterbinden. Aber eine Beförderung zum Feldwebel und der dazugehörige Posten, verlangten nach etwas Stärkerem. Sie öffnete eine Schublade ihrer Apothekerkommode und entnahm daraus ein Fläschchen. Es klirrte, als es zu Boden fiel und die Igorina starrte entsetzt auf ihre nasskalten Hände. Verzweifelt sah sie auf die Scherben am Boden herab. Die so begehrte Flüssigkeit versickerte schnell im Boden, so dass nur noch ein Fleck zu sehen war. Sie schaute in die Schublade. Es war nur noch ein Fläschchen da und sie würde nicht das Risiko eingehen, auch dieses zu verlieren. Sie ging in die Knie und öffnete eine der unteren Schubladen und schnappte sich den hochprozentigen Alkohol, mit dem sie normalerweise ihr Operationsbesteck desinfizierte. Einen Vorteil hatte der neue Posten. Das Trinken war wieder erlaubt! Sie leerte den halben Liter in einem Zug. Der reine Alkohol brannte im Rachen und sie unterdrückte das Husten. Ihre Augen begannen zu tränen, als sie sich setzte. Hier blieb sie besser sitzen, bis der Rausch sich verflüchtigt haben würde. Sie vertrug zwar viel und das nicht nur, dank der Erfahrungen mit ihrem Onkel. Aber reiner Alkohol war wohl doch zu viel des Guten. Immerhin war sie noch klar genug, um zu wissen, dass Sitzen nun wesentlich besser war als Stehen. Sie schloss die Augen und versuchte an etwas anderes als die Wache zu denken, als es an ihre Tür klopfte. Ihre Augen weiteten sich erschrocken, doch dann wurde die Tür schon geöffnet. Michael Machwas blickte zu ihr herab. „Rogi? Alles in Ordnung?“ „Schehe ich scho ausch?“ Der Vektor, der in Zukunft in ihrer Abteilung arbeiten würde, betrachtete skeptisch die leere Flasche im Schoß der Igorina. „Gibt es was zu Feiern?“, grinste er. Sie hob fragend die Brauen, doch Michael schien tatsächlich noch nichts von den neuesten Entwicklungen in der Wache zu wissen. Und sie wollte sicher nicht mit ihm darüber reden. Es war nicht so, dass sie ihm nicht traute. Eher im Gegenteil. Von den Wächtern war er mit einer derjenigen, die Igors am besten verstanden, da er bei einem in die Lehre gegangen war. Manchmal fragte sie sich, warum er nicht dem Clan beitrat. Aber vermutlich hatte keiner ihm ein solches Angebot unterbreitet. Sollte sie es vielleicht tun? Durfte sie das als Frau überhaupt entscheiden? Wer war noch mal dafür verantwortlich? „Rogi?“, meldete sich der Gefreite Machwas wieder. Die Igorina versuchte, den Blick auf den jungen Mann zu fokussieren, doch es gelang ihr nicht wirklich. Sie entschied sich, dass es egal war welchen von beiden sie ansprach. „Was willst du?“, lallte sie. „Eigentlich wollte ich wissen, ob du mir noch mal zeigen kannst, wie das mit der Intrakutannaht genau funktioniert. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, aber ähm...“, er schaute noch mal zu der Flasche. „Kann ich vielleicht etwas für dich tun?“ Sie schüttelte den Kopf und fasste sich an die Stirn als ihr schwindlig wurde. Musste er immer mit Fachbegriffen um sich schmeißen? Er wollte also wissen wie man Nähte ohne nachfolgende Narben erzeugte? Sie schaute zu ihm auf, als sie merkte, dass er die Flasche an sich nahm. Er roch kurz an der Öffnung und rümpfte die Nase. Als er die Flasche auf der Ablage der Kommode abstellte, knirschte es unter seinen Füßen und er sah die zerbrochene Ampulle. Er fragte jedoch nicht nach und sie war froh darum. Stattdessen beugte er sich zu ihr runter und legte sich einen ihrer Arme über die Schulter. Mit der anderen Hand umschlang er ihre Hüfte und zog sie so auf die Beine. „Wo bringscht du mich hin?“ „In den Eimer. Dort wirst du zumindest nicht ganz so auffallen.“ Sie sah ihn nur erschrocken an, bei dem Gedanken wer ihr so alles auf dem Weg begegnen könnte. „Schau mich nicht so an! War nur ein Witz. Ich bringe dich in den Schlafsaal, da stört dich jetzt keiner. In Ordnung?“ Sie nickte langsam und musste dabei aufstoßen. Sie unterdrückte den Würgereiz und der Vektor sah sie besorgt an. „Gehtschnwieder...“ Er packte sie etwas fester, als er merkte, dass sie kaum stehen konnte. Wortlos ging das ungleiche Paar den Gang entlang. Im Schlafsaal angekommen, konnte sie sich kaum noch erinnern, wie sie die Strecke überwunden hatte. Machwas geleitete sie zu einem der hinteren Betten und ließ sie langsam auf die dünne Matratze gleiten. Er zog ihr die Stiefel aus, bevor er ihre Beine auf das Bett schwang. Sie richtete sich noch einmal auf, als er sie zudecken wollte, doch ein leichter Druck von ihm genügte, um sie wieder auf das Kissen zurückfallen zu lassen. Sie startete noch einen Versuch und stütze sich dabei auf ihren Ellenbogen. Mit dem anderen Arm deutete sie auf Michael. „Du scholltest ein Igor werden!“ Er lächelte nur und brachte sie wieder bestimmt in eine liegende Position. Kurz darauf zog er ihre Augenlider hoch und betrachtete die erweiterten Pupillen. Sie brauchte ihn nicht, um zu wissen, dass sie vielleicht eine Alkoholvergiftung hatte. „Warum tuscht du dasch?“ „Weil Freunde das so machen, Rogi.“ Er unterbrach seine Untersuchung und deckte sie zu. Die Igorina schloss die Augen und fragte sich eher selbst, als dass sie Machwas geantwortet hätte: „Tun fie daf?“ „Schlaf jetzt einfach, ja?“ Sie blinzelte und sah dabei verschwommen, dass der Vektor sich einen Stuhl besorgt hatte, auf dem er nun Platz nahm. Sie wollte protestieren und ihm sagen, er solle verschwinden, anstatt hier sinnlos über sie zu wachen. Sie kam nicht mehr dazu, als der Schlaf sie übermannte. Plötzlich spürte sie einen vertrauten Stich auf ihrem Handrücken, doch es trat nicht die erhoffte Wirkung ein. Sie hob langsam den Kopf und Michael wich von der Bettkante zurück. „Entschuldige ich dachte du schläfst tief und fest. Du hast gesägt wie...“, Er hielt inne, als die Igorina ihren Blick auf die Spritze in seiner Hand richtete. „Nur eine Infusion, damit du wieder schneller auf die Beine kommst“, beeilte er sich zu erklären. Sie ließ den Kopf wieder fallen. „Mufft du nicht auf Ftreife oder fowaf?“, sagte sie kaum hörbar, als sie die Augen wieder schloss. „Hab mit Kannich getauscht.“ Da lag sie also nun. Umsorgt von einem Menschen, der sogar seine Arbeit für sie zurück stellte. Sie seufzte innerlich. Sie musste dringend mit Roger reden, um über die Konzentration ihres Beruhigungsmittels zu verhandeln. Die übliche Dosis würde ihr in Zukunft nicht reichen.
***
Die Taschenuhr drehte sich an der Kette in seiner Hand und reflektierte das Licht, das durch das Gitterfenster eindrang. Er steckte sie zu den anderen Sachen in Rogis Umhängetasche. Zumindest ein paar Sachen von ihr musste er mitnehmen. Er hatte sich noch nicht wirklich Gedanken darüber gemacht gehabt, wie er Rogi aus dem Wachhaus bringen wollte. Ihre Organe waren zumindest versorgt und er klappte die eisgefüllte Truhe auf. Vielleicht hatte er Glück und Rogi hatte ein paar brauchbare Ersatzteile? Er packte die empfindlichen Organe beiseite und wühlte sich zu den unteren Schichten durch, doch sie hatte nur den einen oder anderen Arm auf Lager und er fragte sich, warum sie ihre zerstochenen und vernarbten Extremitäten nicht ausgetauscht hatte. Roger erblickte ein gefrorenes Fellknäul und runzelte die Stirn. Rogi hatte ihm von einem Hund erzählt, der den Wächtern bei einem Einsatz geholfen hatte und ums Leben kam. Er hatte ihn ganz vergessen gehabt aber Rogi bewahrte den toten Hund immer noch auf. Doch das war noch längst nicht alles, was die Kiste zu bieten hatte. Der Igor zog etwas aus dem Eis, das niemals lebendig gewesen war.
Jahr der hysterischen Blattlaus
Rogi betrachtete den Schlüssel in ihrer Hand und schätzte sein Gewicht ab. Was sie nun vorhatte, war riskant. Und wenn sie aufflog, gab es genau den Ärger, den sie im Grunde vermeiden wollte. Breguyar selbst hatte ihr die Zweitschlüssel zum Aktenschrank und zu anderen Bereichen überantwortet und sie sah dies als Respektsbeweis. Nein, diese Schlüssel würde ihr niemand mehr nehmen! Sie trug den Schlüsselbund immer bei sich und die ganze Zeit über hatte der Schlüssel zum Aktenschrank um ihren Hals gebaumelt, wie eine persönliche Auszeichnung, unter ihrem Hemd versteckt. Rogi wäre es nie in den Sinn gekommen, diese Schlüsselgewalt zu missbrauchen – zumindest bis jetzt. Nach ihrer Degradierung konnte sie an nichts anderes mehr denken, als daran, an ihre Akte heran zu kommen. Sie schaute sich auf dem Gang um. Sie wusste dass Breguyar im Archiv nach einer Akte suchte. Sie hatte geradezu im Archiv auf ihn gelauert, denn dies war die einzige Möglichkeit, bei der Arghast seinem Büro lang genug fernblieb, um ihr Vorhaben durchzuführen. Der Kommandeur tat ihr den Gefallen mit seinem Erscheinen, doch das war Anfang des Jahres abzusehen gewesen. Wenn das Schneevaterfest vorbei war, wurde sich jeder Wächter wieder seiner Pflichten bewusst – selbst ein Pirat. Sie hatte lange genug auf ihn gewartet aber sie nutzte die Gelegenheit, um über die abgeschlossenen Fälle der Rekruten einen Überblick zu bekommen. Das war doch ihre Pflicht als Ausbildungsleiterin? Der Gedanke ließ sie stocken. Ausbildungsleiterin als Chief-Korporal! Selbst davor hatte der Kommandeur nicht zurückgeschreckt. Natürlich, sie hatte den Job schon gemacht aber sie war immer fest davon ausgegangen, dass der Rang eines Feldwebels dafür Voraussetzung war. Die Ernennung zur Ausbildungsleiterin und die Degradierung zum Chief-Korporal kamen in einem einzigen Memo. Der Personalengpass war wohl höher, als allgemein bekannt war. Oder Breguyar forderte sie heraus. War das Ganze wieder einer seiner Tests? Sie schüttelte bestimmt den Kopf, um sich wieder auf ihr Vorhaben zu konzentrieren. Entschlossen ging sie den Gang entlang zum Kommandeursbüro. Sie suchte den Türspalt ab und fand was sie suchte. Mit ihrer Pinzette zog sie den Zettel, der ihr Eindringen verraten sollte, aus dem Spalt und öffnete die Tür. Sie schlüpfte in das Büro sobald der Türspalt groß genug war und schloss die Tür schnell hinter sich. Den entnommenen Zettel legte sie sachte auf den Schreibtisch. Ihr Blick schweifte durch das Büro und blieb am Aktenschrank hängen. Zittrig schob sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn langsam. Das Knacken des Öffnungsmechanismus ließ sie kurz innehalten. Sie öffnete den Schrank erst, als sie sich sicher war, dass ihr Herz nicht mehr aus dem Brustkorb springen wollte. Eilig suchte sie ihre Akte unter den derzeitigen Chief-Korporals, fand sie jedoch nicht. Hatte Breguyar die Degradierung nicht festgehalten? Ihre Finger glitten zu den Dienstgraden der Feldwebel. Tatsächlich, dort war ihre Akte! Vorsichtig zog sie die Mappe heraus und überflog die Einträge. Da war es! Degradiert zum Chief-Korporal. Sie war also doch nicht umsonst hier eingedrungen. Diese Information musste schnell verschwinden, bevor sie noch weiter getragen wurde. Oh nein Ayami durfte es nicht erfahren! Oder wusste sie es vielleicht schon? Eilig entnahm sie die Blätter, die ihre Akte so verschandelten. Auf die beiden Püschositzungen konnte sie ebenso getrost verzichten! Sie entnahm weitere Blätter aus der Mappe, rollte das Bündel zusammen und schob es unter ihr Uniformhemd. Behutsam steckte sie ihre nun saubere Akte zurück und ordnete sie bei den Chief-Korporals ein. Nervös schloss sie den Aktenschrank und drehte den Schlüssel zweimal, bevor sie ihn sich wieder um den Hals hängte. Rogi horchte in den Gang hinaus. Sie zuckte zusammen, als es über ihr laut krachte, doch Rascaal war nur auf seinem verhassten Schreibtisch gelandet. Was hatte den Vampir nur geweckt? Normalerweise hing er friedlich an seinem Balken und schlief um diese Tageszeit. Sie wollte es sicherlich nicht herausfinden. Der Vampir war schließlich einer der Gründe dafür, warum sie nicht nachts in das Büro eindrang, während kaum ein Wächter im Haus war und wenn doch, dann schlief. Bis auf den IA-Agenten zumindest. Ein anderer Grund war, dass sie sonst vor verschlossener Tür gestanden hätte. Das Schloss zu knacken wäre nicht das Problem gewesen aber um unbemerkt zu bleiben, hätte sie auch wieder abschließen müssen. Die Igorina atmete einmal tief ein und aus. Sie nahm mit ihrer Pinzette wieder den Zettel vom Schreibtisch und legte ihr Ohr an die Tür. Alles ruhig. Sie schlüpfte ebenso schnell aus dem Büro hinaus, wie sie hineingekommen war und steckte den Zettel wieder zurück an seinen Platz. Schnell ging sie zur ihrer Zelle hinunter und schloss sich dort ein. Rogi Feinstich holte die Blätter unter ihrem Hemd hervor und breitete sie auf dem Obduktionstisch aus. Sie nickte zufrieden und holte aus einer Schublade eine vorbereitete feine Nadel mit einem hauchdünnen Faden hervor. Vorsichtig legte sie die Nadel neben die Aktenblätter. Sie rollte die Papiere eng zusammen und begann damit. die Mitte der Papierröhre mehrfach mit der Nadel zu durchstechen, immer darauf bedacht, dass der Faden ordentlich nachzog. Als die Igorina mit ihrem Werk fertig war, schaute sie gegen das Licht durch die Röhre und lächelte, als sie das gewünschte Muster eines Spinnennetzes erblickte. Ein gelungenes Igorsiegel! Sie zog eine weitere Schublade auf und entnahm dieser zwei Keinesorge. Sie befreite beide aus ihrer Verpackung. Den einen schob sie sich in den Mund und kaute genüsslich darauf herum, den anderen stülpte sie über die Papierrolle und verknotete das Ende. Mit der verpackten Rolle in der Hand öffnete sie ihr Ersatzteillager. Die kalte Luft entwich. Nebelschwaden sickerten aus der Truhe und bedeckten den steinernen Boden. Mit ein paar energischen Handgriffen schob sie ein paar Organe und Gliedmaßen beiseite, um den Papieren ganz unten einen Ehrenplatz zu schaffen. Durch den Gummi geschützt, war die Röhre in der mit Eis gefüllten Truhe gut aufgehoben. Und Rogi wusste, dass dort keiner freiwillig nach Etwas suchen würde. Als alles an seinem Platz war, ließ sie den Deckel der Truhe zufallen. Sie kaute weiterhin das Keinesorge und fragte sich, welche Geschmacksrichtung sie erwischt hatte, als ihre Aufregung langsam verflog.
***
Er setzte gerade die Knochensäge an, als es an der Tür klopfte. Oh nein, nicht jetzt. Verschwinde! „Rogi? Ich bin es, Ophelia.“ Er hielt den Atem an. Sie war es! Ihr hatten sie dieses ganze Desaster erst zu verdanken. Die Klinke wurde betätigt, doch er hatte schon lange abgeschlossen und den Riegel vorgeschoben. Noch immer steckte der Schlüsselbund im Schloss. Der Gedanke, wie er diesen am leblosen Körper der Igorina suchen musste, schoss ihm durch den Kopf und er schloss die Augen. „Rogi, ich weiß, dass du da drin bist. Jeder weiß das. Nur im Gegensatz zu den Anderen werde ich nicht einfach wieder gehen, nur weil du eine Antwort verweigerst.“ Langsam atmete er aus. Sie würde nicht gehen. Niemals! Er würde es auch nicht. Nicht in dieser Situation. Die nächsten Worte, die durch die Tür drangen, waren gedämpft und er ging näher zur Tür, um diese zu verstehen. „...Dich jetzt nicht allein lassen kann. Selbst, wenn du mich nochmals schlagen würdest...“ „Du bift fu fpät!“, platze es aus ihm heraus und ein Gedanke breitete sich in ihm aus. Rogi brauchte ein neues Herz! Und da war eines. „Roger? Bist du das? Wieso sagst du so etwas? Schläft sie? Hast du ihr etwa doch von dem Beruhigungsmittel gegeben? Ich konnte nicht früher kommen, wirklich! Ich habe es versucht aber...“ Er umschloss die Knochensäge fester, als er aufschloss. Er riss den Riegel beiseite und stieß die Tür auf. Roger starrte sie entschlossen an, als er sie am Arm packte und zu sich in die Zelle zog. „Du bift defwegen fu fpät. Weil fie tot ift! Und du bift Fuld daran! Du und deine hirnriffige Idee mit dem Entfug!“ Wie gerne würde er ihr ein Ende bereiten! Er hob langsam die Knochensäge, doch der Anblick von Rogis Profil hinter ihr, ließ ihn stocken. Würde er tatsächlich so weit gehen und jemanden töten? Oh ja, für Rogi würde er es tun. Der Igor packte sie am Genick und zwang sie weiter in den Raum, direkt vor den Obduktionstisch. Er wollte definitiv klar stellen, dass sie sah, was sie verschuldet hatte. „If hatte Dif gewarnt, daff ihr Herf daf nift mitmachen würde aber du wuffteft ef ja beffer!“ Seine Kehle war trocken und der Geschmack von Blut auf seinen Lippen bestärkte seinen Zorn. „If habe dif auch davor gewarnt gehabt, daff du die Konfequenfen tragen würdeft. If werde nift fulaffen, daff fie für deine Fturheit fahlen muff...“ Roger ließ sie los und wendete sich der Zellentür zu, ohne die Wächterin weiter zu beachten. Er knirschte mit den Zähnen, als er die Tür ebenso schnell wieder verriegelte, wie er sie geöffnet hatte. Er schlurfte zu Ophelia zurück und beobachtete fasziniert, wie diese Rogis Haar beiseite strich; zumindest den Teil, der noch da war. Was machte er da nur? Der Wächterin vor ihm war es um nichts Anderes gegangen, als um Rogis Wohlergehen. Er teilte mit ihr dieselben Sorgen und Ängste! Beide wollten sie nur das Beste, doch sie hatten versagt. Er hatte versagt! Rogi hatte sie beide überlistet. Entsetzt starrte er auf die Knochensäge in seiner Hand und ließ sie im selben Moment fallen. Das Geräusch das die Säge auf den Steinplatten verursachte, ließ ihn zusammenfahren. Er, ein mordender Igor? Ein Leben für ein anderes beenden? Nein, das entsprach nicht dem Kodex und selbst wenn er Erfolg hätte und Rogi so wieder bekäme – sie würde es ihm nie verzeihen! Er starrte zu Boden und fixierte die Säge, als Ophelia ihm plötzlich vor die Füße fiel. Er riss erschrocken die Augen auf und schlurfte an ihre Seite. Als er sie vom Boden hob, hämmerte es regelrecht an die Zellentür. „Heda! Öffnen! Sofort! Rogi? Das gilt für jeden, der da drin ist. Hier spricht der Kommandeur der Stadtwache und ich verlange, dass mir sofort geöffnet wird!“ Neinneineinein! Sie hat es verraten! Kritisch betrachtete er die Bewusstlose in seinen Armen. Er war verloren! Er schaute über seine Schulter zu Rogi. Sein Erscheinungsbild würde nicht dazu beitragen, dass man ihm auch nur ein Wort glauben würde. Doch wollte er das? Wollte er wirklich, dass jemand erfuhr, wie Rogi ums Leben gekommen war? Ophelia hing schlaff wie eine Puppe in seinen Armen. Sie war jetzt seine einzige Hoffnung, heil aus der Sache heraus zu kommen. Er rüttelte sie leicht. Bitte wach auf! Vor der Tür wurde etwas gebrüllt, doch seine Aufmerksamkeit galt noch immer Ophelia. „Tu es! Sofort!“ Der Igor blickte erschrocken auf und die Tür explodierte. Ein Holzsplitter traf ihn im Auge und er krümmte sich zusammen, um Ophelia und sich vor weiteren Splittern zu schützen. Als es nur noch Sägespäne regnete, richtete er sich wieder auf und sah mehrere Wächter im Türrahmen. Sein Herz machte einen Aussetzer. Er blinzelte, in der Hoffnung das es weniger werden würden, doch das Ergebnis war lediglich, dass er auf dem rechten Auge nur noch verschwommen sah. „Ef ift nicht fo, wie ef auffieht!“, sagte er schnell, als er sah, wie der Vampir eine Handarmbrust auf ihn richtete. Er musste fast schon ein Lachen unterdrücken, als er erkannte, dass Valdimier van Varwald auf ihn zielte. Der Vampir, der schon damals seinen Herrn und ihn bedroht hatte, visierte ihn ein weiteres Mal an. Roger starrte auf den Bolzen, der direkt auf seinen Kopf gerichtet war, als der Kommandeur ihm antwortete. „Nein, natürlich nicht. Das ist es ja nie!“ Ironie! Oh, wie er es hasste, wenn es ironisch wurde. Er sah kurz auf Ophelia hinab, doch sie blieb weiter bewusstlos. Der Igor starrte dem Wächtertrupp entgegen. Er würde mitspielen müssen. Der kleinste Widerstand würde ihn das Leben kosten. Um das zu wissen, musste er dem Vampir nicht mal in die Augen blicken. Der Kommandeur betrat den Raum und seine Stimme ließ ihn frösteln: „Leg sie langsam und vorsichtig zu Boden! Keine hastigen Bewegungen!“ Er blieb regungslos stehen und dachte über seine Möglichkeiten nach. Er hatte keine. „Runterlassen, habe ich gesagt!“ Sein Griff verkrampfte sich kurz. Langsam ging er in die Knie und zwang sich, ruhiger zu atmen. Zu viel Adrenalin würde ihm jetzt nichts nützten. Er legte sie weit vor sich ab und nahm die Hände beim Aufstehen langsam nach oben. Die Waffe war immer noch auf ihn ausgerichtet und er rechnete jeden Moment damit, dass der Bolzen sich lösen würde. Doch während sein Blick sich noch immer bei der gespannten Armbrust befand, stürmte Breguyar auf ihn zu und rammte ihn an die Wand hinter ihm. Damit hatte er definitiv nicht gerechnet. Der Igor ließ die Fausthiebe kommentarlos über sich ergehen. Der Wächter hatte kaum seiner Wut Luft gemacht, da wurde Roger von ihm am Arm gepackt und zu Boden gewirbelt. Der Arm wurde ihm soweit auf den Rücken verdreht, dass er sich zu einem Wimmern hinreißen ließ. Das Gewicht auf seinem Rücken verriet ihm, dass der Kommandeur auf ihm saß. „Was ist hier passiert?“, zischte es an seinem Ohr. Roger blinzelte und starrte in Ophelias regloses Gesicht. Er bekam einen Schlag gegen den Kopf und sein Gesicht wurde gegen den Boden gedrückt. „If... if fage nifts, aufer fu ihr!“, keuchte er angestrengt. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie zwei der Wächter zu Ophelia eilten. „Puls langsam aber gleichmäßig, Atmung etwas zu flach... aber im Rahmen. Aber warum kann ich sie nicht mehr spüren? Es ist, als wenn ihr Körper ein leeres Zimmer wäre. Keine Präsenz... Das ist keine normale Bewusstlosigkeit.“ Der Druck des Wächters auf ihm verstärkte sich und Roger war klar, dass sie ihn auch dafür verantwortlich machen würden. Was war mit ihr passiert? Roger richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Ophelia. Dass sie in Ohnmacht fiel, war zu erwarten gewesen aber wenn ein Vampir keine Präsenz mehr spürte, war das eine ernste Sache. Der Kommandeur über ihm erhob wieder seine Stimme: „Rekrut, deine Handschellen. Sofort!“ Kurz darauf ertönte ein metallisches Geräusch. Der Druck auf seinen Kopf ließ nach und Breguyar schien sein Gewicht zu verlagern. Dann hörte er das Einrasten der Handschellen. „Jemand sollte Magane Bescheid sagen. Der Igor hat damit begonnen, sie transportfertig zu machen. Wir können sie nicht so offen liegen lassen. Sie muss in die Pathologie, in eines der Kühlfächer.“ Als er die Worte des Armbrustschützen vernahm, wollte er erleichtert aufatmen, bekam aber nur Staub und Dreck in die Lungen und ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Das Gewicht auf seinem Rücken verschwand, er wurde am Kragen gepackt und nach oben gerissen. Roger kam schwerlich auf die Beine und ein Ellenbogenhieb in den Magen machte es ihm nicht leichter. „Obergefreiter, lies ihm seine Rechte vor!“ Erst jetzt bemerkte Roger den kleinen Mann, der einen Schritt in die Zelle trat. „Also, ich gehe mal davon aus, dass du hiermit festgenommen bist, Herr.“ Weiter hörte er nicht zu. Es reichte ihm. Rogis Körper war vorerst in Sicherheit. Nur die Aussicht auf Tee, in Punkt 2.5 a ließ ihn aufhorchen. Er schaute auf und betrachtete den Mann in der SEALs-Uniform, der ihn immer noch mit irgendwelchen Paragraphen quälte. Er atmete schwer bei dem Versuch, seine trockene Kehle zu befeuchten. Aussichtslos. Was blieb, war der Geschmack von Holz und Blut.
Jahr des zweiten Beginns
Rogi betrat das Wachhaus und blieb unschlüssig im Eingangsbereich stehen. Die Igorina dachte an die letzte Nacht, die ihr nur wenig Schlaf gebracht hatte. Und diese war noch nicht ganz vorbei. Sie gähnte laut und der Rekrut am Tresen sah sie verschlafen an. Die Sonne würde jeden Moment aufgehen. Es blieb also noch genug Zeit, bevor der Alltag sie einholen würde aber sie hatte es nicht länger in der Wohnung ausgehalten. Der Gedanke war immer noch absurd. Sie hatte zugestimmt und Ophelia hatte innerhalb eines Tages eine bezugsfertige Wohnung für sie beide angemietet. Sie schlurfte in die Kantine und steuerte auf den Kaffeedämon zu. Sie klopfte leicht gegen die Klappe, aus der leises Schnarchen ertönte. „Hm, wasn?“ „Kaffee“, sagte die Igorina monoton und schlief beinahe im Stehen ein. Sie schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Dämons. Die Bilder ihres Alptraums holten sie wieder ein und sie blinzelte. Eine der Folgen des Entzuges, der erst vor einem Tag begonnen hatte. Rogi musste daran denken, wie es erst soweit gekommen war. Ophelia hatte sie regelrecht überrumpelt mit den Fakten, die jene gesammelt hatte. Sie hatte gar keine andere Wahl mehr gehabt, als der verdeckten Ermittlerin ihre Sucht einzugestehen. Ihre größte Angst war es immer gewesen, dass es jemand erfahren und es zu einem weiteren Verfahren bei IA kommen würde. Aber Ophelia schwieg selbst dem Kommandeur gegenüber. Also hatte sie sich auf deren Angebot eingelassen und Ophelias Hilfe angenommen. Vielleicht ihre letzte Chance. „Hey, soll er kalt werden oder was?“ Sie atmete tief ein und der Kaffeegeruch stieg ihr in die Nase. Sie antworte dem Dämon nicht, sondern nahm die heiße Tasse und leerte sie in einem Zug. Sie stellte den Becher ab und machte sich auf dem Weg in den Keller. Die Sanitäterin öffnete langsam die Tür zu ihrer Zelle und aus dem Augenwinkel nahm sie einen Schemen wahr, der sich bewegte. Sie zuckte zusammen und war mit einem Mal wach. Roger stand mitten in ihrem Büro. Rogi schloss schnell den Eingang. "Du kannft mir doch nicht fo einen Frecken einjagen! Waf machft du hier?" "Ich wollte nach dir fehen, nachdem waf geft..." Er brach den Satz ab. "Du bift mit diefer Wächterin fufammengefogen?" Sie nickte, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. Es war immer noch verwirrend und nach der letzten Nacht war sie sich nicht einmal sicher, ob sie das noch länger aushalten konnte. "Wie geht ef dir?" Ihr Blick richtete sich auf ihn und sie musste an den Alptraum denken, der sie nicht hatte schlafen lassen. "Nicht gut, Roger. Nicht gut." "Dann laf den Unfinn! Diefer Entfug wird dich umbringen. Fie wird dich umbringen! Dein Körper fafft da…" "Laff ef gut fein, Roger", unterbrach sie ihn scharf und er machte einen Schritt zurück. Er machte sich wahrscheinlich berechtigte Sorgen, aber er hatte nicht das Recht, Ophelia zu beschuldigen. Sie kannte keinen anderen Menschen, dem sie mehr vertraute! Roger ballte die Hände zu Fäusten und erhob wieder seine Stimme. "Hör mal fu. Du magft vielleicht glauben, daff daf klappt aber ich hoffe dir ift auch bewufft, daff ef fiefgehen kann. Und dann?" Er schnaubte abfällig. Sie stand schnell auf, doch ihr wurde schwindelig. Natürlich hatte er Recht aber sie konnte jetzt nicht einfach aufgeben. "Roger, ef tut mir leid aber ef geht nur fo. Ophelia hat viel auf fich genommen, um mein Geheimnif fu bewahren, da werde ich fie nicht enttäufen." "Blödfin! Fie hat dich erft foweit getrieben! Ich werde mir daf nicht weiter mit anfehen!" Er machte auf dem Absatz kehrt aber sie wollte ihn nicht so gehen lassen. "Roger, warte!" Er blieb stehen, wandte ihr aber weiter den Rücken zu. "Hilf ihr lieber! Fie macht fon genug durch wegen mir, Roger. Wegen mir! Alfo mach ihr keine Vorwürfe." Er seufzte schwer und drehte sich zu ihr um. "Du willft daf wirklich durchfiehen?" Sie nickte wieder und das Schwindelgefühl verstärkte sich. "Fo? Dann wird ef Dir ficher nichtf aufmachen, wenn if daf mitnehme." Roger trat an die Schublade heran und entnahm dieser ein paar Fläschchen. Sie hob reflexartig die Hand, ließ sie aber wieder sinken. Wenn sie es wirklich schaffen wollte, war es besser, wenn er ihr Beruhigungsmittel hatte. Und es war der beste Weg, um ihn von ihrer Ernsthaftigkeit zu überzeugen. Mit Rogers Reaktion hatte sie dennoch nicht gerechnet. Er umarmte sie. Und nun, da sie seine Zustimmung hatte, spürte sie, wie ihr die Tränen kamen. Rogi flüchtete sich in seine Arme und hörte seine nächsten Worte nur gedämpft. "Gut, if werde ihr helfen"
Die Igorina betrat die leere Wohnung und fühlte sich mit einem Mal einsam. Ein ungewohntes und zugleich trauriges Gefühl, das sie das letzte Mal empfand, als sie zu ihrem Onkel gezogen war. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Die kalten Augen ihrer Mutter verfolgten sie. Rogi seufzte schwer und hängte ihre Umhängetasche an der Garderobe auf. Mit ein paar Handgriffen brachte sie die Lampen in der Wohnung zum Leuchten und setzte in der Küche einen Kessel Wasser auf. Die Hauswirtin, Frau Jahwohl, sorgte stets für neues Brennholz und die Igorina fing an, sich zu fragen, wie viel diese Wohnung kosten mochte. Ein Igor war es gewohnt, bei seinem Meister zu wohnen. Aber das hier war etwas völlig Anderes. Sie würde mit Ophelia darüber reden müssen, denn ein Wächtergehalt allein konnte hierfür niemals ausreichen. Außer, sie nähme dafür tatsächlich das Geld von diesem elendigen Vampir – die Leibrente. Bei dem Gedanken verkrampften sich ihre Hände und sie dachte an die zahllosen Nächte, in denen sie Ophelia im Wachhaus versorgt hatte. Der Kessel pfiff und gab der Igorina wieder eine Beschäftigung. Sie goss den Tee auf und holte zwei Tassen aus dem Küchenschränkchen. Rogi schenkte in beide ein und erst als sie voll waren, ging ihr auf, dass Ophelia noch immer im Wachhaus war. Dabei hatte sie sich in der Kröselstraße wirklich Zeit gelassen! Sie hatte nur kaum etwas zu beanstanden gehabt und den Tauben nur frisches Wasser gegeben. Sollte sie vielleicht wieder zum Pseudopolisplatz gehen? Es war zumindest nicht weit. Das Läuten der Glocke verdrängte den Gedanken und sie fragte sich, wer so spät etwas wollen könnte. Und vor allem von wem, denn Frau Jahwohl empfing sicher keine Besucher mehr. Schnell stand sie auf und hastete die Treppen runter, bevor die Hauswirtin sich beschweren würde. Entweder Ophelia hatte keine Schlüssel oder im Wachhaus war ein Notfall der nach ihr verlangte. Aber es wusste doch noch niemand davon, dass sie nun hier zu finden wären? Angespannt öffnete sie die Tür und hoffte auf die verdeckte Ermittlerin. Ihr prangte stattdessen ein prächtiger Blumenstrauß entgegen, der zu dieser Jahreszeit gar nicht hätte möglich sein sollen. „Eine Lieferung für das Fräulein Ziegenberger“, sagte eine Stimme hinter dem Blumenstrauß und Rogi lehnte sich zur Seite, um den Boten zu erkennen. „Fie ift nicht da aber ich kann daf entgegennehmen.“ „Mitgenommen hätte ich die auch sicher nicht mehr.“ Der Bote, der sich als schmächtiger junger Mann herausstellte, legte die Blumen vor ihren Füßen ab und zog einen Quittungsblock aus seinem Gürtel. „Dein Name?“, fragte er und schaute sie zum ersten Mal an. Die Igorina runzelte die Stirn bis ihr aufging, dass der Mann wissen wollte, wem er die Blumen überlassen hatte. „Rogi Feinftich“ Er kritzelte etwas mit seinem Stift und hielt ihr schließlich den Block vor die Nase. „Hier unterschreiben, bitte“, sagte er und deutete mit der Spitze des Stiftes auf eine Linie und reichte ihn ihr. Sie unterschrieb das Papier, als wäre es nichts anderes als ein Bericht für die Wache und sah dabei, wie er ihren Namen geschrieben hatte – Feinftich statt Feinstich. Sie überging es und gab dem Boten, den Stift zurück. „Schönen Abend noch!“ Er wandte ihr den Rücken zu und wollte gerade gehen. „Von wem ift daf?“ Der Bote ging einfach weiter und deutete mit dem Daumen hinter sich. „Da ist irgendwo ein Brief.“ Rogi bückte sich nach dem Blumenstrauß und strich über die feinen Blüten. Sie spürte eine scharfkantige Ecke und zog den dicken Brief aus dem bunten Gebilde. Ein Wachssiegel verschloss ihn und sie erkannte es sofort wieder. Damals, im Fall Ascher, hatte sie es öfter gesehen. Sie schnaubte und betrachtete ein weiteres Mal den Blumenstrauß. Was wollte dieses Schwein damit bezwecken? Sie nahm die Blumen in die Armbeuge und den Brief kurz zwischen die Lippen, um die Eingangstür sorgfältig zu schließen. Sie ging wieder nach oben, bemühte sich diesmal aber, etwas leiser zu sein. Die Hauswirtin jedoch öffnete die Tür einen Spalt breit und beobachtete sie erst, ehe sie die Tür ganz öffnete. „Ich hoffe, das war kein Männerbesuch.“ Dabei schaut sie grimmig auf die Blumen. „Verfeih die Ftörung fu fo fpäter Ftunde“, sagte sie schnell und dabei kam ihr eine Idee. „Ef kommt nicht wieder vor aber du haft dich fo gut um unf gekümmert und da wollten meine Kollegin und ich dir eine Freude machen. Wir wollten eigentlich noch Etwaf freiben, aber nun...“ Die Igorina wählte die Pause mit Bedacht und Almuth Jahwohl lächelte. „Ach, Kindchen, das ist aber nett! Tut mir Leid, dass ich so ungehalten war aber so spät noch...“ Die Hauswirtin kam hinaus und besah sich den Blumenstrauß. „Jetzt habe ich natürlich die Überraschung verdorben.“ Rogi grinste nur verlegen. Sie hatte zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die Hauswirtin war wieder freundlicher gestimmt und sie war die Blumen los. „Ich hoffe, du haft eine fo grofe Vafe.“ „Da wird sich schon was finden“, zwinkerte ihr die ältere Dame zu und nahm ihr den Strauß ab. „Gute Nacht, Frau Jahwohl.“ „Gute Nacht und ganz herzlichen Dank, auch an Fräulein Ziegenberger.“ Die Igorina nickte und setzte erleichtert ihren Weg nach oben fort. In der Wohnung lehnte sie sich gegen die Tür und betrachtete den Brief von allein Seiten. Er war eindeutig von Parsival Ascher. Woher wusste er von dem Umzug? Sie schlurfte wieder in die Küche und trank ihren Tee. Er war inzwischen lauwarm. Die Igorina legte die Kante des Briefes auf den Tisch und wippte ihn mit den Fingern hin und her. Ophelia durfte ihn auf keinen Fall kriegen. Sollte sie nachsehen was er schrieb? Sie wollte es gar nicht wissen und brummte unzufrieden vor sich hin. Rogi blickte kurz zum Ofen, folgte dann jedoch einem anderen Impuls und öffnete den Umschlag mit einem Küchenmesser. Der Brief umfasste nur wenige Zeilen. Sie begann, ihn zu lesen und mit jedem Satz intensivierte sich ihre Wut.
Ophelia, schönster Gedanke meiner schlaflosen Tage! Dein Schweigen schmerzt mich. Du weißt, dass ich immer nur das Beste für Dich wollte und noch immer deiner Antwort harre – deiner Heimkehr in meine schützenden Arme. Wir sind einander verbunden, mit jedem Schlag deines Herzens. Wie lange willst Du noch zögern? Ich hoffe inständig, dass dein widersinniges Ausweichen Dir keinen zusätzlichen Kummer bereitet. Mein Haus steht Dir jederzeit offen. Was könnte die Igorina Dir schon bieten, um die Sehnsucht zu stillen? Solltest Du ihrer jemals überdrüssig sein, denke an mich! Dein ergebener Diener, Parsival Ascher
Das konnte unmöglich sein Ernst sein! Was sollte das? Nein, Ophelia würde sie diesem Brief sicher nicht zumuten. Sie las die Zeilen ein weiteres Mal und ballte die Hände zu Fäusten. Das Papier bekam dabei Falten und sie zerknüllte es endgültig zu einer kleinen Kugel. Sie hatte zwar ihre eigenen schlechten Erfahrungen mit Vampiren gemacht aber Parsival war auf seine Weise der abscheulichste von ihnen. Wahrscheinlich meinte er es auch noch gut mit Ophelia und wollte sie wirklich, nach allem was passiert war, beschützen. Aber zu welchen Mitteln er griff, um seinen Willen zu kriegen, beunruhigte die Igorina. So mit den Gefühlen anderer zu spielen war nicht richtig. Ophelia hörte zum Glück nicht darauf und kämpfte noch immer gegen das an, was ihr Herz ihr weismachen sollte. Manchmal fragte sich Rogi, ob die verdeckte Ermittlerin es nicht leichter hätte, der suggerierten Liebe nachzugeben. Aber das könnte nur gut gehen, wenn Parsival es wirklich Ernst meinen würde. Rogi glaubte nicht daran. Noch beunruhigender war aber, dass er wusste, dass sie beide umgezogen waren. Entweder Ophelia stand unter Beobachtung und somit auch sie. Oder er sah direkt in ihren Kopf und das die ganze Zeit schon. Wenn das der Fall sein sollte war ihr Geheimnis nicht mehr sicher. Sie stand schnell auf und betrachtete das Papierknäuel in ihrer Hand. Sie warf Umschlag und Brief in den noch heizenden Ofen und wünschte sich, die ausgehende Gefahr von dem Vampir würde sich ebenso in Rauch auflösen. Rogi tigerte aufgeregt durch die Wohnung und knetete ihre Hände. Denk nach! Hatte er etwas verraten? Vielleicht sogar Ayami? Nein, Parsival hatte explizit an Ophelia geschrieben und sie selbst hatte er sicherlich nicht deswegen erwähnt, um auf die Nerven zu gehen. Es war sogar herauszulesen gewesen, dass gerade sie dem Vampir im Weg war. Und so sollte es auch bleiben. Wenn er ihr Suchtproblem auch nur erahnt hätte, wäre er schon längst an sie herangetreten, um sie von Ophelia fern zu halten. Sie musste lachen. Als hätte ich diese Nähe je gesucht! Sie entspannte sich etwas. Die Igorina hatte nichts zu befürchten, aber sie würde in Zukunft Ausschau halten. Wenn Ophelia beobachtet wurde, würde sie es herausfinden und dann konnte derjenige sich auf Etwas gefasst machen.
„FROOOGS! Angetreten!“ Zwei Stockwerke überwanden diese Worte nur mühsam und sie verklangen für die meisten Wächter in den unteren Etagen des Wachhauses ungehört, doch Rogis feines Gehör verstand jede einzelne Silbe. Ihr Körper krampfte sich zusammen. Nein, nicht jetzt, nicht heute! Sie hatte Urlaub beantragt! Die Igorina schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Ganz ruhig, man muss nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Vielleicht nur eine Übung. Rogi stand schnell auf, um keine weitere Zeit zu verlieren. Sie griff sich ihre Umhängetasche mit der Ausrüstung. Auf dem Weg die Treppe nach oben, schwang sie den Gurt über ihren Kopf und ließ die Tasche an ihre Seite baumeln. Die letzten Stufen zum zweiten Stock wurde sie langsamer und verschnaufte schließlich auf dem Treppenabsatz. Schlafmangel und Entzug forderten ihren Tribut. „Rogi?“ Ruckartig richtete sie sich auf und sah zu Ophelia. Die so ungewohnte Schminke, die diese aufgelegt hatte, erinnerte die Igorina an die letzte Nacht. Die zweite Nacht in der Wohnung und der dritte Tag des Entzugs. Braggasch lief an ihnen vorbei und bedachte die Igorina mit einem fragenden Blick. „Bin gleich da.“ Dem Zwerg reichte die Antwort und so lief er ohne zu stoppen weiter zum Bereitschaftsraum der FROGs. Die beiden Wächterinnen warteten, bis er nicht mehr zu sehen war. „Rogi, geht es?“ „Ich faff daf fon. Keine Forge.“ Sie bemühte sich um einen besonders ruhigen Tonfall, doch Ophelia sah sie besorgt an. Rogi wandte den Blick ab und sah den Gang hinunter Richtung Kommandeursbüro. „Ich follte mich beeilen.“ Ophelias sorgenvoller Blick ruhte noch immer auf ihr und Rogi drückte ihre Vertraute kurz am Arm. „Wir fehen unf heute Abend.“, sagte die Igorina bestimmt. Sie ließ Ophelia stehen und beschleunigte ihre Schritte, als sie den Gang hinunter lief. Sie sah nicht zurück. Rogi wusste auch so, dass die verdeckte Ermittlerin ihr nachsah. Niemals hätte sie ihr das zumuten dürfen, doch es war passiert und nicht mehr zu ändern. Die letzte Nacht war besonders schlimm gewesen und Ophelia hatte dies deutlich zu spüren bekommen. Das versteckte Veilchen würde, wenn die Salbe wirkte, bald nicht mehr zu sehen sein. Sie konnte nicht mal sagen mit welcher Wucht sie zugeschlagen hatte. Nur um an das Beruhigungsmittel heranzukommen! Und dennoch hatte Ophelia sich ihr entgegen gestellt. Mit Erfolg! Als die Igorina um die Ecke lief, versuchte sie sich auf das bevorstehende zu konzentrieren. Rogi betrat den Bereitschaftsraum als Letzte. Sie ging schnell an den Anderen vorbei und schob sich in den Hintergrund. Nervös sortierte sie ihre Ausrüstung in der Tasche und tastete den Inhalt ab. Ihre Hand streifte das Fläschchen mit dem Beruhigungsmittel und zuckte zurück. Waren es zwei oder schon drei Tage ohne das Medikament? Gedankenverloren schweifte ihr Blick durch den Raum und sie konnte nicht anders, als ein ums andere Mal ihre Ausrüstung zu kontrollieren. Die Tür öffnete sich und Bregs betrat den Aufenthaltsraum. Sie sah auf und blickte direkt in Valdimiers Augen. Rogi erstarrte regelrecht. Der Vampir beobachtete sie. Er war ihr vor ein paar Jahren schon beinahe auf die Schliche gekommen. Nur eine Lüge hatte sie vor Nachforschungen seinerseits bewahrt. Dabei war Lügen so etwas Abscheuliches! Seither kaufte sie nur noch in Olivanders Igordrom, wenn sie sicher war, dass der Vampir Dienst hatte. Über ihre eigene Unruhe erschrocken, ließ sie von ihrer Ausrüstung ab und spürte den Tragegurt deutlich auf ihrer Schulter, als die Tasche an ihre Seite baumelte. Sie schaute schnell zu Breguyar und versuchte sich auf ihn zu konzentrieren. Das Zittern ihrer Hände wurde wieder stärker und sie umfasste den Gurt der Tasche, so fest sie konnte. „Ab sofort gilt bis auf Weiteres für alle Anwesenden Bereitschaft!“ Rogi verzog das Gesicht. Also keine Übung – oder vielleicht doch? Aber die dicke Akte, die Araghast anhob, damit alle Anwesenden sie sehen konnten, schien sehr echt zu sein. „Wir haben seitens RUM eine Beweiskette vorgelegt bekommen, die darauf hindeutet, dass die terroristische Vereinigung HIRN in den letzten Monaten wieder reaktiviert wurde und für inzwischen mindestens zwanzig aktenkundige unlizensierte Morde verantwortlich zeichnet.“ Es gab die Gruppe also noch. Und nicht nur sie erinnerte sich daran. Rogi hörte deutlich wie Valdimier die Luft einsog. „Ihr hattet schon mal das Vergnügen? Was ist das für eine Truppe?“, fragte Nyvania neugierig und da der Kommandeur keine Anstalten machte, die Frage zu beantworten, ergriff der leichte Armbrustschütze das Wort: "HIRN steht als Abkürzung für den Namen 'Heimliche Infragesteller Rücksichtsvoller Neuordnung'. Wir haben damals, als sie ein Konzert in die Luft jagen wollten, einen ihrer Kumpanen nur noch als Leiche ins Wachhaus bringen können. So gehen...“ Weiter hörte sie nicht zu. Sie war nur erleichtert, dass Valdimier sich nicht mehr auf sie konzentrierte. Sie schloss die Augen um sich kurz zu entspannen aber ein Knall ließ sie aufschrecken. Breguyar hatte die Akte auf den Tisch fallen lassen. „Richtig! Chief-Korporal Ziegenberger hat nun in einer gut nachvollziehbaren Argumentation aufgezeigt, dass diverse Morde in den Schatten miteinander – und vor allem mit HIRN – in Zusammenhang zu stehen scheinen.“ Rogi seufzte innerlich. Natürlich. Ophelia war immer darauf bedacht, den Überblick zu behalten. Seitdem der linke Arm der Ermittlerin unbrauchbar war, stürzte sie sich geradezu auf die Arbeit, verglich einen Fall nach dem anderen und suchte nach Übereinstimmungen. So hatte Ophelia sie schließlich auch mit ihrer Sucht konfrontiert. Der Redefluss des Kommandeurs stoppte und sie konzentrierte sich wieder auf ihn, als er sich mit beiden Händen auf die Tischplatte stützte. „Es gibt den dringenden Verdacht, dass in den nächsten Stunden ein nicht autorisierter Schmuggel zugunsten von HIRN stattfinden wird, welcher größere Mengen Sprengstoff beinhaltet. Wir wissen, was das bedeuten würde!“ Der Magen der Igorina krampfte sich zusammen und die Ruhe im Raum schien ihr auf einmal unerträglich. „Beim letften Mal konnten wir fie geradefo aufhalten. Diefmal wüfften wir nicht einmal, welchem Objekt der Anflag gelten würde...“ Rogi hielt kurz die Luft an und achtete nicht weiter auf die darauf folgenden Worte des Kommandeurs. Sie wusste auch so, dass es nun galt, auf Alles vorbereitet zu sein. Kaum hatte die Igorina das gedacht, flog die Tür auf und ein Rekrut stürmte hinein. Rotes Haar, blasses Gesicht aber Rogi wollte nicht einfallen, um welchen Rekruten es sich handelte. Zu lange schon war sie keine Ausbilderin mehr, als das es sie noch interessiert hätte. Der Junge kam kaum zu Atem und lief direkt auf den Kommandeur zu. "Ihr seid noch da, was für ein Glück..." Breguyar wurde regelrecht mit der Nachricht überfallen. "Das kam grad rein. Zweimal! Ich glaub, es lief über verschiedene Wege und ist parallel auch noch von der Kröselstraße aus angekommen, die haben es wohl weitergeleitet. Keine Ahnung, ob die nun auch schon los sind aber..." Die Igorina beobachtete den Kommandeur aufgeregt, wie er die paar Zeilen las. Sein Blick wanderte von der Nachricht zur Akte und wieder zurück und Rogi ahnte, dass dies kein einfacher Einsatz werden würde. Nur ausgerechnet heute war es kein guter Zeitpunkt. Araghast richtete sich ruckartig auf und traf eine Entscheidung. "Es sieht so aus, als wenn unsere Kollegen den Übergabeort des Sprengstoffs gefunden hätten. Am Perlendock. Und der Zeitpunkt ist genau jetzt. FROGs... wir haben einen angeschossenen Kollegen und brechen sofort auf!" Angeschossenen Kollegen! Sie trat, wie von einem Schlag benommen, einen Schritt zurück. Rogi sah wie ihre Kollegen zum Ausgang mit der Rutschstange strömten. „Spreng... wieso... aber...“, stotterte der Rekrut, der nun keinerlei Beachtung mehr fand. Die Igorina folgte automatisch den anderen, doch Breguyar winkte sie zu sich. „Ich habe deinen Antrag registriert aber ich denke, du wirst Verständnis dafür haben, dass das unter diesen Umständen noch einmal warten muss, richtig?“ Sie nickte automatisch. Ihre Hilfe war von Nöten und das konnte sie weder ablehnen noch leugnen. Es war nun egal wie es ihr selbst ging. 'Hilf, wo Hilfe gebraucht wird', das war das Motto der Igors und der Gedanke gab ihr mehr Zuversicht, als sie Araghast antwortete: „Felbftverftändlich, För! Ich bin einfatffähig.“ Der Kommandeur nickte nur und sie machte auf dem Absatz kehrt. Sie griff entschlossen nach der Rutschstange und fiel dem Boden regelrecht entgegen. Ihre Kollegen saßen schon auf dem Karren und Valdimier sprang auf den Kutschbock, als Breguyar hinter ihr landete. Sie rannte los, den Kommandeur direkt hinter sich. Ein Rekrut reichte soeben Valdimier die Angel mit der Karotte und überprüfte die Ohrschützer des Esels. Nur ein Ton einer Glocke und Schusi wäre bei schneller Fahrt, wie jetzt geplant, nicht mehr unter Kontrolle zu kriegen. Rogi landete neben Nyvania auf der Ladefläche. Zwischen die Füße der FROGs wurde ein Erste-Hilfe-Koffer geschoben und die Igorina nickte dem Rekruten zu. Breguyar saß kaum auf der Sitzbank neben Valdimier, als er den Befehl zum Aufbruch gab. „Alle Festhalten!“ Die Zügel knallten und der Karren tat einen Ruck nach vorne, der Rogi fast von der Ladefläche schleuderte. Sie hielt sich gerade noch fest, doch Nyvania bedachte sie mit einem kritischen Blick. Ebenso Kanndra ihr gegenüber. Kein guter Zeitpunkt für langsame Reaktionen. Reiß dich zusammen und steh das hier durch, dann hast du Urlaub! Alles wird gut, wie Ophelia gesagt hat.
Der Wagen fuhr eine harte Kurve und drückte die Igorina gegen das Holz. Der Esel beschleunigte wieder. Rogi versuchte die Orientierung zu behalten. Sie fuhren mit Schusi in diesem Tempo nur auf den Hauptstraßen. SEALS und Rekruten auf der Strecke wurden per Klacker benachrichtigt, den Verkehr wenn nötig zu stoppen. Dies bedeutete aber auch einen Umweg. Sie mussten über die Sirupminenstrasse fahren. Die Hafenanlagen den Ankh entlang waren zu gefährlich. Rogi starrte in den Himmel über ihr. Die Sonne war schon nicht mehr auszumachen. Es würde bald dunkel werden. Eine weitere Kurve drückte Rogi gegen das Holz des Karrens. Kurz darauf wurde der Esel langsamer, kaum merklich bei der Geschwindigkeit, doch die FROGs machten sich bereit für den Einsatz. Die Igorina atmete tief ein. Jeden Moment würde der Wagen anhalten. Sie fiel Nyvania in die Arme, als Schusi durch sein Lieblingsgemüse ruckartig zum Stehen gebracht wurde. Sie richtete sich schnell wieder auf, während ihre Kollegen schon vom Karren sprangen und dem Kommandeur die restlichen Meter zum Perlendock folgten. Sie trafen auf ein paar verschüchterte Rekruten. Hauptmann Pismire kam aus einer anderen Ecke auf den Kommandeur zu. Rogi achtete nicht auf die Besprechung der beiden. Breguar hielt sich auch nicht lange auf und die FROGs ließen die Rekruten zurück. Am Ende der Unbesonnenheitsstraße wurden sie langsamer und die FROG-Truppe schmiegte sich eng an die Hauswand. Der Püschologe winkte die beiden Späher zu sich. „Ihr wisst, was zu tun ist... und haltet nach unserem Verletzten Ausschau.“, flüsterte er. Braggasch verschwand aus Rogis Gesichtsfeld. Kanndra hingehen ging die paar Meter bis zum Ende der Straße weiter und sah um die Ecke. Die Igorina bemerkte neben sich, wie Valdimier seine Armbrust spannte. Tyros war ebenso geschäftig zugange. Kanndra hob die Hand und der komplette Trupp konzentrierte sich auf ihr Handzeichen. Rogi hörte, wie weitere Frösche sich auf ihre Positionen verteilten. Eine nervöse Stimme meldete sich mehrere Zentimeter tiefer Braggasch war zurück. „Äh... Fünf Männer sind zu sehen und... äh Rogi da ragen zwei Beine aus dem Kistenhaufen, der... äh... grade verladen wird.“ Der Verletzte! Sie machte instinktiv einen Schritt nach vorne, doch Valdimier packte sie an der Schulter. Breguyar vor ihr betrachtete sie mit einem kurzen, skeptischen Blick. Sie sollte es eigentlich besser wissen. Aber die Aufregung war schon jetzt genug und die Entzugserscheinungen machten es ihr nicht leichter, sich zu konzentrieren. „Rogi, du bleibst hinter mir!“, sagte Breguyar und lief auch schon weiter zu der Späherin vor ihnen. Es ging los! Tyros lief an ihr vorbei und kniete sich neben Kanndra. Rogi beobachtete des Ganze noch einige Sekunden bis ihr klar wurde, dass sie sich selbst auch in Bewegung setzten sollte. Ein kleine Metallkugel rollte über den Boden. Rogi hörte, wie die Rauchbome explodierte. Das darauf folgende Stimmengewirr war chaotisch und genau der Moment, den die Wächter brauchten. Sie liefen los. Die Igorina heftete ihren Blick an den Rücken des Kommandeurs und folgte ihm. Vor ihnen lagen drei Männer am Boden und husteten ausgiebig. Der Alchemikexperte hatte sie voll erwischt. Aber wo war der Rest? Keine Zeit dafür! Wo war der Verletzte? Rogi versuchte, durch den sich lichtenden Rauch hindurch etwas zu erkennen und sie sog die Luft zischend ein, als sie die Beine sah, die Braggasch gemeint haben musste. Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte weiter in die Richtung. Doch der Platz war noch nicht gesichert. Kurz darauf flog die Tür zum Lagerhaus auf und zwei Männer wurden regelrecht hinauskatapultiert und gesellten sich den noch husteten und würgenden Männern auf dem Vorplatz hinzu. Valdimier trat kurz gefolgt von Nyvana aus dem Gebäude. Das war es! Rogi achtete nicht weiter auf ihre Kollegen oder die Rekruten, die nun ebenso die Szenerie stürmten. Sie hatte nur noch Blicke für den Verletzten. Sie stieß auf dem Weg ein paar Kisten beiseite um sich Platz zu verschaffen. Sie hörte das Winseln eines Hundes und als sie freie Sicht hatte, wurden ihre Knie weich. Sie sackte zusammen. Michael Machwas lag dort und neben ihm zusammengerollt sein Hund Mortimer. Sie schluckte schwer, als sie neben ihn rutschte und routiniert Puls und Atemfrequenz prüfte. Er war noch am Leben! Mortimer wedelte leicht mit dem Schwanz. Der Blutfleck auf dem Hemd ließ nur eine vage Bestimmung der Position des Einschusses zu. Sie riss das Hemd entschlossen auf und Michael regte sich leicht. Mortimer nahm das zum Anlass seinem Herrchen das Gesicht abzulecken. Der SEALS stöhnte auf. Rogi griff nach dem Schmerzmittel und zog eine Spritze auf. Sie verabreichte dem Vektor das Medikament, so schnell sie konnte. Kaum wurde sie sich dessen bewusst, starrte sie auf ihre Hände. Das Zittern war fort. „Rogi?“ Die Angesprochene schaute auf ihn hinab. Michael öffnete die Augen und versuchte, mit einer Hand seinen Hund abzuwehren. „Mortimer, verfwinde!“ Der Hund zog den Schwanz ein. Die Igorina richtete ihren Fokus wieder auf Michaels Brust. „Michael, verftehft du, waf ich fage?“ Ihr Patient deutete ein Nicken an und sie fing an, seine Brust abzutasten. „Wo wurdeft du getroffen?“ „Linke Seite. Handarmbrust.“ Michael atmete schwer. Sie biss die Zähne zusammen und nickte. Der Bolzen war nicht zu sehen und durch das viele Blut auch auf den ersten Blick nicht auffindbar. Sie klopfte die Brust ab und die linke Seite klang komplett hohl. Der Lungenflügel hatte sich durch die Verletzung zusammen gefaltet. Blut drang in die Atemwege. Sie musste etwas unternehmen. Sie ertaste das Einschussloch und stieß dabei auf das Ende des Bolzens. „Rogi wie sieht es aus?“, fragte jemand hinter ihr. Sie schaute nicht hin, als sie antwortete: „Feine Lunge ift befädigt aber er ift bei Bewufftfein.“ „Frag ihn, was er beobachtet hat.“, sagte der Kommandeur aufgeregt. „För, nicht jetft!“ Michael jedoch machte Anstalten sich aufzurichten. Sie wollte protestieren, stützte ihn aber, als sie bemerkte, dass er so besser atmen konnte. „Zwei Männer haben sich gestritten.“ Michael war kaum zu verstehen und selbst Rogi beugte sich vor. „Der eine nannte auch einen Namen – 'Basti'.“ „Was sagt er?“, fragte der Kommandeur, der nicht über das Gehör der Igorina verfügte. „Ef war Bafti, För.“ Der Kommandeur setzte zu einer weiteren Frage an aber Rogi hob nur eine Hand. „Daf reicht jetft, För.“ Breguyar zögerte kurz, bevor er ohne ein weiteres Wort kehrt machte. Die Igorina atmete tief durch. Michael jedoch verdrehte die Augen und fasste sich mit der rechten Hand an seine Brust. Der Vektor kippte nach hinten und die Igorina fing ihn ab. Sie fühlte seinen Puls, während sie ihn gleichzeitig abhörte. Sie hörte kaum ein Atemgeräusch und der Pulsschlag erhöhte sich. Die Igorina richtete sich ruckartig wieder auf. Michaels Haut verfärbte sich ins Bläuliche. Sie klopfte schnell ein weiteres Mal den linken Brustkorb ab. Das hohle Geräusch war lauter geworden. Er bekam keine Luft mehr. Sie brauchte eine wesentlich größerer Kanüle, als ihre Tasche hergab. Sie schaute neben sich und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie den Koffer mit der Zusatz-Ausrüstung vergessen hatte. Ihr nervöser Blick ging zu Michaels Tasche und sie beruhigte sich wieder. Schnell griff sie danach und fand in wenigen Sekunden was sie suchte. Rogi ertastete schnell den fünften Rippenbogen und rammte dazwischen eine Spritze bis zum Anschlag in seine Brust. Sie zog diese auf um schneller einen Druckausgleich zu schaffen und entfernte sie, so dass nur noch die Kappe der Kanüle aus Michaels Brust ragte. Rogi prüfte mit einem Daumen ob genug Luft austrat. Mit der anderen Hand überwachte sie weiterhin den Puls, der sich kurz normalisierte. Doch dann spürte sie nichts mehr. Ihre Augen weiteten sich erschrocken. Mortimer winselte auf und schmiegte sich an den leblosen Körper des Vektors. Im Hintergrund nahm Rogi immer noch das hektische Treiben ihrer Kollegen war, doch die Stille, die von Michaels Körper ausging, klingelte lauter in ihren Ohren, als alles Andere. Entschlossen packte sie seinen Kopf, streckte den Hals über und hielt ihm die Nase zu. Sie beatmete den Vektor mit zwei tiefen Lungenzügen. So leicht würde er ihr nicht davon kommen! Michael reagierte nicht. Für einen Sekundenbruchteil sah sie zum Einschussloch. Zu nah am Brustbein, um eine Herzmassage ohne Risiko durchzuführen. Doch sie musste handeln. „Mä'äm?“ Ein Rekrut war hinter ihr mit einer Laterne aufgetaucht. Sie deutete nur stumm auf den Platz ihr gegenüber. Der Wächter hatte Mühe, Mortimer zu verscheuchen, doch für so etwas hatte die Igorina keine Zeit. Sie packte den Arm des Rekruten und rückte somit die Lampe in die richtige Position. „Ist er...“ „Fei ftill!“ Sie entrollte mit einem Handgriff eine Lederrolle neben sich und mehrere Skalpelle blitzten auf. Rogi nahm ohne zu zögern eines und setzte das Skalpell zwischen dem vierten und fünften Rippenbogen links vom Brustbein an. Sie durchtrennte die Haut mühelos entlang der Rippe, bis hin zur mittleren Achsellinie. Die Sanitäterin riss die nun störende Kanüle aus der Brust und schob die Ärmel ihres Hemdes leicht nach oben. Die Igorina entnahm ihrer Tasche zwei Wundspreizer, um die Rippen auseinander zu drücken. Rogi presste die Lippen aufeinander, als sie ihre linke Hand in die Öffnung gleiten ließ. Die Laterne über ihr schwanke etwas. Die Igorina achtete nicht auf den Rekruten, der mit einer Ohnmacht zu kämpfen schien. Sie ertaste Michaels Herz und fing mit der Reanimation an. Sie blickte kurz zum Rekruten. Er war um die Nase herum blass geworden, doch er hielt tapfer durch. Gute Voraussetzungen. „Beatme ihn. Lof!“ Der Wächter starrte sie nur ängstlich an, doch ihr bohrender Blick schien Früchte zu tragen. Er stellte die Lampe ab und begann mit dem Beatmen, während sie dem Herzen eine kurze Pause gönnte. Nach der zweiten Beatmung des Rekruten fing sie wieder an und sie hielt erstarrt inne, als Michaels Herz die Arbeit von alleine fortsetzte. Michael atmete wieder und der Rekrut hielt die Laterne zitternd in die Höhe. „Gute Arbeit, Rekrut.“ Der Wächter entspannte sich und sie wünschte sich, ebenso erleichtert sein zu können. Doch noch hob sich nur die rechte Seite von Michaels Brust. Der linke Lungenflügel war weiterhin nicht intakt. Ebenso war durch die offene Herzmassage der Blutverlust noch größer. Sie war ein hohes Risiko eingegangen und musste nun mit den Folgen umgehen. Sie sog die Luft ein, als das Zittern wieder los ging. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die geöffnete Brust des SEALS und zog die zitternde Hand aus dem Körper. Ihrer Hand folgte Blut. Zu viel Blut. Hatte sie den Bolzen berührt? Sie taste in das Einschussloch, doch das Ende des Bolzens war verschwunden. Die Igorina atmete mehrfach tief ein, konnte sich jedoch nicht beruhigen. Ihre Hand verschwand wieder in Michaels Brustkorb. Sie ertastete den Bolzen und ihre Finger glitten das Holz entlang zur Metallspitze. Eine Aterie war verletzt. Deutlich spürte sie, wie das Blut an ihrer Hand vorbeiströmte. Sie drückte mit ihren Daumen die Aterie ab. Ein ausichtsloser Kampf, das wusste sie. Nein nicht so! Ich hatte es doch fast geschafft! Als sein Herz aufhörte zu schlagen, zog sie ihre Hand zurück. Mortimer kam an ihre Seite und leckte über ihr Gesicht. Sie schob den Hund sanft mit ihrer Hand beiseite. Die Laterne verschwand samt des Rekruten. Hatte er etwas gesagt? Die Igorina blieb in der Dunkelheit zurück. Hätte sie etwas anders machen sollen? Den Bolzen entfernen, um die Herzmassage so durchzuführen? Doch genau der Bolzen war das Problem gewesen! Seine Beschaffenheit unbekannt. Sie hatte richtig gehandelt. Ihr Körper war es, der nicht mehr gehorchte. Dieser Entzug hatte sie an ihre Grenzen gebracht. Irgendwer rief sie aber sie konnte nicht reagieren. Zu tief saß das Entsetzten über sich selbst. „Rogi, alles in Ordnung?“ Nyvania war zu ihr gekommen. „Er ift verblutet. Ich...“ Sie unterbrach sich. Ihre Schuld bekennen konnte sie nicht. „Ich hatte ef faft geschafft.“ „Du hast getan, was du konntest, da bin ich mir sicher.“ Die Püschologin berührte sie an der Schulter. Rogi ließ den Kopf hängen und packte im trüben Licht der Umgebung ihre Ausrüstung zusammen, dabei erschien ihr diese Tätigkeit in dem Moment so sinnlos. „Wir fahren gleich. Der Hauptmann weiß Bescheid, um den Rest kümmern sich die Rekruten.“ Am liebsten wäre sie dort sitzen geblieben, doch Nyvania ließ nicht locker. Die Igorina erhob sich langsam und ihre Kollegin führte sie zum Karren. Valdimier zog die Igorina mühelos auf die Ladefläche. Der Kommandeur trat in ihr Blickfeld und sie versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren aber Michaels lebloser Körper ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. „Rogi, wir reden später, ja? Aber das ist jetzt wichtig – hat Michael noch etwas gesagt?“ „Fwei Männer haben fich geftritten und einer nannte den Namen Bafti.“ „Dann wissen wir wenigstens, mit welchem Joram-Zwilling wir das Vergnügen haben.“, sagte Nyvania und schlängelte sich an Breguyar vorbei. Die Igorina merkte nur wie sich die Püschologin neben sie setzte. Sie legte den Kopf in den Nacken, als der Karren sich in Bewegung setzte. „Jemand muff fich um Mortimer kümmern.“
Die Sanitäterin achtete nicht auf ihre Kollegen oder die beiden Hauptverdächtigen, als der Esel im Hof des Wachhauses stoppte. Die FROGs führten ihre Gefangenen ab, während sie weiter auf dem Karren sitzen blieb und den Sternenhimmel über sich betrachtete. Es war einer jener Momente, in denen Menschen zu Göttern beteten. Die Igorina jedoch konnte niemanden um Verzeihung bitten, außer sich selbst. Sie war unfähig das Geschehene zu akzeptieren. Und je länger sie darüber nachdachte, desto unverzeihlicher war es. Sie hätte sein Leben retten können aber sie war es gewesen, die die Aterie verletzt hatte. Danach blieben Michael nur noch Sekunden. Rogi umklammerte ihre Knie. Die Kälte kroch ihr in die Knochen. „Mä'äm?“ Rogi schreckte auf, als die Rekrutin sie ansprach. Die Reaktion der Igorina löste lautes Hundegebell aus und die Rekrutin sprang einen Satz zurück. Rogi schaute runter. Mortimer war ihr gefolgt. Die Igorina sprang schnell vom Karren und steuerte den Hintereingag des Wachhauses an. Michaels Hund tippelte ihr hinterher. Allein die Anwesenheit Anderer konnte sie kaum ertragen. Sie hatte Angst vor Fragen und die würden kommen. Sie sprintete den Gang entlang und ignorierte auch die Wächter am Wachetresen. Sie nahm mehrere Stufen auf einmal und stürzte fast. Sie stütze sich an der Wand ab und starrte entsetzt auf den blutigen Handabdruck, den sie hinterließ. Schnell weiter! Sie hielt geradewegs auf den Waschraum zu und stieß die Tür hektisch auf. Sie bereitete routiniert einen Waschtisch vor. Hauptsache beschäftigt bleiben und nicht nachdenken. Sie betrachtete sich kurz im Spiegel. Blutspritzer überzogen ihr Gesicht. Die Igorina tauchte ihren Kopf in das Wasser. Erst als ihre Lunge nach Luft verlangte, tauchte sie wieder auf und trocknete sich mit einem Tuch das Gesicht. Sie wusch wie besessen die Hände und selbst, als ihre Hand schon sauber war, schrubbte sie weiter. Ihr Gewissen ließ sich dadurch nicht beruhigen. Erst als ihre Haut brannte und die Nähte ganz aufgeweicht waren, hörte sie auf. Sie hinterließ den Raum wie sie ihn betreten hatte und vergeudete auf dem Weg zu ihrem Büro keine weitere Zeit. Die Rekruten die den Verhöhrraum bewachten, interessierten sie nicht. Sie betrat ihre Zelle und schloss die Tür hinter sich. Sie lehnte sich kurz an. Es kratzte an der Tür. Sie dachte nicht daran Mortimer die Tür zu öffnen! Sie hörte ein leises Brummeln. Staub unter ihren Füßen wurde aufgewirbelt, als der Hund durch den Türschlitz schnaubte. „Ift ja gut...“ Sie öffnete die Tür einen Spalt und Mortimer trat freudig mit den Schwanz wedelnd ein. Sie öffnete die Klappe, mit der sie das vergitterte Fenster verdeckt hatte, und sah kurz nach draußen. Rogi stemmte sich mit beiden Händen gegen die Tür. Was jetzt? Das Beruhigungsmittel! Schluss mit dem Entzug – ich muss funktionieren! Die Sanitäterin nahm ein großes Einmachglas aus dem Regal. Ein paar Augen schwammen darin hin und her, als sie es auf dem Tisch abstellte. Mit zittrigen Händen öffnete sie den Verschluss und griff in die geleeartige Masse. Sie wusste genau was sie suchte. Ein saugendes Geräusch ertönte, als die Hand in Form einer Faust wieder zum Vorschein kam. Langsam öffnete sie die Finger und betrachtete das kleine Fläschchen genau. Sie schüttelte es leicht und beobachtete zufrieden, die sich bildenden Schlieren an der Glaswand. Schnell stellte sie es ab, wischte sich die Einlegemasse an ihrer Uniform ab und der beißende Geruch verbreitete sich in der Zelle. Die eingelegten Augen wurden wieder verschlossen und zurückgestellt als wäre nichts gewesen. Aus ihrer Umhängetasche nahm sie das Spritzbesteck und beinahe hätte sie es fallen lassen, in ihrer Aufregung. Immer noch zittrig, nahm sie das Fläschchen zur Hand und hielt es so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie schraubte den Deckel ab, der dabei zu Boden fiel und unter den Schreibtisch kullerte. Sie ignorierte diesen Umstand und zog die Spritze auf. Es winselte leise. Mortimer hatte sich inzwischen vor der Tür zusammengerollt und beobachtet sie. Sie hielt inne, als die Flüssigkeit der gewünschten Dosis entsprach. Doch es ging nicht mehr nur ums Funktionieren. Sie konnte nicht mehr! Die Bilder von Michaels Tod würde sie nicht verdrängen oder jemals vergessen können. Sie schaute angespannt auf die Markierung der Spritze. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals und ihre Hände verkrampften sich um Spritze und Fläschchen. Sie traf eine Entscheidung und mit dieser verschwand ihr Herzrasen und auch das Zittern. Sie zog die Spritze voll auf. Das Beruhigungsmittel stellte sie zurück auf den Tisch, doch sie stieß es um als sie ihre Hand wieder zu sich zog. Auch das war nun egal, das Fläschchen war ohnehin so gut wie leer. In der linken Hand die Spritze fest umklammert, krempelte sie sich mit der freien Hand den Ärmel hoch. Die vernarbten Einstichstellen, die zum Vorschein kamen, kümmerten sie schon lange nicht mehr. Die Igorina nahm auf ihrem Stuhl Platz und atmete tief durch. Sie setzte die Spritze an und zögerte keinen weiteren Moment als sie sich den Schuss gab. Der kalte Strom durch ihre Adern, war das letzte was sie spürte.
***
Er spürte kaum noch seine Hände, so eng waren ihm die Handschellen angelegt worden. Aber er würde sich weder beschweren, noch sonst etwas sagen, bis er sicher sein konnte, dass Ophelia Rogis Geheimnis weiterhin für sich behielte. Roger hoffte, dass die Wächterin bald wieder zu sich kommen würde. Aber ihm war nicht wohl, als er daran dachte, was die Vampirin gesagt hatte. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht mit der Wächterin. Der Kommandeur betrat den Raum und schwenkte den Lampenschirm so um, dass ihn das Licht blendete. Der Igor schloss die Augen, als er am Kragen gepackt wurde. „Ich warne dich Freundchen: Ich hab die ganze Nacht Zeit!“ Der Druck an seinem Hals verstärkte sich kurz, als der Kommandeur den Igor weiter anhob. Breguyar ließ ihn los und Roger landete unsanft auf dem harten Stuhl und klemmte sich dabei die Hände ein. Er beobachte den Wächter, der neben der Tür Stellung bezog. Roger legte den Kopf in den Nacken. Egal, was Breguyar versuchen würde, er würde die Klappe halten und auf Ophelia warten. Egal was auch geschehen mochte oder sie ihm zur Last legen würden: Er würde Rogi nicht noch einmal im Stich lassen.
Ende[1] Zu dieser Zeit in Überwald gab es für Zombies keinerlei Hilfestellung im Untotendasein und selbst in Ankh-Morpork war der Klub des neuen Anfangs noch in den Kinderschuhen. Sobald also ein neuer Zombie erwachte, war er auf sich allein gestellt. In einem Land wie Überwald sehr ungünstig. Igors waren diesbezüglich auch nicht verständnisvoll. Wenn es darum ging, neue Körperteile auszugraben, durften diese nicht davon laufen. Deswegen sollte ein Igor die Schaufel immer griffbereit halten.
[2] Sogar von innen mangelte es nicht an Perfektion.
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