Memoria - Erinnerung

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von Gefreite Sayadia Trovloff (FROG)
Online seit 01. 10. 2007
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Wie verhälst du dich, wenn du aufwachst und dein Kopf ist ausgelöscht. Völlig. Du kannst dich an nichts aus deinem Leben erinnern. Dann gehst du durch die Stadt und bemerkst, dass du gewisse Bilder mit der Stadtwache verbunden hast. Was will dir dein Bewusstsein damit sagen? Und, wie reagierst du darauf?

Dafür vergebene Note: 11

***Prolog***


Elenora saß auf ihrem geliebten Schaukelstuhl und wippte munter vor und wieder zurück. Ihr Blick ruhte auf ihren Enkelkindern, die sich zufrieden im Gras vor dem Haus wälzten. Es war ein herrlicher Sommertag, strahlend blauer Himmel und sonnige Temperaturen, die ungeschützte Haut schnell röten ließen. Und das Beste war, dass es sich allem Anschein nach in der nächsten Zeit auch nicht ändern würde.
Sie liebte ihr Leben hier auf dem Land. Hier konnte sie beruhigt ihren Lebensabend verbringen und war doch nicht allzu weit von der großen Stadt entfernt. Man konnte sie sogar am Horizont erkennen - das berühmt berüchtigte Ankh-Morpork.
Einer ihrer Enkel kam stürmisch auf ihren Schaukelstuhl zugerannt. Elenora hob das kleine Mädchen mit den blond gelockten Haaren auf ihren Schoß. Schweigend genossen sie die gemeinsame Nähe und ließen ihren Blick den Horizont entlang schweifen.
"Weißt du noch wie die Stadt war?", Elenora schaute mit liebevollem Blick auf die Kleine auf ihrem Schoß. Die zuckte nur mit den Schultern. Anscheinend war sie müde.
"Du hast doch immer Glückskekse gegessen!"
"Oma, ich kann mich nicht dran erinnern...", die Kleine war eingeschlafen.
Die alte Frau konnte sich erinnern, wieder erinnern.
Und Elenora erinnerte sich.

***1.Szene - Wenn du aufwachst...***


Sie schlug die Augen auf und starrte auf die Decke über ihr. Eine kleine Spinne starrte zurück, zumindest hatte die Frau das Gefühl von dem kleinen, achtbeinigen Wesen beobachtet zu werden. Entmutigt schlug das Krabbeltier den rettenden Fluchtweg in eine Nische in der Zimmerecke ein. Die Frau verfolgte es weiter mit ihren Blicken und wartete auf das vertraute Gefühl der Orientierung.
Es blieb aus.
Noch einige Sekunden vergingen, dann weiteten sich ihre Augen vor Schreck.
Alles sah so fremd aus. Sie wusste nicht wo sie sich befand. Sie wusste gar nichts.
War dies ein Traum? Womöglich ein Albtraum?
Ihr Kopf schien eine einzige Leere zu sein. Sie fand keine Erinnerung, weder an sich, noch an ihre Familie oder auch nur ihre Heimat.
Sie spürte, wie ihre Beine anfingen zu kribbeln und ihre Hände zitterten. Unsicher setzte sie sich auf und schaute sich weiter um, immer in der Hoffung, doch noch aufzuwachen. Die ruckartige Bewegung ließ ihren Kopf dröhnen und pochen. Kleine, helle, stechende Sterne breiteten sich vor ihrem Auge aus. Ihr Magen rebellierte und sie musste sich hastig zur Seite beugen und erbrechen.
Was war nur mit ihr geschehen?
Unsicher richtete sie sich wieder auf. Diesmal stand sie nach einigen wackligen Minuten vollständig neben dem schmuddeligen Bett.
Wieder schaute sie sich um. Lebte sie hier? Irgendetwas in ihr schien sich dagegen zu wehren, hier war alles so schmutzig und verwahrlost, alles sah relativ unbewohnt aus. In einer Ecke erspähte die Frau ein Fenster. Die Scheiben waren eingeschlagen und die Scherben lagen noch immer auf dem Fensterbrett, überhäuft mit einer dicken Staubschicht.
Sie tappte zu dem Fenster und schaute hinaus. Sie sah ... eine Stadt, oder etwas, das mal eine Stadt gewesen sein mochte und nun überfüllt und gedrängt anfing ein Eigenleben zu führen.
Sie sah enge Gassen, in denen es vor Leben nur so wuselte. Auf den Straßen konnte sie ein schnelles Hin und Her beobachten, sodass einem vom Zusehen direkt schwindlig werden konnte.
Die Frau horchte in sich. Sie spürte keine Angst vor der Stadt, doch ein direktes Wohlbefinden konnte sie auch nicht erkennen. Sie schlussfolgerte, dass sie hier lebte, aber dieses Leben schien nicht ihr Endziel zu sein.
Sie wendete sich vom Fenster ab und schaute an sich herab. Sie war vollständig angekleidet. Eine weite, graue Hose bedeckte ihre Beine und ihren Oberkörper hüllte ein schlichtes, rotes Hemd ein. Ihre Haare waren kurz geschnitten und fielen ihr in glatten, schwarzen Strähnen in die Augen. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung schob sie sie beiseite.
Sie fasste einen Entschluss.
In dieser Wohnung würde sie nie wissen, wer sie war. Sie musste raus, auf die Straße, sie musste sich sehen lassen. Vielleicht würde sie ja jemand erkennen. Doch gab es überhaupt jemanden, der sie erkennen konnte?

In wenigen Minuten hatte sie das komplette Zimmer nach einer Jacke durchsucht, ohne Erfolg. Infolgedessen war sie so auf die Straße getreten. Schon nach kurzer Zeit beendete sie den Versuch, auf eine Orientierung zu warten. Es schien zwecklos. Ohne jegliches Ziel schlug sie eine beliebige Richtung ein und ließ alle Gefühle auf sich einwirken. Sie spürte eine unbestimmte Angst, eine Angst, vor dem was auf sie zukommen würde, doch noch mehr fürchtete sie sich vor ihrer Vergangenheit. Immer wieder stellte sie sich die Frage, weshalb ein gesunder Mensch so einfach sein Gedächtnis verlieren konnte. Anhand ihres Aussehens, ihren Bewegungen und ihres Gefühls schätzte sie sich in etwa auf Mitte Zwanzig. Sie befand sich in der Blüte ihres Lebens und fühlte sich, bis auf ihren brummenden Schädel, keineswegs krank. War sie das Opfer eines grausamen Verbrechens geworden, oder hatte sie absichtlich etwas verdrängt, war sie womöglich selbst eine Verbrecherin? Was, wenn sie jemanden umgebracht hatte?
Kribbelnd stellten sich ihre Nackenhaare auf und sie spürte das unangenehme Gefühl von aufsteigender Panik in Verbindung mit klebendem Angstschweiß. Hastig fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Stirn um die Schweißperlen zu verbergen.
Sie entschied zur Ablenkung und Entspannung bewusst ein paar Runden durch die Stadt zu laufen. Was hatte sie schon zu verlieren, doch schon nach wenigen Straßenecken merkte sie, dass sie sich hoffnungslos verirrt hatte. Ängstlich, verwirrt und verschreckt wandelte sie durch den Bauch des Monsters, als welches sich diese riesige Stadt herausstellte.
Die junge Frau fühlte sich in den engen Gassen unwohl und bedrückt und wollte nichts lieber als auf einen großen Platz gelangen. An jeder Ecke verweilte sie kurz und spähte in die anderen Straßen, ob nicht irgendeine davon mehr Licht zeigte als andere. Und tatsächlich kämpfte sie sich so vor, bis zu einem ziemlich großen Platz. "Pseudopolisplatz" las sie auf einem halb verrostetem Schild an einer Hauswand.
Ich kann lesen, fiel ihr bei der Gelegenheit auf. Vielleicht bin ich ja eine gebildete Frau? Doch sie verwarf diesen Gedanken recht schnell. Eine Frau von höherer Intelligenz als ein Staubwedel würde doch bestimmt nicht alleine und ohne Gedächtnis in einer Stadt wie Ankh-Morpork umherwandeln. Wie groß war schon die Chance, dass sie in dieser Stadt wirklich niemand, nicht eine einzige Seele, kannte? Wohl verschwindet gering...
Langsam spürt sie, wie sich ihr Körper beruhigte. Die weite Fläche des Platzes und die wärmenden Sonnenstrahlen wirkten wie kleine Wunder auf ihre Stimmung. Munter setzte sie sich auf einen kleinen Steinvorsprung am Rande des Platzes und beobachtete das Geschehen. Lauter Menschen, die ihrem normalen Alltag nachgingen. Was sie wohl sonst tat?
Ein großes Gebäude ganz in der Nähe weckte ihre Aufmerksamkeit. Einige Leute in mehr oder weniger glänzenden Uniformen standen davor und schlürften Getränke aus verbeulten Bechern. Gerade kamen zwei von ihnen aus einer Straße gebogen und schlossen sich der kleinen Truppe an. Die Frau identifizierte diese Leute als "Wächter der Stadtwache". Das war wieder ein kleiner Hinweis darauf, dass sie in dieser Stadt zu Hause zu sein schien.
Die Männer schienen sehr entspannt, bis ein großer Wächter lauthals aus dem Gebäude gepoltert kam. Seine Erscheinung war imposant. Trotz seines eher schmalen Körperbaus wirkte er aufgrund seiner Größe respekteinflößend und bewegte sich wie jemand, der auch genau diesen Respekt erwartet. Sein Gesicht schien eingefroren, als wäre darin schon seit langer Zeit kein Lächeln mehr erschienen. Am auffälligsten allerdings war eine schwarze Augenklappe, die das linke Auge verbarg.
Die Frau heftete ihren Blick aus einem unbestimmten Grund an diese Augenklappe. Mit offenem Mund starrte sie den Wächter an. Dieser bemerkte sie jedoch nicht. Missmutig fuhr er die jüngeren Wächter an: "Los, ihr jungen Banausen, ran an die Arbeit, wozu wollt ihr nen Sold kriegen, fürs Nichtstun? Marsch, marsch...!"
Etwas an der Betonung des "Marsch, marsch" ließ kleine Glocken im Inneren der Frau läuten. In Verbindung mit der auffälligen Augenklappe im Gesicht des Mannes kämpfte sich das Bild einer Erinnerung in ihr Bewusstsein.

***2. Szene - Jugendliches Blut (Vergangenheit)***


Den Tommi find ich ja wirklich niedlich, aber muss ausgerechnet er immer so ein Draufgänger sein? Ich meine, was soll denn das? Müssen wir jetzt wirklich hier in dieser dunklen Gasse rumlaufen? Was werden meine Eltern nur sagen, wenn sie erfahren, dass ich mal wieder mit den Jungs unterwegs bin? Sie werden toben und Verbote aussprechen, genau wie das letzte Mal...
Vater wird mir wieder stundenlang eine Standpauke halten, wie gefährlich es doch für ein 15 jähriges, hübsches Mädchen wie mich ist, nachts auf den Straßen von Ankh-Morpork zu laufen.
Aber irgendwie ist mir das vollkommen egal. Ich sag ja, der Tommi ist echt süß. Vielleicht mag er mich ja auch? Seh ich denn nicht reizend aus in diesem roten Kleid?
Zu dumm nur, dass er mit seinen Kumpels schon wieder die "coolen Typen" mimt. Kerle...
"Hey, seht ihr das da drüben? Diesen kleinen Kaufmannsladen?", ruft Tommi plötzlich und ich dachte doch für einige Sekunden er könne Gedanken lesen. Jetzt bin ich doch wirklich rot geworden, wie peinlich...
"Ja, ich sehe ihn", irgendein Spinner aus Tommis Gruppe,"Sieht aus, als könnte man darin ordentlich Kohle finden. Was meinst du, Tommi? Wer als erster rein und wieder raus kommt?"
"Wette gilt!"
Ich fass es nicht. Die werden doch wohl nicht allen Ernstes in den Laden einbrechen wollen, oder doch? Und ich dachte, die hätten Verstand? Hier laufen doch überall die Stadtwächter Patrouille. Na, wenn das mal gut geht. Vorsichtshalber weiche ich in den Schatten hinter einige Vorratsfässer auf der Straße zurück und beobachte das Geschehen aus sicherer Entfernung.
Leise schleichen sich die Jungen zu dem Schaufenster und schlagen es mir faustgroßen Steinen ein. Sie verschwinden in der Dunkelheit des Ladens. Erst scheint alles gut zu gehen, doch dann hört man plötzlich einen riesigen Lärm und Tommi und sein Freund kommen zankend und streitend aus dem Laden gepoltert. Keiner von beiden will den anderen gewinnen lassen.
Doch genau in diesem Moment geschieht das, wovor ich mich gefürchtet habe. Ein uniformierter Wächter biegt um die Ecke und überblickt mit geschultem Auge die Lage. Er reagiert sofort und rennt auf die beiden Jungen zu, die noch schnell die Flucht ergreifen. Doch sie kommen nicht weit. Ich muss hilflos mit Ansehen, wie mein geliebter Tommi verhaftet wird, wegen Dummheit.
Doch es wird noch schlimmer, ein zweiter Wächter kommt hinter dem ersten zum Vorschein und blickt in meine Richtung. Ich spüre förmlich wie sein Blick meinen Körper streift und es fühlt sich an, als ob mich eine Wolke aus schlechter Laune trifft. Es kommt wie es kommen muss, er sieht mich.
"Na, Kleine, da bist doch bestimmt nicht zufällig hier, oder? Du kommst auch mit!"
Unsanft und unfreundlich zieht er mich am Oberarm hoch. Ich habe nun die Gelegenheit den Wächter genauer zu betrachten.
Er ist riesig, zumindest von meiner Größenlage aus gesehen. Und er strahlt so etwas wie enorme Autorität aus. Ich entwickele automatisch Respekt gegenüber diesem Mann und ich kann nichts dagegen tun. Seine mürrische Miene und das harsche Auftreten lassen nicht gerade Sympathie in mir aufsteigen.
Ohne ein Wort des Widerstandes lasse ich mich trotzdem von ihm abführen. Sein Kollege ist mit den beiden Dieben schon vorausgegangen und wir folgen dem Trio. In einer erleuchteten Straße fällt mein Blick zum ersten Mal in das Gesicht des Wächters.
Der Anblick brennt sich direkt in mein Gehirn. Noch nie habe ich solch ein Gesicht gesehen. Es weist eine furchtbare Narbe auf und das linke Auge wird von einer schwarzen Augenklappe verdeckt. Diese ist jedoch leicht verrutscht und ich kann die leere Augenhöhle erkennen.
Mit Angst und Ekel starre ich den Wächter an. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich stehen geblieben bin. Er dreht sich um und spricht mit harten Ton zu mir: "Mensch Mädel, denkst du wir haben den ganzen Abend Zeit? Was guckst du eigentlich so? Hab ich mich nicht vorgestellt? Entschuldige, Araghast Breguyar, Wächter der Stadtwache von Ankh Morpork. So und jetzt gehen wir zum Wachhaus und werden uns mal kurz unterhalten, was deine Freunde da eben getrieben haben", er rückt mit einer Hand die verrutschte Augenklappe zurecht,"...auf gehts, marsch, marsch!"

***3. Szene - Was die Jugend lehrt***


Verdattert saß die junge Frau auf ihrem Steinvorsprung. Ihre Umgebung hatte sich nicht geändert. Sie saß dort auf dem Pseudopolisplatz in Ankh-Morpork in der Sonne und beobachtete das Treiben.
Doch sie hatte sich geändert. Ein Teil ihrer Erinnerung war zurückgekehrt. Sie hatte sich an ihre frühe Jugend erinnert. Sprachlos genoss sie das Gefühl der erlebten Bilder in ihrem Kopf. Erst, wenn man weiß, wie sich ein leerer Kopf anfühlt, kann man die Völle wirklich genießen und das kostete die Frau nun vollends aus.
Besonders die klaren, detaillierten Bilder des Wächters erstaunten sie. Sie konnte sich nicht an ihre Eltern, eventuelle Geschwister oder Kinder erinnern, aber das Gesicht eines fremden Mannes ließ sie in Erinnerungen schwelgen. Noch dazu das Gesicht eines solchen Mannes. Unfreundlich und schlecht gelaunt war er gewesen. Und nun war er verschwunden.
Allerdings bezweifelte sie auch, dass sie den Mut aufgebracht hätte, ihn anzusprechen. Der Respekt saß noch immer in ihren Knochen.
Nach einigen Minuten der Freude bemerkte die Frau ohne Gedächtnis, dass ihr Magen lauthals knurrte. Sie beschloss sich etwas zu Essen zu suchen. Auf ihre Füße verlassend lief sie einfach in irgendeine Richtung los. Da sie nun wusste, dass sie hier aufgewachsen war, dachte sie, dass sie den Weg schon finden würde und tatsächlich vernahm sie bald den süßen Geruch von brodelnden Kochtöpfen. Ihre Schritte beschleunigten sich merklich und nach kurzer Zeit stand sie vor einer mittelgroßen Kantine.
Ein duftender Rauch drang aus dem hinteren Teil des Gebäudes an die frische Luft und schürte ihren Appetit, doch in ihrer Verfassung hätte sie wohl alles gegessen. Sie trat ein.
Das Innere der Kantine hatte leider nichts von dem süßen Duft außen. Hier war es voll, düster und die stickige Luft war geschwängert von Schweiß und Rauch.
Die verschiedensten Kreaturen waren hier anwesend. Sie sah Menschen und Zwerge durch die Rauchschwaden hindurch. In einer Ecke vermutete sie sogar einen Troll. Rechts von ihr saß seelenruhig eine Mumie und spielte Karten mit einem offensichtlichen Vampir.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch, das nicht nur vom Hunger entstanden war, kämpfte sie sich zu einer relativ ruhigen Ecke vor und nahm an einem kleinen, vor Fett triefendem Tisch Platz. Bei einem mürrischen, typisch dicken Koch mit fleckiger Schürze bestellte sie eine warme Suppenmahlzeit. Irgendetwas sagt ihr, dass sie es nicht allzu lange hier drinnen aushalten würde.
Die Zeit des Wartens verbrachte sie mal wieder mit Nachdenken und dem Beobachten von Leuten. Dabei fiel ihr auf, dass sie selbst auch beobachtet wurde. An einem Tisch in der Nähe saß ein junger Mann von vielleicht 20 Jahren. Er war recht schmal gebaut und eher dunkel gekleidet. Interessiert betrachtete er ihre Gesichtszüge, dann stand er, zum Erstaunen der Frau, plötzlich auf und kam selbstsicher zu ihrem Tisch geschlendert. Ihr behagte das Ganze überhaupt nicht, doch sie sagte nichts und ließ ihn ihr gegenüber Platz nehmen.
"Sagen Sie, kennen wir uns nicht?", fragte er ruhig.
Eine scheinbar einfache, alltägliche Frage, die in ihr doch so viele unterschiedliche Gefühle ausübte. Zuerst war sie noch erschrocken, aufgrund des plötzlichen Kontaktes, doch dann blickte sie dem Mann hoffnungsvoll ins Gesicht, als ob er sie sofort erkennen müsste.
"Ich meine, vielleicht irre ich mich, aber Sie kommen mir sehr bekannt vor."
Die Frau ließ die sanfte Stimme des Mannes auf sich wirken. Noch immer hatte sie kein Wort gesagt, denn sie spürte langsam, wie ein neues Bild in ihr aufkeimte. Sie ließ es gewähren.

***4. Szene - Wenn die Liebe groß genug ist (Vergangenheit)***


Nichts und niemand kann mir diesen Abend versauen. Was gibt es Schöneres als eine Verlobungsfeier im Kreise der besten Freunde und noch vielen mehr? Dieses Lokal ist einfach wunderbar und erst die ganzen Kerzen. Da hat sich mein Wilhelm ja wieder vollkommen selbst übertroffen. Dieser Duft ist einfach zu betörend, nicht wie der stickige Rauch in anderen Tavernen, nein, es riecht sanft nach Blumen und Frühling. Alles erscheint mir hell und fröhlich. Selbst die Leute hier sind gesittet und nicht solche Rabauken wie der Rest der Stadtbevölkerung. Mir scheint es, wir sind wirklich erwachsen geworden. Reifer.
Aber langsam könnte sich mein Verlobter mal wieder um mich kümmern. Wo steckt er überhaupt?
Wilhelm kommt mit zwei Gläsern von einem frisch gepressten Saft zurück und hält mir eines hin. Gemeinsam schlürfen wir das erfrischende Nass. Wie schön das Leben doch sein kann.
Auf einmal ergreift er zärtlich meinen Arm und schaut mir tief in die Augen, als wolle er meine Gedanken lesen. Ich versuche all meine Zuneigung in einen Blick meiner grau-blauen Augen zu legen und hoffe inständig, dass dieser kurze Moment von Vertrautheit nie vergehen wird.
So eine große Feier ist schon sehr aufregend, doch die Augenblicke in Zweisamkeit fehlen mir dann doch sehr. Man verhält sich halt doch anders vor einem großen Publikum, selbst, wenn es die eigene Verlobungsfeier ist.
Wilhelm fordert mich zum Tanzen auf. So lange habe ich auf diesen Moment gewartet. Die Band spielt ein langsames Lied und wir schlendern auf die Tanzfläche. Vorsichtig legt er seine rechte Handfläche auf meine Schulterblätter und zieht mich näher an sich heran. Ich lasse die Musik auf mich wirken und gebe mich ganz der gekonnten Führung meines Verlobten hin. Die Musik wird schneller und wir beginnen uns zu drehen. Seine Hand verrutscht etwas und ich nehme den vertrauten Blickkontakt wieder auf. Es ist wahr, ein Blick kann mehr als tausend Worte sagen.
Ich habe das Gefühl als würde sich die Welt wie ein Glücksrad drehen und am Punkt "Paradies" stehen bleiben. Jegliche Probleme habe ich aus meinem Kopf verbannt und nur noch dieses Glück ist präsent.
Dem langsamen Lied folgt ein schnelleres.
"Nora, ich komme gleich wieder."
Wilhelm gibt mich mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange frei und prompt werde ich von den anderen anwesenden jungen Männern zum Tanzen aufgefordert. Mir ist noch immer etwas schwindlig. Einerseits von dem schnellen Drehen, doch andererseits von den unglaublich tiefen Gefühlen, die mich durchströmen.
Ich werde von Arm zu Arm weitergegeben, bis ich bei einem zierlichen und doch irgendwie attraktiven Burschen ankomme. Ich habe ihn noch nie gesehen und er scheint jünger als ich zu sein. Vielleicht ist er ein Freund von Wilhelm oder ein Freundesfreund. Ich weiß es nicht, es sind einfach zu viele Leute anwesend.
Mit einer sanften, beruhigenden Stimme plappert er munter drauf los. Während des Tanzens erzählt er mir von seiner neuen Beschäftigung bei der Stadtwache. Seit meiner ersten Begegnung vor vier Jahren mit der Wache bin ich eher skeptisch auf ihre Mitglieder eingestellt. Noch immer jagt es mir eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich an den Wächter mir der Augenklappe denke. Lieber würde ich von etwas anderem reden, doch der junge Mann lässt sich einfach nicht abwimmeln. Gerade erzählt er mir davon, wie er seine besondere Kampfesausbildung einsetzen konnte. Ob er weiß, dass ich die Verlobte des Abends bin, oder will er mich gerade beeindrucken?
"Entschuldigung, aber ich glaube mir ist dein Name entfallen? Wie war er noch gleich?", ich möchte einfach nur das Thema wechseln oder zurück in die Sicherheit meines Wilhelms.
"Rekrut Fünf Schwarze Schwerter heiße ich", stolz schwellt seine Brust an. So langsam glaube ich, dass der Junge einen etwas selbsteingenommenen Charakter hat, doch sein Gesicht weist feine, nette Züge auf und seine Stimme hat so einen außerordentlich sanften Klang.
Endlich taucht mein Wilhelm wieder auf und entzieht mich den Armen von Fünf und stellt den Sicherheitsabstand zwischen mir und all den anderen Männern wieder her. Dankbar falle ich zurück in seine starken Arme.

***5. Szene - Die Erkenntnisse***


"Hallo?"
Ungern wurde sie aus ihren Erinnerungen gerissen. Sie versucht alles, nahm ihre ganze Konzentration auf, um in ihrem Kopf zu bleiben, doch sie hatte den Faden verloren und wurde aus ihrem Gedächtnis gezogen, das sich wieder erfolgreich verschlossen hatte.
Noch immer spürte sie ein sanftes Prickeln auf der Haut und sehnte sich nach den zärtlichen Berührungen, doch die Erinnerung war vergangen.
Die Frau öffnete wieder die Augen. Ihr gegenüber saß noch immer der junge Mann und nun erkannte sie ihn auch. Es war der junge Wächter Fünf Schwarze Schwerter, den sie bei ihrer Verlobungsfeier kennen gelernt hatte. Sie erkannte seine feinen Gesichtszüge und seine beruhigende Stimme wieder. Jetzt fiel ihr auch das Wächterabzeichen an seiner Jacke auf. Anscheinend war er befördert worden, denn jetzt zeigte es einen Streifen, der ihn als Gefreiter kennzeichnete.
Er schaute sie mit einem seltsam verwirrten Blick an, schließlich hatte sie noch immer keinen Ton gesagt.
"Ähm...na gut, dann werd ich mal losgehen, mein Dienst beginnt bald."
Schnell wandte er sich ab und verließ das Gebäude. Vielleicht fing ja wirklich sein Dienst an, doch es war eher unwahrscheinlich. Aber es störte sie nicht. Sie wollte zurück in ihren Kopf zu ihren Erinnerungen, von denen sie nun schon zwei hatte.
Mittlerweile stand vor ihr ein dampfender Teller mit klumpiger Suppe. Hungrig verschlang sie alles, legte dem Wirt etwas Geld hin, das sie in der Hosentasche gefunden hatte und ging dann zurück an die frische Luft.
Es dämmerte bereits. Sie wusste, dass ganz in der Nähe der Fluss lag und dahin ging sie nun. Auf dem Weg dorthin bemerkte sie eine wichtige Kleinigkeit ihrer Erinnerung. Ihr Verlobter hatte sie "Nora" genannt. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie hatte einen Namen, sie wusste ihren Namen, sie hieß Nora.
"Nora...", sie ließ sich den Klang auf der Zunge vergehen. Er schmeckte ihr gut. Es war ein guter Name.
"Wilhelm...", das klang etwas holprig, doch sie spürte eine unglaubliche Wärme beim Klang dieses Namens. Sie musste ihn wirklich geliebt haben. Wo ihr Verlobter jetzt wohl war? Ob er sie suchte?
Schlagartig sank ihre euphorische Stimmung bis aufs Tiefste. Eine eiskalte Trauer fraß sich von den Eingeweiden über ihren ganzen Körper, ohne jegliche Erklärung. Ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig und sie fühlte sich wie in einer drehenden Trommel aus Gefühlen. Ihr war nach Weinen zumute und gleichzeitig hatte sie ein Lächeln auf den Lippen. Sie wollte springen und jauchzen oder doch lieber zusammensinken und sich in einer Ecke verstecken.
Ohne es zu bemerken, hatte sie den Fluss erreicht. Noch immer war Nora vollkommen damit beschäftigt sich selbst wieder unter Kontrolle zu bekommen. Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, ging sie logisch und analytisch an ihre Erinnerung heran.
Sie hatte einen Verlobten. Wo war er? Hatten sie geheiratet? Hatten sie Kinder? Und weshalb spürte sie solche Trauer bei dem Gedanken an ihn? Hatte er sie verlassen? Ist ihm etwas zugestoßen? Bei all diesen Gedanken schüttelte es sie wieder. Ihre alte Angst vor dem, was ihr Gedächtnis verstecken wollte, kehrte zurück. Wollte sie wirklich wissen, was ihr Innerstes ihr so erfolgreich verweigerte?
Die Erkenntnis über ihre Verlobung war derartig schön gewesen, doch der Schreck danach saß ihr noch immer in den Knochen. Wie würde die nächste Erinnerung aussehen? Was würde danach geschehen?
Natürlich ließ der nächste Schreck nicht lange auf sich warten.
Über eine Brücke, die über den Fluss führte, rollte gemächlich eine nicht abreißende Kolonne von Wagen, die in die Stadt fuhren. Auch bei dem Anblick eines solchen Gefährts, spürte Nora einen kalten Schauer im Nacken. Was hatte denn ein Wagen mit der Trauer um einen Menschen zu tun?
Langsam begann sie eine schreckliche Ahnung zu bekommen.
Wie um ihr Gespür zu bestätigen, gab es plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall. Zwei der Wagen
in der Kolonne waren ineinander gefahren. Das hintere Gefährt fing an zu rauchen und zu qualmen und die Leute in der Nähe stießen laute Schreie aus. Anscheinend hatte einer der Unfallwagen empfindliche chemische Substanzen geladen, die nun zu explodieren drohten. Mit hektischen Bewegungen versuchte der eine Fahrer die neugierigen Schaulustigen zurückzuhalten, um im Falle einer Explosion das Schlimmste zu vermeiden, doch die Menge drängte sich weiter vorwärts.
Nora konnte von ihrem Punkte am Fluss die ganze Brücke überblicken. Sie sah das Gedränge, das sich in kürzester Zeit bildete und mit weit geöffneten Augen beobachtete sie die größer werdenden Rauchwolken über der Unfallstelle. Ihre Beine waren wie gelähmt und sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Mehr als nur ein innerer Instinkt ließ sämtliche Alarmglocken in ihr lauthals schrillen.
Sie hatte panische Angst vor Feuer. Und schon allein die Rauchwolken und lediglich die Möglichkeit eines Brandes warfen sie völlig aus der Bahn. Jegliches Restgefühl ihrer grenzenlosen Freude verrannte sich im Nichts und mal wieder bestand ihr Inneres nur aus einer Leere, angefüllt mit Angst und Hoffnungslosigkeit.
Doch, wenn etwas in Ankh-Morpork mehr oder weniger reibungslos lief, dann waren das die Einsätze der Stadtwache. Sofort war ein Einsatzkommando vor Ort. Ein Mann in einer verrosteten und verbeulten Uniform, die einmal einen Grünton aufgewiesen hatte, rannte voller Elan zum qualmenden Wagen. Trotzdem hatte er dabei eine angezündete Zigarette im Mundwinkel hängen. Einer seiner Kollegen rief ihm etwas zu und der Wächter trat den Glimmstängel vorsichtshalber aus. Das war Raucher Marmelade, wie Nora später wissen sollte. Er war Knallpulverexperte bei FROG und seine Aufgabe bestand nun darin, das explosive Material sicherzustellen.
Nora konnte trotz ihrer Entfernung zu dem Mann sehen, dass seine Augenbrauen eine seltsam angekohlte Farbe aufwiesen. Sie sah den Wächter, wie er mutig in den Wagen stieg und darin verschwand. Eine Zeit lang geschah nichts. Sogar die Menge rund um die ineinander verkeilten Wagen schien den Atem anzuhalten. Momentan herrschte eine ungewöhnliche Stille für diese Uhrzeit in der Hauptstadt.
Doch plötzlich ertönte ein zweiter Knall und der Wagen stieß noch dickere schwarze Rauchschwaden aus. Der Wächter rief von innen etwas, um zu zeigen, dass ihm nichts geschehen war, doch das ganze Szenario weckte in Nora wieder ein Bild. Diesmal war es ein Bild, das sie bewusst verdrängt hatte, doch nun holte sie ihre Vergangenheit langsam ein. Die Frage war nur, ob sie das dieses Mal verkraften würde...

***6. Szene - Eine Hochzeit mit Folgen (Vergangenheit)***


"Möchten Sie, liebe Elenora, den hier anwesenden Wilhelm zu Ihrem angetrauten Ehemann nehmen, bis dass der Tod euch scheidet?"
"Ja, ich will."
Und wie ich will. Nichts wünsche ich mir mehr. So lange kenne ich meinen Wilhelm nun schon und ich war so aufgeregt, als er mir den Antrag machte, obwohl ich es ja eigentlich schon eine Weile erwartet hatte. Und dann diese traumhafte Verlobungsfeier. Wie wird erst nachher unser Hochzeitsball aussehen? Und erst unsere Flitterwochen? Ich kann es mir kaum vorstellen.
"Und möchten Sie, Wilhelm, die anwesende Elenora zu Ihrer rechtmäßigen Ehefrau machen, in guten wie in schlechten Zeiten, für ewig vereint?"
"Ja, ich will."
"Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut nun küssen."
Der Priester wedelt noch mit seinen Händen herum, doch das alles bekomme ich gar nicht mehr mit. Für mich zählt jetzt nur noch eins, und das sind die Lippen meines frisch gebackenen Ehemanns, die den meinen langsam näher kommen.
Die Hochzeitsgesellschaft bricht in Jubelschreie aus und wir trennen uns widerwillig voneinander und strahlen um die Wette. Ich finde wir sind ein wunderschönes Paar. Mein Wilhelm trägt einen weißen Smoking, der seine athletische Figur wunderbar betont. In der Brusttasche steckte der Kopf einer roten Rose. Mich dagegen schmückt ein weites weißes Kleid mit langer Schleppe. Mein kleiner Cousin muss die ganze Zeit hinter mir herlaufen und den Schleier hochhalten, doch er tut dies mit Würde und Stolz. Ich bin so unendlich glücklich. Dachte ich schon zu meiner Verlobung, ich hätte das Paradies erreicht, so muss das hier etwas viel Besseres sein. Wie kann ein einziger Mensch nur so viel Glück mit sich herumtragen, ohne zusammen zu brechen? Und selbst dann wäre mein Wilhelm noch vor Ort, um mich aufzufangen.

Nach der Trauung in der Kirche sind wir zusammen mit all unseren Verwandten zum Hochzeitsball aufgebrochen. Alle hatten uns ausgiebig gratuliert und ihre Geschenke überreicht. Besonders herzliche Glückwünsche nahm ich von der kleinen Oma meines Wilhelms entgegen. Früher war mir die winzige Frau, die immer ein wenig nach rosenscharfen Gewürzen roch, etwas suspekt vorgekommen, doch mittlerweile habe ich sie tief in mein Herz geschlossen.
Wir feiern in demselben Saal wie schon zu unserer Verlobung, doch diesmal ist er noch prächtiger ausgeschmückt. Schon die Auffahrt wird mit Tausenden von Kerzen erleuchtet und überall in den Sträuchern und Bäumen hängen kleine Lichter und Kugeln.
Wilhelm weiß natürlich von meiner romantischen Veranlagung, doch dass er sich solche Mühe gibt, damit hätte ich bei Weitem nicht gerechnet.
Im Saal direkt glänzt das Parkett förmlich und lädt still schweigend zum Tanzen ein. An den Seiten verführt ein riesiges Büfett zum Reinschlingen. Mitten im Raum steht eine fünfstöckige Hochzeitstorte, mit kleinen Marzipanfiguren ganz oben. Alles erscheint mir wie im Märchen.
Wilhelm führt mich zu der Torte, atemlos und mit zitternder Hand schneide ich das erste Stück an. Das erste Stück Kuchen in einem Leben zu zweit.
Der Abend vergeht für mich wie in Trance. Stundenlang habe ich mit Wilhelm getanzt und irgendwann habe ich aufgehört zu zählen, wie oft ich mir selbst auf die Schleppe getreten bin. Je später der Abend, umso langsamer werden die Lieder und wir kommen uns immer näher. Unsere Blicke treffen sich immer häufiger und wir nehmen die Welt um uns herum kaum noch wahr. Jetzt zählen nur wir beide und nichts und niemand sonst.

Am nächsten Tag brechen wir zu unseren Flitterwochen auf dem Land auf. Schon ewig freue ich mich darauf. Nicht nur, weil ich meinen Wilhelm dann in dem kleinen Landhaus ganz für mich alleine habe, sondern auch, weil ich dann endlich einmal raus aus dieser Stadt komme. Noch nie habe ich Ankh-Morpork länger als einen Tag verlassen. Doch erst einmal müssen wir uns mit dem kleinen Holzwagen durch die Straßen kämpfen. Wenn das mal so einfach wäre. Geschickt lenkt Wilhelm das Führerpferd an allen Händlerständen, herumstehenden Körben und Passanten vorbei, doch immer wieder müssen wir anhalten und warten bis die Straße frei ist. Wenigstens scheint die Sonne und ich wärme mein Gesicht bis sich die kleinen Sommersprossen rot hervorheben. Während der nächsten Pause greift Wilhelm um meine Taille und zieht mich näher an sich heran.
"Sieh nur, gleich haben wir es geschafft. Nur noch die eine Straße.", er zeigt mir in der Ferne das Stadttor. Sofort spüre ich wie es mich dort hinzieht. Einfach nur weg aus dem Gedrängel der Stadt.
Die letzte Straße erweist sich als sehr hartnäckig. Das unregelmäßige Kopfsteinpflaster lässt uns auf unseren Sitzen hin- und herspringen und das Gepäck droht teilweise vom Wagen zu fallen. Immer schlechter wird der Untergrund, bis der Wagen bedrohlich schaukelt. Wilhelm versucht das Pferd zu beruhigen und es langsamer werden zu lassen, doch es hat auch die nahende Freiheit gerochen und legte noch an Tempo zu. Immer schneller drehen sich die schwachen Holzspeichen auf dem Steinpflaster und springen nur noch von Hebung zu Hebung.
Ich muss mich festkrallen, um nicht herunter geschleudert zu werden und trotzdem rutsche ich von einer Seite der Bank auf die andere.
Und dann geschieht es.
Ein Rad bricht weg und Wilhelm verliert komplett die Kontrolle über den Wagen. Durch die unkontrollierten Schlängelbewegungen angestachelt, fängt das Pferd an zu galoppieren und zertritt dabei die Achse des Gespanns. Führerlos und immer noch viel zu schnell rast unser kleiner Wagen weiter. Er holpert und springt geradezu auf ein Geschäft am Rande der Straße zu.
Schreiend versuche ich Wilhelm auf die kommende Kollision aufmerksam zu machen, doch er hat sein Gleichgewicht verloren und kämpft nur damit, nicht aus dem Wagen zu fallen. Ungebremst krachen wir in das Schaufenster des Kerzenladens.
Scheiben splittern und Holz berstet, die Kerzen des Ladens auf den Regalen fallen von oben auf uns herab, während wir durch die Gestelle springen. Eine brennende Kerze fällt mir direkt in den Schoß und entzündet sofort den leichten Stoff meines Kleides. Hektisch klopfe ich alles so gut es geht aus, doch es bildet sich Rauch und Qualm. Die Luft wird mehr und mehr dick und kratzt im Hals.
Endlich kommen wir zum Stehen. Die vielen Kerzen, die wir während der Fahrt mitgerissen haben, entzünden alles auf dem Wagen und das Gefährt an sich auch. Eine unerträgliche Hitze breitet sich aus. Gequält beginne ich zu husten. Panik steigt in mir auf. Wo ist Wilhelm? Ich kann ihn nicht mehr sehen. Die Luft wird immer dicker und dicker. Das Atmen fällt immer schwerer. Hustend krauche ich durch die Trümmern. Wo ist Wilhelm? Ist er gefallen? Konnte er sich befreien?
Die Luft vor mir wird immer schwärzer und schwärzen. Mein Atem geht nur noch keuchend und vermischt sich mit einem trockenen Husten. Die brennende Luft verkohlt alles in der Nähe und ich sehe kleine Sterne vor den Augen. Meine Lungen scheinen zu kollabieren, jeder qualvolle Atemzug gleicht einer Folter und immer noch brennt mehr und mehr um mich herum.
Ich halte das nicht mehr aus. Ist dies mein Ende? War nicht bis eben alles perfekt? Womit habe ich das verdient?
Wo ist Wilhelm?

Ein gleich bleibendes Klopfen auf meine rußgeschwärzten Wangen weckt mich aus der Bewusstlosigkeit. Vorsichtig versuche ich zu atmen, doch das Ergebnis ist nur ein trockener Hustenanfall. Ich öffne die Augen. Was ist geschehen? Bin ich gestorben? Ist dies ein Leben nach dem Tod?
Noch immer dreht sich alles in meinem Kopf, doch langsam kann ich ein Gesicht vor mir ausmachen. Ich versuche mich zu orientieren, doch ich kenne die Frau vor mir nicht. Sie sieht freundlich aus und kleine, braune Locken hängen ihr in die Stirn. Sie versucht mir irgendetwas zu sagen, doch ich nehme nichts wahr. Ich spüre nur noch das brennende Gefühl in meinem Brustkorb und die Hitze auf meiner verbrannten Haut.
Langsam kehrt mein Bewusstsein vollständig zurück. Mir wird bewusst, dass ich überlebt habe. Ich lebe. Man hat mich gerettet. Doch mein wichtigster Gedanke gilt nicht mir.
Ich ringe mir ein Flüstern und Stottern ab. Die Frau vor mir beugt sich zu mir herab, um mich zu verstehe.
"W..Wo ist ... Wilhelm, mei... Mann?" Ich bin erledigt, völlig fertig. Meine Kraft ist am Ende und ich spüre wie sich mein Bewusstsein wieder ausschalten will, doch die Miene der Frau lässt mich gefrieren und ich vergesse jegliche Hitze und Qual.
Sie nimmt den Kopf zurück in eine bequeme Position, schaut mitleidig auf mich herab und schüttelt unmerklich den Kopf. Alles an ihr strahlt echtes Mitgefühl aus.
"Es tut mir Leid, aber...er hat es nicht geschafft."

***7. Szene - Die Dunkelheit siegt***


Nora saß unter der Brücke am Fluss und weinte sich all ihren Schmerz von der Seele. Ungehemmt brach es aus ihr heraus. Das schreckliche Vorgefühl hatte sich bestätigt und noch verschlimmert. Einer ihrer schlimmsten Albträume war zur Realität geworden. Nie wieder würde sie Freude empfinden können, es würde keine Sonne mehr in ihrem Leben geben. Ihre Seele war verkohlt. All ihr Empfinden drehte sich nur um Pein, Schmerz und tiefste Trauer.
Nun verstand sie auch die plötzliche Trauer nach der Erinnerung an ihre Verlobung. Langsam wünschte sie sich, sie hätte nie etwas von ihrem Leben erfahren. Was nutzt einem schon Erinnerung, wenn sie alles Gute förmlich zerstört und einen an innigste Todessehnsucht denken lässt. Sie hatte ihren Ehemann am Tag nach ihrer Hochzeit verloren. Was kann einer Frau Schlimmeres geschehen? Sie war so glücklich gewesen. Alles war perfekt, ein Paradies. Die Welt sollte sich einfach nur weiterdrehen, warum musste das Schicksal so übel mit ihr spielen?
Nur, langsam fiel ihr auf, dass mit jeder Erinnerung die Stadtwache dieser verhassten Stadt zusammenhing. Was hatte sie dieser Stadt getan, dass sie jetzt sogar die Stadtwache nicht losließ? Oder sollte das etwa ein Zeichen sein? Was wusste die Wache, was sie nicht wusste? Gab es einen Fall über sie? Wollte ihr Gewissen sie warnen, je wieder mit der Wache in Kontakt zu treten?
Doch irgendwie glaubte sie das nicht. Vielleicht konnte die Wache ihr helfen? Doch was sollte sie dann herausbekommen? Noch war ihr Gedächtnis nicht vollständig. Nach dem Unfall hatte sie sich noch erinnern können. An dem Punkt hatte es also nicht ausgesetzt. Was war dann der Auslöser gewesen? Was hatte man ihr noch angetan? Und wollte sie das wirklich wissen?
Doch die vielen Parallelen waren wirklich übermäßig auffallend.
Nora strich sich mit einem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Zögert blickte sie auf ihren Arm. Sie spürte noch das intensiv brennende Gefühl auf der Haut. Langsam und zitternd zog sie den Ärmel zurück und entblößte ihren Arm.
Er war voller Verbrennungen. Teilweise waren sie noch nicht verheilt, gerötet und frisch. Der Unfall konnte demnach noch nicht sehr lange her sein. Doch was war noch mit ihr geschehen. Ihre Neugierde war stärker als jede Vorsicht. Behutsam strich sie den Ärmel zurück.
Sie stand auf, zupfte ihre Kleidung zurecht und strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie hatte sich entschlossen. Sie würde die Wache zur Hilfe rufen.
Dankbar über die eingesetzte Dunkelheit konnte sie, durch die Schatten geschützt, zurück zum Pseudopolisplatz gelangen, ohne dass jemand ihr verweintes, gerötetes Gesicht bemerkt hätte. Sie versuchte sich auf dem ganzen Weg zu beruhigen, doch noch immer ging ihr Atem stoßweise und ihr lief die Nase. Nachdem sie sich ein letztes Mal die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte, marschierte sie auf das Wachhaus zu und trat ein.
Die Empfangshalle war leer, was sie verwunderte, da sie gedacht hätte, dass immer ein Wächter vorort sein sollte. Da sie niemanden fand, wandte sie sich zur Treppe und machte sich auf eigene Faust auf die Suche nach einer Ansprechperson. Sie erreichte die zweite Etage und sah einen sanften Lichtschein aus einem der Büros kommen.
Zaghaft lief sie der Helligkeit entgegen und klopfe leise an die Tür des halb geöffneten Raums. Eine Weile geschah nichts, doch dann vernahm sie ein überraschtes "Herein" von innen, das mehr einer Frage, und weniger einer Aufforderung glich.
Nora schob die Tür ganz auf und sah in das Büro. An einem unordentlichen Schreibtisch saß eine zierliche Person mit braunen, glatten Haaren. Auf ihrer Handinnenfläche saß ein winziger grüner Vogel.
Die Wächterin verfütterte gerade Kürbiskerne an das kleine Geschöpf, als sie unerwarteten Besuch bekam. Sie blickte der Tür entgegen und registrierte mit einem überraschten "Nanu?", dass die Eintretende keine Wächterin war.
Sie stand auf und reichte der Frau die Hand. "Hallo, ich bin Gefreite Sayadia Trovloff, Püschologin bei Frog, ähm, kann ich Ihnen irgendwie helfen?"
Nora gefiel der freundliche Tonfall der Wächterin und sie fand sich in ihrem Entschluss, die Wache zu kontaktieren, bestätigt.
"Nun ja, also so genau weiß ich das nicht. Wissen Sie, ich habe mein Gedächtnis verloren, das heißt, also, zum Teil hab ich es ja wieder gefunden, aber...aber..." Wieder brachen die sorgsam zurückgehaltenen Emotionen aus ihr heraus. Sayadia war mehr und mehr überrascht von ihrem späten Besuch. Sie ging vorsichtig um den Tisch und die Papierstapel daneben herum und führte die Frau mit vorsichtigem Druck zu dem Besucherstuhl. Diese setzte sich dankbar hin.
"Und jetzt beruhigen Sie sich erst einmal und erzählen dann ganz von vorne", sprach die Püschologin langsam auf sie ein.
Nora riss sich zusammen und hörte auf zu weinen. Dann besann sie sich und erzählte ihre Geschichte. Sie begann mit ihrem Aufwachen und der Erkenntnis, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Dann beschrieb sie ihren Tagesablauf und auch ihre Erinnerungsstücke, so gut es ging. Besonders bei der letzten Episode kämpfte sie wieder mit den Tränen, doch diesmal hatte sie sich besser unter Kontrolle.
"Und dann fiel mir auf, dass ich mit jeder Erinnerung die Stadtwache verbinde und dass ihr mir vielleicht helfen könntet, wenn das möglich wäre."
Nora hatte ihren Bericht abgeschlossen und blickte Saya nun mit einem fragenden Gesicht an.
Saya war sofort von der Geschichte der Frau berührt und wollte helfen. Doch sie wusste, dass sie um diese Uhrzeit alleine nicht viel erreichen konnte. Um Nora zu helfen, mussten sie die neuen Akten durchgehen und schauen, ob sie in einen Fall verwickelt war, doch sie hatte nur die Akten der Püschologie in ihrem Büro. Außerdem glaubte sie, dass sie in diesem Fall in ihren Akten nichts finden würde, denn Nora hatte keine weitere Erinnerung bekommen und deshalb schien sie mit Sayadia nichts zu verbinden. Sie musste ihre Kollegen um Rat fragen, doch die waren fast alle schon nach Hause gegangen. Sie selbst war nur noch im Büro, weil sie auf Nyvanias Rückkehr wartete. Doch ihre Abteilungsleiterin Kanndra müsste noch anwesend sein.
"Wir können jemanden um Hilfe fragen, und uns die neusten Fälle ansehen. Wäre das okay?"
"Ja, natürlich. Alles ist besser, als diese Leere."
Saya half Nora auf und zusammen gingen sie zu Kanndras Büro. Erfreut stellte sie fest, dass auch hier noch ein sanfter Lichtschein zu erkennen war.
"So, hier arbeitet meine Abteilungsleiterin Kanndra Mambosamba. Vielleicht kann sie uns helfen."
Sayadia klopfte an und Kanndra rief sie von innen mit klarer Stimme herein.
Nora folgte der Wächterin in das neue Büro. Hier sah alles sehr viel ordentlicher aus, als im Büro der Püschologin.
An einem großen Schreibtisch saß eine dunkelhäutige, hübsche Frau. Nora starrte sie an und erkannte sie.

Sie sah sich zurückversetzt zum Abend des verhängnisvollen Unfalls, an dem ihr über alles geliebter Mann verstorben war. Wieder lag sie auf dem Pflaster vor dem brennenden Laden. Eine Frau hatte sich über sie gebeugt, ihr hingen kleine, dunkle Löckchen ins Gesicht. Nora sah wieder das von Mitleid geprägte Gesicht. Sie hörte die Todesbotschaft aus dem gepflegten Mund.
Es war die Frau, die nun vor ihr saß, Kanndra Mambosamba. Wieder eine Wächterin. Und Nora sah auch wieder das kleine Wächterabzeichen auf der grünen Uniform ihrer Retterin. Alles passte.

***8. Szene - Des Lichtes Schein***


Nora fühlte sich wie in einen Strudel gestoßen. Bilder tanzten ihr vor den Augen, die Farben und Abgrenzungen flossen ineinander über. Sie konnte nicht mehr klar denken und wieder spürte sie einen Tränenschleier vor ihren Augen. Die finstere Schwärze ihrer Gefühle war zurückkehrt, nachdem sie einen Funken Hoffnung gefasst hatte. Nora brach zusammen.
Sayadia fühlte sich aufgrund des plötzlichen Ausbruchs überfordert. Hastig griff sie nach Noras Arm, um ihren Sturz abzufangen. Beruhigend redete sie auf die Frau ein.
Kanndra verstand nichts mehr. Erst wurde sie so spät am Abend gestört und dann bricht der Besuch sofort auf der Türschwelle zusammen. Unter einem ruhigen Abend stellte sie sich etwas anderes vor. Und auch die frisch ausgebildete Püschologin schien ihren Abend anders geplant zu haben.
Nach einer Weile wurden die Schluchzlaute leiser und regelmäßiger. Saya stieß unmerklich Luft aus und entspannte die Schultern. Sie richtete Nora auf. Kanndra zog eine Augenbraue in die Höhe und erhob die Stimme: "Euch beiden auch einen schönen Abend, aber könnte mir jetzt bitte jemand erklären, was hier los ist?"
Da Nora noch immer sprachlos vor sich her gurgelte, übernahm Sayadia das Sprechen. Sie weihte Kanndra in die Geschichte der Frau ein und auch die Abteilungsleiterin war sofort berührt von der Trauer und dem unglücklichen Schicksal. Besonders den Unfall schilderte Saya detailliert, denn aufgrund von Noras Reaktion vermutete sie Kanndra hinter der Retterin am Unfallort. Warum sonst sollte sie so zusammenbrechen, beim bloßen Anblick einer Person?

Nach dem Bericht dachte Kanndra lange nach. Sie erinnerte sich genau an den Fall. Das Ganze war noch nicht sehr lange her, in etwa eine Woche oder vielleicht zwei.
Es geschah in einer lauen Sommernacht. Eine Reihe von Bränden hatte die Stadt erschüttert und immer war Brandstiftung die Ursache gewesen. Die FROGs waren mit der Aufklärung des Falls vertraut worden und recht bald fanden sie einen Verdächtigen, der ein kleines Kerzengeschäft nahe der Stadtmauer führte. Dort gab es anscheinend einen regen Handel mit explosivem Material. Die Vermutung lag nahe, dass das Geschäft nur als Tarnung für den illegalen Transport diente und so wurde es von einem Thiem beobachtet.
An jenem Abend galt es besonders aufmerksam zu sein, da das Wetter sehr trocken gewesen war und die Gefahr neuer Brände bestand. Kanndra hatte ihre Position auf einem gegenüberliegenden Dach eingenommen, als eine Person den Laden betrat und lange Zeit nicht wieder hervorkam. Der Verdacht erhärtete sich. Mit vollster Spannkraft ihrer Bögen lauerte das Einsatzthiem auf die Rückkehr der verdächtigen Person, als etwas Unerwartetes geschah.
Ein Wagen rumpelte die schlechte Kopfsteinplasterstraße ungebremst und völlig außer Kontrolle herunter und raste in den beobachteten Laden. Entsetzt beobachtete das FROG-Thiem, wie der Wagen und der Laden in Flammen aufging und die Personen in dem roten Meer verschwanden. Sofort wurde die Oberservierung abgebrochen und es begann ein Rettungseinsatz. Mit vereinten Kräften bahnten sich die FROGs einen Weg durch die Flammen und Kanndra kämpfte sich bis zu einer jungen Frau vor. Sie war ohnmächtig geworden und einige Holzplanken bedeckten sie. Kanndra befreite das Opfer und zerrte sie mit einiger Mühe ins Freie. Ihre Kollegen hatten weniger Glück. Der Knallpulverexperte Raucher Marmelade fand eine weitere, männliche Person, doch dieses Opfer hatte sich bei dem Unfall mit einem Fuß in den Speichen verheddert und war sofort, aufgrund des hohen Rauchaufgebots, bewusstlos geworden. Raucher befreite ihn so gut es ging und trug ihn auf die Straße. Er und sein Kollege Tyros y Graco, ein Gift- und Gasexperte, begannen mit den Wiederbelebungsversuchen, doch schnell mussten sie die Hoffnung aufgeben.
Kanndra hatte ihr Unfallopfer mittlerweile halbwegs wach bekommen, doch die Frau schien noch sehr verstört und murmelte etwas von einem Ehemann, der anscheinend Wilhelm hieß. Die Abteilungsleiterin warf einen Blick auf die verzweifelten Rettungsversuche nebenan. Ihr Blick traf den von Raucher. Beschämt schlug er die Augen nieder und schüttelte den Kopf. Er und Tyros stellten die Versuche niedergeschlagen ein.
Nun lag es an Kanndra der Witwe die schwere Nachricht zu überbringen. Es fiel ihr schwer. Wahrscheinlich würde sie sich nie an diesen Teil der Arbeit gewöhnen können.

Nachdem nun auch Kanndra ihren Teil zu der traurigen Geschichte beigetragen hatte, färbte sich Noras Gesicht kreidebleich. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie eine Witwe war. Eine Witwe nach einem Tag des Verheiratetseins. Noch immer konnte sie es nicht fassen. Doch auch nach dieser weiteren Erklärung kehrte ihr Gedächtnis nicht vollständig zurück. Noch immer fehlte ihr der Teil zwischen dem Unfall und dem heutigen Tag, auch, wie sie jetzt wusste, wenn dies nur circa eine Woche war.
Doch diese Information konnte ihnen weiter helfen. Irgendetwas musste in der letzten Woche passiert sein. Das schränkte die Suche erheblich ein. Kanndra holte ein Bündel von Akten aus einer der Schubladen ihres großen Schreibtischs und legte sie für jedermann sichtlich auf die Arbeitsfläche. Gemeinsam gingen sie Akte für Akte durch, immer auf der Suche nach einer beteiligten weiblichen, jungen Person, die vermutlich unerkannt geblieben war. Jede vorhandene Beschreibung wurde mit der von Nora verglichen. Die Arbeit dauerte lange, doch irgendwann stolperte Kanndra über einen Bericht eines "Tätlichen Übergriffes in der Nacht vom letzten Dienstag". Dabei sollte sich eine Bande von Gaunern über eine offensichtlich verwirrte junge Frau hergemacht und ihr alle Wertgegenstände und einen Rucksack abgenommen haben. Die Beschreibung, abgegeben von einem Passanten, der das Geschehen zufällig beobachtete und die Wache alarmierte, passte haargenau auf Nora. Auch der verwirrte Zustand ließ sich durch ihr Trauma nach dem Unfall erklären. Es schien als wäre sie eine leichte Beute gewesen.
Kanndra überprüfte, wer die Ermittlungen geleitet hatte. Der Späher Waldemar von Silberfang war den Gaunern auf der Spur gewesen und hatte alle notwendigen Beweise gesammelt. Durch einen reinen Zufall war er gerade im Wachhaus eingetroffen, um seine Nachtschicht zu beginnen. Kanndra schickte Sayadia los, um ihn zu suchen. Schnell hatte ihn die Gefreite gefunden und zu Kanndra gebracht. Mit wenigen Sätzen informierten Kanndra, Nora und Saya den Wächter über die Sachlage. Dieser musste sich gut konzentrieren, da die Frauen aufgeregt durcheinander sprachen. Jede überlegte, wie Nora auf die neuen Informationen reagieren würde. Doch irgendwann sah er durch das Stimmengewirr durch und verstand, was alle von ihm wollten.
Der Fall des Angriffs beschäftigte ihn noch immer. Es war ihm schon seit Ewigkeiten sehr wichtig, Schwächeren zu helfen und da die angegriffene Frau laut Zeugenaussage verwirrt oder geistig krank gewesen war, hatte dies seinen großen Gerechtigkeitssinn geweckt. Als Späher war er der Gaunerbande schnell auf die Schliche gekommen und hatte sie verhaftet. Doch das Opfer konnte nicht identifiziert werden. Lediglich der gestohlene Rucksack lieferte einige Anhaltspunkte.
Waldemar kratzte sich nervös am Ohr. War dies wirklich das Opfer seines Falls?
"Ich habe bei den Beweisstücken aus dem Rucksack einen schmalen hölzernen Stab gefunden und konnte nichts damit anfangen. Wenn Sie wirklich das Opfer sind, sagt Ihnen das vielleicht etwas."
Er drehte sich um und ging schnell in sein Büro, um besagtes Holzstück zu holen.
In der Zwischenzeit fing Nora an zu zittern. Würde jetzt wirklich alles aufgelöst werden? Noch konnte sie sich nicht an den Überfall erinnern, aber wie lange würde diese Lücke noch anhalten?
Waldemar kehrte zurück. Behutsam legte er den Holzgegenstand in Noras schwache Hände.
Es herrschte Stille im Büro. Alle Augen waren auf Nora gerichtet.
Zaghaft schloss sie ihre bleichen Finger um das warme Holz.
Die angenehme Berührung ging wie ein Zucken durch ihren Körper. Es verteilte sich über ihre Fingerspitzen, Hände, Arme und zog sich hinunter bis zu den Zehen. Besonders intensiv spürte sie es im Herzen. Es berührte sie seelisch und körperlich. Nora schloss die Augen und überließ sich ganz dem neuen Gefühl. In ihrem Kopf bewirkte es eine Art Aufruhr. Ihre Fetzen von Erinnerung vermischten sich kurz und ordneten sich vernünftig an. Und, zu ihrem Erstaunen, füllten sich auch die Zeiträume dazwischen. Sie spürte, wie sich ihr Gedächtnis wieder zu einem
Ganzen zusammensetzte.
Sie konnte sich wieder erinnern.
In Sekundenschnelle flog sie durch ihr Leben. Sie sah sich als kleines Mädchen, durchlebte ihre Jugend, mit all den Mädchenschwärmereien und ihr bisheriges Leben als Erwachsener, das mehr und mehr ihrem entsetzlichen Schicksal entgegenging. Besonders intensiv sah sie nun die letzte Woche. Glasklar erlebte Nora den Überfall und erkannte auch die Ursache für ihren Gedächtnisaussetzer. Vor der Flucht hatten die Angreifer ihr mit einem Knüppel auf den Kopf geschlagen. Das alles, ihr Trauma, das schon ihren klaren Verstand ausgesetzt hatte, und nun auch der Schlag auf den Kopf, hatte ihr Unterbewusstsein genutzt, um ihr die Qualen zu erleichtern. Sie sollte einfach vergessen.
Nora öffnete die Augen und sofort erkannten alle Anwesenden, dass eine Veränderung in ihr vorgegangen war. Ihr Blick schien klarer und nicht mehr verwirrt. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, doch sie erlag keinem weiteren Gemütsanfall. Niemand sagt etwas, bis Nora von selbst anfing zu erzählen.
Ihr Blick galt wieder dem Holzstück.
"Das hier ist ein Klöppel. Man benutzt so etwas, um Spitzen aus Garn herzustellen. Das Garn wird einfach herumgefädelt und man kann sehr schöne Sachen damit herstellen. Die Großmutter meines Mannes hat mir diesen hier zu unserer Hochzeit geschenkt. Es ist eine wirklich herzensgute Frau. Ich mag sie sehr. Ihr Leben lang arbeitete sie mit Nadel und Faden, deshalb dieses ungewöhnliche Geschenk."
Fast schon lautlos erwiderte Sayadia: "Es scheint sich als nützlich erwiesen zu haben."
Nora blickte ihr lange in die Augen und Saya verstand. "Ja. Das hat es."
Niemand im Raum musste noch etwas sagen. Nora, die vollständig Elenora hieß, war nur mit sich selbst beschäftigt. Kanndra und Sayadia verstanden die aufgewühlte Gefühlswelt der jungen Frau und wollten sich nicht einmischen, nur Waldemar seinerseits schaute etwas verwirrt, da er nicht die ganze Geschichte gehört hatte. Später sollte ihm Saya alles erklären und somit konnte er seinen Fall abschließen.

Plötzlich platzte ein weiterer FROG in die Stille. Es war Raucher Marmelade, der anscheinend
aufregende Nachrichten hatte, denn er verzichtete auf jegliches Anklopfen, Grüßen und sonstige Etikette.
Kanndra duldete das aufrauschende Verhalten des Gefreiten und sogar die qualmende Zigarette in seinem Mundwinkel. Sie sagte lediglich: "Raucher, so spät noch im Dienst? Darf ich dich schnell mit Nora bekannt machen. Sie ist die Überlebende von dem Brandunfall in der letzen Woche."
Raucher wusste wovon Kanndra sprach. Sofort schlug es ihm mulmig auf den Magen und er zeigte ein trauerndes Gesicht.
Doch dann erinnerte er sich an seine Neuigkeiten.
"Kanndra, Mä'äm, ich habe doch schon Meldung gemacht, wegen dem Wagenunfall heute Abend. Ich habe etwas Verblüffendes herausgefunden. Der eine Wagen hatte explosives, verbotenes Material geladen und ich habe den Absender überprüft. Wir haben jetzt endlich einen hiebfesten Beweis für den illegalen Handel des Kerzenladeninhabers!"
Ein Seitenblick streifte Nora. Ihm fiel auf, das die Erwähnung des Todesortes ihres Mannes keinen guten Einfluss auf sie haben würde. Doch Noras kreidebleiches Gesicht konnte nicht noch blasser werden.
"Ähm...nunja...also, ich wollte nur melden, dass wir den Fahrer gefangen genommen haben. Bregs verhört ihn gerade. Er will so schnell es geht ein Geständnis und dann sofort herkommen."
"Danke, Raucher. Das sind wirklich gute Neuigkeiten."
Während Kanndra und Raucher sich noch weiter über den Fall unterhielten, bemerkte nur Sayadia, wie sich Nora langsam und unauffällig Richtung Ausgang geschlichen hatte. Sie öffnete den Mund, doch dann besann sie sich und ließ die junge Witwe gehen. Sie brauchte bestimmt Zeit für sich allein.
Nora tappte leise auf den Flur. Ungestört wollte sie sich jetzt einfach nur ihren Gedanken widmen. Die Wache hatte genug für sie getan. Nun wollte sie nur ihre Ruhe. Sie musste ihre Gedanken ordnen und ihrem Leben einen neuen Sinn geben. Wer weiß, vielleicht würde sie eine Weile zu der netten Großmutter von Wilhelm ziehen? Das würde ihr sicher gut tun. Die Frau lebte auf dem Land und schließlich brauchte sie etwas Abstand zu der Stadt ihres Schicksals.
In dem dunklen Flur stieß sie mit jemandem zusammen. Sie blickte in ein unerwartetes, aber bekanntes Gesicht. Vor ihr stand Araghast Breguyar. Er konnte sich nicht an die kleine Nora erinnern, doch das alles war ihr einfach zu viel. Ohne eine Erklärung schob sie sich an ihm vorbei und ignorierte dabei den vorwurfsvollen Blick im Nacken.
Die Treppen rannte sie hinunter, sie rannte ihrem neuen Leben entgegen. Wie es wohl aussehen würde?

***Epilog***


Elenora tauchte aus ihren Erinnerungen auf. Ihre kleine Enkelin schlief noch immer auf ihrem Schoß. Schon lange hatte die mittlerweile alte Frau nicht mehr so intensiv an ihre schicksalhafte Jugend gedacht. Teilweise verdrängte sie die Gedanken noch, doch wenn es sie eins gelehrt hatte, dann dass man sich mit seinem Schicksal beschäftigen und das Erlebte verarbeiten muss. Sie hatte lange gebraucht, bis sie so weit gewesen war. Letztendlich zog sie doch aufs Land zu der Großmutter, die sie herzlich aufnahm und zusammen mit ihr trauerte. Nach einigen Jahren fand sie auch einen neuen Partner, doch so glücklich wie mit Wilhelm war sie nie. Auf jeder ihrer Beziehung lag ein Schatten. Eigene Kinder bekam sie nicht. Ihr neuer Partner brachte zwei kleine Jungen mit in die Beziehung. Stolz zog sie sie, wie ihre eigenen auf. Ihr Familienleben gedieh prächtig, bis das Alter seinen Tribut forderte.
Es heißt, die Zeit heilt alle Wunden, doch manchmal schmerzen selbst noch die Narben, als würden sie jeden Tag mit einem scharfen Messer nachgezogen.

ENDE








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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

01.11.2007 10:16

</b><br><br>Das einzig aus meiner Sicht ungeklärte an deiner Geschichte vorab: es hat mich von Beginn an beim Lesen interessiert, in was für einer Wohnung die Hauptfigur zu Bewusstsein kam. Wie war sie dort hingekommen und gab es irgendeinen Zusammenhang mit ihren Erlebnissen, der zu diesen Räumen geführt hätte oder handelte es sich dabei um einen Zufall, geboren aus der Not? Ansonsten… diese Single war etwas ganz Besonderes, nicht nur im Kontext des Pokalwettbewerbs gesehen. Es war ein gewagtes Experiment, die Wächter von einer außenstehenden Person betrachten zu lassen und sie dadurch zu charakterisieren. Wohlgemerkt aber ein sehr gelungenes Experiment! Diese Sicht auf die Figuren war wie ein Korb voller Geschenke, die ich eines nach dem anderen beim Lesen auspacken durfte, um dann freudig festzustellen, dass ich den jeweiligen Wächter auch ohne dessen Namensnennung sofort wiedererkennen konnte. Und durch die berichteten, hintergründigen Zusammenhänge gelang es Dir dabei sogar, ein Gefühl der Zusammenarbeit innerhalb der Wache und FROGs zu vermitteln. Der eigentliche Plot wirkte zwar arg kitschig auf mich aber ich vermute beinahe, dass auch dies Absicht war und ich mich als Leser einfach nur auf die Emotionen der Hauptfigur einlassen und von diesen forttragen lassen sollte. Du hast leider zwei Pokalworte falsch eingearbeitet: "rosenscharfen" steht in deiner Single anstelle des bloßen "rosenscharf", was also eine falsche Form darstellt. Und die "Kürbiskerne" waren ursprünglich nur in der Einzahl gewünscht. Wobei man da schon fast wieder ein Auge zudrücken müsste, weil der einzelne "Kürbiskern" auch im Pokalwörterthread zweimal von IA gepostet wurde. *g* ;) Aus meiner persönlichen Sicht hat die Single die Pokalanforderungen daher nicht ganz erfüllt.<br><br><b>

Von Ruppert von Himmelfleck

01.11.2007 10:16

</b><br><br>Grundsätzlich fand ich die Geschichte gut. Die Abteilung mit dem Blick eines Menschen ausserhalb der Wache zu zeigen hat mir gefallen. Zwar sind die Spezialisierungen etwas zu kurz gekommen oder, im Fall von Raucher Marmelade sogar m.E. falsch beschrieben (kein Knallpulverexperte wird so blöd sein in einen Wagen mit brennenden und explosiven Chemikalien zu klettern). Auch die vielen Zufälle, die immer wieder Erinnerungen hervorriefen waren sehr konstruiert.<br>Andererseits können konstruierte Geschichten auch einmal ihren Reiz haben. Das habe ich in diesem Fall auch nicht negativ vermerkt.<br>In sofern war es eine gute und interessante Geschichte.<br>Aber ... Du hast eine sehr bildhafte Sprache. Eigentlich mag ich das. Jetzt wird es eventuell hart, aber ich meins ja nicht böse: Leider fehlt Dir ein wenig Sprachgefühl, so dass viele Beschreibungen entweder plötzlich verpuffen oder bei mir leicht verkitscht ankamen. <br>So als Beispiel: Nora kommt in den Festsaal in dem die Hochzeit gefeiert wird. Alles hell und romantisch und vornehm und edel. Und dann: "... verführt ein riesiges Büfett zum Reinschlingen." Absturz.<br>Ich hatte wirklich Probleme damit durch die ausufernden Gefühlswelten Noras zu waten. <br>Ich würde mir wünschen, bei künftigen Geschichten etwas zurückhaltender mit beschreibenden Adjektiven zu sein (Ähm, es sind doch Adjektive, oder?).<br>Mir ist manchmal der Gedanke gekommen, dass Du bewusst übertreibst. Ich glaube es zwar nciht, aber macnhmal dachte ich wirklich ich bin in einem "Graf Cox und das blonde Zimmermädchen"-Roman ;)<br>Also: Idee und Inhalt haben mir gefallen. Bei der Sprache hatte ich Probleme. Wäre es keine Pokalmission gewesen, ich glaube ich hätte die Geschichte nicht zu Ende gelesen. <br>(Ja, ich weiss, ich bin ein Meckerfritze)<br>

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