Sieben Spuren, sieben Köpfe

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von Lance-Korporal Charlie Holm (SUSI)
Online seit 01. 10. 2006
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Eine mysteriöse Leiche in einem achatenen Restaurant inspiriert verschiedene SUSI-Wächter dazu, sich Gedanken über den Tathergang zu machen.

Dafür vergebene Note: 13

- Der Tatort -

Der Mann lag seitlich auf dem Boden, die Augen weit geöffnet. An seinem Hinterkopf klebte geronnenes Blut an einer offenen Wunde und bildete eine kleine Lache auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden. Auch auf seinem Hemd befanden sich eingetrocknete, bräunliche Flecken.
Olga-Maria Inös, Tatortwächterin der Abteilung SUSI, machte ein paar Ikonographien, während ihr Kollege Charlie Holm, wie immer umweht von einer übel riechenden Tabakwolke, etwas abseits stand und auf ein paar hilflos dreinblickende SEALS-Gefreite einredete. Der Tatort war Lang Pink Ding, eines der in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossenen achatenen Restaurants. Sie standen in einem von vier massiven Glücksdrachen aus Bronze gesäumten Vorraum, von dem aus eine Treppe zu den Privaträumen im ersten Stock führte, sowie eine Tür in die Küche und eine in das Restaurant selbst. Ein Schild in der Eingangstür verkündete in radebrechendem Ankh-Morporkianisch: Habe drei Monde Uhr Laub in alter Heimart. Sektober bin für ehrbare Kundschaft zurück.
"...hat ihn also ein Passant morgens von der Straße aus gesehen und die Wache gerufen, richtig? Und die Tür war offen gewesen?"
"Genau, Lance-Korporal", bestätigte einer der Wächter. "Es gibt keine Spuren, dass sie gewaltsam aufgebrochen wurde. Wer sie geöffnet hat, muss entweder einen Dietrich oder einen Schlüssel gehabt haben."
Charlie notierte sich etwas und zog an seiner Pfeife. Sicher würde RUM den Fall demnächst, sobald alle Spuren gesichert waren, an sich nehmen, aber niemand konnte einem Spurensicherer verbieten, sich selbst Gedanken zu machen. Außerdem schien dies zu einem Fall nach seinem Geschmack zu werden, denn es gab keine einleuchtende Erklärung für das, was hier vorgefallen war. Es gab einen Toten, aber niemand wusste, was der Mann hier nachts in einem menschenleeren Restaurant getan oder wie er gestorben war. Außerdem hatte Sillybos ihnen eine kleine Rede gehalten, bevor sie losgezogen waren: "Ich weiß aus gut informierten Kreisen", hatte er erklärt, "dass dies wohl einer der Fälle ist, die der Kommandeur sich so gerne stichprobenartig von jeder Abteilung vorlegen lässt, um den Gewinner des Abteilungspokals zu ermitteln. Strengt euch also noch mehr an als sonst - und geht auch mal der einen oder anderen Spur nach, auch wenn das vielleicht nicht ganz strikt in euren Aufgabenbereich fällt."

Olga-Maria hatte den Ikonographen inzwischen wieder eingesteckt und untersuchte die Leiche näher. Sie (die Leiche, nicht Olga-Maria) war männlich, vielleicht fünfzig Jahre alt und durchschnittlich gekleidet. Ein Drei- oder Vier-Tage-Bart stand ihr im Gesicht.
Vorsichtig griff sie ihm mit einer behandschuhten Hand in Mantel- und Hosentaschen und holte den Inhalt heraus: Ein paar Münzen, ein unbeschriftetes Schlüsselbund, ein zu einem Nachschlüssel gebogener Draht - was zumindest die Frage zu beantworten schien, wie der Mann in das Gebäude gekommen war - und ein zusammengefaltetes Stück Papier, das sie behutsam auseinander faltete und dann zu den anderen Dingen in eine Tüte steckte.
Dann sah sie noch etwas unter dem Ärmel des Mantels hervor schauen. Sie schob den Ärmel hoch und griff wieder nach dem Ikonographen, um ein paar Bilder der sichtbar gewordenen Tätowierung zu machen, die sich kurz über dem Handgelenk befand.

"Hat von den Nachbarn jemand etwas gesehen oder gehört?", fragte Charlie.
"Anscheinend nicht, aber das hier ist auch eine reine Geschäftsstraße. Nachts ist hier kaum etwas los."
Der Lance-Korporal nickte. Länger als zwölf Stunden konnte der Todeszeitpunkt dem Zustand der Leiche nach kaum zurückliegen, damit musste es letzte Nacht geschehen sein.
"Sagt in der Gerichtsmedizin Bescheid, dass sie jemanden schicken, um die Leiche abzuholen, ja?"
Die Gefreiten salutierten und wandten sich zum Gehen - froh, endlich dem grauenhaften Tabakgestank entkommen zu können.

- Die Spuren -

Rib

Rib MacLaut, uneingeschränkter Herrscher über die Laborarbeit der Wache, sah unwirsch auf. Er mochte es nicht, bei seiner Arbeit unterbrochen zu werden, und schon gar nicht mochte er es, wenn diese Unterbrechung darin bestand, dass ihn jemand fragte, wie weit er mit seiner Analyse war. Auch dass dieser jemand in diesem Fall sein Abteilungsleiter war, machte es nicht besser: Soweit es ihn betraf, war das Labor eine Abteilung für sich, und er war ihr Leiter.
"Ja, ich habe etwas", sagte er jetzt und lächelte säuerlich. "Ich habe sowohl die Flecken auf dem Hemd des Toten untersucht, als auch ein paar Spuren einer weißen Substanz, die Jack unter seinen Fingernägeln gefunden hat."
Sillybos, Philosoph und Abteilungsleiter von SUSI, runzelte die Stirn. "Wieso untersuchst du Dinge, die Jack unter seinen..."
"Unter den Fingernägeln des Toten, versteht sich", unterbrach Rib gereizt. Abteilungsleiter mochten kommen und gehen, aber Nervensägen waren sie allesamt - dieser vielleicht sogar noch etwas mehr als seine Vorgänger.
Der mumifizierte Gnom schritt über den Labortisch zu einem Stück weißem Baumwollstoff, auf dem sich ein brauner, verkrusteter Fleck befand.
"Laut Jack hatte der Tote im Brustbereich keine Wunde, und für Spritzer vom Hinterkopf ist die Position der Flecken falsch", meinte Sillybos. "Es muss sich also wohl um das Blut einer anderen Person handeln, richtig?"
Rib rollte mit den Augen. Wozu kamen diese Leute überhaupt ins Labor, wenn sie lieber selbst vorschnell falsche Schlüsse zogen? Auf Dauer ging das so nicht weiter. Er hob den Kopf und lächelte seinen Abteilungsleiter liebenswürdig an. "Fast richtig, Oberfeldwebel." Er schaffte es problemlos, der Dienstgradbezeichnung eine merklich abfällige Betonung zu geben. "Möchten Sie meine ausführliche Analyse hören?"
Bevor Sillybos noch antworten konnte, nahm der Gnom das Stoffstück und leckte einmal darüber. Er genoss sichtlich den entsetzten Ausdruck seines Gegenübers.
"Bratensoße", erklärte er. "Die Substanz unter seinen Fingernägeln ist übrigens Soßenbinder."
Sillybos fasste sich wieder. "Unser Opfer ist also ein Koch?"
"Möglicherweise. Aber kein besonders guter."
"Wieso das?"
"Die Soße ist ziemlich versalzen."

Die Gnumie sah ihrem Abteilungsleiter kopfschüttelnd hinterher, als dieser das Labor verließ. Wieso so einem nachgiebigen Intellektuellen die Leitung der wichtigsten Abteilung der Wache übertragen war, verstand er nicht. Aber mit diesem Fall sollte selbst er nicht allzu überfordert sein. Saucenflecken und Stärke... zumindest war klar, was der Mann mitten in der Nacht in einem verlassenen Restaurant getan hatte. Vielleicht hatte er einfach die Gelegenheit nutzen wollen, sich einmal in einer professionellen Küche auszutoben. Und dann... war ihm vielleicht von irgendetwas schlecht geworden, so dass er gestolpert und ungünstig gefallen war...?

-- Gasse vor dem achatenen Imbiss --
-- Kurz vor Mitternacht --
-- Gestriger Tag --
-- Während des Einbruchs --[1]


Der Mann sah sich unauffällig in der menschenleeren Gasse um. Mondlicht, fahl und unwirklich, fiel auf das Kopfsteinpflaster. Alles war still. Er steckte den Dietrich ins Schloss und stocherte ein paar Mal darin herum. Ein lautes KLICK war zu hören.
Der Mann trat ein und wartete, bis seine Augen sich an das schummrige Licht gewöhnt hatten, dann schritt er zielstrebig in die Küche.
Eben in der Kneipe hatten sie über ihn GELACHT, als er behauptet hatte, dass er achatenen Blähfisch mit traditionellen Beilagen herstellen könne, aber die würden sich noch WUNDERN!
"Jleich jibtet ein jroßes Festessen, und dann werden euch die Aujen überjehen", murmelte er und machte sich auf die Suche nach dem Kühlraum. Sicher würde es hier ein wenig Blähfisch geben.
Eine gute Stunde später hatte der Mann den Blähfisch im zukunftsschweinefleischgekühlten Kühlraum [2] ein Stück achatenen Tiefsee-Blähfisch gefunden, ihn zubereitet, das Essen säuberlich in einer Schachtel verstaut und die Küche wieder aufgeräumt. Zufrieden stellte er die Schachtel auf einem Regal an der Wand ab und sah sich noch ein letztes Mal um, ob er auch keine Spuren hinterlassen hatte. Nein, bis auf die Flecken an seinem Hemd und die an seinen Fingern war alles sauber.
Seine Finger... auch er selbst hatte noch nichts von dem Blähfisch gekostet. Ob er wirklich so gut schmeckte, wie man behauptete?
Er leckte sich den rechten Zeigefinger ab. Oh ja, es schm-


Jack

Auch Jack Narrator, Gerichtsmediziner, war so etwas wie der uneingeschränkte Herrscher seines Reiches, und sei es auch nur, weil die meisten anderen Wächter froh waren, wenn sie nie einen Fuß in diese Räumlichkeiten setzen mussten.
Jetzt gerade war er konzentriert dabei, der vor ihm liegenden Leiche den Bauch aufzuschneiden. Die fröhliche Melodie, die er dabei pfiff, halte hohl von den gekachelten Wänden seiner Arbeitsstätte wieder.
Mit etwas, das aussah wie eine etwas zu groß geratene Geflügelschere, öffnete er den Brustkorb und spähte hinein. Wer auch immer der Tote gewesen war, zumindest hatte er das Herz am rechten Fleck.
Er biss herzhaft in sein Schinkenbrötchen. Die Todesursache war eindeutig: Genickbruch, zusammen mit einer Wunde am Hinterkopf. Es gab keinerlei Spuren eines Kampfes, und die Beschaffenheit der Wunde ließ darauf schließen, dass sie durch einen Sturz, nicht durch eine stumpfe Waffe verursacht worden war. Kurz: Der Tote war unglücklich gestolpert, hatte sich dabei den Kopf angeschlagen und das Genick gebrochen. Damit war der Fall für die Wache eigentlich erledigt - es war kein Mord, und für den Einbruch konnte man den Toten nur schwerlich belangen. Ein kurzer Blick auf die inneren Organe, dann konnte der Fall von seiner Seite als abgeschlossen betrachtet werden.
"He, Großer! Post!"
Jack drehte sich um und sah, wie ein Rohrpostdämon ihm mit einem Zettel in der Hand zuwinkte. Er nahm ihn entgegen, und das rote Geschöpf verschwand wieder in den Eingeweiden des Röhrensystems[3]
Bitte unbedingt auch Mageninhalt untersuchen. Sillybos lautete die Nachricht.
Jack zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder der Leiche zu. Er wusste nicht, was der Chef zu finden hoffte - eine Vergiftung kam als Todesursache nicht in Frage - aber Dschob war Dschob. Immer noch kauend band er mit geübten Handgriffen den Magen ab und schnitt ihn aus dem Körper. Er schaffte auf seiner Arbeitsfläche Platz, indem er das Schinkenbrötchen etwas zur Seite schob, legte das Organ dann ab, schnitt es mit einem kleinen Messer auf und gab zwei Löffel des breiigen Inhalts in eine Schale. Nun gut, so hatte das Labor wenigstens mal wieder ein bisschen zu tun. Auch wenn doch eigentlich klar war, was da in der Nacht vorgefallen war...

Der Mann sah sich unauffällig in der menschenleeren Gasse um. Niemand war zu sehen. Vorsichtshalber lauschte er ein paar Minuten schweigend.

Nichts war zu hören.

Der Mann holte einen Dietrich aus der Tasche und steckte den Dietrich in das Schloss. Mit geübten Fingern stocherte der Mann mit dem Dietrich im Schloss herum und knackte es, betrat das Gebäude und zog die Tür hinter sich zu.

Man musste es doch ausnutzen, dass die Schlitzaugen im Urlaub waren. Sicher gab es hier ein paar Wertsachen, die einzustecken es sich lohnen würde.

Er schlich vorsichtig durch den dunklen Flur. Als er eine Stufe übersah, stolperte, und so ungünstig hinfiel, dass er sich den Hals brach.


Sillybos

Der Abteilungsleiter kehrte in sein Büro zurück. Inzwischen hatte RUM sich gemeldet, um den Fall zu übernehmen, und ihn um eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse gebeten.
Die seiner Meinung nach vielversprechendste Spur bisher, der Zettel, der zusammengefaltet in der Tasche des Toten gesteckt hatte, lag auf seinem Schreibtisch. Es handelte sich allem Anschein nach um die Hälfte einer Urkunde, die jemand achtlos in der Mitte durchgerissen hatte.
Nun, wenn RUM den Fall haben wollte, dann wollte er ihnen Ergebnisse vorlegen. Es war eine Sache des Abteilungsstolzes, den Fall nicht halb, sondern möglichst ganz gelöst zu übergeben - und außerdem würde es SUSI auf dem Weg zum diesjährigen Abteilungspokal sicherlich helfen.
Er warf noch einmal einen Blick auf das schmutzige Papier, auf dem sich nur noch mit Mühe einige Textpassagen lesen ließen.

Hiermit wird ... ewerb ... ORK SUCHT DEN SUP ... IEBTEN PLATZ ...

Eine Urkunde für den siebten Platz in einem Wettbewerb? Was war das, Kindergeburtstag? Nun ja, wenn man Wert auf einen Beweis seiner Unfähigkeit legte...
Sillybos sah den Zettel mit gerunzelter Stirn an. Warum trug man so etwas bei sich, wenn man nachts in fremde Häuser einbrach? Es sei denn...

Eine menschenleere Gasse im Mondlicht.
Der MANN tritt auf und schaut sich prüfend um.

MANN (schaut auf das Schild am Laden): Lang Pink Ding. Ja, hier bin ich richtig. Jetzt kann der sich auf etwas gefasst machen! (Sich prüfend umschauend:) Aber sieht mich auch keiner?

GASSE: (schweigt)

MOND: (scheint auf den Mann und den Restauranteingang)

MANN: Nichts zu hören. Sehr gut. (Er zieht einen Dietrich aus der Tasche und beginnt damit, das Schloss zu knacken) Er sei besser als ich, haben sie gesagt! Ankh-Morpork sucht den Suppenkönig, von wegen! Meiner Kohlsuppe hätte diese jämmerliche Wan-Tan-Suppe niemals das Wasser reichen können, wenn dieses Schlitzauge nicht die Jury bestochen hätte. Jetzt hole ich mir den Pokal, der mir rechtmäßig zusteht!

DIETRICH: Klick!

MANN: Ah, das Schloss ist auf. Dann wollen wir doch mal schauen, wo der Alte die Trophäe versteckt.

TÜR: Quiiiiiiiiiiiietsch!

Der Mann verschwindet ins Gebäude. Man hört eine Weile nichts. ANDERER MANN tritt auf. Er trägt eine Augenmaske und hat einen leeren Sack über den Rücken hängen.

ANDERER MANN: (zu sich) Was haben wir denn hier? Eine offene Tür, mitten in der Nacht? (lauscht) Kein Licht, und nichts ist zu hören. Heute scheint mein Glückstag zu sein.

ANDERER MANN betritt das Restaurant. Wieder ist es eine Weile ruhig, dann hört man einen gedämpften Aufschrei und einen Schlag. ANDERER MANN kommt durch die Tür nach draußen. Er hält einen goldenen Pokal in der Hand und läuft schnell seitlich von der Bühne. Auf der anderen Seite tritt TOD auf.

TOD: (pfeift eine fröhliche Melodie und betritt das Restaurant)

Vorhang.



Lady Rattenklein

Mit säuerlicher Mine entnahm Lady Rattenklein mit einer Pinzette eine kleine Portion der breiigen Masse, die Jack zur Analyse hereingereicht hatte. Das SUSI-Labor besaß einige hoch spezialisierte Gerätschaften, die genau diesem Zweck dienten, und mit denen sich so schöne Dinge wie der Anteil von Alkohol im Blut, der Anteil von Blut im vampirischen Mageninhalt, der Anteil von Kalk oder auch Platte in trollischer Gewebeflüssigkeit, oder auch der Schimmelanteil in den Organen von Zombies messen ließ.
Schnell hatte die Gnomin die Standard-Tests durchgeführt. Der Tote hatte offenbar ein umfangreiches Abendessen genossen, aber nichts wies auf Gifte oder ähnliches hin. Es gab nur eine spezielle Anomalie in den Ergebnissen, und auf die war sie auch nur deshalb gestoßen, weil sie versehentlich eine der Testroutinen durchgeführt hatte, die eigentlich für Trolle bestimmt waren.
Die Gnomin führte ein paar weitere Tests durch, glich die Ergebnisse mit einem Handbuch ab, machte sich Notizen und schlug ein paar Stichworte in einem Lexikon nach. Schließlich sah sie von ihrer Arbeit auf und studierte den vor ihr liegenden Notizzettel.
Hohe Konzentration an Siliziumdioxid. Eingenommen wahrscheinlich in Form von Kieselsäure, die vor allem für Wuchs von Haaren, Knochen und Fingernägeln gut ist. Kommt in hohen Dosen auch in einigen achatenen Algenarten vor.
Nun, aber das konnte kaum die Todesursache sein, überlegte sie sich, während sie den Zettel in die Rohrpost steckte. Nicht, wenn der Mann nicht an einem akuten Fall von Nierensteinen gestorben ist. Außerdem: Niemand, der einigermaßen bei Verstand war, würde in ein Restaurant einbrechen, um ein paar wertlose Algen zu stehlen, oder? Aber andererseits... vielleicht war er gar nicht bei Verstand? Konnte das die Erklärung sein?

Der Mann sah sich unauffällig in der menschenleeren Gasse um. Ja, hier war er richtig. Er konnte die herrlichen Algen schon beinahe riechen. Diese köstlichen, wunderbaren, nahrhaften, so gesunden Algen...
In der Glasscheibe sah er, wie sein Spiegelbild ihn vorwurfsvoll anstarrte. "Was?", zischte er. "Halt du dich da raus! Ich habe genug von dir!"
Unwirsch wandte er sich ab, knackte mit zitternden Fingern das Schloss und betrat das Restaurant. Sein persönlicher Vorrat an Mud-Schlick-Algen war inzwischen aufgebraucht, und bei den Händlern der Stadt war zur Zeit auch nichts zu bekommen - dabei verlangte es jeder Faser, jeder Zelle seines Körpers danach, wie einem Verdurstenden nach Wasser.
"Du bist nicht ganz dicht!", teilte sein Schatten ihm mit, den das Mondlicht scharf auf die Fliesen des Vorraums zeichnete.
"Halt die Klappe! Du bist genau so schlimm wie mein Spiegelbild! Ihr versteht mich alle nicht!"
"Nicht ganz dicht!", wiederholte der Schatten ungerührt. "Schau dich doch nur an!"
Tränen schossen dem Mann ins Gesicht. Er kniete sich auf den Boden und schlug mit der Faust nach dem Schatten. "Sei still! Sei still!"
Der Schatten wehrte sich, packte ihn am Handgelenk. Der Mann drehte sich, versuchte, sich aus dem Griff zu winden, und schlug wild um sich. Sein ganzer Körper zuckte, bis sein Hinterkopf mit Gewalt gegen den Kachelboden stieß.
Dann war es still.


Laiza

Laiza Harmonie, Okkultismusexpertin von SUSI, sah von einem ihrer Bücher auf, als sie jemanden an die Tür klopfen hörte. Ihr Blick fiel auf Sillybos, der abwartend im offenen Eingang stand. "Oh, hallo Sör! Was gibt es denn?"
"Hallo Korporal. Darf ich reinkommen?"
"Aber natürlich." Laiza sprang auf und fegte ein paar Hefte und Zettel von einem zweiten Stuhl. "Setzen Sie sich doch. Was kann ich für Sie tun?"
Sillybos nahm mit knackenden Gelenken Platz, während auch Laiza sich wieder auf ihren Stuhl setzte. "Du hast wahrscheinlich schon von dem Vorfall in dem achatenen Restaurant gehört?"
"Ja." Laiza sah ihren Vorgesetzten abwartend an. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie dieser Fall die Fähigkeiten einer Okkultismusexpertin erfordern konnte.
"Dann weißt du sicher auch, dass bei der Leiche ein Zettel gefunden wurde. Eine Urkunde, um genau zu sein. Ich habe sie mir gerade noch mal genauer angesehen, und festgestellt, dass jemand etwas auf die Rückseite gekritzelt hat." Sillybos schob ihr ein Pergamentblatt über den Tisch, auf dem ein mit Bleistift gemaltes Muster aus Punkten und Verbindungslinien zu sehen war.
Laiza runzelte die Stirn. "Nun Sör, ich würde sagen, das sieht aus wie... ein Sternbild?"
"Genau!" Sillybos nickte. "Das habe ich auch vermutet. Könntest du bitte herausfinden, um was für ein Sternbild es sich handelt, und alles, was damit zusammenhängt und möglicherweise von Bedeutung sein könnte?"
Laiza nickte diensteifrig. Ihrer Meinung nach gab es sowieso viel zu selten etwas zu tun für Okkultismusexperten, da die meisten Verbrecher dann doch lieber so profane Mittel wie Gift oder Dolche verwendeten, statt das Risiko einzugehen, das magische Wege mit sich brachten. "Ich schlage das kurz nach, dauert gar nicht lange."
Sie ging zu ihrem Bücherregal und zog nach kurzer Suche einen dicken Folianten heraus.
"Treuherzigs vollständiges Kompendium aller Sternbilder der letzten zweihundert Jahre", erläuterte sie. "Leider ist diese Auflage schon wieder zwei Jahre alt, mein Antrag zum Kauf der aktuellen Version wurde noch nicht..."
"Ist schon gut, Korporal, ich bin sicher, das wird reichen", winkte Sillybos ab. "Dann wollen wir doch mal sehen, was Herr Treuherzig zu sagen hat."
Nach ein paar Minuten eifrigen Blätterns und Vergleichens sah die Okkultismusexpertin auf. "Hier haben wir etwas. Es ist das Zeichen des Problematischen Bären, Das ist seit etwa achtzig Jahren am Himmel zu sehen und wird in zwanzig weiteren wieder verschwunden sein. Laut aktueller Ergebnisse der Forschungsastrologie wird dieses Zeichen im Allgemeinen mit Unglück und Missgeschick in Verbindung gebracht, und..."
Sie verstummte, las weiter und kritzelte hin und wieder ein paar Worte oder Zahlen auf einen Zettel. Sillybos beobachtete sie abwartend.
Ja... alles passte. War das die Erklärung?


Endlich war es so weit. Dies war der Tag, an dem sein Unglück ihn ein für alle Mal verlassen würde. Er wusste, dass seine Geburt Schuld war: Er war geboren worden, als der Mond durch das Zeichen des Problematischen Bären zog, und er würde bei jeder weiteren Durchquerung eine erneute Pechsträhne haben, wenn er nicht etwas dagegen tat.
Die aktuelle Pechsträhne war besonders schlimm - er durfte es nicht mehr länger herauszögern. Seine Frau hatte ihn aus der Wohnung geschmissen, und er hatte keinen einzigen Cent in der Tasche.
Nein, seine einzige Hoffnung war ein Jade-Amulett. Ein betrunkener Achatener, den er in einer Bar getroffen hatte, hatte ihm davon erzählt, im achatenen Reich dieses Sternzeichen sehr gut bekannt war, und es spezielle Amulette gab, die einen vor dessen Auswirkungen schützen konnten. Und das war der Grund, weshalb er jetzt mit ungeübten Fingern das Schloss eines in der Nacht still und verlassen in der Dunkelheit liegenden Hauses knackte. Ein Schild an der Tür sagte ihm, dass er freie Bahn hatte.
Fast jede Familie besaß so ein Amulett, hatte der Mann ihm erzählt. Vielleicht hatte er ja auch in seiner Pechsträhne zumindest einmal Glück...
Endlich ging die Tür auf. Der Mann trat ein, zog die Tür leise hinter sich zu und schlich auf die Treppe zu den Privaträumen zu. Vielleicht war es eine Unebenheit im Boden, vielleicht einfach nur Ungeschicklichkeit, oder vielleicht auch die Pechsträhne, die ihn stolpern und so ungünstig fallen ließ, dass er nie wieder aufstand...



Olga-Maria

Olga-Maria hatte sich Sillybos' Worte zu Herzen genommen. Geht der einen oder anderen Spur nach, auch wenn das nicht in euren Aufgabenbereich fällt...
Die Spur, der sie jetzt nachging, bezog sich auf die seltsame Tätowierung mit den gekreuzten Rudern, die über dem Handgelenk des Toten gefunden hatte. Das Motiv wirkte nicht wie etwas, das sich jemand zur reinen Verzierung auf den Arm tätowieren ließ - nein, es wirkte, als hätte es eine spezielle Bedeutung. Und das war der Grund, weshalb die Gefreite jetzt in einem schäbigen Hinterhof-Tätowierungsstudio im Hafenbereich stand und sich mit dem muskelbepackten Inhaber unterhielt.
"Jau, die kennich", brummte er, als die Wächterin ihm die Ikonographie zeigte. "Aber so was hab' ich schon seit Jahren nich mehr gestochen. Das is auch nix, was man sich so aus Jux mal machen lässt, min Deern."
"Also hat es eine besondere Bedeutung?", fragte die Gefreite nach. Sillybos würde sicher stolz auf sie sein.
"Jau, das kannst wohl sagen", erklärte der Mann. "Is so 'ne Art Bruderschafts-Symbol. Das zeigt, dass man mal Kapitän auf einer Sklavengaleere gewesen war."
"Sklavengaleere?" Olga-Maria riss die Augen auf.
"Klar. In den ganzen kleinen Ländern auf der anderen Seite vom Runden Meer - Klatsch, Omnien, und so - gibt's ganze Flotten von denen. Hier auf dieser Seite ist so was ja eher verpönt - wie gesagt, ich hab' so was auch lange nicht mehr gesehen."

Zufrieden mit sich selbst marschierte Olga-Maria zur Wache zurück. Eine Sklavengaleere also... ob es auch achatene Sklaven gab? Ein Bild zeichnete sich vor ihrem inneren Auge ab...

Der Mann schritt durch die Nacht und betrachtete die Häuser, an denen er vorbei kam. Nummer 21... Nummer 23... Nummer 25... Ja, hier war er richtig...
Der Mann zog einen Zettel aus seiner Tasche.
Mitternacht, Schellfischallee 25 stand darauf. Eine vermummte Gestalt hatte sie ihm heute zugesteckt. Der Mann wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber er hatte beschlossen, der Einladung Folge zu leisten.
Nummer 25 war ein achatenes Restaurant namens
Lang Pink Ding. Laut einem Schild an der Tür war der Besitzer zurzeit verreist. Der Mann sah sich um, ohne jemanden zu sehen. Er machte einen Schritt auf die Tür zu und wollte anklopfen, doch sie schwang von selbst auf.
Der Mann zögerte kurz und trat dann ein. "Hallo...?" flüsterte er. "Ist hier jemand...?"
Ein Streichholz flammte auf, und der Mann fuhr herum. Eine aurientalisch anmutendes Gesicht wurde im Schein des Lichtes sichtbar. "Ja, hiel ist jemand", sagte es. "Elinnelst du dich?"
Der Mann fuhr erschrocken zurück. Auch wenn er sich an das Gesicht nicht erinnerte, ahnte er, was jetzt folgen würde... hinter ihm schlug jemand die Tür zu. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er in der Falle saß...
"Du hast unsele Sippe damals auf dein Schiff velschleppt", fuhr die Stimme fort. "Dank dil wulden will aus unselel Heimat gelissen und mussten jahlelang schuften, bis wil uns eine neue Existenz aufbauen konnten... als mein Vettel dich vol einigen Tagen am Hafen sah, wussten will, dass jetzt die Zeit unselel Lache gekommen ist."
Der Mann hörte, wie sich ihm von hinten Schritte näherten. Er drehte sich um und sah in der Dunkelheit mehrere dunkle Umrisse.
"Mein Onkel hat aus Angst vol dil und deinel Mannschaft seinen Laden geschlossen und ist velschwunden, doch will haben uns entschieden, dass del Zeitpunkt del Lache gekommen ist. Beleite dich vol, deine Volfahlen zu tleffen!"
Der Mann drehte sich langsam im Kreis. Er war stark, vielleicht konnte er...
Er spürte einen Stich in seiner Hüfte. Er tastete danach und fühlte eine dünne Nadel, die in seiner Haut steckte. Die Welt drehte sich um ihn herum und ihm wurde schwarz vor Augen...
Das letzte, das er in seinem Leben spürte, war ein heftiger Schmerz, als sein Hinterkopf unsanft auf dem gefliesten Boden aufstieß.



Ruppert von Himmelfleck

Ruppert von Himmelfleck war eigentlich ebenfalls Okkultismusexperte bei SUSI, aber seine jetzige Beschäftigung hatte nicht das Geringste mit Okkultem zu tun. Sillybos hatte ihm den Sonderauftrag gegeben, bei den neben dem Restaurant liegenden Geschäften ein paar Informationen einzuholen.
"Streng genommen mag das nicht unser Aufgabenbereich sein", hatte der Abteilungsleiter zugegeben, "aber wir wollen schließlich den Abteilungspokal gewinnen, nicht wahr? Und dafür zählen nur Ergebnisse, nicht strenge Zuständigkeitsgrenzen. Außerdem ist SUSI für das Suchen und Sichern von Spuren zuständig, und im Grunde genommen ist das Ausfindigmachen und Befragen von Zeugen doch nichts anderes als Spurensuche, oder?"
Ruppert war von dieser Argumentation nicht ganz überzeugt gewesen, aber er wusste, dass es sinnlos war, mit einem Philosophen zu diskutieren. Und das galt insbesondere dann, wenn dieser Philosoph auch noch ein Vorgesetzter war.
Außerdem musste er zugeben, dass der Einsatz tatsächlich erfolgreich gewesen war. Schon bei der zweiten Tür, an der er geklopft hatte, hatte ein runzeliger alter Mann ihm mitgeteilt, dass das Restaurant gestern noch geöffnet gewesen war. Die plötzliche Abreise des Restaurantbesitzers und seiner Familie ließ den Fall in einem ganz neuen Licht erscheinen.

Der Mann betrachtete mit finsterer Mine das still vor ihm liegende Restaurant. Der Alte und seine Familie schliefen in ihrer kleinen Dachkammer wohl schon tief und fest. Für ihn bedeutete das freie Bahn, das zu tun, weshalb er hier war. Schließlich war der Kerl ja auch selber Schuld, wenn er sein Schutzgeld nicht zahlte.
Er knackte mit flinken Fingern das Schloss und trat in den Raum. Die dekorative Trennwand aus Papier war ein schöner Anfang. Glas und Porzellan kamen später dran. Erst wollte er seinen Spaß haben, ohne dass der Alte aufwachte. Er tat einen Schritt in den Raum, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Er wollte sich umdrehen, aber es war schon zu spät: Ein kräftiger To-Fu-Tritt traf seinen Hinterkopf, und sein Genick brach wie trockenes Stroh.
Ein kleiner, runzliger Achatener mit gebeugtem Rücken trat aus dem Schatten und betrachtete die Leiche. "Suk-Mi? Wil müssen hiel velschwinden ... und zwal schnell! - Hol die Kindel! "



- Die Präsentation -

"Darf ich um Ruhe bitten?" Sillybos sah erwartungsvoll in die Runde. Mehrere Mitglieder von SUSI saßen im Raum, und der Ermittler Inspäctor Kolumbini von RUM war ebenfalls anwesend.
Als alle zur Ruhe gekommen waren, nickte der Abteilungsleiter zufrieden und wandte sich der Stellwand zu, neben der er stand.
"Die Kollegen von RUM haben uns gebeten, unsere Ergebnisse zu präsentieren." Er zog einen Stift hervor und begann, auf die Stellwand zu schreiben. "Insgesamt sind wir sieben verschiedenen Spuren nachgegangen, die ich hier kurz mit ein paar Stichworten definieren möchte..."
Während er weiter sprach, schrieb der Stift mehrere Wörter in dicken Buchstaben auf das Papier und unterstrich sie:


Gelegenheitskoch
Galeerenkapitän
Unterlegenheitszertifikat
Problembär
Betriebsferien
Kieselpräparat
Abwesenheit


"Fangen wir am besten oben an", fuhr Sillybos fort. "Wir wissen, dass der Tote kurz vor seinem Ableben etwas gekocht haben muss, und dass es sich bei ihm nicht um einen sonderlich guten Koch handelt. Die Küche des Restaurants wirkt unbenutzt, er hat also entweder hinter sich gründlich sauber gemacht, oder eine andere Küche für das Kochen genutzt.
Der zweite Punkt: Der Tote hat eine nautische Tätowierung auf dem Unterarm, die auf eine Vergangenheit als Galeerenkapitän, und mutmaßlich auch als Sklavenhändler, hindeutet.
Der dritte und vierte Punkt beziehen sich auf ein Dokument, das bei dem Toten gefunden wurde. Es handelt sich nur um die abgerissene Hälfte eines Blattes, aber Charlie Holm und ich sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich um die Urkunde eines Wettbewerbs im Kochen handelt, was den ersten Punkt stützen würde. Auf der Rückseite dieses Dokuments ist etwas abgebildet, bei dem es sich laut unserer Expertin um das Sternzeichen des Problembären..."
"Des problematischen Bären", korrigierte Laiza mit einem leicht genervten Augenrollen.
"...des problematischen Bären handelt", fuhr Sillybos ohne Unterbrechung fort. "Laut unserer Okkultismusexpertin neigen in diesem Zeichen geborene Personen dazu, vom Pech verfolgt zu werden, wenn der Mond in diesem Sternbild steht - was derzeit gerade der Fall ist. Ist das richtig?"
Laiza nickte.
"Punkt fünf", fuhr Sillybos fort. "Der angebliche 'Uhr Laub in der Heimat' ist laut Aussage von Nachbarn ziemlich überstürzt angetreten worden. Genauer gesagt war das Restaurant am Tag vor dem Zwischenfall noch geöffnet, und..."
"Ist eine solche Ermittlung nicht eher Aufgabe von RUM?", frage Kolumbini irritiert nach.
"Es ist eine Spur, nicht wahr? Und SUSIs Aufgabe ist es, Spuren zu sichern", erklärte Sillybos kurz seine Theorie. "Punkt sechs: Das Opfer hatte ungewöhnlich große Mengen eines Mineralstoffs, der auf den Verzehr eines Nahrungsergänzungsmittels oder auf achatene Algen hinweist, in seinem Körper.
Punkt sieben: Es gibt keinerlei Spuren, die auf einen Kampf oder andere ungewöhnliche Ereignisse in diesem Restaurant hindeuten. Er muss also entweder völlig überrascht worden sein, oder es handelte sich um einen Unfall. Auch das ist laut Ansicht unserer Gerichtsmedizin möglich."
Sillybos schwieg und blickte den Ermittler erwartungsvoll an. "Gute Arbeit", sagte dieser schließlich. "Dann bleibt uns ja nur noch, all diese Spuren irgendwie zu einer Gesamttheorie zu verbinden. Ich nehme die Unterlagen dann-"
"Ich denke, da kann ich helfen", unterbrach Charlie.
"Danke, so viele sind das ja nicht", winkte Kolumbini ab. "Das kriege ich schon hin."
"Ich meine, bei der Gesamttheorie", erklärte der Spurensicherer geduldig. "Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht, und denke, es gibt nur eine Theorie, die all diese Spuren zufrieden stellend erklärt."

- Die Theorie -

Es war schon dunkel, als der Mann das achatene Restaurant erreichte. Die Tür war verschlossen, aber im Inneren brannte, wie er erleichtert feststellte, noch Licht. Auf sein Klopfen hin erschien ein Achatener gehobenen Alters. Er runzelte kurz die Stirn, als er den Mann in der Dunkelheit stehen sah, aber dann hellte sich sein Gesicht auf und er öffnete die Tür.
"Loland? Loland, bist du es?"
"Natürlich bin ich es, Lang Pink." Der Mann schloss den Alten kurz in seine Arme. "Darf ich reinkommen? Ich habe ein ziemlich dringendes Anliegen."
"Ich gelade koche Abendessen fül Familie. Abel vielleicht du willst machen mit? Wie in alten Zeiten?"
Roland lächelte. "Wie in alten Zeiten? Wie kann ich da nein sagen?"
Der Alte führte seinen Besucher ins Esszimmer. "Meine Flau Suk-Mi du schon kennst", stellte er die anderen Gäste vor. "Dies mein Schwagel, Win Ni Pu. Und jetzt komm in Küche, Essen machen!"

In der Küche schnitten die beiden Männer Fisch und Algen, und bald zog ein verführerischer Duft durch das Haus. Während der Achatener im Wok rührte, holte Roland einen halben Zettel aus seiner Tasche: "Schau mal, was ich neulich wieder gefunden habe!"
"Deine Ulkunde?" Ungläubig sah der Alte das halbe Blatt Papier an. "Und ich dachte, du den hättest weggewolfen?"
"Das dachte ich auch. Damals hatte ich sie vor Wut zerrissen und irgendwo zwischen anderem Krempel liegen gelassen. Dabei war dieser Wettbewerb ja doch irgendwie ein Glücksfall: Wenn ich damals nicht so haushoch gegen deine Wan-Tan-Suppe verloren hätte, dann wäre ich nie bei dir in die Lehre gegangen."
Der Alte steckte einen Finger in eine Schüssel und leckte ihn ab. "Nicht lang genug. Deine Soße immer noch viel zu salzig."
Roland lächelte, wurde dann wieder ernst. "Hör mal, weshalb ich hier bin..."
"Nichts da!" winkte Lang Pink Ding ab. "Übel wichtige Dinge, sagt Philosoph, splicht man nul mit vollem Magen."

Nach einem wirklich guten Essen machten sich Suk Mi und Win Ni daran, das Geschirr abzuwaschen, und Roland erklärte sein Anliegen. "Die Sache ist die: Ich werde vom Pech verfolgt."
"Pech? Was fül Pech?"
"Nun, es gibt da ein Sternzeichen, man nennt es den Problematischen Bären. Kennst du es?" Als der Alte den Kopf schüttelte, fuhr er fort: "Moment, ich..." Er nahm einen Bleistift von einem Regal an der Wand und zeichnete auf die Rückseite der Urkunde ein paar Punkte und Linien.
"Ah, ich kenne!", rief Lang Pink aus. "Das will nennen Chen Bai, odel in deinel Splache 'glünel Dlache mit loten Augen und kleinen, giftigen Schuppen, del nul nachts fliegt und den Seinen Unheil blingt."
"Wahrscheinlich weißt du auch, dass die, die in diesem Zeichen geboren sind, immer vom Pech verfolgt werden, wenn der Mond in diesem Zeichen steht? Ich habe vor kurzem davon erfahren. Das erklärt nämlich endlich meine regelmäßigen Pechsträhnen - und die aktuelle ist ganz besonders schlimm. Ich habe gehört, ihr Achatener habt Jadeamulette, die einen davor schützen sollen. Deswegen bin ich hier, weil du der einzige Achatener bist, den ich kenne. Ich brauche so ein Amulett."
Lang Pink nickte. "Ich habe einen Almleif aus Jade. Del wild dil helfen - walte, ich hole ihn."
Der Alte verschwand, und Roland brachte das restliche Geschirr in die Küche, wo die Frau und der Bruder des Alten noch abspülten. Als er wieder in den Vorraum trat, hörte er Schritte die Treppe herabkommen und krempelte seinen Ärmel ein Stück hoch, um den Armreif umlegen zu können.
Ein entsetzter Aufschrei aus der Küche folgte. Roland wollte sich umdrehen, aber in diesem Moment streckte ihn ein Hieb mit einem Fleischklopfer nieder. Spitze Schreie folgten dieser Aktion.
"Was ist in dich gefahren?", herrschte der fassungslose Alte seinen Schwager auf achatenisch an.
"Die Tätowierung", antwortete dieser. "Er gehört zu denen, die mich und meine Familie damals verschleppt hatten. Er ist einer der Sklavenfänger!"
Lang Pink und seine Frau starrten auf den Unterarm des ohne Zweifel entweder toten oder im Sterben liegenden Mannes.
"Es tut mir leid... ich... ich weiß nicht, was in mich gefahren ist", stammelte Win Ni. "All diese Erinnerungen..."
"Es muss dir nicht leid tun", entgegnete Lang Pink. "Es war sein Unglück, das dich und ihn zusammen gebracht hat."
Er sah sich zu seiner Frau um. "Ich weiß nicht, ob jemand die Schreie gehört hat, aber vielleicht sollten wir unsere Reise eine Woche vorverlegen. Ich habe keine Lust, mich hier mit der Wache auseinanderzusetzen, während wir stattdessen schon lange in unserer alten Heimat sein könnten. Pack deine Sachen zusammen!"


Die anderen Wächter hatten dieser Erzählung mehr oder weniger interessiert gelauscht.
"Sehr hübsch, Lance-Korporal", sagte Kolumbini schließlich. "Aber erstens etwas weit hergeholt, und zweitens ist das nun wirklich RUM-Aufgabe."
Er nickte Sillybos zu und fuhr fort: "Vielen Dank für die Präsentation, Oberfeldwebel. Ich bin sicher, wir werden den Fall lösen können."
"Aber-", setzte Charlie an, wurde jedoch durch einen Blick von seinem Abteilungsleiter zum Schweigen gebracht. Mürrisch sah der Spurensicherer dem RUM-Ermittler nach.

- Der Hergang -

Genüsslich lehnte er sich zurück und tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab. "So - ich hoffe, es hat euch geschmeckt?"
Die anderen waren höflich genug, nicht auf die leicht versalzene Sauce hinzuweisen. Sie wussten, wie stolz ihr Freund auf seine vorgeblichen Kochkünste und die ausgefallenen Kreationen war - die 'achatene Fisch-und-Algen-Pfanne' war nur die letzte Erfindung in einer langen Reihe von kulinarischen Experimenten, zu denen er sie eingeladen hatte, und alles in allem hatte sie wirklich nicht schlecht geschmeckt.
Einer seiner Freunde nippte an seinem Wein und räusperte sich. "Apropos achatenes Essen - wisst ihr eigentlich, welchen Tag wir heute haben?"
Die anderen verneinten und sahen ihn erwartungsvoll an. Er war derjenige in ihrem Freundeskreis, der immer eine spannende Geschichte oder interessante Anekdote zu erzählen wusste.
"Die Achatener nennen ihn den Tag des grünen Drachen", erklärte er. "An der UU bin ich neulich in einem alten Buch über Astrologie darüber gestolpert. Es hat etwas mit einem Sternbild zu tun..."
Er zog aus seiner Manteltasche ein in zwei Hälften gerissenes Stück Papier und einen Stift heraus.
"Was ist das?", frage einer der anderen. "Ein Wettbewerb?"
"Nur irgendein Werbeprospekt, den mir jemand in die Hand gedrückt hat", erwiderte der andere abwinkend. "Neueröffnung eines Musikgeschäfts 'auf dem beliebten Platz der zerbrochenen Monde', mit Veranstaltung eines Talentwettbewerbs, oder so. Aber was ich euch zeigen wollte..."
Er drehte eine der Hälften um und zeichnete ein paar Punkte und Linien darauf. "Wenn ihr euch nach diesem Sternbild umseht, werdet ihr sehen, dass der Mond es zur Zeit absolut zentral durchwandert. Bei uns wird es auch gerne mit Unglück in Verbindung gebracht, aber bei den Achatenern ist dieser Glaube noch stärker ausgeprägt. Die meisten von ihnen wird man um diese Zeit nicht zu Hause antreffen, und viele legen sogar ihren Urlaub so, dass sie spätestens an diesem Abend die Stadt verlassen."
Der Zettel wanderte von Hand zu Hand und wurde von allen betrachtet, bis er beim Gastgeber ankam, der ihn mit gerunzelter Stirn ansah und dann fragte: "Und was soll an dieser Nacht so schlimm sein?"
"Keine Ahnung. Aber irgend einen Grund werden sie schon haben."
"Das ist doch alles nur ausländischer Aberglaube", winkte der Gastgeber ab. "Wahrscheinlich sehen die Achatener hier in der Stadt seit der Sache mit Herrn Hong überall grauenhafte Ereignisse und schwarze Magie am Werk."
"Meinst du?", fragte einer der anderen. "Ich denke schon, dass an solchen Geschichten etwas dran ist."
"Blödsinn", meinte der Gastgeber. "He, ich habe eine Idee. Wie wäre es mit einem echt achatenen Nachtisch?"
Die anderen sahen ihn verständnislos an, bis bei einem von ihnen der Ankh-Morpork-Cent fiel. "Du willst..."
"Klar. Ich suche mir eines dieser heute verlassenen und oh-so-unheimlichen achatenen Restaurants und hole ein paar Glückskekse. Dann werdet ihr schon sehen, dass da kein grauenhaftes Monster lauert."
Die anderen sahen sich an. Spätestens seit der Sache mit der Seemanns-Tätowierung wussten sie, dass ihr Freund keiner noch so ungewöhnlichen Mutprobe aus dem Weg ging.

Kurz darauf ging er, und sie sahen ihn niemals wieder. Denn dies war jene seltene Nacht, in der das Unglück, das von den traditionellen achatenen Glücksdrachen im Laufe des Jahres gesammelt und absorbiert wurde, in einer gewaltigen Entladung wieder abgegeben wurde und jeden in deren Umkreis traf.

[1] Bei diese kursiven Passagen, in denen verschiedene Wächter sich ausmalen, wie der Todesfall passiert sein könnte, habe ich versucht, den Stil der zu den jeweiligen Wächtern gehörenden Autoren zu parodieren. Ich weiß nicht, wie gut oder schlecht mir das gelungen ist, aber ich hoffe, dass sich niemand auf den Schlips getreten fühlt [4]. Ich habe erst ziemlich spät gemerkt, dass das doch eine etwas zu schwierige Aufgabe war, und diese Idee nicht konsequent bei allen Abschnitten umgesetzt, wollte aber das Konzept nicht mehr ändern.

[2] Eine temporale Anomalie, durch die sehr niedrige Temperaturen erzeugt werden. Eine Erfindung von Pratchett, nicht von mir.

[3] Jack pflegte in anatomischen Metaphern zu denken - eine Tatsache, die man nur als "Berufskrankheit" bezeichnen kann

[4] Und da eine solche Outtime-Anmerkung eigentlich eine typische Rib-Fußnote ist, ist es nur recht und billig, dass ich diese Anmerkung im Rib-Abschnitt unterbringe ;-)

Zählt als Patch-Mission.



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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

01.11.2006 19:38

Diese Geschichte wäre wohl selbst in einer klassischeren Ausarbeitung spannend zu verfolgen gewesen, da allein der Plot zum neugierigen Weiterlesen annimierte. Die Aufsplittung der Szenen in die diversen Vermutungen jedoch war, durch die dadurch ermöglichten direkten Vergleiche mit den eigenen Überlegungen und denen der verschiedenen Wächter untereinander, absolut faszinierend! Dadurch war ich als Leserin gezwungen, den Geschichtenverlauf aufmerksam mitzuverfolgen. Die Darstellung der einzelnen Figuren war ebenso glaubhaft, wie die der Abteilung S.U.S.I. Das Aufgreifen der Pokalwörter in der mutigen, zusammenfassenden Blockform, gegen Ende der Geschichte, stellte ein regelrechtes Sahnehäubchen dar, das so überzeugend platziert schwerlich nachzuahmen sein dürfte. Die Geschichte wurde nicht nur durchgehend auf hohem Niveau geschrieben, sondern hinterlässt auch nach Wochen noch einen klaren, bleibenden Eindruck.



Aus meiner persönlichen Sicht hat die Single die Pokalanforderungen ausgezeichnet erfüllt.

Von Daemon Llanddcairfyn

01.11.2006 19:47

Ich fand die Idee und ihre Umsetzung gerade am Anfang exzellent (HAT Rib seinen Teil geschrieben? *g*). Dadurch allerdings die Pokalworte in einzelnen Geschichten zu verpacken fand ich nicht überzeugend, insbesondere, da bei der Zusammenfassung zur Gesamttheorie ein paar der worte auch nciht recht passen wollten. Und dass die tatsächlichen Abläufe dann auf "Uh, böse Geister haben das chinesische Restaurant befallen" zusammen fielen war ... enttäuschend.

Von Charlie Holm

01.11.2006 20:48

He, ich war froh, dass mir überhaupt noch ein Ende eingefallen ist ;-)

Die selbst auferlegte Pokalwort-Restriktion hat mich dann doch ziemlich in die Enge getrieben... und auch bei den verschiedenen SUSI-Wächtern war es nicht immer leicht, erkennbare Stil-Merkmale herauszulesen. Aber das hatte ich ja schon in der Fußnote geschrieben.

Also, danke allerseits für die gute Bewertung!

Von Kolumbini

01.11.2006 22:14

Mein Kommentar dazu:

Geniale Idee, seeeehr gute Umsetzung. Von mir hast du einen Punkt mehr bekommen;).

Es ist immer wieder eine Freude deine Geschichten zu lesen, weil du es schaffst mit wirklich innovativen Ideen aufzuwarten, ganz gleich, was du schon für geniale Einfälle verwendet hast:). Mach weiter so!!

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