Pulp valentine

Bisher hat keiner bewertet.

von Chief-Korporal Cim Bürstenkinn (SEALS), Hauptmann Daemon Llanddcairfyn (DOG), Stabsspieß Atera (SEALS)
Online seit 03. 10. 2003
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 Außerdem kommt vor: Robin Picardo

Der Valentintag rückt näher und Ankh-Morpork spielt verrückt: Und einige Leute brauchen ein ganz besonderes Geschenk.

Dafür vergebene Note: 13

Eigentlich hätte diese Coop ja zum Valentinstag erscheinen sollen. Nein, nicht beim letzten sondern beim vorletzten!
Doch um zu zeigen, dass wir uns von alten Gebräuchen, und tradierten Festen nicht beeindrucken lassen....ok, ok, ein paar Leute hier hatten Besseres zu tun, und ein paar andere Leute waren schon ne ziemliche Zeit fertig.
Wenn Ihr in den letzten 1,5 Jahren nicht geschafft habt mitzubekommen, von wem ich rede, dann wollt ihr es nicht wissen.
Aber immerhin war die ganze Sache ja Daemons Idee. Er hatte also ein gewisses schöpferisches Recht die Sache zu verzögern, und Tery hatte aus bekannten Gründen Nachsicht. Nachdem wir nun vierteljährlich die Ränge nachgezogen haben, nutzen wir die Gunst der Stunde, und präsentieren Euch...




Daemon



Es war ein ganz normaler Imbiss in Ankh-Morpork. Es war ungefähr neun Uhr morgens. Auch wenn der Imbiss nicht überfüllt war, waren doch einige Gäste anwesend, Kaffee trinkend, an Schinken mümmelnd oder Eier essend. Zwei von ihnen waren ein junger Mann und eine junge Frau. Der Mann hatte einen leichten Arbeiter – Dialekt und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Es war unmöglich zu sagen, wie alt die Frau war oder wo sie herkam, alles was sie tat, widersprach etwas Anderem an ihr. Die Beiden saßen an einem der großen Fenster zur Straße hin.
"Vergiss es, es ist zu riskant geworden", sagte der Mann gerade, "Mit diesem Mist bin ich fertig."
"Das sagst du immer", antwortete sie lächelnd, "'Ich bin fertig damit. Es ist zu riskant'", imitierte sie ihn.
"Und ich habe auch immer Recht", erwiderte er.
"Und morgen hast Du es wieder vergessen."
"Ha. Die Tage des Vergessens sind vorbei. Jetzt", er sah sie fest an, "sind die Tage des Erinnerns da." Die Bedienung kam vorbei.
"Noch etwas Kaffee?", fragte sie.
"Oh ja, bitte", grinste die Frau. Als die Bedienung nach dem Einschenken des Kaffees fort gegangen war, machte der Mann eine weitere Zigarette an.
"Ich meine, so wie es im Moment ist, ist es einfach zu gefährlich", er sprach durch den Rauch, "Für Diebe ist es einfach. Die zeigen ihre Lizenz, nehmen die Beute und gehen. Aber einfach mal so ein Überfall?", er lachte kurz auf, "Vergiss es. Ein kleines Mädchen mit Lizenz könnte hier eine Bank ausrauben, aber wir nicht."
"Du willst Banken überfallen?", fragte sie überrascht.
"Der Punkt ist: Ein kleines Mädchen könnte es tun, wenn sie eine Lizenz hat. Aber ansonsten kommst du aus der Bank nicht raus."
"Also du willst keine Banken überfallen", vergewisserte sie sich.
"Nein, nicht ohne Gildengebühren zu zahlen", schüttelte er den Kopf.
"Und auch keine illegalen Überfälle auf Geschäfte?"
"Was habe ich den gerade gesagt?" Der Mann drückte die Zigarette aus und griff nach der nächsten. "Ja, keine illegalen Überfälle auf Geschäfte mehr. Außerdem ist das auch schon nicht mehr so wie früher. Zu viele Ausländer, Achatener, Klatschianer, die nicht einmal verstehen, was du von ihnen willst. Irgendwann werden wir einen von diesen Idioten erschießen müssen, damit sie verstehen."
"Ich bringe niemanden um!", entfuhr es der Frau.
"Ich will auch niemanden umbringen", beruhigte der Mann, "Aber es könnte irgendwann zu einer Situation kommen, in der es heißt: Er oder wir. Und wenn es nicht die Ausländer sind, dann sind es die Zwerge, die das Geschäft seit vier Generationen in der Familie führen. Du willst die Kasse leeren und Großvater Eisenhelmbauersohn sitzt in der Ecke mit einer verdammten Burlich und Starkimarm, da hast du selbst mit einer Lizenz keine Chance."
"Also ehrliche Arbeit?", fragte sie. Er lachte auf.
"Nicht in diesem Leben."
"Also was dann?" Er drehte sich um.
"Creton! Kaffee!", er wandte sich zu der Frau um, "Dieser Imbiss." Die Bedienung kam grummelig an und goss einen weiteren Kaffee ein. Dann verließ sie den Tisch.
"Ein Imbiss?", fragte die junge Frau ungläubig.
"Warum nicht?", fragte er zurück, "Niemand überfällt Imbisse. Banken, Nobelgeschäfte, die Häuser reicher Säcke, aber keine Imbisse. Warum nicht? Die kann man kalt erwischen. Sie rechnen gar nicht damit, überfallen zu werden." Die Frau runzelte die Stirn und dachte über die Idee nach.
"Ich nehme an, hier würde auch keiner auf die Idee kommen, den Helden zu spielen", sagte sie.
"Richtig. Und außerdem sind Imbisse fair-sichert, die Manager wollen einen nur schnell loswerden, bevor man Gäste vergrault, Bedienungen lassen sich für zwei Dollar in der Stunde keinen Bolzen verpassen und die Gäste sitzen da, ihr Essen noch im Mund", zählte er auf, "In einem Moment isst du dein Omelett, im nächsten hast Du eine Armbrust vor dem Gesicht." Die Frau begann, die Idee ganz zu verstehen, er flüsterte weiter.
"Und hier ist nicht nur die Kasse, die man ausräumen kann."
"Die Geldbeutel", sagte die Frau. Er nickte. Sie sah sich um.
"Okay", stimmte sie zu, "Ich bin bereit. Lass es uns tun, hier und jetzt." Der junge Mann lächelte und legte eine kleine Armbrust vor sich auf den Tisch.
"So wie immer: Du die Leute, ich die Beute." Sie lächelte und holte ihre eigene Waffe hervor, eine wesentlich kleinere Armbrust mit extrem spitzen Bolzen.
"Ich liebe Dich, Kürbiskernchen", sagte sie lächelnd.
"Ich liebe Dich, Honigmäulchen", sagte er.
Die beiden sprangen auf. Er wirkte kontrolliert, sie fuchtelte mit der Waffe herum und wirkte aufgeregt.
"Okay, alle ganz ruhig. Das hier ist ein Überfall", rief er.
"Wenn sich auch nur einer bewegt, knall ich euch alle ab!", bellte sie.







Daemon ließ die kleine Kutsche etwas langsamer durch die morgendlichen Straßen fahren. Die Truhe klapperte auf der Ablagefläche hinter ihm.
"So, du kommst also aus Quirm", sagte er.
"Jepp", antwortete der junge Assassine neben ihm, "Bin gerade wieder zurück."
"So, so", murmelte der Wächter und bog in eine andere Straße ein, "Wie ist es da?"
"Es ist im Wesentlichen so wie hier. Sicher, es gibt keine Gilden. Aber im Prinzip ist es eine große Stadt wie die Andere." Der Hauptmann nickte.
"Aber weißt du, was bemerkenswert ist?", fuhr der Mann mit den öligen, schwarzen Haaren fort, "Das sind die kleinen Unterschiede. Weißt du, wie sie einen Rattenburger mit Dingen in Quirm nennen?"
"Sie nennen ihn nicht einen Rattenburger mit Dingen?"
"Nein, sie haben da drüben kaum Zwerge, die wissen gar nicht, was ein Rattenburger ist."
"Was essen sie dann da drüben?"
"Rindburger", antwortete der Assassine.
"Rindburger", grinste Daemon und hielt die Kutsche an.

Der Assassine öffnete die Truhe.
"Eigentlich sollten wir für so eine Sache Trolle haben", sagte er und nahm eine Armbrust heraus.
"Weiß nicht", brummte Daemon, "Wie viele sind da oben?"
"Keine genaue Ahnung", antwortete der schwarz gekleidete Mann, während er kleine Explosionsspitzen auf seine Bolzen schraubte, "Drei, vielleicht vier."
"Mit unserem Mann?"
"Weiß ich nicht."
"Oh ja", sagte Daemon, "Trolle wären angebracht", er schloss die Truhe.

"Was hältst du von dieser Valentins-Geschichte, Vinzento?", fragte der Wächter, als sie durch die Eingangshalle des Wohnhauses zum Treppenhaus gingen.
"Hah", machte der Angesprochene, "Nur wieder so ein Tag, der einem das Geld aus der Tasche ziehen soll."
"Macht nichts als Ärger", stimmte der Hauptmann zu. Die beiden gingen die Treppen hoch.
"Kennst du Lady Witwenmacher?" Assassine und Wächter standen vor der schmalen Wohnungstür.
"Meine Abteilung hat häufig mit der Gilde zu tun. Man läuft sich von Zeit zu Zeit über den Weg. Warum interessierst du dich für die Frau vom großen Boss?"
"Der Lord ist ein paar Tage nicht in der Stadt und er hat mich gebeten, mit ihr auszugehen, du weißt schon, ihr Gesellschaft leisten."
"Ein Date mit der Frau vom Chef?", schmunzelte Daemon.
"Kein Date", antwortete Vinzento, "Nur... Gesellschaft. Es ist, als wenn du mit einer Wächterin in einen Klickerfilm gehst, damit sie nicht alleine gehen muss."
"Na, wenn es nur so ist..."
"Es ist kein Date!"
"Meine Gildenexpertin hat mir von Antoine berichtet. Hast Du in Quirm mitbekommen, was mit ihm passiert ist?"
"Er ist von einem Balkon gefallen", antwortete der Assassine.
" Witwemacher ließ ihn vom Balkon werfen", korrigierte der Wächter, "Seitdem lispelt er."
"Witwenmacher ließ ihn vom Balkon werfen? Warum?", fragte Vinzento.
"Valeriaa sagte, er habe Lady Witwenmacher Pfefferminzbonbons angeboten."
"Antoine wurde den Balkon runter geworfen, weil er Lady Witwenmacher Pfefferminzbonbons angeboten hat?", wiederholte der Assassine. Der Offizier nickte.
"Du solltest bei deinem Date heute Abend aufpassen", grinste er.
"Es ist kein Date!", knurrte Vinzento.
"Mhm", machte Daemon, "Es ist Zeit." Er klopfte an die Wohnungstür.

Ein junger Klatschianer öffnete die Tür und wich furchtsam an die Wand zurück, als der Assassine und der Wächter mit ihren Armbrüsten locker in den Händen eintraten. Auf einem klapprigen Sofa lag ein weiterer junger Mann, an einem kleinen Tisch aß ein Dritter aus einer fettigen Tüte sein Frühstück. Erschrocken sah dieser auf. Vinzento ging wortlos in den hinteren Teil des Raums, in dem eine Küche eingerichtet war. Daemon trat auf den Essenden zu.
"Einen schönen guten Morgen wünsche ich", sagte er, während der Assassine in der Küche zu suchen begann, "Wir sind Beauftragte eures Geschäftpartners Lord Witwenmacher", er sah den am Tisch Sitzenden an, "Jetzt lass mich mal wild raten: Du bist Ted." Ted nickte. Der Hauptmann ging auf den Jungen zu und betrachtete den Inhalt der Papiertüte auf dem Tisch.
"Oh.", machte er mit einem plötzlichen Lächeln, "Burger", er nickte, "Der Grundstein eines jeden gesunden Frühstücks. Was sind das für Burger?"
"Ähm... Rattenburger, Sir", Ted schluckte.
"Nein, nein", Daemon legte die kleine Armbrust auf den Tisch, "Ich meine: Woher hast du die Burger? Harga's? Meckes?"
"Es sind Big-Chowina-Burger", Ted sah ängstlich auf die Waffe vor ihm.
"Oh. Big-Chowina-Burger", er sah den Burger an, "Die kenne ich gar nicht, sind neu in der Stadt, was?", Ted nickte, "Hättest du etwas dagegen, wenn ich etwas von deinem vorzüglichem Burger probiere, Ted?" Der junge Mann schüttelte schnell den Kopf. Daemon nahm ihm langsam den Burger aus der Hand und biss ein großes Stück ab.
"Hmmm", machte er, "Wirklich gut. Vinzento? Hattest Du schon mal einen Big-Chowina-Burger?"
"Nein", antwortete der Assassine.
"Willst du mal probieren? Wirklich gut."
"Nein, danke", sagte Vinzento und öffnete einen weiteren Schrank.
"Wisst ihr, wie man einen Rattenburger mit Dingen in Quirm nennt?", Ted schüttelte den Kopf, "Vinzento, sag ihnen, wie man einen Rattenburger mit Dingen in Quirm nennt."
"Rindburger", sagte der Assassine.
"Rindburger", nickte der Wächter, "Und wisst ihr, warum man sie so nennt?"
"Weil... weil es dort kaum Zwerge gibt!?", stotterte Ted.
"Weil es dort kaum Zwerge gibt. Ted hier ist ein kluger Kopf." Der junge Mann lächelte ermutigt.
"Entschuldigen Sie", sagte er, "Ich habe Ihre Namen nicht mitbekommen", er deutete auf den Assassinen, "Sie sind Vinzento, nicht wahr? Und Sie?", er wandte sich an den Hauptmann.
"Mein Name ist Bill und ich bin Derjenige, der dir den Hintern aufreißt", sagte der Wächter und nahm die Armbrust wieder auf. Daemon wandte sich an den Jungen auf der Couch.
"Wir suchen etwas. Warum sagst du Vinzento nicht, wo er es findet?"
"Es ist da drüben im Schra...", stieß der Klatschianer an der Tür hervor.
"Ich kann mich nicht erinnern, dich etwas gefragt zu haben!", schrie Daemon ihn an. Der liegende Mann drehte sich um und deutete auf einen Schrank in der Nähe des Assassinen.
"Da ist es drin." Der schwarz-gekleidete Mann ging hinüber, öffnete die Tür und nahm eine Schachtel heraus. Er stellte sie auf die Anrichte, öffnete sie und sah hinein.
"Sind wir glücklich?", fragte Daemon. Der Assassine starrte weiterhin in die Schachtel.
"Vinzento", rief der Wächter und der Angesprochene fuhr auf, "Sind wir glücklich?"
"Ja", sagte der Assassine und schloss die Schachtel.
"Hören Sie", begann Ted verzweifelt, "Es tut uns leid, was passiert ist, aber wir können doch über alles..."
"Nein, Ted, jetzt hörst du mir zu", unterbrach ihn Daemon, "Ihr Jungs steckt in ganz schönen Schwierigkeiten", er spannte die Armbrust, "Es gibt eine Stelle im Buch Om vom Propheten Brutha, die ich fast auswendig kenne. Da steht:
Der Pfad der Gerechten, die in Om sind und Om in ihnen, ist zu beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen Oms und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder.
Und da steht weiter: Ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, dass sie erfahren sollen: Ich sei Om der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe.
"
Er endete. Dann flogen die Bolzen.



VINZENTO WEGAS
UND
LORD WITWENMACHER'S FRAU




Daemon und Vinzento betraten das Gildenhaus der Assassinen.
"Daemon! Unser Mann bei der Wache", rief der Mann an der Tür, "Vinzento! Unser Mann in Quirm." Er sah die beiden an:
"Verdammt! Was ist mit euren Klamotten passiert?"

Ein junger, südländischer Mann in einer zerschlissnen Wächteruniform saß in einem eleganten Club-Raum. Leder und Edelhölzer bildeten den Hauptteil der Einrichtung.. Ihm gegenüber saß ein Mann im feinsten Gewand der gerade einen Geldsack zu ihm schob.
"Du kannst damit machen was Du willst. Aber ich fühle mich wohler, wenn Du auf meiner Gehaltsliste stehst."
"Cim, vielleicht verspürst du am Tag des Geschäfts ein Kribbeln. Das ist das Pflichtgefühl. Vergiss die Pflicht. Pflicht ist zu nichts gut. Sie tut Dir nur weh."
Der Assassine beugte sich nach vorne "Wirst Du für mich wegsehen?".
Der Wächter presste "Sieht so aus", zwischen den Zähnen hervor, doch Witwenmacher sagte kalt "Sag es!"
"Ich werde für Dich wegsehen!"
Lord Witwenmacher erhob sich, und der Mann ging ohne ein weiteres Wort.

"Vinzento", sagte er erfreut, "Was habt ihr mir mitgebracht?", der Angesprochene übergab ihm die Schachtel.
"Wunderbar", sagte Witwenmacher.

***


Das Geschäft sah aus wie ein Parfumladen. Süße, schwere Düfte hingen in der Luft. Vinzento stand vor der Theke.
"Das hier", sagte der Verkäufer und hielt ihm eine Flasche entgegen, "ist das Beste, was ich bieten kann. Es tötet zwar langsam, aber schon sein bloßer Hautkontakt bringt den Klienten um, ganz abgesehen vom Genuss oder dem Kontakt", fügte er hinzu. Der Assassine nickte.
"Ich dachte mir doch, dass du immer noch die besten Gifte verkaufst, Philip." Der Verkäufer grinste.
"Ich nehme eine Phiole. Wenn es so gut ist, wie du sagst, komme ich wieder und kaufe mehr." Philipp sah unter die Theke.
"Oh", sagte er, "Ich habe keine Phiolen mehr. Ist es okay, wenn ich es in ein Parfumfläschchen fülle?"
"Sind die dicht?"
"Es sind Parfumfläschchen."
"Sicher. Wenn es so gut ist, wie du sagst, komme ich zurück und kaufe noch mal für 500."


Atera



Vinzento Wegas trat auf den weiten säuberlich gepflegten Weg zum Anwesen von Lord und Lady Witwenmacher, kurz strich er sich noch einmal durch die Haare, summte eine leise Melodie und ging dann zur großen Eingangstüre, die aus zwei Flügeln bestand. Er sah sich um. In der Dämmerung waren nur die Umrisse zu erkennen.
Weiter Garten, geschnittene Hecken, zwei Stockwerke hohes Anwesen, Wände teilweise mit Efeu bewachsen, zwei Kamine. Er konnte förmlich die Fallen im und um dem Haus spüren. Ganz sicher wurde er gerade beobachtet. Vinzento hob die Hand zum eisernen Türklopfer, als sein Blick auf einen Zettel fiel, der dort befestigt worden war.

Vinzento,
ich bin dabei mich anzukleiden.
Die Tür ist offen. Kommen Sie herein und nehmen Sie sich etwas von dem Wein.
-Lady Witwenmacher


Vinzento steckte den Zettel in die Innentasche seiner Jacke und stieß die linke Flügeltüre mit seiner Fingerspitze an, laut knarrend schwang sie auf. Ein Test, kam ihm der Gedanke. Es ist ein verdammter Test von ihr.
Vorsichtig setzte er den ersten Fuß über die Schwelle und zog, als nichts passierte, den anderen nach. Er stand in einer großen Eingangshalle, der Boden war mit Marmorfließen ausgelegt, rechts und links gingen Türen ab, am Ende des Raumes in der linken Seite führte eine mit einem dunkelroten Teppichausläufer ausgelegte Treppe nach oben zu einem Rundgang. Vinzento sah dort aus den Augenwinkeln weitere Türen abzweigen.
"Hallo", rief er laut. Nichts rührte sich. "Ich bin hier!" Eine Doppeltüre im hinteren rechten Teil, die er bisher noch nicht beachtet hatte, öffnete sich scheinbar wie von selbst. Vinzento zuckte gelassen mit den Schultern und ging darauf zu. Kurz davor blieb er noch einmal stehen und blickte zu einer Pflanze, die vom oberen Geländer herabhing. Der Assassine wich ihren Blättern aus, als er drunter weg ging und trat in einen weiteren Raum. Ein dichter dunkler Teppich lag aus, der Lichtschein eines prasselnden Feuers im Kamin erhellte die Umgebung etwas.
Ein riesiger Hirschkopf mit ausladendem Geweih war hoch oben in einer Ecke angebracht. Gemälde schmückten die Wände.

Eine Frau schob eine Klappe in der Finsternis beiseite, zwei kreisrunde Lichtscheine fielen auf ihr Gesicht, sie beugte sich vor und sah durch zwei Augen.
"Vinzento", sagte sie ruhig. Im Raum drehte sich der Assassine hektisch hin und her. "Vinzento." Ihre Stimme klang leicht amüsiert. "Sie können mich nicht sehen." Sie sah wie der Mann die Porträts aufmerksam beobachtete und lächelte schwach in der Dunkelheit. "Zu Ihrer Linken hinter der Sitzgruppe ist ein kleines Weinregal und auf dem Tisch stehen zwei Gläser. Suchen Sie sich einen aus, ich bin schneller bei Ihnen, als Sie jemanden inhumieren könnten."

Vinzento ging mit langsamen Schritten zum Weinregal, den Blick dabei auf den dichten Teppich geheftet. Die Frau vom Boss, dachte er nachdenklich und wollte nach einer der Flaschen greifen, als er inne hielt. Der Assassine ging in die Hocke, legte den Kopf schräg und blickte von unten in das Regal.
Wenn er nicht aufpasste, würde er das Treffen nicht lebend überstehen.

Die Frau knöpfte das kurze Revers an ihrem eng anliegenden Jackett zu, das bis über die Hüften reichte, wo ein dunkler geraffter Rock anschloss. Schlanke Hände griffen nach einem Parfümzerstäuber aus blauem Kristallglas mit einer langen dunkelblauen Quaste, die die Frau nun drückte. Feiner Parfümstaub legte sich in die Luft, als sie sich etwas am Hals auftrug.
Nackte Füße gingen rasch durch einen weichen Teppich, sie schienen beinahe willkürlich einen Weg einzuschlagen und sich an keine genaue Richtung zu halten. Lautlaus öffnete sich eine Türe, flackernder Feuerschein erhellte die Konturen eines schmalen leicht gepuderten Gesichtes.

Sie war modern, aber ohne viel Schmuck gekleidet. Ihre Gesichtszüge waren noch beinahe glatt, auch wenn sich leichte Fältchen um Mund- und Augenwinkel gelegt hatten. Ihr Gang war geschmeidig und ruhig. Der Assassine hatte sie sich älter vorgestellt.
"Lady Witwenmacher." Vinzento Wegas deutete eine leichte Verbeugung an und reichte ihr ein gefülltes Glas. In seiner Hand hielt er selbstsicher sein eigenes, was aber unberührt war. Die Frau von Lord Witwenmacher musterte ihn und strich hinter ihr Ohr eine ihrer dunklen Haarsträhnen, die zu einem losen Dutt zusammen gebunden und teilweise geflochten waren.
"Ich werde Ihnen nun einige schnelle Fragen stellen, Sie werden mir sagen, welche Person ich vor mir habe mit der ich gleich ausgehen werde. Meine Theorie ist, dass, wenn man auf wichtige Dinge zu sprechen kommt, es für eine Person nur zwei Wege gibt zu antworten. Irgendwo muss man eine Entscheidung treffen und diese Entscheidung sagt mir, wer Sie sind.", begann sie ohne jede Vorrede.
"Ich könnte lügen", sagte Vinzento.
"Ich weiß, dass Sie das könnten", erwiderte Lady Witwenmacher nur ruhig. "Erste Frage: Klatsch oder das Achatene Reich?"
"Das Achatene Reich."
"Om oder Io?"
"Io natürlich."
Lady Witwenmacher gestattete es sich kurz zu lächeln, sah einen winzigen Augenblick nach unten und nahm dann ungerührt einen Schluck von dem Wein in ihrem Glas. "Gehen wir."

***


Die schwarze Kutsche hielt vor einer Bar an deren Frontseite sich eine grellrote magische Leuchtschrift quer über die ganze Fassade zog. Verschiedene Leute hatten sich vor dem Eingang gesammelt, lachten und scherzten, es herrschte ein reges Treiben, Kommen und Gehen. Vinzento sah aus dem Kutschfenster.
"Was zum Henker ist das für ein Laden?", fragte er. Zwei der Buchstaben in der Schrift knisterten laut und Funken sprühten leicht, der rote Schein hob die Silhouetten der Personen hervor. Die Eingangstüre öffnete sich und gleißend helles Licht ergoss sich aufs Kopfsteinpflaster. Neben dem Assassinen sitzend deutete Lady Witwenmacher auf die Leuchtschrift.
"Slimmy's Hasenhütte", las sie vor.
"Was wollen wir hier?" Verständnislos sah Wegas sie an. "Ich bitte Euch, lasst uns woanders etwas essen gehen. In einem Lokal, was Euch angemessener ist. Lord Witwenmacher-"
"ist nicht in Ankh-Morpork und Sie sind hier, um mich zu unterhalten", gab Lady Witwenmacher in einem Ton zurück, der keinen Widerspruch duldete.
"Aber-"
"Seien Sie kein..." Sie formte mit den Fingern ein Rechteck in der Luft und Vinzento gab es auf.

Drinnen war es überschwänglich dekoriert, alte Klickerplakate hingen an den Wänden und die Stühle waren den ehemaligen Sesseln im Odium nachempfunden. Es gab sogar eine Knallkörnermaschine. Hinter einem schmalen Pult stand ein Vampir, der sich über ein großes Gästebuch beugte und etwas eintrug. Lady Witwenmacher ging zielstrebig auf ihn zu.
"Guten Abend, Ladies und Gentlemen!!", setzte der Vampir sehr laut an, als spräche er zu einem großen Publikum. "Was kann ich für Sie tun?"
"Sie haben eine Reservierung auf Schwarz", begann sie ohne zu Zögern und der Mann sah freudig lächelnd auf. Seine Fingerspitze ruhte abwartend auf den Schriften.
"Wir haben zwei der großen Sessel."
"Oh, zwei Sessel. Natürlich!" Der Vampir zeigte hinter sich zu zwei sehr großen roten Sesseln, deren Rückenlehne ihre Köpfe überragte. Vinzento hatte sich einen überraschten Blick bei dem falschen Namen gerade noch verkniffen und inspizierte nun das Lokal. Der Frau des Bosses durfte auf keinen Fall etwas passieren.
Aber er sah bei seinem Rundgang nichts Auffälliges außer einer Band, die auf einem Podest Musik mit Steinen drin spielte. Davor gab es eine Tanzfläche auf der einsam eine Trittleiter stand. Um die Fläche herum waren Lampen aufgestellt worden. 'Der große Slimmy's Hasenhütte Tanzwettbewerb' las der Assassine auf einem breit gespannten Banner.
Lady Witwenmacher saß bereits und hatte die Beine übereinander geschlagen, ihre Hände ruhten auf ihrem Knie. Vinzento bemerkte die Ringe an den Fingern. Die Ringe. Er hatte so einiges über die Ringe gehört...
Der Assassine ließ sich in den anderen Sessel sinken, unbehaglich rutschte er auf dem Polster herum. Lady Witwenmacher musterte ihn wieder lange, im Hintergrund stapfte ein massiger Troll mit moosbewachsener Brust, breiter Krawatte und einer dunklen großen Brille vorbei.
"Schwarz also? Wie soll ich Euch nun anreden?", brach Vinzento das Schweigen.
"Mia Schwarz. Das bin ich für diesen Tag. Was halten Sie von dem Vornamen?"
"Ein guter Vorname, Lad.. äh Mia." Hinter dem Satz schwebte ein unausgesprochenes Fragezeichen, aber Lady Witwenmacher nickte nur. "Ich glaube nicht, dass das Lord-", versuchte es Wegas erneut, wurde aber dieses mal von einem jungen Kellner unterbrochen, der einen albernen Hut trug. Es sah aus wie einer der alten Klickerrollen.
"Guuuten Abend! Ich bin für heute Ihr Kellner. Was darf's sein?" Vinzento bestellte ein 'Pelias und Melisande' Steak, was der Kellner auf einem kleinen Block notierte. "Wie soll's sein? Schwarz wie'n Stück Kohle oder blutig?" Er sah kurz auf.
"Das Blut muss spritzen. Und äh.. hier, das klingt doch gut." Vinzento rieb sich das Kinn und tippte auf die Speisekarte vor sich. "Einmal Wodka-Vanille."
"Und für Sie?" Der Mann wandte sich an Lady Witwenmacher.
"Ich hätte gerne den Holy Wood Burger -blutig- und einen fünfzig Dollar Ghlen Livid." Der Kellner entfernte sich, während Vinzento ganz damit beschäftigt war die Lady entgeistert anzustarren.
"Ihr esst einen... einen Burger? Ich nehme an, dass ist nicht Euer übliches Abendmahl oder?" Wegas hielt kurz inne, als ihm etwas einfiel. Er kniff die Augen streng zusammen. "Wie oft ward Ihr schon hier?", fragte er.
"Erklären Sie mir, was Wodka-Vanille ist", wechselte Lady Witwenmacher das Thema.
"Nun.. äh, man nimmt Zuckersirup mit Vanillegeschmack, dann kommt zerstoßenes Eis dazu und das ganze wird mit Wodka übergossen und..." Dann kam ihm wieder der zweite Teil der Bestellung in den Sinn, der ihn fast noch mehr verstört hatte, als die Tatsache, dass Lady Witwenmacher vor hatte einen Burger zu essen. "Habt Ihr gerade einen fünfzig Dollar Ghlen Livid bestellt?"
"Ja, das habe ich."
"Was ist ein Ghlen Livid? Das aus der Vul-Nuß gewonnene Getränk?" Sie nickte. "Und der kostet fünfzig Dollar?" Wieder ein Nicken. "Man tut nicht noch irgendwie Goldstaub hinein oder so was?"
"Nein", mischte sich in diesem Moment der Kellner ein, der mit den Getränken zurückgekehrt war und sie leicht pikiert abstellte.
"War nur so eine Frage." Vinzento lehnte sich im Sessel zurück und klopfte seine Taschen nach einer Zigarette ab.
"Mein Mann sagt, Sie wären gerade aus Quirm zurück gekehrt", sagte Lady Witwenmacher.
"Das ist wahr, ich war zwei Jahre dort." Der Assassine rührte seine Wodka-Vanille um und nippte daran, stellte ihn aber wieder langsam ab, als er sah, dass die Lady ebenfalls zu ihrem Glas griff. "Darf ich vielleicht einen Schluck haben? Ich möchte zu gerne mal wissen, wie ein fünfzig Dollar Ghlen Livid schmeckt." Noch ehe Lady Witwenmacher etwas getrunken hatte, schob sie das Glas zu ihm hinüber.
"Nur zu." Sie machte eine auffordernde Geste mit der Hand. Vinzento nahm vorsichtig einen Schluck und fuhr dann laut auf, dass selbst Gäste in der Nähe sich umdrehten.
"Gottverdammt!! Das ist ein höllisch guter Ghlen Livid!" Er gab ihr das Glas zurück. "Ich weiß zwar nicht, ob er fünfzig Dollar wert ist, aber er ist verdammt gut."
"Ich weiß." Lady Witwenmacher trank behutsam, während sich Vinzento im Lokal umsah. Seine Finger trommelten leise auf den Armlehnen des Sessels die Melodie der Band nach. Die Frau ihm gegenüber strich über ihren Rock, sah ihn an. Für eine Weile schwiegen sie. Vinzento zündete sich an einer Kerze auf dem Tisch seine Zigarette an.
"Hassen Sie das nicht?", fragte Lady Witwenmacher plötzlich. Wegas sah fragend auf und zog an der Zigarette.
"Was denn hassen?"
"Unbehagliches Schweigen. Warum müssen wir immer Konversation betreiben; damit wir uns wohl fühlen?"
"Tja, ich weiß es nicht." Vinzento zuckte mit den Schultern und fühlte sich von mal zu mal unbehaglicher. Die Lady lächelte ein Lächeln, das man lächelte, wenn einen etwas aus irgendeinem Grund amüsierte. Der heraneilende Kellner erlöste sie schließlich aus einem andauernden Schweigen und servierte das Essen.
"Was sagt Ihr eigentlich zu der Sache mit Antoine?" Die Worte hatten seinen Mund verlassen ehe er es hätte verhindern können. Wegas sah über sich selbst erschrocken rasch auf seinen Teller.
"Er ist von einem Balkon gefallen", antwortete Lady Witwenmacher ungerührt und blickte Vinzento forschend an, der nervös mit der Gabel auf sein Steak einstach.
"Ja, so könnte man es auch darstellen. Man könnte aber auch sagen, dass er vom Balkon gestoßen wurde oder man könnte sagen, dass Lord Witwenmacher ihn hinunter werfen ließ und man könnte natürlich auch weiter sagen, dass er Euretwegen vom Balkon gestoßen worden ist", redete Wegas weiter, während er dabei seine Gabel in der Luft bewegte.
"Was erzählen sich die Leute noch?", hakte die Frau des Oberhauptes der Gilde nach. Sie griff mit beiden Händen nach ihrem Holy Wood Burger und biss ein großes Stück davon ab, während Soße und einzelne Salatfetzen auf ihren Teller fielen. Es brachte Vinzento für einen Moment erneut völlig aus der Fassung.
"Ich äh habe nur gehört, dass Antoine Euch Pfefferminzbonbons angeboten hat."
"Und?"
"Und? Und gar nichts. Das ist alles."
"Sie haben gehört mein Mann hat Antoine vom Balkon werfen lassen, weil er mir Pfefferminzbonbons angeboten hat?" Vinzento nickte bestätigend. Lady Witwenmacher tupfte sich mit einer mitgebrachten Serviette den Mund ab. "Und das glauben Sie?", hakte sie mit Empörung und Unglauben in der Stimme nach.
"Na ja, als ich es gehört habe, da klang es irgendwie ganz vernünftig."
"Dass mein Mann Antoine vom Balkon werfen ließ, weil er mir Pfefferminzbonbons angeboten hat, erschien Ihnen vernünftig?", wiederholte sie Vinzentos eigenen Satz langsam, was ihn plötzlich sehr unvernünftig erscheinen ließ.
"Ich hab gehört, Lord Witwenmacher hat, was Euch angeht, einen starken Beschützerinstinkt", versuchte der Assassine überzeugend hinüber zu bringen, aber es misslang ihm völlig und so widmete er sich lieber seinem ‚Pelias und Melisande’ Steak auf seinem Teller.
"Dass ein Mann seine Frau beschützen will ist das eine, dass ein Mann beinahe gestorben wäre, weil er Bonbons einer Frau schenkte ist etwas anderes."
"Aber es ist passiert", beharrte Vinzento, irgendwo in seinem Hinterkopf erinnerte ihn eine leise Stimme (er vermutete, dass es entweder sein Gewissen oder seine Vernunft war), dass er sich gerade um Kopf und Kragen redete, aber ein Blick auf sein leeres Glas zeigte ihm, dass die Wodka-Vanille bereits dabei war ihre Wirkung zu tun.
"Das einzige, was Antoine mir jemals angeboten hat, war Konfekt. Auf meiner Hochzeit", erklärte Lady Witwenmacher bestimmt.
"Wirklich?", fragte der Assassine nach, doch Lady Witwenmacher schwieg und hätte sie etwas gesagt, wäre ihre Antwort ohnehin in einem lauten Trommelwirbel untergegangen, der die Aufmerksamkeit auf die Tanzfläche lenkte wo nun der Vampir vom Eingang unruhig auf der Trittleiter hibbelte.
"Ladies und Gentlemen!", begann er laut rufend. "Jetzt kommt der Augenblick auf den sie alle schon so lange gewartet haben! Der in ganz Ankh-Morpork berühmte Slimmy's Hasenhütte 'Musik mit Steinen drin' Tanzwettbewerb!!" Verhaltenes Klatschen erklang, was den Vampir aber nicht entmutigte, denn er fuhr genauso laut fort. "Heute wird wieder ein glückliches Pärchen, diesen attraktiven Pokal erringen, den Delores hier hochhält." Eine junge Frau mit langen blonden Haaren und einem knapperen weißen Kleid trat auf die Bühne und reckte eine vergoldete hässliche Figur auf einem Podest ins Licht. Der Vampir nestelte an einem kleinen Anstecker an seinem Frack. "Also....", sein Blick schweifte eine zeitlang über die Gäste, die versuchten mit dem Muster der tiefen Sitzpolster zu verschmelzen, "wer sind.. unsere ersten Teilnehmer?" Niemand meldete sich, was den Veranstalter dazu trieb sich durch eingefettete dunkle Haare zu streichen, die im Vergleich zu seinem bleichen Gesicht geradezu glänzten.
Vinzento realisierte erst nicht, dass Lady Witwenmacher den Arm hob. Dann bemerkte er es und es vergingen noch einige gespannte Sekunden in Stille, als er begriff, was es zu bedeuten hatte. Seine selbstsichere Miene schwand einem entsetzten Gesichtsausdruck.
"Ich will tanzen", zischte sie ihm unterdrückt zu. Der Assassine hob abwehrend die Hände.
"Ich denke, Lord Witwenmacher-" Er bekam langsam das Gefühl, dass er bei seinen Sätzen nie weiter als bis zur Erwähnung ihres Mannes kam, denn Lady Witwenmacher unterbrach ihn schon wieder.
"Ich denke doch, dass Lord Witwenmacher - mein Mann und Ihr Oberhaupt – Ihnen gesagt hat, Sie sollen mich ausführen und alles unternehmen, was ich will, damit ich mich hinterher nicht beklagen muss. Also", sie legte ihre Serviette auf den Teller, "ich will tanzen, ich will gewinnen, ich will diese Trophäe."
Lady Witwenmacher stand auf und hinterließ einen verblüfften Vinzento, der kopfschüttelnd die zweite soeben angezündete Zigarette wieder ausdrückte. So gut wie niemand hatte die Frau des Gildenoberhauptes einmal kennen gelernt und jetzt wo es Vinzento tat, begann er allmählich zu begreifen warum.

Die Musik setzte ein, Vinzento Wegas folgte der Lady wie im Traumwandel in die Mitte der Tanzfläche, die rasch frei geräumt wurde. Aus den Augenwinkeln sah er ein Bandmitglied, wie er wild auf Pauken und einer bespannten Trommel einschlug, sowie Gäste an den Tischen, die sich über sie lustig machten. Was für eine peinliche Aktion. Vinzento schüttelte wieder den Kopf und begann unbeholfen zu tanzen.
Und dann veränderte sich alles.
Die Luft war warm, flackerndes Licht strahlte ihm von überall entgegen und ließ ihn anfangs Tränen blinzeln. Er sah den Widerschein der Lampen wie er die Figur der Frau vor ihm hervorhob, er sah ihre grazilen, aber doch lockeren Bewegungen mit den Händen und fragte sich nicht zum letzten Mal wie oft sie bereits hier gewesen war.
Trotz ihrer etwas schlicht aussehenden Kleidung verhielt sich Lady Witwenmacher ganz und gar nicht ihrem äußeren entsprechend, ab und zu konnte man sogar die Spitzen des weißen Unterkleides unter ihrem Rock sehen, wenn sie die Knie höher anhob. Durch die Bewegungen leicht gerötet, verlor ihr Gesicht den matten Teint, den es am Anfang in dem großen Anwesen besessen hatte. Der Assassine hielt sie während des ganzes Tanzes im Auge, ihre Blicke trafen sich immer wieder und Vinzento war bald froh darüber, dass man zu 'Musik mit Steinen drin' nicht eng tanzen musste, doch ab und zu streiften sie sich doch. Es waren nur kurze Berührungen, wenn ihre Hände sich dann und wann bei einer zu hektischen Bewegung trafen oder sein Bein ihres streifte, aber diese kurzen Momente waren es, die den Tanz dahinter verwischen ließen, ihn wie einen entrückten Schemen, wie eine lange Schleppe hinter sich her zogen.
Lady Witwenmacher lächelte ihr feines Lächeln oder hatte sie gar kurz gezwinkert? Während sie weitertanzten in einem wilden Kreis aus Bewegungen und zufälligen Berührungen, musste Vinzento an die Bonbons denken. Dies hier war ähnlich, doch es war erlaubt. Innerhalb dieser runden Fläche war es erlaubt.
Vinzento Wegas wünschte die Band würde mit dem Spielen nicht so bald aufhören...

***


Die Kutsche rollte knarrend den Weg zum Anwesen hoch und hielt vor dem Gittertor aus Eisen. Die Türe öffnete sich, ein erster Fuß erschien auf dem Trittbrett und Lady Witwenmacher stieg aus. Die Musik war schon lange verklungen...
Vinzento reichte ihr den Pokal, erhob sich selber aus den schweren Polstern der Kutschbank und folgte ihr. Du lieferst sie an der Tür ab, sagte er zu sich selbst, als er sah, dass Lady Witwenmacher rasch dem Weg zur Türe folgte. Hinter ihm ruckelte die Kutsche über das Kopfsteinpflaster davon. Du gehst nicht mit rein, wiederholte er. Sei standhaft, bleibe stehen und verabschiede sie an der Tür.
Dann schloss Lady Witwenmacher auf und er folgte ihr. Kurz bevor sie weiterging, beugte sie sich zu einer Statue im Eingangsbereich und drückte einen Ring zweimal kurz, der auf einem der steinernen Finger saß. Hinter Vinzento gab die schwere Holztüre ihrem Gewicht nach und schob sich mit einem dumpfen Laut zu. Lady Witwenmacher drehte sich um, für eine Weile musterten sie sich beide in dem dunklen Flur.
Du kannst gehen, noch kannst du gehen, schwirrten vereinsamte Gedanke in seinem Kopf umher. Lady Witwenmacher zog ihren Mantel aus, er reichte ihr wie von selbst seinen eigenen, als sie die Hand danach ausstreckte.
"Wir müssen die angebrochene Weinflasche ausleeren", beschloss sie und war schon dabei in Richtung Kaminzimmer zu gehen.
"Ich... ähm..." Sag, dass du aufbrechen musst. Sag es. "Ähm... die Toilette?"
"Dort drüben." Lady Witwenmacher deutete nach links zu einer Türe. "Den Gang hinunter, die Tür am Ende."

Sie ging in den Raum hinein, stellte zufrieden fest, dass die Diener bereits den Holzstoß im Kamin angezündet hatten und das Feuer das Zimmer heizte. Die Gläser standen fast unberührt auf dem kleinen Tisch vor der Sitzgruppe, ebenso die Weinflasche. Matt brach sich das flackernde Licht darauf und Lady Witwenmacher legte den Mantel des Assassinen über die Rückenlehne eines Sessels, hielt dann aber inne und warf kurz einen Blick nach hinten. Ihre Hand glitt in die Manteltasche...

Seine Arme zitterten leicht, als er sich mit beiden Händen auf den Rand des Waschbeckens stützte und einen Blick in den wandhohen Spiegel warf, der schräg daneben hang.
"Ein Glas Wein, das ist alles, sei nicht unhöflich. Trink einen Schluck mit ihr, aber mach es schnell. Sag Gute Nacht und dann nichts wie weg", sprach er zu sich selbst. Er hatte die Blicke der Lady gesehen. Wenn er nicht aufpasste, würde er das Treffen nicht lebend überstehen.

Ihr Gesicht war gerötet - ob noch von dem Tanz, der kühlen Nachtluft oder dem Alkohol - und ihre Augen weiteten sich neugierig, als ihre Fingerspitzen einen festen ihr vertrauten Gegenstand in dem Stoff ertasteten. Interessiert holte sie das Objekt hervor und betrachtete den Parfümflakon. Nachdenklich wendete sie ihn mehrmals im Licht, schüttelte es kurz.

Er wandte sich dem Spiegel zu.
"Verstehst du, das ist so eine Art moralischer Test für dich selbst. Du kannst auf jeden Fall Loyalität bewahren... weil..", Vinzento rieb sich die Stirn, als müsste er genauer darüber nachdenken, "weil Loyalität sehr wichtig ist." Der Assassine seufzte leise. "Also, du gehst jetzt da raus. Du wirst sagen 'Gute Nacht, es war ein reizender Abend', du spazierst aus der Tür und das war's dann." Beruhigt mit seiner eigenen Ansprache, knöpfte Vinzento sein Jackett zu.

Sie knöpfte ihr Revers auf und entblößte so den Halsansatz etwas. Ihre Hände griffen nach dem Parfümzerstäuber, den sie geholt hatte, schraubten ihn langsam auf den Flakon, führte das Fläschchen zu ihrem Hals, drückte die Quaste. Das Parfümwasser, rosarot durch das raue bunte Glas, quoll in den Halm, der in den Flakon ragte.
Lady Witwenmacher ließ die Quaste wieder los.
Durch den Druck drang das Parfüm durch die winzig kleinen Löcher im Zerstäuber, zerteilte sich dort in hundert einzelne Tropfen, die in die Luft entwichen und kalt und nass die Haut der Lady berührten. Süßer Duft war zu riechen, es wirkte exotisch.
"Er hat Geschmack.." Lady Witwenmacher wollte noch mehr sagen, aber sie hielt entsetzt inne, als sie spürte wie das Parfüm auf ihrem Hals heiß wie Feuer wurde und ihre Kehle zuschnürte. Mit einer fahrigen Handbewegung versuchte sie die Tropfen von der Haut zu wischen, aber sie waren bereits eingezogen. Ein leises Stöhnen entwich ihren Lippen, dann spürte sie wie ihre Beine schwach wurden. Sie fiel bereits, als ihre Hand nach dem Mantel griff, sich kurz festkrallte und ihn dann mit sich zog.
Dann stürzte Lady Witwenmacher zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Das Holz im Kamin knackte geräuschvoll, das Licht zog geisterhaft über die dunklen Wände.
"Na schön.. ich äh denke, ich sollte mich langsam auf den Weg machen..", erklang die Stimme von Vinzento Wegas. Die Schuhe von Lady Witwenmacher ragten hinter den Standfüßen des Sessels hervor. "In Ordnung?" Dann entdeckte er, dass sie nicht im Sessel saß, sondern davor lag. Sein nächster Blick fiel auf den Tisch und einem Parfümflakon. Seinem Parfümflakon.
"Oh gottverdammt noch mal!", entfuhr es ihm. "Verdammt, verdammt!" Er hastete um den Sessel und sah, dass die Frau vom Boss reglos dalag. Ein kleines Rinnsal Blut lief aus ihrer Nase, ihre Augen stierten hoch in eine ferne Leere, die nicht in diesem Raum zu sein schien. "Komm schon..." Vinzento klopfte ihr gegen die Wangen, doch er wusste, dass es keinen Sinn machte. Gift, sein eigenes verdammtes Gift! Er musste schnell handeln.
Gehetzt sah er sich um, griff ihr unter die Arme und hob sie an. Das Blut tropfte auf den Teppich, ihr Dutt hatte sich ganz gelöst und die Haare fielen ihr wirr ins Gesicht. So schleifte der Assassine die Frau von Lord Witwenmacher durch den Raum zum Hinterausgang oder zumindest dort hin, wo er den Hinterausgang vermutete.
Irgendwann fand er eine Türe, die nach draußen ging. Kalte Luft strömte ihm entgegen und der Assassine blickte in einen leeren dunklen Hof.
"Verdammt, verdammt!", rief er wieder. Dann erblickte Vinzento den Karren.

***


Mit einem Rumpeln bog der Karren um die Ecke, das Pferd wieherte laut, als Vinzento hektisch an den Zügeln riss. Er warf einen schnellen Blick nach hinten, wo Lady Witwenmacher zwischen einigen Säcken mit Kartoffeln lag. Ihr Gesicht war bleich wie das einer Untoten.
"Oh verdammt!", fluchte Wegas erneut. "Stirb mir jetzt bloß nicht!" Der Karren hielt nach einer Weile, die Hufen des Pferdes klackten unruhig auf dem Stein, als Vinzento vom Karren und zur Türe eines Hauses hinstürzte. Wie wild begann er auf das Holz einzuschlagen. "Komm, schon, Philip! Mach auf!"

Es gluckerte leise, als sich der Verkäufer von Parfüm und hochwirksamen Giften einen Whiskey eingoss. Er füllte das Glas zwei Fingerbreit und nahm vorsichtig einen Schluck. Im Hintergrund hörte er lautes Wummern. Es klang, als ob jemand sehr laut gegen eine Türe klopfen würde.
"Philip! Es klopft an der Türe", tönte die Stimme seiner Frau aus dem Schlafzimmer. Genervt schlang er seinen Bademantel um, band ihn fester und trat in seine alten Pantoffeln.
"Ich hör es selber", murrte er, blieb aber stehen und trank noch einen Schluck. Der Klopfer schien nicht bereit zu sein aufzuhören.
"Ich dachte, du hättest diesen Idioten gesagt, sie würden hier nachts nicht irgendein Zeug bekommen", klang es penetrant aus dem Schlafzimmer. Philip seufzte. Ein Grund, warum er hier in einem anderen Raum stand und sich betrank.
"Ja, hab ich ihnen gesagt. Das ist auch das, was ich gleich diesem Idioten sagen werde. Und wenn es der Oberschwarzkittel höchstpersönlich ist", gab er trotzdem seiner Frau und dem Klopfen nach und trottete die Treppe hinunter. Der Verkäufer schlurfte durch den Laden, das Klopfen wurde lauter und er schob ärgerlich die Sichtklappe in der Türe beiseite.
"Schon gut, was- Vinzento? Was ist los?"
"Das ist los!" Der Assassine deutete erregt hinter sich. Eine schlaffe Hand ragte über den Karrenrand. "Die verreckt, verdammt!", schrie er laut, als Philip nichts weiter sagte.
"Das ist nicht mein verdammtes Problem.." Er hielt inne. "Sie ist vergiftet?"
"Sie stirbt, verdammt!"
"Was macht sie dann vor meinem Laden?!", zeterte er. "Schaff sie von meinem Laden weg! Ich will nicht, dass irgendeine deiner verdammten Näherinnen hier vor meiner Türe verreckt! Meine Tarnung-"
"Diese verdammte Näherin ist Lord Witwenmachers Frau!!" Vinzento trat gegen die Tür. "Du weißt doch, wer Lord Witwenmacher ist oder? Ja?" Philip schob die Klappe zu und öffnete die Türe einen Spaltbreit, zweifelnd sah er zum Karren. "Also, wenn sie mir stirbt, bin ich verdammt noch mal sein nächster Auftrag. Und... und ich werde verdammt noch mal gezwungen sein ihn kurz vorher darüber zu informieren, dass sie hier vor deiner Türe verreckt ist!"
"Ich glaub das einfach nicht.." Trotzdem öffnete der Verkäufer die Türe ganz, während der Assassine bereits begann die Frau vom Karren zu heben. Gemeinsam zerrten die beiden Männer sie durch den Laden, polterten die Treppe hoch und schleppten sie in das Wohnzimmer. Genau in diesem Moment stürmte eine große beleibte Frau aus dem Schlafzimmer, nur bekleidet mit einem langen Nachthemd.
"Verflucht, es ist mitten in der Nacht!" Sie starrte zu Lady Witwenmacher, die Vinzento auf den Boden fallen ließ. "Wer ist das?", keifte sie.
"Geh und hol mir den Notfallkasten!" Philip wedelte aufgebracht mit den Händen. Seine Frau rührte sich nicht von der Stelle.
"Was ist denn los mit ihr?", verlangte sie zu wissen und sah zu Wegas, der sich neben die Frau hingekniet hatte.
"Sie ist vergiftet!!"
"Dann schmeiß sie sofort raus!", herrschte sie Philip an, der die Tür zur Treppe schloss. Er tupfte sich mit einem dreckigen Tuch die schweißnasse Stirn ab.
"Hol den Kasten!" Seine Frau schob sich brummend in die Küche und er wandte sich Vinzento zu. "Lass sie nicht aus den Augen, okay? Sie kriegt eine Spritze, ich hol mein rotes großes Gegenmittelbuch."
"Wozu brauchst du ein Gegenmittelbuch?"
"Damit ich weiß, was ich tun muss." Philip stolperte über leere Whiskeyflaschen und anderen Gerümpel zu einer weiteren Türe hin. "Ich hab noch nie ein Gegenmittel gespritzt."
"Was soll das heißen, du hast noch nie ein Gegenmittel gespritzt?"
"Jetzt hör mal zu, das war noch nie nötig! Meine Kunden wissen mit ihren Sachen umzugehen!"
"Hol das Gegenmittel!", bellte Vinzento zurück. Philip stürmte in seine Vorratskammer, sah rasch hin und her. Regale reihten sich aneinander mit jeder Menge Kram, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Der Boden war übersät mit Staub, kaputten Phiolen, vertrockneten Kräutern und alten sperrigen Möbeln. Philip pflügte regelrecht durch das ungeordnete Chaos, hob Dinge auf, ließ sie krachend wieder fallen und stieß wütend einen Stuhl um, der prompt auseinander barst. Ein Bilderrahmen fiel scheppernd auf einige Töpfe.
"Was machst du noch?! Wir verlieren sie!", dröhnte die Stimme des Assassinen von nebenan.
"Ich such mein verdammtes rotes großes Gegenmittelbuch!" Als seine Frau mit dem Holzkasten am Türrahmen vorbeistapfte und ihn anzumeckern begann, was er denn jetzt noch da suche, fuhr der Verkäufer mit unterdrücktem Zorn über sein Gesicht und stürzte dann zurück in den Raum. Mit einem Ruck riss Philip den Notfallkasten aus den Händen seiner Frau und stellte ihn neben Vinzento ab.
"Was jetzt? Was passiert jetzt?" Wegas Stimme vibrierte panisch, neben ihm lag Lady Witwenmacher auf dem Rücken, die Arme merkwürdig verdreht und die Augen geschlossen. Die Eisenverschlüsse der Kiste schnappten auf. Philip blickte auf verschiedene Ampullen und durchwühlte die Fläschchen nach dem richtigen Gegenmittel.
"Beeil dich", drängte Vinzento. Der Giftverkäufer nahm Spritze und Glaskolben aus dem Kasten. Ratlos fuhr er sich durch die Haare. "Mach die verdammte Spritze fertig!"
"Okay, okay. Während ich das mache, ziehst du ihr das da aus und suchst ihr Herz."
Der Assassine sah skeptisch zu Lady Witwenmacher. "Muss das wirklich sein?" Seine Hände hielten kurz vor dem verrutschten Jackett inne.
"Ja, das muss wirklich sein. Sie kriegt eine Injektion ins Herz, da muss es wohl so sein." Philip zog den Kolben hoch bis das Gegenmittel in den Zylinder strömte, schraubte die Spritzennadel fester und klopfte mit den Fingerspitzen kurz dagegen. Erste Tropfen rannen an der Spitze hinab. "Ich glaub, ich bin soweit."
Vinzento lauschte an der Brust von Lady Witwenmacher. Ein schwarzes Mieder gab nun den Brustansatz frei, der vor Schweiß glänzte. Der Atem ging nur noch flach. "Hier... hier ist ihr Herz. Los, gib ihr die Spritze."
"Ich geb ihr die Spritze ganz sicherlich nicht." Philip drückte die große Glasspritze Vinzento in die Hände.
"Ich hab so was noch nie gemacht!" Der Assassine gab die Spritze wieder zurück.
"Ich auch nicht, ich fang jetzt sicherlich nicht damit an." Bestimmt presste er Wegas den Kolben in die Handfläche und schloss die Finger um das Glas. "Du wirst sie ihr geben."
"Schön... sag mir was ich machen muss."
"Okay, das Gegenmittel muss direkt ins Herz, von da aus muss es sich ausbreiten. Aber sie hat eine Brustplatte, da musst du erst durch." Philip klopfte mit zwei Fingerspitzen gegen ihre Brust. "Also, du musst die Nadel wie einen Dolch in sie reinrammen." Er machte eine hackende Bewegung mit der Hand. "Und dann.. dann drückst du den Kolben runter."
"Was dann? Was passiert dann?" Vinzento sah ihn an. Die Spritze in seiner Hand zitterte. Kleine Tropfen fielen unbeachtet von allen auf das Gesicht von Lady Witwenmacher. Philip atmete tief aus.
"Tja..." Er hielt kurz inne. "Darauf bin ich selbst gespannt."
"Das hier ist kein verdammter Witz, Mann! Was ist, wenn es schief läuft? Was ist, wenn-"
"Es läuft nichts schief! Es müsste... es müsste eigentlich sofort wirken. Aber du musst es jetzt machen, sonst bringt es gar nichts mehr." Philip raufte sich nervös die Haare. "Ich zähl bis drei... eins..."
Vinzento Wegas hob die Spritze hoch, fixierte einen Punkt auf Lady Witwenmachers Brust. Niemand sagte etwas, man hörte nur das laute Schnaufen und Atem eines jeden. Tropfen um Tropfen verrannen aus der Spritze wie Sandkörner in einer Uhr.

"... zwei..." Die Sekunden bis zur letzten Zahl schienen nicht verstreichen zu wollen und gleichzeitig waren sie schneller um, als es sich Vinzento gewünscht hätte. Er blickte in das blutverschmierte bleiche Gesicht von Lady Witwenmacher.. "...drei!" Wegas zuckte zusammen und stieß die Nadel mit aller Kraft ins Herz von Lady Witwenmacher, während sein Finger den Kolben herunter presste.
Für eine kurze Weile passierte gar nichts. Dann riss Lady Witwenmacher urplötzlich die Augen weit auf.

***


Die Fahrt zurück hatten sie schweigend verbracht und auch der Gang über den Hinterhof verlief schweigend, aber als Lady Witwenmacher wortlos und noch immer leicht schwankend auf barfuss zur Türe ging, hielt es Vinzento nicht länger mehr aus.
"Wie... wie sollen wir mit dieser Sache umgehen?", fragte er. Sie blieb stehen.
"Ich kann ein Geheimnis für mich behalten... wenn du es auch kannst."
"Selbst wenn Lord Witwenmacher ewig leben sollte, müsste er nichts über diesen Zwischenfall erfahren."
"Wenn mein Mann von diesem Zwischenfall erfahren sollte, wäre ich in den gleichen Schwierigkeiten wie du."
"Das bezweifle ich ernsthaft..." Sie sahen sich gemeinsam an. Vinzento realisierte erst jetzt, dass sie ihn geduzt hatte. Ihre Haare waren immer noch ungeordnet, doch die Farbe war wieder zurück in ihr Gesicht gekommen. Das Jackett hatte sie vergessen zuzuknöpfen und der Assassine sah die schwarze kleine Schleife des Mieders.
"Ich habe mich noch gar nicht für den reizenden Abend bedankt", sagte sie plötzlich höflich. Dann lächelte sie. "Bis bald, Vinze."
Sie sah nicht zurück und Vinzento hatte es auch nicht erwartet, trotzdem blieb er noch länger wie betäubt stehen. Auch, als Lady Witwenmacher längst wieder im Anwesen verschwunden war.
Dabei kannte er noch nicht einmal ihren Vornamen...


Cim Bürstenkinn




TERESA




"Ich soll WAS bewachen?"
Cim war von einer leger-höflichen in eine leicht nach vorne gebeugten und eindeutig aggressiven Haltung gesprungen. Er starrte den vor ihm sitzenden Kommandeur mit weit aufgerissenen Augen an.
Rince bemühte sich über die Drohgebärden hinwegzusehen und sagte fröhlich: "Eine Rose. Genauer gesagt die Rose. Die Perle von Wiewunderland. Den Preisträger des diesjährigen Blumenwettbewerbes."
Der SEALS-Wächter war kurz sprachlos, versuchte Sinn in den Worten zu finden, die ihm seine Ohren vorgaukelten.
"Du meinst", seine Stimme versagte und er räusperte sich, "Du meinst ich soll eine Pflanze bewachen?"
Er sah sich paranoid um. "Ahh, ich verstehe, das ist ein Scherz! Daemon, komm raus da! ", sagte er lachend zum dem Kasten, der mehr an der Wand lehnte als am Boden stand.
"Ha!", rief er und riss die Türe auf[1]. Vielleicht sollte man besser sagen 'ab', denn er hatte sie auch sogleich in Händen.
"Na na, Bürstenkinn. Siehst Du eben dieses Verhalten hat uns bewogen Dir die eine Komponente, die Dir ja offenbar nicht so liegt anhand dieses Auftrages etwas näher zu bringen: Schutz des Eigentums von rechtschaffenen Bürgern! Außerdem werde ich meiner Schwiegermutter sagen, dass Du den Kasten ruiniert hast!"
Ohne hinzusehen, nahm er einen Zettel vom Schreibtisch und reichte ihn dem Chief-Korporal. "Da drauf steht die Adresse von Grünfinger. Er hat Kaufangebote für die Rose erhalten, die offenbar sehr nah an Drohungen heranreichen. Es ist im Interesse der Stadt, dass hier kein Unrecht geschieht. Melde Dich dort in allerspätestens zwei Stunden."
Missbilligend sah er noch mal zu dem Kasten, der nun mangels stabilisierender Tür ein mitleiderweckendes Parallelogramm bildete.
"Jetzt schick mir zwei Rekruten, die sich um das kaputte Ding da kümmern. Ich will es nicht mehr sehen, wenn ich von der Kröselstrasse zurück bin!"
Der Kommandeur eilte an dem verblüfften Cim vorbei, und ließ ihn mit dem gefährlich knarrenden Kasten alleine. Er hätte noch gerne gesagt, "Ich hab doch andere Fälle", doch leider gab es niemanden mehr, den das hätte interessieren können.

Etwas zufriedener ging er etwa eine halbe Stunde später über den Pseudopolisplatz, denn er war sich sicher, dass die beiden Rekruten Felsspalter und Schweinestraße das Möbelstück ordnungsgemäß entsorgen würden. Er machte sich auf den Weg zu dem doofen Gewächshaus, als neben ihm plötzlich ein Zweispänner anhielt. Auf den Türen war deutlich das aufdringliche Wappen der Assassinengilde eingeschnitzt. Der Kutscher deutete ihm einzusteigen, sagte aber sonst kein Wort.
Es war beinahe eine pädagogische Maßnahme, als Cim den Kerl völlig ignorierte und weiterging.
Verärgert schnalzte der Kutscher mit der Zunge und folgte dem Wächter. Als er auf gleicher Höhe war, pfiff er einmal leise. Cim setzte bereits zu einer scharfen Meldung an, als er sah, was ihm der Mann entgegenhielt: Es war eine Ikonographie von Timara, seiner Verlobten, aufgenommen in ihrem Esszimmer, scheinbar von der Treppe herab.
Ohne lang nachzudenken, packte er den Kutscher bei seinem Mantel und zog ihn vom Gefährt herunter. Beide Hände fest um den Hals des Mannes gelegt, fragte er "Was habt ihr getan?"
Der Gewürgte war leicht blau im Gesicht und deutete nur stumm auf die Kutsche, und versuchte nebenbei verzweifelt den Griff etwas zu lockern.
Cim kannte das Verfahren nur bei Bürgern, die Anzeige machten. Ein Familienmitglied wurde ikonographiert, oder ein intimer Gegenstand wurde entwendet, nur um zu zeigen, dass SIE jederzeit zuschlagen konnten, wenn sie wollten.
Er wusste auch was er jedem Bürger in so einer Situation geraten hätte, wusste was das Dümmste war – und tat es.
Er ließ den Mann los, sah ihn verächtlich an, und stieg ohne ein weiteres Wort in die Kutsche.
Wenig später standen sie vor dem Hauptgebäude der Assassinengilde in der Filigrangasse.

* * *


Der Mann ihm vis a vis musterte ihn ruhig, seine durchdringenden Augen saßen in einem harten und schwer zu deutenden Gesicht, das von weißen Haaren eingerahmt wurde. Seine Kleidung war wahrscheinlich mehr wert, als Cim in einem Jahr verdiente[2] und er machte den Eindruck, als würde nicht einmal eines seiner (sorgfältig geschnittenen) Nasenhaare eine Bewegung machen, die nicht von ihm geplant wurde.
"Sicher fragst Du Dich, was uns dazu bewegen könnte Dich am helllichten Tage hierher zu bringen. Oder was wir außer dieser Ikonographie noch in Deinem Haus gemacht haben."
Cim ballte die Hände zu Fäusten, doch er sagte sich, dass Witwenmacher nur mit ihm spielte.
"Immerhin können wir uns alles kaufen, wonach uns der Kopf steht."
Sag endlich was Du willst, dachte sich Cim, und trommelte ungeduldig auf der Sessellehne.
"Ich.. könntest Du das bitte lassen?", er sah irritiert auf die Finger des Wächters, sein linkes Auge begann leicht zu zucken. "Danke!"
Na, wenn das nicht interessant ist, dachte sich Cim, sagte aber kein Wort.
"Ich möchte meiner Frau zum Valentinstag eine kleine Freude machen, doch sie hat schon alles. Jetzt wünscht sie sich etwas, das ich leider nicht mit Geld kaufen kann, und meine Informanten haben mir gesagt, dass Du der Mann bist mir zu helfen!".
Cim atmete zweimal tief durch und es gelang ihm tatsächlich ruhig zu bleiben als er sagte: "Hör zu, Lord Witwenmacher, wahrscheinlich ist das so Deine Art. Vielleicht sogar eine ganz perfide Methode des Tötens, aber sag jetzt endlich was Du von mir willst. Sonst sorg ich dafür, dass die Wache jeden einzelnen Deiner Meuchelmörder täglich dreimal kontrolliert, und zwischendurch beschattet."
Tadelnd hob der Gildenchef den rechten Zeigefinger "Wir wollen uns doch nicht in Drohungen ergehen, oder? Aber Du hast recht: Kommen wir zur Sache. Meine Frau hat es sich in den Kopf gesetzt, diese Perle von Wiewunderland ihr Eigen zu nennen. Ich hab dem recht unvernünftigen Züchter Unsummen geboten, doch er bleibt stur, und mittlerweile lässt er nicht mal mehr meine Anwälte zu ihm. Ich fürchte, es gibt nur die Möglichkeit sie ihm zu stehlen!"
Nun war Cim verblüfft.
"Du? Etwas stehlen? Wieso machst Du kein Gegengeschäft mit der Diebesgilde? So nach dem Motto, wenn Du mir das Ding klaust, bring ich Dir diesen Illegalen um, oder so."
Doch der Weißhaarige schüttelte nur den Kopf. "Meine privaten Probleme gehen niemanden was an, und wenn schon notwendig, dann teile ich sie lieber mit jemanden, der gute Gründe hat den Mund zu halten. Und die hast Du!"
Er nahm einen enormen Geldsack aus der Schublade und warf ihn Cim in den Schoß.
"Langeweile mich jetzt bitte nicht mit Versuchen das Geld abzuweisen. Ich hab auch noch das Foto um Dich zu ermutigen. Heute Nachmittag werden zwei Leute von mir zu Grünfingers Gewächshaus kommen, die Blume holen,
und Du wirst bedauerlicher Weise gerade woanders sein. "
Der Wächter zitterte vor Wut. Er wusste dass Witwenmacher in einer Stadt, in der Mord legal war, keine leeren Drohungen zu machen brauchte. Er vergab einfach , einen recht billigen Auftrag an einen Anfänger, und
es hatte sich erledigt.
Er schob das Gold zurück, und sagte "Ich mache es. Ohne Bezahlung!"
Doch der Weißhaarige schüttelte den Kopf.
"Du kannst damit machen was Du willst. Aber ich fühle mich wohler, wenn Du auf meiner Gehaltsliste stehst."
"Cim, vielleicht verspürst du am Tag des Geschäfts ein Kribbeln. Das ist das Pflichtgefühl. Vergiss die Pflicht. Pflicht ist zu nichts gut. Sie tut Dir nur weh."
Der Assassine beugte sich nach vorne "Wirst Du für mich wegsehen?".
Cim presste "Sieht so aus", zwischen den Zähnen hervor, doch Witwenmacher sagte kalt "Sag es!"
"Ich werde für Dich wegsehen!"
Lord Witwenmacher erhob sich, und der SEALS-Wächter ging ohne ein weiteres Wort.
"Vinzento", rief der Gildenchef erfreut, "Was habt ihr mir mitgebracht?"
Cim rannte genau in einen Mann mit feuchten zurückgestrichenen Haaren, der seine Garderobe offenbar am Flohmarkt erstanden hatte. Der Anzug, wenn man das alte Ding so nennen wollte, hatte abgestoßene Ellbogen, und schien für jemand gemacht zu sein, der dicker und kleiner war.
"Hast Du keine Augen im Kopf, Kerl?", fragte der Mann und hatte sofort einen Dolch in der Hand.
Unter anderen Umständen wäre der Wächter gerne bereit für eine kleine Schlägerei gewesen. Doch in diesem Moment wurde Cims Aufmerksamkeit von der Tatsache in Anspruch genommen, dass Daemon mit ausdruckslosen Gesicht und der gleichen Aufmachung hinter dem Kerl stand - ohne auch nur irgendwie Kenntnis von ihm zu nehmen. Wenn er ihn nicht sehen wollte, war es wohl besser einfach zu gehen ohne sich an dem Kerl abzureagieren. Seine Neugier würde warten müssen.
"Wunderbar" hörte er hinter sich noch Witwenmacher sagen, dann klappte die Tür zu
Wenig später hetzte sein Pferd durch die Stadt, auf dem Weg zu ihrem Haus, das sie nun wohl verlassen mussten.

* * *


"Danke, Lilly!" Die junge Frau, bei der man nicht sagen konnte, ob sie wirklich so füllig war oder nur sehr viel anhatte brachte ihm ein Glas Tee.
"Du musst ja schon Frostbeulen, am ... also an Deinem Körper haben! Wenn Dir kalt ist, komm rein ins Treibhaus!" Mit einem letzten Augenzwinkern wippte sie zurück an ihren Arbeitsplatz.
Cim hatte die Kälte, und einen langweiligen Tag vorgezogen, hatte argwöhnisch die vielen schaulustigen Besucher, meist befreundete Ehepaare von Grünfinger beäugt, die jene absonderliche Pflanze bewundern wollten.
Er hatte Timara gleich nach seinem Gespräch mit dem Assassinenoberhaupt in eine Pension gebracht, wo sie nur mit dem Notwendigsten ausgestattet, gemeinsam mit seiner Schildkröte Teresa auf seine Rückkehr warten sollte. Eles, seine Hündin, schlief ohnedies immer in seinem Büro und die Kollegen würden sich um sie kümmern.

Er sah sofort, dass die beiden Kerle keine üblichen Besucher von Grünfinger waren. Sie hatten die Frechheit ihm zu winken und betraten das Gewächshaus. Der Wächter ging ein Stück abseits und tat als würde er den Boden untersuchen.
Nach einigen Minuten (er hatte sich schon gefragt wie lange es dauern konnte eine dumme Pflanze auszugraben) hörte er Schreie aus dem Treibhaus. Das war Lilly, und sie klang nicht gerade nach jemand, dem eine Blume gestohlen wurde. Cim überlegte nicht lange, sondern lief gleich los. "Die Rose, Witwenmacher, nur die Rose", murmelte er außer Atem, und trat die Tür ein, die von innen verrammelt war.
Einer der Diebe hielt Lillys Hände fest, während der andere verzweifelt bemüht war sich durch ein Meer von Unterröcken zu kämpfen. Das Mädchen wehrte sich heftig, und keiner der beiden bemerkte, dass Cim mit einem Knüppel näher kam. Dieser sauste durch die Luft und schickte den Kerl, der gegen die Wäsche der Gärtnerin kämpfte, ins Land der Träume.
Erst jetzt sah der andere zuerst verblüfft, dann wütend hoch. "Du bist so blöd, Bürstenkinn", sagte er kopfschüttelnd, "Wir werden Dich und Deine Familie ganz langsam töten, wie es einem Verräter.."
Der Knüppel war ein weiteres Mal unterwegs und schickte den pathetischen Assassinen zu seinem Kumpel.
"Danke", sagte das Mädchen einfach und begann seine Röcke wieder in Ordnung zu bringen. Sie sah nicht so aus, als wolle sie über die Sache besonders ausführlich reden.
"Oh, kein Problem. Wahrscheinlich werden meine Verlobte und ich jetzt aus pädagogischen Gründen zu Tode gefoltert, aber wenn stört das schon." Er schrieb eine Nachricht auf einen kleinen Zettel und schickte seine Taube damit los. Dann fesselte er die beiden Schurken mit einem Seil, das ihm die Gärtnerin gegeben hatte.
"Die Wache wird bald hier sein. Sag ihnen, ich muss mir ein paar Tage frei nehmen. Sie sollen einen anderen Wächter abstellen." Er sprang aufs Pferd und hetzte es zu Timara, die in der Pension "Schnelles Glück" auf ihn wartete.

* * *


"Du hast sie vergessen! Ich glaub, ich spinne. Weißt Du, was es mich gekostet hat sie zu bekommen? Weißt Du, was ich tun musste, um sie heil nach Hause zu bringen?", rief Cim aufgeregt gestikulierend. Seine Schildkröte Teresa war trotz mehrfachem Hinweis von ihm, im Haus zurückgelassen worden[3].
Timara blieb wenig beeindruckt. "Du hast Schnapper damals 1,50 bezahlt - zu viel für ein Stück Panzer, dass dauernd den Holzboden düngt - wie ich Dir schon damals sagte. Heimgebracht hast Du sie in einer Hutschachtel, die Du den ganzen, langen, gefährlichen Weg vom Hier-gibt's-alles-Platz selbst getragen hast. Meinst du das?"
Irgendwie fühlte sich Cim, als hätte man ihm den Wind aus den Segeln genommen und er begann sich etwas lächerlich zu fühlen.
"Na trotzdem", sagte er eher defensiv, "Sie ist mir ans Herz gewachsen! Aber es ist nicht Deine Schuld! Ich geh sie holen. Nimm mein Pferd und reite einstweilen zu Deiner Mutter. Wenn ich in ein paar Stunden nicht nachgekommen bin, vergiss mich."
"Pff", bekam er ob soviel Dramatik zu hören, Timara warf sich gelangweilt auf das Bett und nahm sich ein Buch. "Ich warte hier. Schlimm genug, dass ich aus meinem eigenen Haus ausziehen muss. Ich werde sicher nicht alleine quer über die Sto-Ebene reiten."
Sie machte eine winkende Handbewegung. "Los, beeil Dich und hol Deine Schildkröte, die Dir ja offenbar mehr bedeutet als ich."
Mit hängenden Schultern verließ Cim das Zimmer. Zurück blieb Timara, die ihr Buch immer noch verkehrt herum hielt und einen unsichereren Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte, als sie es bisher zugelassen hatte.
"Verdammte Wache!", schimpfte sie und packte ihre Sachen in die Tasche, um zu ihrer Mutter zu reiten.

* * *


Das Stadthaus der Lordners, das Timara von ihren Eltern inklusive Diener geschenkt bekommen hatte, wies jeden erdenklichen Luxus auf. Cim war sich sicher, dass Witwenmacher schon von der Verhaftung der beiden Assassinen erfahren hatte und wahrscheinlich wartete auch schon jemand auf ihn.
Er band das Pferd hinter dem Haus an einen Baum, kletterte über den Gartenzaun, holte den Kellerschlüssel aus seinem Versteck und war im Haus. Zuerst lauschte er, doch im Haus war es totenstill. Vielleicht hatte er Glück und es war gar niemand da. Seit der Verhaftung waren vielleicht knapp zwei Stunden vergangen, nicht immer war die Informationsweitergabe so schnell.
Da hörte er jemanden pfeifen. Es sollte wohl dieser Schlager "88 Zauberer" sein, war aber grässlich entstellt. Langsam setzte er einen Fuß um den anderen auf jene Stellen der hölzernen Kellertreppe, die am wenigsten knarrten. Sie hatten oft darüber gesprochen, dass dieses Geräusch ein guter Schutz gegen Einbrecher war. Wer hätte je geahnt, dass es einmal ein Schutz für Einbrecher sein konnte.
Mehr oder weniger leise landete er endlich im Flur und das Geräusch führte ihn zum Ort, wo er sonst niemanden hin folgte, dem Plumpsklo – aus dem nun Gesang dröhnte.
"...voller Götter, voller Helden, wurden in ein Loch geschmissen, Vinzento hat ZENSIERT.."
Der letzte Teil klang recht angestrengt, und gleich darauf hörte der Wächter wie der Keramik-Deckel auf die Öffnung gelegt wurde und Kleidung raschelnd wieder angezogen wurde.
Wieder pfeifend öffnete der Meuchler die Tür – und wurde von der breiten Seite von Cims Schwert begrüßt.

Mit dem guten Gefühl einen Assassinen im Keller verschnürt zu haben, den er wegen illegalen Einbruchs bei der Gilde anzeigen konnte, ritt Cim sehr selbstzufrieden in Richtung der Pension. Teresa versuchte vergeblich die Innenseite der Satteltasche hochzuklettern in der er sie gesteckt hatte und besaß wenig Verständnis für den unbequemen Ausflug.
Ein paar Wochen, dachte sich Cim, dann würde sich Witwenmacher beruhigt haben. Atera und Rince würde er alles schriftlich erklären. Vielleicht würde ein kurzer Urlaub Ihrer Beziehung gar nicht...
Er hatte den Fußgänger viel zu spät bemerkt. Sein Pferd hatte bei dem unerwarteten Hindernis, Om sei Dank, gescheut und Cim dabei abgeworfen. Neben ihm lag der Mann, umgeben von den Resten einer Orchidee und den Scherben eines kunstvoll verzierten Übertopfes.
"NEIN!", schrie er und versuchte verzweifelt den geknickten Kopf der Pflanze wieder aufzurichten.
Cim erstarrte, als er sah wer der Mann war. Musste das jetzt unbedingt passieren? Warum musste er von all den Wesen in dieser Stadt gerade Witwenmacher über den Haufen reiten – und so nebenbei das neue Valentinsgeschenk für dessen Frau zerschlagen?
Der Gildenchef sah zu Cim, und der Wächter erlebte ein Feuerwerk der Emotionen, als sich Zorn in Überraschung, Überraschung in Unglauben, und endlich wieder in Zorn – sehr viel heftigeren diesmal – verwandelte.
Beide sprangen instinktiv auf, Witwenmacher hatte zwei doppelschneidige Dolche in der Hand, Cim sein Schwert.

* * *


Cim war immer recht stolz auf seinen Kampfstil gewesen. Er legte Wert auf Eleganz und Effizienz und insgeheim gestand er sich ein, dass viel davon Selbstdarstellung war. Gegen den Ober-Meuchelmörder war davon wohl nichts mehr zu sehen. Vielmehr schaffte es der Chief-Korporal gerade einmal die blitzartigen Schläge von Witwenmacher knapp abzuwehren. Er hatte nur einen großen Vorteil: Er kämpfte ums Überleben seiner Familie. Mit dem Mut der Verzweiflung, nach einer wenig eleganten, sehr uneffizienten aber umso heftigeren Attacke warf Cim das Schwert nach seinem Gegner, packte den überrumpelten Assassinen am linken Arm und warf ihn kurzerhand gegen die angrenzende Hausmauer. Das Gildenoberhaupt kullerte die Stufen zu einem kleinen souterrain gelegenen Apothekerladen hinab und fiel durch die offene Tür hinein. Humpelnd, und aus zahlreichen Wunden blutend, warf sich der Wächter hinterher und kniete sich auf die Brust des Benommenen.
"So, du Spinner. Das hättest Du wohl nicht gedacht! Ich werd Dich lehren!", sagte Cim während er ihm Handschellen anlegte und aufstehen wollte.
"Bleib unten, Wächter!", tönte der Befehl. Hinter ihm stand der Ladenbesitzer, den Cim bisher völlig übersehen hatte mit gespannter Armbrust.
"Was soll das? Siehst Du nicht..." Doch, er hatte gesehen, er hatte ihn sogar als Wächter angesprochen. War er ein Mitglied der Gilde?
Da lenkten Schritte auf der Treppe seine Aufmerksamkeit auf sich. Vielleicht hatte er Glück und es kam Hilfe. Als er die Uniform der Palastwache sah, atmete er erleichtert auf. Die Kerle waren zwar impertinent, hochnäsig und hielten sehr wenig von der Stadtwache, gehörten aber zu den Guten. Meistens.
"Carl! Du hast offenbar Gäste eingeladen. Wieso hast Du nichts gesagt?", grüßte der Mann, als wäre es ganz normal, dass in dem kleinen Laden jemand auf der Brust eines Gefesselten kniete, und zusätzlich mit einer Armbrust bedroht wurde.
"Hi, Sed. Tja, ich würde sagen die beiden haben sich freiwillig gemeldet."
"Was immer ihr vorhabt...", begann Cim bevor ihn ein Stiefel ins Land der Träume schickte.
Sed grinste. "Was immer wir vorhaben, wir werden es auch tun. Schließ den Laden Carl, die Wissenschaft wartet."


"Hast Du die Beine gut befestigt?"
"Selbstverständlich, Sed. Ich mache das nicht zum ersten Mal", antwortete Carl etwas eingeschnappt.
Die Worte drangen an Cims Bewusstsein, allerdings verhinderten die stechenden Schmerzen im Nackenbereich, dass er sich mit ihrem Inhalt beschäftigte. Kleine Feuerwerkskörper explodierten auf seiner Iris und verdeckten den Blick auf die Wirklichkeit. Genüsslich wartete er auf das Abklingen der Nervenirritationen und gab dem Schädeltrauma eine vier auf der nach oben offenen Bürstenkinn-Skala. Leider drängelte sich nun auch die Realität nach vorne. Er war mit einem Hanfseil an einen Stuhl gefesselt. In seinem Mund steckte etwas, das sich verdächtig nach alten Socken anfühlte. Die bunten Lichter hörten auf, und er bekam Gelegenheit sich seinem Umfeld zu widmen.
Aus dem Nebenraum hörte er gedämpfte Schreie und die Tatsache, dass Witwenmacher fehlte, sagte ihm auch woher sie stammten. Doch er war nicht alleine.
"HHHHH", ertönte es neben ihm, als er zum ersten Mal erschrak. Er hatte die Gestalt bisher nicht bemerkt, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war bewusstlos zu sein. Doch plötzlich wünschte er sich, er wäre nicht so voreilig zu sich gekommen.
An die Wand gekettet fand er einen nackten Menschen, der wie das Inbild von gelebter Grausamkeit wirkte.
Das "HHHH" war offenbar der zungenlose Versuch eines Lachens, in einem von Narben übersäten Gesicht. Sowohl das linke Auge, das linke Ohr, Daumen, Zeigefinger, diverse Zehen und andere Gliedmassen fehlten der armen Kreatur. Narben an Kopf, Rumpf, Händen und Beinen ließen nur erahnen was mit ihm, denn ein "Er" war es wohl einmal, sonst noch angestellt worden war.
Der Wächter malte sich aus, wie er auf einem von Blut bedeckten Tisch lag und Carl und dieser Sed mit einem irren Grinsen an die Arbeit gingen, und verfluchte sein Schicksal kein Berserker mehr zu sein. Doch so schnell würde er nicht aufgegeben. Er war nur mit Hanfseilen - seinem eigenen wie er erbost feststellte - gefesselt und der Stuhl war nicht mehr der Neueste. Mit der Kraft der Verzweiflung zerrte er an seinen Banden, immer wieder durch Schreie oder technische Hinweise wie "Halt die Wunde offen" oder "Gib ihm Riechsalz, wenn er jetzt einschläft, stirbt er uns zu schnell" angespornt, begleitet vom irren Lachen des Verstümmelten an der Wand.
Da spürte er wie ein Knoten nachgab, ihm plötzlich mehr Bewegungsspielraum zur Verfügung stand und der Sessel langsam aus dem Leim ging.
Er wartete, scheinbar eine endlos lange Zeit, die nur mit den grausam gleichgültigen Gesprächen der beiden "Forscher" und Witwenmachers leisen Gewimmer gefüllt war.
Da schwoll dieses Wimmern mit einem Mal an zu einem gewaltigen Schrei aus Angst und Schmerzen an. Cim schauderte bei dem Gedanken, was wohl gerade mit Witwenmacher passierte und beinahe hätte der Wächter seine Chance vertan. Im letzten Moment warf er sich mit aller Kraft nach hinten und zog den Kopf auf die Brust. Die Lehne wurde einfach aus den Holzdübeln geschlagen, er fiel zu Boden und spürte, dass die Fesseln lose an ihm hingen.
Er hörte wie Sed vorwurfsvoll sagte "Du bist direkt an einen Nerv geraten. Jetzt ist er wieder ohnmächtig. Weck ihn auf."
Die arme Kreatur an der Wand merkte nun, was sein potentieller Nachfolger gerade tat und rief "Eeeeee Hhhhhhh" Schnell rappelte sich Cim auf, und schlug den Lallenden bewusstlos.
Er hatte kein Interesse mehr am weiteren Geschehen, wollte einfach nur noch aus diesem Horrorladen raus. Mitgenommen von den Ereignissen des späten Nachmittags humpelte er nach oben und war wieder auf der Strasse. Dort fand er auch sein Schwert wieder, was war mehr als erstaunlich war in einer Stadt wie Ankh-Morpork. Wahrscheinlich hatten potentielle Beobachter wenig Interesse in die Auseinandersetzung verwickelt zu werden.
Er hob es auf und sah noch einmal zurück. Natürlich hatte ein Mistkerl wie Witwenmacher dieses Schicksal verdient. Immerhin hatte er ihn und seine Verlobte bedroht und ihn gezwungen seine Pflicht zu vernachlässigen. Grimmig nickte er und pfiff nach seinem Pferd.
Da sah er sie liegen. Sie steckte im Schlamm, war teilweise verdeckt davon. Doch ein Rest von Abendsonne strich zäh und rötlich über das freiliegende Metall, glänzte und erinnerte ihn an den Tag und den Grund warum er sie hatte. Er zog sie aus dem Dreck, wischte sie sorgfältig an seiner Uniform ab und murrte:
"Na gut. Dann rette ich eben Witwenmacher."

"Jetzt nimm das Auge heraus, Carl!", befahl er, doch sein Freund ging einen Schritt vom Seziertisch zurück.
"Ich fasse nicht gerne Augen an, Sed. Das weißt Du doch! Außerdem wirfst Du sie dann nur wieder in ein Einmachglas und sie beobachten uns."
Ein irres Grinsen lag auf dem Gesicht des Palastwächters, als er mit erhobenem Skalpell "Es ist mir völlig egal, was Du gerne tust. Wie soll ich den Sehnerv durchtrennen, wenn Du nicht vorher das Auge raus nimmst? Du weißt, ich sammle die Dinger", sagte. Er deutete auf ein Wandregal, in dem friedlich etwa 40 Augen schlummerten.
"Willst Du nun anfangen mir zu widersprechen? Soll ich mir die Augen vielleicht woanders besorgen?"
Carl hasste es, wenn sein Freund ihn so ansah. Als wollte er sagen "Apotheker, du bist nur einen Widerspruch davon entfernt selber ein Opfer zu werden. Zitternd ging er zu dem an Kopf und Gliedmassen nieder gebundenen Mann und zog seine zusammengepressten Augenlider auseinander.
"Das ist so ...au?" Ein Stuhlbein war durch den Raum geflogen, hatte den Apotheker perfekt getroffen. Er kratzte sich verwirrt am Kopf.
"Tut mir leid", rief Cim, "Ich hatte eigentlich geplant Dich bewusstlos zu schlagen, damit ich nur mehr einen Gegner habe!"
Er zog leise fluchend das Schwert - und sprang gerade rechtzeitig zur Seite, um von dem Bolzen nicht voll im Unterleib erwischt zu werden, den Sed auf ihn abgefeuert hatte. Er landete hart auf der linken Schulter und warf einige Reagenzgläser von dem Tisch, der ihm nur unzureichend Deckung gab. Er spürte, dass das Geschoss in seinem rechten Oberschenkel steckte.
"Es gibt da ein paar Sachen, die waren bisher sogar mir zu ekelhaft experimentell." Sed ging langsam quer durch den Raum und spannte offenbar die Armbrust neu. "Vor allem Carl, ist ja leider etwas zimperlich, was ihn auch oft in Schwierigkeiten bringt. Nicht wahr, Carl?"
"Wisst ihr eigentlich, wen ihr da am Tisch liegen habt? Ihr werdet beide noch viel Spaß haben, wenn die Assassinengilde herausfindet, was ihr mit ihrem Oberhaupt gemacht habt", versuchte Cim sein Glück, während er kriechend den Tisch zwischen sich und der Armbrust behielt.
"Nicht wahr, Carl?", fragte der Palastwächter unbeirrt, auf eine Art, die seinen Kumpanen sehr nervös machte.
"Ich biete Euch Schutzhaft und einen fairen Prozess an. Die Alternative wird ein sehr langsamer, sehr schmerzhafter Tod, für den Ihr sogar eine Quittung kriegt", versuchte Cim sein Glück heil aus der Sache raus zu kommen.
Sed lachte irr. "Im langsamen und schmerzhaften Sterben wirst Du bald Experte sein. Derzeit hast du nur eine sehr rudimentäre Vorstellung, was das bedeuten kann. Nicht wahr, Carl? Carl!"
Ein Schlag war zu hören und ein Körper fiel zu Boden.
Der Wächter schielte um die Ecke. Sed lag bewusstlos da, Carl hatte das Tischbein in der Hand, das Cim nach ihm geworfen hatte.
"Das hast Du nun davon", weinte der Apotheker, "Wir wollten die Forschung vorantreiben, aber irgendwann ging es Dir nur noch um die Schmerzen, die Du verursachen konntest. Ich war für Dich nicht mehr als ein Skalpell!!"
Cim hatte keine Lust herauszufinden wie weit der Sinneswandel des Mannes wirklich ging. Mühsam schaffte er es aufzustehen, und nahm sich eines der großen Einmachgläser die auf den Regalen im Raum standen. Es enthielt Finger. Zerquetschte, abgeschnittene , verbrannte Finger . Er nahm sich ausführlich Zeit, zielte und warf. – gab den Gliedmassen von früheren Opfern die Chance sich zu rächen. Der Glasbehälter flog wie in Zeitlupe auf den brabbelnden Apotheker zu. Beinahe sah es schon so aus, als würde er ausweichen, aber da traf ihn das Gefäß mit voller Wucht, zersplitterte und bedeckte den Bewusstlosen mit kleinen fleischigen Fingern.
Er fesselte beide, und machte sich daran Witwenmacher zu befreien.
Wortlos nickte er ihm zu, und sagte endlich schwerfällig, "Geh jetzt besser. Ich werde Den Herrn Sadisten jetzt mal zeigen, was Schmerzen sind!"
Cim schleppte sich nach oben, fand sein Pferd nach einer Weile wieder, und ritt zurück zur Pension.
Es war eindeutig Zeit für ein paar Tage Urlaub.


Daemon




DIE STIEFMUTTER SITUATION




"Nein, Ted, jetzt hörst du mir zu", unterbrach ihn Daemon, "Ihr Jungs steckt in ganz schönen Schwierigkeiten", er spannte die Armbrust, "Es gibt eine Stelle im Buch Om vom Propheten Brutha, die ich fast auswendig kenne. Da steht:
"Der Pfad der Gerechten, die in Om sind und Om in ihnen, ist zu beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen Oms und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder.
Und da steht weiter: Ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, dass sie erfahren sollen: Ich sei Om der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe."
Er endete. Dann flogen die Bolzen.
Die beiden Jungen lagen tot im Raum, der junge Klatschianer kauerte zitternd in einer Ecke.
"Was soll denn der Mist?", fragte Daemon, der zur Seite gesprungen war, als Vinzento das Feuer eröffnet hatte.
"Du hast doch gesagt, wir sollen die Rache vollstrecken", rechtfertigte sich der Schütze.
"Das sollte ihnen doch nur Angst machen!", der Wächter sah noch immer bestürzt auf die Leichen, "Ich meinte doch nicht, dass wir sie gleich umlegen."
"Oh", sagte der Assassine.
"Und jetzt? Hast du etwa einen Auftrag für die beiden gehabt?"
"Och, keine Sorge", Vinzento holte einen Quittungsblock hervor, "Ich bin sicher, Lord Witwenmacher wird nachträglich einen rausgeben."
"Hmpf", der Wächter wollte noch einen bissigen Kommentar zu den Zuständen in der Gilde machen, als eine Tür aufgerissen wurde, die zu einem Abort führte. Herausgestürmt kam ein weiterer junger Mann, der eine gewaltige Armbrust in der Hand hatte.
"Verreckt, ihr Schweine!!", rief er, und zog den Abzug der Waffe durch. Jedenfalls versuchte er das, doch bevor er weit kam in seinem Angriff, traf ihn ein Wurfmesser Vinzentos.
"Du hast doch nichts dagegen?", fragte der ungerührt, als der Angreifer zu Boden ging. Der Wächter ging langsam in die Ecke zum Klatschianer.
"Marvin?", fragte er. Der Junge sah ängstlich nach oben. "Warum hast du nicht gesagt, dass noch Einer mit einer riesigen Armbrust im Klo ist?", er sah ihn scharf an, "Hast es vergessen, nicht wahr?"
"Er hat's vergessen, genau", sagte der Assassine und richtete seine Armbrust auf Marvin.
"Lass ihn", sagte Daemon, "Du hast hier schon genug angerichtet." Er öffnete die Tür. "Kommt, wir gehen."

"Eure Informanten sind wirklich das Letzte", grummelte Vinzento, als sie wieder auf dem Gespann saßen. Marvin, der Klatschianer, saß zitternd auf der kleinen Ablagefläche.
"Das Ganze war wohl mehr als unschön", erwiderte Daemon, "Reingehen, die Schachtel nehmen und wieder gehen, das wäre alles gewesen."
"Sie haben den großen Chef reingelegt."
"Ja", sagte der Wächter laut, "Und ich habe sie gefunden", er schnalzte mit der Zunge und die beiden Pferde gingen in einen Trab über, "Es war absolut unnötig, die drei zu töten."
"Marvin", der Assassine drehte sich um und richtete die Armbrust locker auf den Jungen, "Was denkst du? Hatte ich Recht damit, die drei Kerle zu erschießen?", der Klatschianer sah ihn verängstigt an, "Was hast Du gesagt?", fragte Vinzento.
"Ähm, ich... ich weiß nicht", sagte Marvin.
"Oh. Du weißt es nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum..." Das Gespann holperte durch ein Schlagloch im Pflaster der Straße, das Sirren einer Sehne war zu hören, dann fluchte Vinzento laut.
"Verdammt. Ich habe Marvin den Kopf weggeschossen", rief der Assassine.
"Du hast was?!", schrie der Offizier.
"Ich habe Marvin den Kopf weggeschossen."
"Warum verdammt noch mal hast Du Marvin den Kopf weggeschossen?"
"Es war keine Absicht, verdammt. Du bist durch ein verdammtes Schlagloch gefahren."
"Du kannst dem verdammten Informanten doch nicht den verdammten Kopf wegschießen, nur weil ich durch ein verdammtes Schlagloch fahre."
"Es war ein verdammtes Versehen."
"Verdammt", fluchte Daemon laut, "Verdammt verdammt verdammt."
"Wir können doch nicht mit einer verdammten Leiche ohne Kopf durch die verdammte Stadt fahren."
"Du hast verdammt Recht, wir müssen runter von der Straße."
"Fahren wir zur Gilde, dann sind wir den verdammten Kerl los."
"Die verdammte Gilde ist auf der anderen Seite der verdammten Stadt. Die ganze Sache ist etwas inoffiziell, nicht wahr?"
"Verdammt, ich kenne mich in dieser Stadt nicht mehr aus."
"Ich kenne Jemanden hier in der Nähe. Wir werden dort unterkommen."

Eli Beißmich lief wieder von einem Ende des großen Wohnzimmers zum anderen.
"Ihr könnt doch nicht einfach einen Wagen voller Blut hierher bringen. Wisst ihr, was meine Stiefmutter mit mir macht?"
"Beruhige Dich", sagte Daemon, "Wir müssen uns nur überlegen, wie wir den Wagen unauffällig durch die Stadt und dann loswerden." Eli seufzte.
"In einer halben Stunde kommt meine Mutter zurück, dann müsst ihr hier weg sein", Eli lief eine weitere Runde, "Sonst darf ich dieses Haus nie wieder verlassen, wie ich die kenne."
"Okay, okay", versuchte Daemon sie zu beruhigen, "Eine halbe Stunde. Kein Problem." Er wandte ich um und fluchte leise.
"Und jetzt?", zischte Vinzento leise.
"Keine Ahnung", flüsterte der Wächter zurück, "Ich werde eine Taube losschicken."

[Robin! Haben hier arge Probleme!! Brauchen Jemanden, der sich mit Leichen auskennt!!! So schnell wie möglich!!!! Schick ihn zu Eli Beißmich!!!!! - Daemon]

Robin Picardo lief mit der Nachricht in der Hand durch das Boucherie Rouge.
"Ecatherina!", rief er.
"Ist nicht da, Chef", antwortete Harry durch die geschlossene Bürotür.
"Na toll.", knurrte der Korporal, "Woher nehme ich jetzt Jemanden, der sich mit Leichen auskennt?"
"Atera war gerade hier. Ihr fiel im Pseudopolisplatz wohl die Decke auf den Kopf. Ich denke, sie kennt sich aus. Immerhin ist sie ein Zombie."
Der stellvertretende Abteilungsleiter rannte aus dem Gebäude.
"Atera!", schrie er die Straße hinunter.
"Ähm. Ich bin hier", antwortete der Stabsspieß und kam hinter ihm aus dem Haus, "Ich habe mich noch kurz unterhalten."
"Ja ja", sagte Robin und drückte ihr die Nachricht in die Hand, "Du weißt doch wo Eli Beißmich wohnt, nicht? Dann schnapp dir einen Wagen und fahr hin, die Zeit läuft."

Eli Beißmich war eine ehemalige Rekrutin. Sie kam aus einer der besseren Familien und hatte einen Hang zum Abenteuerlichen und Verbotenen. Leider teilte ihre Stiefmutter diese Bestrebungen gar nicht und wachte mit strengen Mitteln über ihr Kind.

Es waren fünfzehn Minuten vergangen, seit Daemon die Taube losgeschickt hatte, als es an der Tür läutete.
"Das wird doch nicht schon...", fuhr der Assassine auf.
"Ihre Stiefmutter würde wohl kaum läuten", brummte Daemon.
"Guten Morgen", sagte Atera ruhig, als sie in die Wohnung trat, "Ich hörte, ihr habt hier ein kleines Problem mit einer Leiche."
"Ja", knurrte der Wächter, "Der Kerl hier hat aus Versehen einen meiner Informanten erschossen."
"Es war ein Unfall, verdammt", rief Vinzento.
"Mhm", sagte Atera, "Und wo ist die Leiche?"
"Sie liegt auf einem offenen Karren hinten im Hof."
"Ahja", erwiderte der Stabsspieß nur, "Ich sehe es richtig, dass es keinen Auftrag der Assassinen für den Informanten gab und man deshalb nicht mit der Leiche angetroffen werden darf?"
"Das ist richtig."
"Soso. Und es ist weiterhin richtig, dass die Fahrt, bei der sich der Unfall zugetragen hat, inoffiziell war und Teile der Wache nicht darüber Bescheid wissen?"
"Ja, das weißt du doch."
"Also könnte es passieren, dass man Ärger mit der Wache bekommt, wenn die Leiche entdeckt wird?"
"Ja. Jetzt hilf uns doch endlich."
"Einen Moment noch." Atera ging zu Eli, "Die Hausherrin ist im Moment nicht anwesend, nicht wahr?"
"Meine Stiefmutter? Nein, sonst wären hier schon längst schon Dinge los."
"Im Anbetracht der Tatsache, dass hier alle sehr nervös sind, kann ich schließen, dass sie bald zurückkehren dürfte?", fragte die Wächterin.
"Ja, in nicht einmal fünfzehn Minuten."
"Na dann." Atera klappte ihr Notizbuch zu, "Lasst uns keine Zeit verlieren. Eli, du besorgst mir bitte einen Kaffee, ja? Die anderen beiden zeigen mir den Wagen."

Sie ging um den Karren herum.
"Das ist wirklich eine ganz schöne Sauerei. Danke, Eli", sagte Atera und nahm den Kaffee entgegen, "Wir werden nicht darum herum kommen, den Wagen sauber zu waschen." Sie sah ihre ehemalige Rekrutin an, "Dies hier ist ein sauberes Haus, sicher gibt es irgendwo Reinigungsmittel. Zeig sie den Beiden, damit sie die Ladefläche saubermachen können. Und dann sehen wir uns im Haus um, was wir weiter machen."

"Mal sehen, es ist ein offener Wagen. Die beiden können vorne sitzen, aber wir müssen irgendwie die Leiche verstecken. Die geschlossene Truhe auf der Ladefläche ist zu klein, also müssen wir die Leiche entweder verdecken oder hier lassen."
"Das tut ihr ganz bestimmt nicht!", entfuhr es Eli.
"Keine Sorge, ich habe das nicht vor. Es war nur eine Möglichkeit, die ich mit aufgezählt habe. Wir müssen also etwas zum Abdecken finden, das auf einem Karren nicht zu verdächtig ist."
"Mein Vater lässt heute Abend neuen Wein bringen. Vielleicht könnten wir eines der leeren Fässer benutzen, die unten im Keller stehen?"
"Das hört sich sehr gut an. Also gut, wir haben noch sieben Minuten."

Kurze Zeit später war Marvin in einem Fass auf der Ladefläche des gesäuberten Karrens untergebracht worden.
"Also gut, Teil Eins des Plans ist erledigt: Der Wagen ist sauber. Das bringt uns gleich zu Teil Zwei: Ihr Beiden seid dreckig." Der Assassine und der Wächter sahen einander an. Beide waren mit Blut und Dreck beschmiert.
Atera nickte.
"Stopft Eure Sachen mit in das Fass und wascht euch hinten am Brunnen. Beeilt euch. Danach zieht ihr diese Sachen an, die Eli uns freundlicherweise leiht. Es ist alte Kleidung ihres Vaters. Ihr werdet sie später gewaschen und gebügelt zurückbringen."

Eli grinste die beiden Männer an, die in zu weiten und zu kurzen, schwarzen Anzügen vor ihnen standen.
"Wisst ihr, wie ihr ausseht?", fragte Atera ebenfalls schmunzelnd.
"Wie Anwälte. Ihr seht aus wie bekloppte Anwälte", feixte die ehemalige Rekrutin.

"Also gut. Vinzento, Sie nehmen meinen Karren, der vor dem Haus steht, und fahren uns hinterher. Machen Sie keinen Mist damit, ich habe ihn mir nur geborgt. Daemon, kommt mit mir." Sie stiegen auf den Kutschbock, "Wenn wir aufgehalten werden, lassen Sie mich sprechen. Ich will nicht in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Also halten Sie ihre Finger still, Vinzento."

Die Wagen rumpelten von den Haufen Richtung Stadt. Einer von Ateras 'Bekannten' dort hatte eine der alten, verfallenen Grüfte ganz am Ende des großen Friedhofs geöffnet und sie hatten das Fass dort deponiert. Dort würde es nicht gefunden werden.
"Das ist doch ganz gut gelaufen", freute sich Vinzento.
"Sag das mal Marvin", brummte Daemon.
"So, ich bin dann mal wieder weg", rief Atera, "Willst du mitkommen, Daemon?"
"Noch nicht", rief der zurück und klopfte auf die Gepäcktruhe hinter sich, "Wir haben noch etwas abzuliefern."
"Alles klar. Bis später." Die Wächterin fuhr an ihnen vorbei.
"Huh, das Ganze hat mich aber hungrig gemacht", sagte der Assassine.
"Ja", sagte Daemon, "Fahren wir was essen."

***


Nachdenklich saß Daemon in dem Imbiss, das Päckchen, das sie von den jungen Leuten geholt hatten, neben ihm. Ihm gegenüber saß Vinzento Wegas und stopfte mehrere Würstchen in sich hinein. Eine junge Bedienung kam und brachte dem Wächter einen Kaffee. Schließlich sah der Assassine auf.
"Was ist los?", fragte er, "Ist doch alles gut gegangen. Kein Grund, sich weiter Gedanken zu machen."
"Heute ist etwas passiert, worüber wir aber nachdenken sollten", erwiderte der Hauptmann.
"Was denn?", der Assassine griff nach einem weiteren Würstchen. Daemon beugte sich vor.
"Ein Wunder", antwortete er leise.
"Ein Wunder?", der Assassine lachte auf, Wurststückchen flogen aus seinem Mund.
"Dieser Junge hatte eine riesige Armbrust. Er hätte uns einfach wegputzen können. Aber uns ist nichts passiert", erinnerte der Wächter.
"Ja, weil ich ihn zuerst erwischt habe." Wegas winkte ab. Der Wächter brummte.
"Eh", machte er, "Wahrscheinlich hast du Recht. Aber ich denke noch über andere Sachen nach." Der Assassine sah auf.
"Diese Sache heute morgen. Das hätte so nicht laufen dürfen. Es geht verdammt noch mal nicht um das Ende der Welt." Daemon klopfte kurz auf die Schachtel neben ihm. "Es ging nur um..."
"Um etwas, das meinem Boss sehr wichtig ist", unterbrach Vinzento, "Und diese Jungs haben es nicht geliefert, wie es abgemacht war." Der Hauptmann winkte ab.
"Jedenfalls waren deine Maßnahmen vollkommen übertrieben", er schüttelte den Kopf, "Ich sitze hier in einem verdammt blöden Anzug neben einer Kiste voller Schokolade und habe heute mehr Gehirn gesehen, als gut sein kann. Das war's für mich." Vinzento sah auf.
"Das war's für dich?", wiederholte er.
"Ja, ich liefere mit dir noch diese Kiste ab, damit dir auf dem Weg nichts passiert, wie plötzliche Schlaglöcher oder so was," Wegas verzog das Gesicht "Und dann sage ich Witwenmacher, dass er den Rest ohne die Hilfe der Wache besorgen muss." Der Wächter nahm einen Schluck Kaffee. Auf der anderen Seite des Imbiss', am Fenster, rief ein Mann nach der Kellnerin.
"Madel!"
"Und was willst du machen, wenn du aufhörst und nicht weiter hilfst?", fragte Wegas.
"Ich werde ins Boucherie Rouge gehen und dort eine Abteilung führen", sagte der Offizier. Der Assassine lachte wieder auf.
"Dann hast du dich entschlossen, ein Wächter zu werden."
"Ein Abteilungsleiter, wie Atera bei den SEALS."
"Es gibt einen Namen für Leute, die das Gesetz der Stadt schützen, die in Wachhäusern arbeiten und Marken haben. Man nennt sie Wächter." Vinzento grinste. Daemon nickte. "Ach, mach doch, was du willst", brummte Vinzento, "Alles wegen ein paar Leichen."
"Wenn es dir Angst macht, dass manchen das Leben eines Anderen etwas bedeutet, dann ist das dein Problem."
"Okay, hör auf damit", der Assassine nahm ein weiteres Würstchen.
"Nicht jeder ist zum Töten ausgebildet, weißt du?"
"Sei ruhig. Weißt du was? Du kannst hier sitzen und über den Sinn des Lebens grübeln." Der Assassine stand auf. "Ich bin auf dem Abort." Er verließ den Tisch und ging durch die Tür im hinteren Bereich des Imbiss. Daemon nahm einen weiteren Schluck Kaffee.
Da stand der Mann am Fenster plötzlich auf und schrie:
"Okay, alle ganz ruhig. Das hier ist ein Überfall." Die Frau ihm gegenüber stieg auf den Tisch und zog eine winzige Armbrust.
"Wenn sich auch nur einer bewegt, knall ich euch alle ab!", bellte sie. Daemon sah die beiden verwirrt an. Langsam griff er neben sich, wo der Rest seiner Ausrüstung lag, die nicht mit Marvin im Fass gelandet war. Er nahm die kleine Armbrust und schob sie langsam unter den Tisch, wo er sie vorsichtig spannte. Der Mann rannte durch den Imbiss.
"Okay, ihr bleibt alle sitzen. Ich komme rum und ihr werft euer Geld in diesen Sack." Er zeigte ihnen einen alten Wäschesack, "Alles klar, Honigmäulchen?", fragte er die Frau.
"Ich hab alle im Blick, Kürbiskernchen", rief sie zurück und fuchtelte wild mit ihrer Armbrust herum. Der Räuber ging von Tisch zu Tisch und ließ sich mit gezogener Armbrust das Geld der Gäste geben. Daemon erwartete ihn mit seinem Geldbeutel in der Hand, die Armbrust unter dem Tisch feuerbereit.
"In den Beutel", sagte der Mann langsam. Daemon ließ das Geld in den Beutel fallen. Der Räuber deutete mit der Armbrust auf die Schachtel neben dem unerkannten Wächter.
"Was ist das?", fragte er.
"Meine dreckige Unterwäsche", antwortete der Llamedonianer ruhig. Kürbiskernchen verengte die Augen.
"Mach sie auf!", forderte er. Die Hand des Hauptmanns blieb flach auf der Schachtel liegen.
"Ich fürchte, das kann ich nicht." Der Mann riss die Augen auf. Er richtete die Armbrust auf das Gesicht des Sitzenden.
"Wie bitte? Ich glaube, ich habe dich nicht verstanden."
"Doch, ich denke, das hast du." Daemon sah ihm über die Bolzenspitze direkt in die Augen.
"Was ist da los?", rief Honigmäulchen.
"Ich glaube, wir haben einen Helden hier", knurrte der Mann.
"Schieß ihm ins Gesicht!", rief die Frau fröhlich. Kürbiskernchen grinste, doch Unsicherheit lag in seinen Zügen.
"Ich zähle bis drei. Bis dahin öffnest du die Schachtel. Eins.", er richtete die Armbrust direkt zwischen Daemons Augen. Der Hauptmann senkte langsam die Lider.
In der Dunkelheit dahinter dachte er. Er konnte den Mann erschießen. Er hatte die gespannte Armbrust da. Der Räuber wusste nichts davon.
"Zwei."
Außerdem war der Mann unsicher. Vielleicht würde er gar nicht schießen. Aber wenn er jetzt Unsicherheit zeigte, würde er vielleicht nicht mehr aus dem Mist rauskommen. Wenn er mit heiler Haut hier herauskommen wollte, musste er abdrücken. Er könnte den Mann erschießen.
"Dr..."
"Okay.", Daemon hob die Hand von der Schachtel, "Du hast gewonnen."
"Mach sie auf", knurrte Kürbiskernchen leise. Der Wächter öffnete langsam die Schachtel. Die Kinnlade des Mannes fiel herunter, als er den Inhalt sah.
"Was ist es?", rief Honigmäulchen, "Was ist da drin?", sie kam näher.
"Das sind ja...", hauchte der Räuber. Daemon nickte.
"So ist es."
"Sie sind wunderschön."
"Verdammt noch mal.", die Frau grinste und die Armbrust in ihrer Hand zitterte, "Was ist in der Schachtel?" Der Wächter schob den Karton langsam näher zu dem Mann. Der streckte die Hand aus, wie hypnotisiert von dem Inhalt. Schnell griff der Offizier nach dem Handgelenk des Räubers, verdrehte es, so dass die kleine Armbrust zu Boden fiel und drückte seine eigene Waffe in das Gesicht des Mannes. Die Frau flippte aus, richtete ihre winzige Armbrust auf Daemon.
"Lass ihn gehen! Lass ihn gehen! Oder ich schieß dir deinen verdammten Kopf weg!", schrie sie in wilder Panik.
"Sag ihr, sie soll sich beruhigen", sagte Daemon leise zu dem Mann.
"Beruhige dich, Honigmäulchen", rief der Mann zitternd in Daemons Griff.
"Lass ihn gehen!", brüllte die Frau.
"Sag ihr, dass alles gut wird", sagte Daemon.
"Alles wird gut, Honigmäulchen", rief der Mann.
"Setz dich langsam hin", sagte Daemon. Kürbiskernchen glitt vorsichtig auf den Platz gegenüber dem Wächter.
"Du wirst einsehen", begann der Offizier, seine Waffe auf das Gesicht des Mannes gerichtet, "dass ich dir die Schachtel nicht geben kann. Sie gehört mir nicht und ich habe zuviel mitgemacht, als dass ich sie jetzt euch Beiden geben könnte." Der Mann nickte vorsichtig, die Frau kreischte.
"Ich erschieße dich. Wenn du ihm etwas tust, erschieße ich dich!"
"Sag ihr, dass nichts passieren wird. Wie heißt sie?", fragte Daemon.
"Yill", antwortete der Mann schluckend.
"Yill!", rief Daemon, die Augen fest auf den Mann gerichtet, "Alles wird gut. Wir reden nur, alles klar? Es wird Niemanden etwas passieren." Die Frau zitterte und suchte nach Worten.
"Du wirst ihm nichts tun?", fragte sie keuchend.
"Niemandem wird irgendwem etwas tun, Yill", sagte der Wächter. Er hörte etwas. "Vinzento! Bleib ruhig. Es ist alles in Ordnung!" Der Assassine stand in der Nähe der Aborttür, seine Armbrust auf Yill gerichtet. Die wirbelte herum.
"Nein, Yill. Es passiert nichts! Ziel auf mich, Yill, ziele – auf – mich." Daemon brummte. "Vinzento, es ist alles in Ordnung, wir reden nur", er sah den Mann ihm gegenüber an, "Du kannst mein Geld behalten. Nimm es, es ist nicht viel, aber du kannst es haben."
"Gib diesen Unlizenzierten Geld und ich muss sie schon aus Prinzip erschießen", knurrte Vinzento. Die Frau schrie und richtete die Waffe wieder auf den Assassinen.
"Nein!", rief Daemon, "Nein. Vinzento. Ich gebe ihnen das Geld nicht. Ich kaufe etwas", er richtete die Armbrust auf das Herz des Mannes, "Willst du wissen, was ich kaufe?" Der Räuber nickte. "Ich kaufe dein Leben. Du nimmst das Geld und gehst und kommst mir nie wieder unter die Augen. Nie wieder. Kennst du das Buch Om?"
"Nicht genau", krächzte der Mann.
"Es gibt eine Stelle im Buch Om, die ich fast auswendig kann: Der Pfad der Gerechten, die in Om sind und Om in ihnen, ist zu beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen Oms und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder.
Und da steht weiter: Ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, dass sie erfahren sollen: Ich sei Om, der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe.
Ich habe das für einen verdammt coolen Spruch gehalten, um ein paar Jungs Angst zu machen, aber dann ging alles schief. Diese Jungs sind tot, weißt du? Und ich gebe dir das Geld, damit du nicht stirbst, verstehst du?" Der Mann antwortete nicht. "Aber ich kann dir diese Schachtel nicht geben, das verstehst du?" Der Mann nickte. Daemon nickte zurück und legte die Armbrust auf den Tisch.
"Vinzento. Ich denke, es wird Zeit, dass wir gehen."
Der Assassine warf etwas Geld auf den Tisch und Daemon nahm seine Sachen und die Schachtel.

Und dann – zur Verwunderung der Räuber, der Bedienung und der Gäste – verließen diese beiden Typen, in viel zu kurzen, viel zu weiten Anzügen, schwer bewaffnet und vollkommen wortlos, den Imbiss.


ENDE

[1] Nun muss man wissen, dass der Kasten schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Rince Schwiegermutter hatte sie ihnen geschenkt, und er hatte keine Ahnung wo er das hässliche Ding aufstellen sollte. Wegwerfen war natürlich unmöglich, war es doch ein Präsent von der Mutter seiner geliebten Frau gewesen. Gott sei Dank hing das Wohl der zivilisierten Welt davon ab, dass er den Kasten im Büro aufstellen konnte, und hatte somit eine gerade noch gültige Ausrede ihn nicht jeden Tag vor dem Schlafen gehen zu sehen.

[2] Obwohl man das bei Wächtern ja nie so genau sagen kann.

[3] Es war eine übliche "Wir dürfen es nicht vergessen" Situation, in der Singular und Plural je nach Bedarf ausgetauscht werden können. Wir dürfen etwas nicht vergessen, aber DU hast es getan. Angeblich wurde diese Form der Kommunikation von einer Frau erfunden.




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