Schnapper ist schuld

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von Obergefreiter Tunnelblick (RUM)
Online seit 17. 09. 2001
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Schnapper kommt in Hptm. Lewtons Büro gestürmt (wer hat ihn da bloss reingelassen) und spricht von einem Ruf-Mord, der unlizensierterweise an ihm begangen wurde.

Dafür vergebene Note: 14

Krachend flog Lewtons Tür auf.
"Ich will sofort..."
Abrupt unterbrach sich der Eindringling, schluckte seeehr vorsichtig und schielte hinab auf die Schwertspitze wenige Millimeter vor seiner Kehle und die Axt circa einen Meter tiefer. Hilfe heischend blickte er zum Schreibtisch vor ihm, wo Lewtons Armbrust noch einige Sekunden auf sein rechtes Auge zielte, bevor der Hauptmann die Waffe senkte.
"Schnapper, mit lautem Getöse in die Frühstückspause zu platzen, ist so ziemlich das dümmste, was man in der Wache machen kann. Wir Wächter sind manchmal ziemlich nervös. Was willst du?"
"Ggggg..."
"Los, Jungs, runter mit den Waffen."
Sichtlich erleichtert wischte sich Schnapper den kalten Schweiß von der Stirn, der sich binnen Sekunden gebildet hatte. Sein großer Auftritt war geplatzt.
"Man hat -" Noch einmal musste der fliegende Händler schlucken. "Man hat einen Rufmord an mir begangen."
VidG Schmiedehammer legte die Stirn in Falten. Das Konzept des Ruf-Mordes war dem stellvertretenden Abteilungsleiter fremd. Zwerge verstehen sich nicht auf Metaphern. Naturgemäß dachte er an lautes Kampfgebrüll und Äxte, die hin- und her sausten, bis der Hals des Gegners auf Kniehöhe angelangt war. Er lebte aber schon lang genug genug in der Stadt, um zu wissen, dass Menschen sich einfach nicht klar ausdrücken konnten, und fragte lieber nach.
"Was genau soll ein Ruf-Mord sein?"
Hauptgefreiter Granit half weiter. "Das sein, wenn böses Mensch oder andere Spezies sich auf andere Straßenseite stellt und ruft 'Stirb! Stirb! Stirb!'"
"Und was ist daran schlimm?"
"Oh, sein sehr gefährlich. Vor sechs Wochen ich gesehen, drei Kinder, die dicken Mann rufen 'Stirb! Stirb! Stirb!'. Er laufen los, um ihnen Hintern zu versohlen, und wird von Karren überfahren. Außerdem gerufen werden 'Stirb! Stirb! Stirb!' ist sehr schlecht für Ego."
Lewton verfolgte die Debatte mit einigem Amüsement, wollte jedoch lieber seine Frühstückspause fortsetzen. Und zwar ohne Schnapper. "Nun, offensichtlich hat unser Gast keine Radabdrücke im Brustkorb, und seine Knie sind auch noch dran, Schmiede. Ja, ich hab gesehen, wo du hinguckst. Also los, Schnapper, was ist mit deinem Ego?"
Der Händler nahm das Stichwort auf und jammerte los. "Irgendjemand versucht, meinen guten Ruf zu zerstören."
Lewton dachte nach. "Wenn du einen Ruf hast, dann den, dass deine Würstchen zurückbeißen. Ich sehe nicht, wie man das noch merklich verschlechtern könnte. Was ist denn nun genau passiert?"
"Seit Wochen schmiert jemand groß 'Schnapper ist schuld' auf alle Wände in der Stadt. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber die Leute glauben ihm. Es fing damit an, dass mir auf einmal absolute Qualitätsprodukte zurückgebracht wurde, die angeblich defekt waren. Es kann sich natürlich nur um Bedienungsfehler gehandelt haben, aber die Leute behaupten, ich hätte minderwertige Ware verkauft. Dann wurde es immer schlimmer - ich bin wirklich an ALLEM schuld. Heute morgen hat mich ein betrogener Ehemann durch die
halbe Stadt gejagt, weil ich angeblich am Seitensprung seiner Frau schuld bin."
Neugieriges Schweigen senkte sich in den Raum.
"NEIN! BIN ICH NICHT! HABE ICH NICHT! ICH KENNE DIE DAME NICHT MAL! Seht ihr, ihr fangt auch schon an. Wenn das so weitergeht, werde ich die Stadt verlassen müssen."
Lewton schüttelte den Kopf. "Bedaure, Schnapper. Das ist nur ein dummer Kinderstreich. Ich sehe nicht, was wir für Dich tun können."
Mit diesen Worten erhob sich der Hauptmann, da hinter ihm das Rohrpostsystem rasselte. Er entnahm die Botschaft.
Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin-Schnapper kann ohne weiteres zu den Kulturgütern unseres Stadt gerechnet werden. Seine Unternehmungen sind, wenn auch nicht immer von Erfolg gekrönt, ein tragende Säule unseres ökonomischen Systems. Ein Niedergang seines Geschäfts erscheint mir daher nicht wünschenswert. Solltest du anderer Ansicht sein, trage deine Gründe bitte in meinem Büro vor.
gez. Vetinari

Eine erneute Prüfung aller vorliegenden Fakten brachte Lewton sehr schnell zu dem Ergebnis, dass er Schnappers Bitte um Hilfe vielleicht voreilig abgelehnt hatte.
"Gut, ich gebe zu, dass Du da wirklich ein Problem hast. In dieser Stadt geht soviel schief, dass man immer einen Sündenbock braucht, und die Bürger sind leichtgläubig genug, um auf solche Schmierereien reinzufallen." Nichtsdestoweniger gibt es Leute, die meinten, Ankh-Morpork hätte Niveau. Nicht zu glauben. Das Großhirn war jedenfalls anderswo erfunden worden. "Hast Du irgendeine Idee, wer dir schaden wollen könnte?"
"Nicht die geringste! ich bin doch nur ein harmloser Händler, der niemandem etwas böses will. Mit meinen Preisen treibe ich mich selbst in den Ruin! Praktisch mein gesamtes Einkommen stelle ich den Witwen und Waisen zur Verfügung! Ich gehe..."
Lewton winkte ab. "Schmiede? Granit?"
"Nun, da wären die Käufer von Schnappers Mitropa-Kaffeedämonen (geprüfte Sicherheit)..."
"...die Nutzer von Schnappers Taschenfeuerdrachen (garantiert ungefährlich)..."
"...die Leute, die damals den Geldbeutel gekauft hatten, der jede Nacht zu dir zurücklief..."
"...die Besucher der Bewegten Bilder..."
"...deine unbezahlten Lieferanten..."
"...und natürlich jeder, der schonmal eins von deinen Würstchen gegessen hat."
"Gut. Unser Verdächtigenkreis beschränkt sich also auf die gesamte Bevölkerung von Ankh-Morpork. Zum Glück haben wir einen Spezialisten, der uns in solchen Fällen weiterhilft. Granit, bring Schnapper bitte zu unserem Püschologen."
Schnapper schluckte. "Püschologe? Das ist doch nicht etwa..."
Die drei Wächter lächelten. "Dochdoch. Tunnelblick."

***


Nachdenklich kratzte Tunnelblick seinen wuchernden Dreistundenbart. Noch vor wenigen Wochen hatte sich die Mehrzahl seiner Persönlichkeiten Bartwuchs gewünscht. Nach dem Werwolfsbiss jedoch waren sie sich einig, dass drei Rasuren am Tag deutlich zuviel des Guten waren. Missgelaunt starrte er auf die linke Schulter des Eindringlings.
"Wann hast du die Schmierereien zum ersten Mal bemerkt?"
"Vor etwa drei Wochen."
Zum vierten Mal vergewisserte sich Schnapper mit einem schnellen Blick über die Schulter, dass die Tür nur angelehnt war. Seit er einmal einen Teil von Tunnelblicks Lebensgeschichte hatte anhören müssen, versuchte er dem kleinen Wächter möglichst weiträumig auszuweichen. Er hielt den RUM-Püschologen für eine tickende Zeitbombe. Aber wenigstens war er hier nicht mit vorgehaltener Armbrust empfangen worden.
"Und wann hast du die Schmierereien zum ersten Mal bemerkt?"
"Äh - das hast du gerade schon einmal gefragt."
"Haben wir nicht!"
Wenn der Junge nur mal häufiger "ich" statt "wir" sagen würde!
"Also gut. Meinetwegen. Vor drei Wochen etwa."
"Ha! Ich wusste, dass du das sagen würdest."
"Hey! Wenn du nicht sofort aufhörst, dich über mich lustig zu machen, melde ich dich bei Hauptmann Lewton!"
Sicher hätte Schnapper einen anderen Ton angeschlagen, wenn er gewusst hätte, wie sehr er sich in Bezug auf die Armbrust irrte. Tunnelblick hielt seine Waffe lediglich unter dem Tisch auf den Gast gerichtet. Und anders als Hauptmann Lewton sicherte er sie auch dann nicht, wenn sich der Besuch als vermeintlich harmlos entpuppte. So lächelte er das Lächeln eines Mannes, der etwas mehr weiß als sein Gegenüber.
"Und womit hast du vor drei Wochen gehandelt?"
"Würstchen! Was denn sonst?"
"Mmh - explosive Kaffeedämonen, selbstentzündende Taschenfeuerdrachen, Geldbeutel mit Wanderlust..."
"Schon gut, schon gut. Nein, ich habe nur mit Würstchen gehandelt. Würstchen, sonst gar nichts. Die Geschäfte liefen so gut, dass ich mir keine - äh - Nebentätigkeit suchen musste. Himmel, ich musste sogar Expansionsvorschläge ablehnen, weil ich mit der Arbeit sonst nicht mehr hinterhergekommen wäre!"
"Also nur Würstchen, wie seit eh und je. Und keiner deiner Kunden war ungehaltener als gewöhnlich?"
"Nein, sonst stände ich wohl nicht mehr vor dir!"
"Guter Punkt. Eine harte Nuss!"
Tunnelblick glaubte, dass Detektive solche Sätze sagen. Aus Erzählungen seiner Kollegen und einer ganzen Reihe schlechter Romane wusste er außerdem, dass der Held jetzt in einem inneren Monolog die bereits erhaltenen Informationen auszuwerten hatte. Nur dass bei ihm meistens ein innerer Dialog daraus wurde. In diesem Augenblick begann sogar eine innere Konferenzschaltung.
Na, Tunnel, alter Trottel, hast du's noch nicht kapiert?
"Was kapiert?"
Schnapper hat dir doch praktisch auf die Nase gebunden, wer es war!
Das hab ich aber auch nicht mitbekommen...
Ja, du pennst ja auch immer. Deshalb machst du ja auch die Schreibtischarbeit.
Das finde ich übrigens ganz unfair. Ich will auch einmal...

"Ruhe! Was soll das heißen, er hat es mir auf die Nase gebunden?"
"Mit wem..."
"Shh!"
Na, wenn du als Wächter ein bisschen was drauf hättest, wärst du schon unterwegs, um den Täter zu verhaften!
Oh, das ist aber gemein von dir. Wenn du weißt, wer es war, dann sag es ihm doch!
Nö. Bin ich der Wächter oder er?
Ihr beide. Äh, wir alle.
Ich auch?
Ja! Also, wollen wir abstimmen, ob unser vorlauter Freund hier uns sein Wissen mitteilt?
Ich sag's nicht, ich sag's nicht...
In Wirklichkeit hast du ja gar keine Ahnung!
Wohl!

"RUHE!"
Schnapper zuckte zusammen, als der Schrei die Stille durchschnitt.
"ALSO, WER WAR ES?"
"Ich habe keine Ahnung, sonst wäre..."
"SCHNAUZE, SCHNAPPER! MIT DIR REDE ICH NICHT!"
Spätestens jetzt Schnapper sich sicher, dass es ein schwerer Fehler gewesen war, zur Wache zu kommen. Zumindest für einen Moment teilte er somit das Lebensgefühl der meisten Wächter. Entsetzt betrachtete er, wie Tunnelblick beide Handballen an seine Schläfen presste.
Jetzt sag schon, wer war es?
Also gut. Ganz genau weiß ich es auch noch nicht, aber...
Hab ich's doch gewusst! Angeber, Angeber!
So, das reicht. Jetzt sag ich gar nichts mehr. Soll er es doch selbst herausfinden.

Krachend brach der Bleistift in Tunnelblicks linker Hand. Er wusste, dass er etwas übersehen hatte, und er hasste dieses Gefühl. Fast übergangslos schaltete der Wächter auf sein freundlichstes Lächeln, soweit es der verbissene Kiefer zuließ.
"Und du hast keine Ahnung, wer dafür verantwortlich ist?"
"Äh - redest du jetzt mit mir?"
"JA VERDAMMT WER WAR ES!!!"
"Weiß ich doch nicht!" Selten raste der Sermon so schnell wie heute über die Lippen. "Ich bin doch nur ein harmloser Händler, der niemandem etwas Böses will. Mit meinen Preisen treibe ich mich selbst in den Ruin! Praktisch mein gesamtes Einkommen stelle ich den Witwen und Waisen zur Verfügung! Ich gehe jedes unternehmerische Risiko ein, um meinen Kunden..."
Die Weise, wie der Wächter ihn fixierte, machte Schnapper noch nervöser. Im Moment sah Tunnelblick mehr wie ein Scharfschütze aus als wie ein Püschologe. Vorsichtshalber brach der Händler sein Lamento ab und wartete, bis der Wächter sprach. Dieser schloss die Augen und genoss ein paar Sekunden der Stille. Dann ergriff eine seiner aktiveren Persönlichkeiten das Ruder.
"Wir schauen uns jetzt erstmal die Aufschrift an."
"Wie - ich soll mitkommen?"
Tunnelblick beriet sich kurz.
"Eigentlich wollten wir alleine gehen, aber unseretwegen komm mit."

Eigentlich hätten sie nicht weit laufen müssen - anders als Schnapper hatte Tunnelblick bemerkt, dass inzwischen auch das Wachhaus ein etwa anderthalb Meter hoher "Schnapper ist schuld"-Slogan zierte. Er wollte sich jedoch nicht um das Vergnügen bringen, mitzuverfolgen, wie zwanzig erzürnte Bürger mit Mistgabeln den Händler durch die Straßen jagten. Fasziniert bemerkte der Wächter, dass anscheinend jeder ehrbare Bürger der Stadt eine Mistgabel besaß. Sie hätten die Straßen also eigentlich sauber halten können. Aber das gehörte zum ganz besonderen Charme von Ankh-Morpork: die Bevölkerung war so effektiv darin, jeden Gegenstand zur Waffe umzufunktionieren, dass sein ursprünglicher Zweck bald in Vergessenheit geriet.
In der Nähe vom Patrizierpalast hatte Schnapper seine Verfolger abgehängt. Ohne Eile gesellte sich Tunnelblick zu ihm und betrachte die Schrift auf der Palastmauer.SCHNAPPER IST SCHULD!
"Blockbuchstaben. Keine Schreibfehler. Knallrote Farbe auf weißen Grund, so dass es jeder sieht. Das hätte jeder machen können, wenn er nur ordentlich schreiben kann."
"Ja. Es steht auch am Opernhaus, am Kunstturm, der Unsichtbaren Universität und am Hier-Gibts-Alles-Platz."
"Und am Wachhaus."
Auch Schnapper war in Ankh-Morpork aufgewachsen - in diesem Moment konnte er sogar seinen Blick zur gefährlichen Waffe umfunktionieren. Von Tunnelblick allerdings prallte er wirkungslos ab. Pfeifend schlenderte der Wächter von dannen und lockerte seinen Brustharnisch.
"Hey, wo willst du hin?"
"Ich schaue mir kurz das Opfer an, und dann spreche ich mit dem Täter."
"Was zum... Wieso kennst du den... Wer... und ICH bin hier das Opfer, verdammt! Hey! Bleib hier!"
Ein kehliges Knurren brachte den Händler zum Schweigen. Nur sehr dumme Menschen widersprechen noch bei solchen Geräuschen. Tunnelblick seinerseits ging weiter, ohne noch einmal den Blick zu wenden. Auf seinen Handrücken sprossen bereits schwarze Haare. Vielleicht konnte seine ungeliebte Gabe heute einmal nützlich sein.

Als fliegender Händler war Schnapper natürlich zu allererst auf sein Charisma angewiesen. Ohne einen guten Ruf und natürlichen Charme war in dem Geschäft nichts zu holen. Und dies musste man neidlos zugeben: Schnappers Ausstrahlung war überwältigend, sonst hätte wohl kein Bürger jemals ein zweites Würstchen bei ihm gekauft. Manchmal allerdings - meist hatten neue, scheinbar unentbehrliche Produkte damit zu tun - beanspruchte er seine Gaben in einem solchen Maße, dass sie sich danach eine Auszeit verdient hatten.
Im Moment saß Schnappers Guter Ruf in der Bahre und trank Bier mit dem Geruch vom Stinkenden Alten Ron. Und er sah überhaupt nicht gut aus.
Ich fühle mich seit Wochen miserabel, teilte Schnappers Ruf dem Geruch mit. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist.
Vielleicht bist du einfach abgearbeitet, antwortete der Geruch. Manchmal gibt es so etwas. Neulich ist Ron in einen einstündigen Platzregen gekommen, der sogar den Ankh hätte sauberwaschen können. Ich brauchte Wochen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Schnapper verlässt sich viel zu sehr auf mich, auch wenn bis vor drei Wochen alles wunderbar lief. Er hätte das Angebot von dem Knirps annehmen sollen, dann wäre alles besser geworden.
Welches Angebot?, fragte der Geruch und überlegte, wie er wohl an Rufs Bier kommen könnte. Im Gegensatz zu Ron bevorzugte er Getränke, in denen sich trockener Lack nicht löste.
Ich dir doch neulich von dem Jungen aus dem Gildenhaus erzählt, der meinte, mit seinen bunten Worten würde Schnapper dreimal so viel verkaufen. Ganz ohne mich strapazieren zu müssen. Schnapper hat ihn ausgelacht und meinte, mehr könne er gar nicht verkaufen. Sein Ruf sei seine Garantie. Seitdem ging es täglich bergab.
Jetzt wanderte Geruchs Interesse doch vom Bier zum Gespräch. Ein junger Mann, der "bunte Worte" verkaufen wollte, war ein guter Anwärter für die Bettlerklicke. Außerdem fiel vielleicht ein Eimer Terpentin für Ron ab.
Oh ja, bunt ist gut! Ron hat neulich rote Farbe bei der Gilde geklaut - riecht und schmeckt viel besser als schwarze oder Terpentin. Wie sah der Junge denn aus?
Zwei spitze Ohren unter dem Tisch stellten sich auf.
Woher soll ich das wissen? Ich habe schließlich keine Augen!
Rons Geruch überlegte, was Ruf mit dem Bier eigentlich machte - schließlich hatte er auch keine Hände, keinen Mund und keinen Magen. Dann sah er Rufs nicht vorhandenes Gesicht plötzlich erbleichen.
Oh je, da ist wieder etwas passiert! Ich... ich glaube... ich fühle mich so elend...
Mit einem unhörbaren Krachen rutschte Schnappers Ruf von seinem Hocker und lag nun vollends darnieder. Rons Geruch brachte ein olfaktorisches Schulterzucken zustande und trank beide Gläser leer. Ging also. Man durfte nur nicht darüber nachdenken. Rülpsend wehte er seiner Wege.
Für die unsensiblen Instinkte eines Menschen war dieses Gespräch natürlich nicht zu wahrzunehmen gewesen. Wohl aber für den hochaufmerksamen Werwolf, der sich unter den Tisch geschlichen hatte und sich nun gewaltig ärgerte, dass er Schnappers Gefasel von Expansion überhört hatte. Tunnelblick hatte genug gehört. Jetzt war Eile geboten.

Schnell schlüpfte der Obergefreite in die Uniform, die er vor der Bahre zurückgelassen hatte. Eigenartigerweise war nichts gestohlen worden. Vielleicht hatte sich herumgesprochen, dass frei herumliegende Wächteruniformen den Wachwölfen gehören konnten, und die fanden ihr Eigentum IMMER wieder. Wer wusste, was gesund ist, war dann irgendwo anders.
Während sich seine Sinne wieder auf menschliche Wahrnehmung einpendelten, fragte er sich, was Schnappers Ruf nun den letzten Schlag versetzt hatte. Dann sah er die Szene. Schon unzählige Male hatte er dies in seinen Romanen gelesen: der unschuldig Verdächtigte bringt sich vor dem fackelbewehrten Lynchmob in Sicherheit. Er hatte nie verstanden, warum die Verdächtigen immer auf Türme ohne Fluchtmöglichkeit oder in dunkle Keller flohen. Keller waren in Ankh-Morpork selten, also hatte sich Schnapper einen Turm ausgesucht. Ein spektakulärer Effekt war es schon, wie er versuchte, an der Außenwand nach oben zu klettern. Es wäre vermutlich sogar noch ein gutes Stück eleganter und wesentlich schneller gewesen, wenn er sich dabei von seinem Bauchladen getrennt hätte. Die Meute stand dem Händler an Effizienz jedoch in nichts nach: offensichtlich versuchten sie schon einige Minuten lang, das steinerne Fundament zu entzünden. Eine Weile mochte das Spiel wohl noch dauern, aber dann würde Schnapper dem Mob in die Hände fallen. TIEF fallen. Der Wächter rannte los.

Gemeinhin sitzt der irre Verbrecher in einem geheimen Kellerraum hinter der Bibliothek und ruft Dinge wie "Narren! Ich werde sie vernichten!". Aber wie erwähnt, Keller waren selten in der auf Lehm gebauten Stadt, und so wich das Verbrechen manchmal von der Konvention ab. Mit vorgehaltener Armbrust trat Tunnelblick die Tür zum einem weiten, lichten Atelier ein.
"Umdrehen! Pinsel fallen lassen! Hände hinter den Kopf!"
Ein junger Mann wirbelte herum. Rote Farbe tropfte von seinem Pinsel, auf einem weißen Plakat hinter ihm prangte in fetten Lettern die Schrift "Schnappe", gefolgt einem großen roten Fleck, wo der Pinsel bei dem plötzlichen Lärm abgerutscht war.
"Wer bist du? Wie hast du mich gefunden?"
"Ruhe! Ich stelle hier die Fragen!"
Selten hatte einer seiner Romansätze so gut gepasst. Tunnelblick war stolz auf sich. Jetzt musste ihm bloß noch eine Frage einfallen.
"Warum?"
"Ich wollte ihn zur Größe führen! Kein anderes Würstchen wäre jemals so groß herausgekommen! Aber der Narr wollte ohne Werbung verkaufen! Er war verblendet! Er..."
"Was ist denn bitte WERBUNG?"
"Magische Worte, die sagen: Kauf Mich! Worte können alles bewirken! ALLES! Neulich sah ich drei Kinder, die riefen 'Stirb! Stirb! Stirb!', und sofort warf sich ein Mann vor die Kutsche! Da habe ich es begriffen. Die Leute tun alles, wenn man es ihnen nur laut genug sagt! Hast du eine AHNUNG, wieviel Geld man damit machen kann?"
"Keins, offensichtlich. Schnapper verkauft ohne dich, und du verdienst keinen Heller. Gib auf!"
"Er ist ein Narr! Ich werde ihn vernichten!"
So ganz löste sich das Verbrechen halt doch nicht von den Konventionen. Dieses Klischee war Tunnelblick nun aber etwas zu abgegriffen. Er drückte ab. Der Werber wurde zurückgeschleudert. Ein weiterer roter Fleck gesellte sich dem ersten auf der Leinwand hinzu. Schmerz löste die Überraschung in den Augen ab, dann funkelte der Irrsinn.
"Andere werden nach mir kommen", röchelte der Sterbende. "Ihr könnt uns nicht aufhalten. Der Werbung gehört die Zukunft..." Ein Blutstropfen aus seinem Mundwinkel zeichnete eine rote Linie auf seiner weißen Haut. Sie sah aus wie eine Treppe nach unten.
Der Wächter überlegte einen Sekundenbruchteil, dann nahm er den Pinsel und das Plakat. Er musste nur schnell genug wieder beim Turm sein.

***


"Tunnelblick, das ist kein Bericht."
"Wieso, Sir? Er enthält die wichtigsten Begebenheiten aus der Verfolgung der Straftat."
"'Täter ermittelt und gestellt. Tod bei Verhaftung.'? Geht das ein bisschen genauer?"
"Ja, Sir."
Einige Sekunden herrschte Schweigen, dann gab Lewton auf.
"Also gut. WER ist der Täter und WIE hast du ihn ermittelt."
"Wie Sie sehen, Sir," Tunnelblick fummelte eine Ikonographie des Schriftzugs aus der Tasche, "ist die Aufschrift fehlerfrei."
"Ja und?"
"Nun, das ist ungewöhnlich. Meiner Ansicht nach gibt es in dieser Stadt keine hundert Leute, die drei Wörter in Folge fehlerfrei schreiben können."
Lewtons Augenbrauen zogen sich finster zusammen. Er hätte "Schnapper" mit einem p geschrieben.
"Also jemand mit höherer Ausbildung. Ein Adliger?"
Nun runzelte Tunnelblick die Stirn. "Eher nicht, Sir. Adlige lernen mit lautem Getöse auf Feinde oder notfalls Windmühlen zuzureiten. Auf literarische Ausbildung wird weniger Wert gelegt. Lord de Worde zum Beispiel malt seine Unterschrift von seinem Wappen ab."
"Dann muss es also ein Schreiber gewesen sein! Und du musstest nur noch feststellen, welcher Adlige seinen Schreibern den Auftrag gegeben hat..."
Tunnelblick hatte gar nicht gewusst, dass der Hauptmann so ein Klassenkämpfer war. Um so mehr bedauerte er es, ihm den Schwung nehmen zu müssen. "Kaum, Sir. In den altehrwürdigen Familien der Stadt hat sich die Erkenntnis, dass das Wort mächtiger ist als das Schwert, noch nicht durchgesetzt."
Lewton sagte zunächst einmal nichts. Hätte man allerdings seinen Gesichtsausdruck in Worte fassen wollen, hätte die Übersetzung wohl gelautet: "Ich habe nicht die geringste Ahnung, was du mir damit sagen wolltest, und jetzt erspare mir bitte die Peinlichkeit, nachzufragen, sonst könntest du im nächsten Monat ein echtes Problem mit Sonderdiensten und Nachtschichten haben."
"Ich meine, wenn eine angesehene Persönlichkeit unseres Gemeinwesens Schwierigkeiten mit jemandem hat, so wendet er sich eher an die Assassinen als die Schreiber."
Ungeduldig atmete Lewton durch. "Also, wer war es denn nun?"
"Ein verrückter junger Graveur, Sir. Nur Graveure arbeiten mit Blockbuchstaben. Er hoffte, mit 'Werbung' reich zu werden. So nannte er es, wenn er Produkte mit großer Schrift anpries, damit mehr Leute sie kauften. Er hatte ein ganzes Atelier im Gildenhaus - vermutlich hatte er sein ganzes Geld hier investiert. Als Schnapper seine Hilfe nicht wollte, ist er durchgedreht. Wir haben seine Entwürfe und Tagebücher durchgesehen. Er hatte Wochen an dem Slogan gefeilt."
"Welcher Slogan?"
"'Esst Schnappers Würstchen!'"
"Das hätte ich mir auch ausdenken können. Und wie hast du ihn jetzt erwischt?"
"Mit der Armbrust."
"Darüber sprechen wir noch. Ich meine, wie hast du ihn gefunden?"
"Ach, das war ganz einfach. Aus der Schrift war klar, dass es ein Graveur sein musste. Ein Zeuge sprach von einem Gildenhaus, aus dem der Täter kam, da hab ich zwei und zwei zusammengezählt." Lewton verkniff sich, nach dem Ergebnis zu fragen. "Ein anderer Zeuge roch unter anderem", Tunnelblick schüttelte sich, "nach roter Farbe, nach eigener Auskunft aus einer Gilde - der Gilde der Graveure. Die Graveure arbeiten aber mit schwarz, wenn sie drucken. Bis auf unseren Täter! Ich musste also nur im Gildenhaus den Geruch wiederfinden, und das ist einfach für einen Werwolf."
"So weit, so gut. Nur - wie kam er um's Leben? Du weißt doch, so was macht sich immer schlecht!"
"Er drohte, Schnapper zu töten. Da habe ich geschossen."
"Oh! Du hattest nicht gesagt, dass Schnapper auch dabei war!" Tunnelblick blickte eine sehr interessante Stelle der Wand an. "Wie geht's es Schnapper jetzt?"
"Sehen Sie aus dem Fenster, Sir."
Der Schriftzug war verändert. Unten am Wachhaus erstrahlte nun "Schnapper ist schuldlohs. Eßt Schnaper's Würstchen!" Mehrere hundert Bürger standen glotzend vor der Wand, Mistgabel in der einen Hand, Würstchen in der anderen. Schnapper machte das Geschäft seines Lebens, und Tunnelblick ahnte, dass sein Ruf ein bisschen Urlaub genoss. Bei dieser Kampagne wurde er im Moment nicht gebraucht.
"Pff!" machte der Hauptmann. "Werbung! So was wird sich niemals durchsetzen."



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