Ankh-Morpork wird von einer Reihe von seltsamen Diebstählen heimgesucht. Doch die Täter sind nur allzu bekannt...
Dafür vergebene Note: 11
Lautes Rascheln zog sich durch den Wald, als mehrere hundert Kilogramm Kalkstein einen Abhang hinunterrutschten und dabei diverses Busch- und Astwerk mit sich rissen.
Der ganze Haufen kam erst an einer dichten Baumgruppe zum Halten. Eine Weile wirbelte noch der Staub umher und es dauerte nicht lange, bis ein länglicher Felsbrocken aus dem Durcheinander rollte.
Als sich der Staub gelegt hatte, wurde ein Stöhnen hörbar und ein Kopf erhob sich aus dem Steinhaufen.
"Verdammt!", sagte er.
Dann kam noch mehr Bewegung in das steinerne Gebilde. Es richtete sich auf und erkennbar wurde ein Troll. Doch er blieb nicht lange stehen, denn dafür fehlte ihm das nötige zweite Bein, das nur wenige Meter von ihm entfernt im Laub lag.
Der Troll versuchte noch einige Male aufzustehen, aber nachdem er immer wieder zusammengebrochen war, sah er ein, dass er sich auf andere Weise fortbewegen musste.
Er kroch langsam und vorsichtig zu seinem Bein und mit diesem in der Hand immer weiter in die Richtung, die ihm gerade richtig erschien.
Scoglio wachte auf.
Das erste was er fühlte, war sein schmerzendes Bein. Dies passierte ab und zu mal und er machte sich deswegen keine Sorgen.
Das zweite was er fühlte, war der Gegenstand, der ihm da auf der Stirn lag. Und das machte ihm Sorgen, aber nur bis er heraus fand, was dieser Gegenstand eigentlich war. Es war ein Brief, der ihm wohl durch das geöffnete Fenster über seiner Pritsche zugestellt worden war. Von wem auch immer.
Scoglio setzte sich auf und öffnete interessiert den Brief. Er faltete den darin enthaltenen Papierbogen auseinander und begann mühsam zu lesen.
Lieber Scoglio!
Mittlerweile ist es annäherungsweise zwei Jahre her, seitdem du von hier fortgezogen bist. Es tut mir Leid, dass ich in all der Zeit nichts habe von mir hören lassen, aber der Post hierzulande kann man nicht vertrauen. Und ich habe es erst jetzt ermöglichen können, dir auf einigermaßen sicherem Wege einen Brief zu senden. Denn nach all den jahrelangen Versuchen habe ich endlich Bleeth, ich sage mal, zusammenstellen können. Du weißt ja, dass ich lange mit Tieren herum experimentiert habe - meist erfolglos. Aber mit Bleeth ist es mir endlich gelungen, aus einst toten Tierteilen ein lebendes Tier zu erschaffen. Und es wird den Weg zu dir finden, da bin ich mir sicher. Denn von unserer ersten Begegnung, du erinnerst dich sicher noch, habe ich das Kalksteinpulver, das dabei entstanden ist, behalten. Und mit diesem Pulver und ihrem fabelhaften Geruchssinn wird Bleeth zu dir finden und dir diesen Brief zustellen. Irgendwann.
Es ist gut möglich, dass dann schon das passiert ist, warum ich dir eigentlich schreibe. Es ist nämlich so, dass mein Leben dem Ende zugeht und ich bald in die Große Körperteil-Rihsseickling-Maschine aufsteigen werde, wie mein Vater gesagt hätte. Denn Teile von mir werden ja weiterleben. Wenn auch nicht unbedingt zusammen in einem Körper.
Darum sei nicht zu verzweifelt, denn das Leben geht weiter. Dein Leben geht weiter.
Leb wohl,
Igor.
Scoglio starrte fassungslos auf das Blatt hinab.
Das war es also. Igor war tot. Dann war er ihm wohl deswegen in dieser eigentümlichen Vision, vollkommen von Licht umgeben, erschienen, als er vor kurzem[1] aufgrund eines Intelligenzschocks beinahe selber aus dem Leben gewichen war
Damals hatte er sich so sehr gefreut, auch nur seine Stimme wieder zu vernehmen, wenn er ihn ob des Lichtes schon nicht erkennen konnte.
Und jetzt sollte er Igor nie mehr wieder sehen können?
Nicht, dass er vorgehabt hätte, in absehbarer Zeit nach Überwald zu reisen und Igor zu besuchen, aber dass er jetzt einfach nicht mehr die Möglichkeit hatte, schmerzte schon sehr.
Scoglio starrte einige Zeit lang weiter auf das Blatt hinab. Dabei blieb sein Blick an einem Satz hängen.
Dein Leben geht weiter.
In dieser Vision hatte Igor auch gesagt, dass seine - Scoglios - Zeit noch nicht abgelaufen war und dass er auf der Scheibe bleiben müsse, bis seine Zeit tatsächlich vorbei war.
Scoglio ließ sich den Satz nochmals durch den Kopf gehen.
Dein Leben geht weiter. Dein Leben geht weiter. Dein Leben geht weiter.
Na schön. Wenn sein Leben schon weiter ging, dann wollte Scoglio wenigstens mitgehen und nicht hier Trübsal blasend sitzen bleiben.[2] Er stand schwungvoll auf, griff nach der Marke, die ihn als Mitglied der Stadtwache von Ankh-Morpork auszeichnete und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Dann ließ er sich, oder zumindest einen gewissen Teil von sich, in der Hose verschwinden und machte sich auf den Weg zum Wachhaus, wobei er seine Zimmertür, die er immer noch nicht erneuert hatte, einfach kurz aus dem Rahmen nahm, durch die Öffnung hindurch trat und sie dann wieder einsetzte. Diese Methode war am sichersten, da so nicht der riesige Lärm durch das ganze Haus schallte, welcher sich zwangsläufig erhob, wenn Scoglio seine Tür auf herkömmliche Art öffnete und diese infolgedessen vor ihm zu Boden fiel.
Auf dem Weg zum Pseudopolisplatz bemühte er sich, die Gedanken an Igor zu unterdrücken und sich auf den vor ihm liegenden Wache-Alltag zu konzentrieren, was ihm nur bedingt gelang.
Igor war über seine Hühneraugen gebeugt.[3] Endlich hatte er mehr Zeit für die Erforschung des Igor'schen Handwerkes im Zusammenhang mit Tieren, jetzt, wo er sich endlich selbstständig gemacht hatte und ihn niemand mehr immerzu herumkommandierte.
Er hatte dazu seine kleine Hütte genau über den Eingang zu einem unterirdischen Höhlengewölbe gebaut. Hier unten hatte er nun den gebührenden Platz für seine Forschungen und niemand konnte ihm in die Quere kommen. Oben in der Hütte hingegen wies nichts auf seine Arbeit hin. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass sich einige Personen in der Gegenwart von Bottichen, die mit Augen, Gehirnen oder ähnlichem gefüllt waren, nicht sonderlich wohl fühlten. So hatte er nur einige Tierköpfe, mit denen er nichts mehr anfangen konnte, an die Wand gehängt. Irgendwo musste auch ein besonders schönes Exemplar einer Niere hängen.
Ein lautes Pochen ertönte und Igor sah von seiner Arbeit auf. Er kehrte den Hühneraugen den Rücken, die ihn vorwurfsvoll anzustarren schienen und stieg leise grummelnd die Leiter hinauf. Erneut ertönte das Pochen.
"Ich komme ja fon!", rief Igor.
Er öffnete die Tür und wunderte sich, warum sich direkt vor seiner Hütte ein Felsen befand. Dann wanderte sein Blick über den Felsen und er verstand.
"Waf kann ich für dich tun?", fragte er den Troll.
Der hob nur mit der einen Hand sein Bein und zeigte mit der anderen Hand auf die Stelle, an der sich das Bein eigentlich befinden sollte.
"Ah, ich fehe! Nun, ich weif nicht, ob ich daf faffe. Normalerweife befränken wir unf auf Menfen. Ich habe tfwar auch fon Verfuche mit Tieren gemacht, aber Trolle find mir noch nicht untergekommen. Mal fehen, waf fich machen läfft."
Der Troll nickte.
"Aber ich kann dir leider nicht die Fprache hinein operieren..."
"Nein, das auch nicht nötig ist", sagte der Troll und wirkte ein wenig verlegen. "Ich nur nicht sehr gesprächig sein."
Igor lächelte und der Troll musste ob des daraus resultierenden Gesichtes seinen Blick abwenden.
"Ich fon eine Idee hätte, wie daf tfu richten ift. Vielleicht könnte man..." Igor verstummte nachdenklich. "Äh, ich müffte dich bitten, hier draufen liegen tfu bleiben. Du wirft nicht in meine Hütte paffen. Ich muff noch inf Dorf runter tfum Fmied und ich denke, ich werde Hilfe von einem Tfauberer brauchen, für die Nerven. Ich hoffe, Tom ift im Moment da. Ef könnte ein Weilchen dauern, bif ich wiederkomme. Mach ef dir folange gemütlich. Äh." Igor hatte die letzten Worte bereits im Weggehen gesagt und jetzt lag der Troll alleine vor der Hütte und wartete.
Und wartete...
Und wurde von einem vorüber fliegenden Vogel als Ort für ein gewisses Bedürfnis benutzt...
Und wartete wiederum...
Endlich kam Igor, der einige seltsam geformte Metallgebilde trug, wieder und mit ihm kam ein anderer Mann, der einen großen, spitzen Hut auf dem Kopf und einen langen, weißen Bart im Gesicht trug.
"Fo. Ich denke, ich habe jetft alle nötigen Fachen, um dein Bein wieder drantfukriegen. Wenn ef klappt", fügte Igor hinzu. "Ich werde dein Bein tfunächft mal mit diefen Metallgelenken wieder an deinem Körper befeftigen. Datfu muff ich erftmal mit Hammer und Meifel ein Loch dafür herftellen. Ich weif nicht, wie daf bei euch fo mit Nerven und allem ift, ob euch daf weh tut, aber tfur Vorficht wird Tom hier die Gegend dort betäuben. Mit magifem Beiftand geht daf eigentlich allef."
Der Troll sagte nichts, sondern nickte nur. Ihm war alles recht, solange er sein Bein wieder benutzen konnte.
Daraufhin verschwand Igor kurz in seiner Hütte und kam nach wenigen Momenten, mit Hammer und Meißel beladen, wieder heraus.
"Fo, dann tu mal, waf getan werden muff, Meifter Tom", sagte er.
Der Angesprochene trat an den Troll heran, streckte die Hand aus und spreizte einen Finger ab.[4] Dann umrundete er mit dem Finger einmal die Stelle, an der das Bein abgebrochen war und murmelte leise einige Worte.
"Ich bin fertig", sagte er und trat zurück.
"Gut", sagte Igor, humpelte heran und hockte sich auf den Boden. Er setzte den Meißel an den Stein heran und holte mit dem Hammer aus.
Scoglio zuckte innerlich zusammen.
Daran erinnerte er sich gut. Er hatte höllischen Schmerz erwartet, aber alles, was er gefühlt hatte, war ein leichtes Pochen. Und es hatte nicht allzu lange gedauert. Igor war schnell zu Werke gegangen und hatte in dem entstandenen Loch in seiner Hüfte etwas ziemlich Mysteriöses mit den Metallteilen und seinem Bein angestellt. Was das genau war, interessierte Scoglio nicht sonderlich, denn die Hauptsache war, dass sein Bein wieder in direkter Verbindung zu seinem Körper stand. Und nachdem er sich einige Tage nahezu vollkommen ruhig verhalten und sich kaum bewegt hatte, konnte er sein Bein auch wieder richtig benutzen. Nur die gelegentlichen Schmerzen, die er auch an diesem Morgen verspürt hatte, erinnerten ihn nun noch an die damaligen Geschehnisse.
Ohne es zu merken hatte Scoglio mittlerweile schon über die Pons-Brücke die Götterinsel betreten und stand nun vor dem Wachhaus am Pseudopolisplatz. Er schüttelte den Kopf, wie um seine Gedanken daraus zu verbannen. Er musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren und durfte nicht in Gedanken den alten, längst vergangenen Zeiten nachhängen. Das wäre ihm bei der Ausübung seiner wächterlichen Dienste nur hinderlich.
Scoglio schüttelte noch einmal den Kopf und betrat das Wachhaus.
Zwanzig Minuten später war er mit dem Vektor Oldas zusammen auf Streife unterwegs.
Die Beiden gingen nebeneinander her durch die Glatte Gasse und schwiegen beharrlich. Das lag nicht daran, dass sie zwei Spezies angehörten, die spätestens seit einer gewissen Schlacht im Koom-Tal miteinander verfeindet waren. In diesem Fall hätten sie sich vermutlich eher angeschrien und solche Wörter benutzt, wie "Felsen!" oder "Rasenschmuck!", was zur Folge gehabt hätte, dass dem Troll einige Axthiebe an wirklich unangenehmen Stellen widerfahren wären und der Zwerg in der nächsten Wand eine Ruhepause genommen hätte.
Nein, das Schweigen war darauf zurückzuführen, dass Scoglio einfach nicht ansprechbar war. Die Sache mit Igor ging ihm nicht aus dem Kopf. Ihn suchten zwar im Moment keine Erinnerungen an seine Vergangenheit heim, aber auch die Gegenwart zog derzeit spurlos an ihm vorüber. Er registrierte nicht, dass er gerade in die Sirupminenstraße einbog und er bemerkte auch nicht die prüfenden Blicke, die ihm sein Wächterkollege zuwarf.
Oldas wusste zwar, dass der Troll meistens nicht viel sprach und eher ruhig war, aber so abwesend hatte er ihn noch nie gesehen. Selbst der stark nach Fisch riechende Eselskarren, der gerade nur eine Handbreit vor ihm vorbei gerollt war, schien seiner Aufmerksamkeit vollkommen entgangen zu sein.
Schweigend gingen die Wächter weiter und als sie in die Ulmenstraße einbogen, drangen einige aufgeregte Rufe an ihre Ohren - nun, zumindest an Oldas' Ohren. Die Frau, von der die Rufe stammten, stand in der Türöffnung eines Hauses und als sie die Wächter erblickte, kam sie auf diese zugerannt.
"Ich wurde bestohlen", sagte sie mit lauter Stimme. "Ihr müsst etwas unternehmen!"
"Ja", sagte Oldas und holte in aller Seelenruhe einen Notizblock und einen Stift hervor. "Es war ein unlizenzierter Diebstahl, nehme ich an?"
"Richtig. Aber notiere dir das doch jetzt nicht alles. Ihr müsst den Dieb fangen und ihn zur Rechenschaft ziehen!"
"So? Ich glaube nicht, dass wir das müssen." Oldas blickte auf den geistig immer noch abwesenden Scoglio, dann auf seine kurzen Beine und schließlich die Straße entlang, auf der nirgends ein Dieb zu sehen war. "Und ich glaube auch nicht, dass wir mit einer Verfolgungsjagd Erfolg hätten."
"Oh, na schön."
"Es war also ein unlizenzierter Diebstahl. Habt Ihr etwas von dem Dieb zu sehen bekommen?"
"Nun... ja-a", sagte die Frau zögerlich. "Ich habe einige weiße Schemen erkennen können. Es war auch etwas Blau dabei. Glaube ich. Äh, und es handelte sich um sehr kleine... Schemen."
"Wie... kleiner als ich?", fragte Oldas dazwischen.
"Ja. Sie waren dicht über dem Boden."
"Soso." Oldas notierte sich das. "Und was wurde gestohlen?"
"Nun... genau habe ich noch nicht nachgesehen. Aber es sind, glaube ich, größtenteils... nun ja, Dinge. Kleine Sachen, wie mein Fingerhut. Und einige Nähnadeln und so."
Auf Oldas' Zunge schlich sich eine unfeine Bemerkung, die in direktem Zusammenhang mit dem Begriff 'Näherin' stand, aber er schluckte sie wieder herunter.
"Einige Nahrungsmittel sind auch verschwunden. Und mein großes Bücherregal steht jetzt direkt an der Eingangstür. Vorher stand es in einem Zimmer am anderen Ende der Wohnung."
Oldas notierte sich auch das und zog einen Pfeil von 'großes Bücherregal' zu 'kleine Schemen'. Dann setzte er ein großes Fragezeichen daneben. Er starrte kurz darauf, setzte noch ein Ausrufezeichen dahinter und unterstrich die Wörter 'großes' und 'kleine'.
"Und was ist Ihr Name?", fragte er dann.
"Anne Schweit. Man schreibt 'Schweit' nicht mit einem 'n' am Ende, herzlichen Dank!", fügte sie ärgerlich hinzu.
Oldas korrigierte seine Notizen und murmelte einige Entschuldigungen. Dann sah er sich den Zettel nochmal an.
"Und es waren wirklich kleine, weiß-blaue Schemen?", fragte er noch ein wenig ungläubig, während sein Blick auf 'großes Bücherregal' haftete.
Anne Schweit nickte.
"Seltsam", sagte Scoglio.
"Wir sind also wieder wach, wie?", fragte Oldas ärgerlich, als die beiden Wächter ihre Streife fortsetzten.
"Äh, ja", antwortete Scoglio. "Ich wach bin und du wahrscheinlich auch. Aber wir doch auch gar nicht geschlafen haben, oder?"
Oldas seufzte.
"Sicher. Ich wollte mit den Worten auch nur meiner Verwunderung darüber Ausdruck verleihen, dass du etwas gesagt hast und scheinbar mit deinen Gedanken wieder hier weilst. Und mein ärgerlicher Unterton sollte bekräftigen, dass es mir missfiel, den Dienst bisher praktisch alleine ausgeführt zu haben."
Scoglio schwieg.
"Wo warst du denn mit deinen Gedanken die ganze Zeit?"
"In meiner... Vergangenheit", antwortete der Troll.
"So. Und was hat dich dazu gebracht, wieder in die Gegenwart zurückzukehren?"
"Das, was die Frau erzählt hat, mich an etwas erinnert. Aber das nicht stimmen kann. Ich wohl zu sehr der alten Zeit nachhänge."
"Tatsächlich?", fragte Oldas. "An was ist das?"
Der Zwerg blieb plötzlich stehen.
"Was du damit meinst?", fragte Scoglio und blieb ebenfalls stehen.
"Sag mir, worauf ich gerade stehe." Oldas blickte starr geradeaus und sein Gesicht war vor Ekel verzerrt.
"Ein Fisch", meinte Scoglio, nachdem er eine Zeit lang das Etwas begutachtet hatte. "Ein Roter Barsch oder so."
Oldas erleichterte sich[5] und sah endlich nach unten.
"Ich dachte schon, vor mir wäre ein Hund hier gewesen und hätte... du weißt schon. Wär nicht das erste Mal gewesen", fügte der Zwerg verbittert hinzu und entledigte sich des Fisches.
"Sieh mal", sagte Scoglio plötzlich. "Dort drüben noch so ein Barsch liegt. Und da hinten auch. Das eine Spur sein kann?"
"Hering."
"Was?"
"Es ist ein Hering und kein Barsch", sagte Oldas, das fragliche Objekt auf dem Boden betrachtend.
Scoglio rollte mit den Augen.
"Das doch egal sein. Aber es eine Spur ist, da ich mir sicher bin", sagte er und ging los in Richtung der anderen Fische.
"Nein, Scoglio. Warte! Niemand legt eine Spur aus Fischen! Wer soll denn damit angelockt werden? Irgendwelche Haie, die so dumm sind und sich aufs Land verirren?"
Doch der Troll schien die Worte nicht mehr gehört zu haben - er ging unbeirrt weiter.
'Höchstens ein dummer... Felsen, der auf einmal seine Pflicht zu ernst nimmt', dachte Oldas und eilte ihm hinterher.
Im Kicherweg blieben die beiden Wächter stehen.
"Siehst du? Ich habe dir ja gleich gesagt, dass diese Roten Heringe, deine tolle Spur gar keine ist", sagte Oldas und zeigte auf den Karren, der vor dem Klatschianischen Schnellimbiss stand. "Es ist bloß ein Karren, der unterwegs einen Teil seiner Ladung verloren hat."
"Na schön. Aber es eine Spur hätte sein können."
Auch Oldas übte sich in der Kunst des Augenrollens.
"Wenn du meinst..."
Dann nahm er seinen Notizblock heraus, riss einen Zettel ab und schrieb eine Nachricht darauf, dass auf den letzten Metern wohl tragischer Weise ein Teil der Ladung verloren gegangen war.
"Jetzt lass uns endlich weiter umher streifen", sagte er in einem plötzlichen Anflug von Humorismus, als er den Zettel gut sichtbar auf den Karren gelegt und mit einem der verbliebenen Fische beschwert hatte.
"Sie also Opfer eines unlizenzierten Diebstahls geworden sind, Herr Nedicha?", fragte Scoglio den etwas verwirrt anmutenden Mann vor dessen Haus im Unteren Breiten Weg.
Der Mann bestätigte dies.
"Meine komplette Sammlung von Korken haben sie mir geklaut", sagte er. "Und einige von meinen Lebensmitteln haben sie wohl auch mitgenommen."
"Soso. Und wer diese 'sie' sind, von denen Ihr sprecht, Herr Henichda?", erkundigte sich Scoglio.
"Na, diese kleinen weißen Gestalten. Sie waren gerade erst hier. Und als ihr um die Ecke kamt, hab ich mich sofort an euch gewandt. Und im Übrigen heiße ich Denicha. Heinrich Denicha."
"Könntet Ihr vielleicht eine dieser Gestalten zeichnen?", mischte sich Oldas ein und hielt dem Mann Notizblock und Stift hin.
"Aber sicher", sagte er und vollführte einige schwungvolle Striche auf dem Papier. Das Ergebnis war etwas, das verdächtige Ähnlichkeit mit einem Schneeball hatte.
"Ah, das ist sehr... hilfreich", sagte Oldas, riss den Zettel vom Block und steckte ihn ein, wobei er darauf achtete, ihn nicht zu sehr zu zerknittern.
"Es noch etwas gibt, das Ihr uns mitzuteilen habt, Herr Nidecha?", fragte Scoglio.
"Denicha", antwortete der Mann fast schon automatisch. "Und ja, da ist noch etwas. Meine Brille haben sie mir auch gestohlen."
"Ihre Brille", sagte Oldas mit einem spöttischen Lächeln, "habt Ihr auf Eurer Nase sitzen."
"Achja, richtig. Gut, dann war's das."
Der Mann verschwand im Inneren des Hauses und die beiden Wächter legten die letzten Schritte zum Wachhaus zurück.
"Ich unterrichte eben schnell die Abteilungsleitung von diesen beiden Vorfällen und dann müssen wir wohl unseren Streifgang weiter fortsetzen", sagte Oldas.
Im Grunimarkt trafen sie auf eine Frau, die verzweifelt vor ihrem schmuckvollen Anwesen stand.
"Meine Gartengnome[6]", schluchzte sie. "Sie sind alle weg!"
"Liegt eine Quittung der Diebesgilde vor?", fragte Oldas.
Die Frau schüttelte den Kopf.
"Also unlizenzierter Diebstahl", sagte Oldas und konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen. "Meine Güte, heute ist wirklich viel los, nicht wahr, Scoglio?"
Der Angesprochene nickte langsam, schien aber schon wieder ein wenig in Gedanken versunken zu sein.
"Und... wisst Ihr, von wem Ihr bestohlen worden seid?", erkundigte sich der Zwerg.
"Ich bin mir nicht sicher", antwortete die Frau. "Ich habe kaum was erkennen können, aber so wie ich es gesehen habe, schien es, als würden die Gartengnome einfach davon schweben. In einem ziemlich hohen Tempo. Aber vielleicht waren auch noch..."
"...kleine blau-weiße Gestalten dabei?", vervollständigte Oldas den Satz.
"Ja, richtig. Woher weißt du das?"
"Das ist nicht das erste Mal heute, dass die zuschlagen. Muss eine ganz raffinierte Bande sein..."
"Seid Ihr auch von einigen kleinen blau-weißen Gestalten bestohlen worden?", fragte Oldas den Mann, der ihnen in der Kaimeisterstraße entgegen kam.
"Nein", antwortete der Mann mit mürrischer Miene.
"Nicht?" Oldas zog eine Augenbraue hoch. "Das wundert mich."
"Ich bin nur auf dieser verdammten Forelle ausgerutscht." Er wedelte mit der Hand und dem Fisch darinnen umher. "Die liegen hier überall herum. Wann unternehmt ihr endlich was dagegen?"
"Vor einigen Stunden", sagte Scoglio.
"Ach was." Der Mann blickte verwundert drein.
"Und es ein Hering ist!"
"Ich bin gestohlen worden!" Der Mann vor den beiden Wächtern gestikulierte, was das Zeug hielt.[7]
"Jaja, das dachte ich mir", antwortete Oldas und seufzte. "Was wurde denn entwendet?"
Der Mann stockte, aber nur kurz.
"Sag mal, hörst du schlecht, Junge? Ich wurde gestohlen!"
Der Zwerg bemühte sich, das Wort 'Junge' einfach zu überhören, aber es fiel ihm äußerst schwer.
"Ich ging durch meine Wohnung", fuhr der Mann indes fort, "und wurde plötzlich hoch gehoben. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Zum Glück haben mich diese Burschen nicht durch die Tür hindurch bekommen. Aber einer von ihnen machte eine obszöne Geste, als sie wieder verschwanden."
"Diese... Burschen waren blau, nicht wahr?", fragte Oldas und schluckte den aufkeimenden Ärger hinunter.
"Ja, die hatten bestimmt den ein oder anderen Knieweich getrunken, da bin ich mir sicher."
"Nein, nein. Ich meinte ihr Äußeres. Die Farbe und so", stellte Oldas richtig.
"Achso. Ja, das stimmt auch. Die waren bis oben hin voll blau. Aber auch weiß. Wie ein... Fell oder so etwas."
"Aha. Gut, es wird langsam Zeit, dass wir richtig etwas dagegen unternehmen." Der Zwerg verabschiedete sich von dem Mann und drehte sich zu Scoglio um.
Dieser hatte sich während des Gespräches abgewandt und seinen Blick schweifen lassen. Als sein Blick an einem Gebüsch vorbei glitt, wurde er stutzig. Er wiederholte seine letzten Augenbewegungen - wieder glitt sein Blick an einem Gebüsch vorbei und wieder wurde er stutzig. Er wiederholte die Prozedur ein weiteres Mal, diesmal bedeutend langsamer.
Das grüne, leicht vertrocknete Gras, dann der Anfang des Gebüsches, die blassgrünen Blätter und die kleinen roten Früchte an den Zweigen, der blau-weiße Hügel...
Moment. Da war etwas falsch.
Scoglio versuchte in dem Hügel etwas anderes zu erkennen als einen solchen und starrte ihn genauer an. Mit einem Mal winkte der Hügel ihm zu und grinste breit.
Scoglio erkannte, erinnerte sich und verstand, was es zu tun galt.
"Ich glaube, ich da etwas wüsste", meinte der Troll zu Oldas, als der sich gerade zu ihm umdrehte. "Mein erster Gedanke wohl doch richtig war, was diese kleinen Gestalten betreffen."
Oldas blickte ihn fragend an.
"Aber ich dazu ein wenig Knieweich oder etwas Entsprechendes brauche. Der Mann mich darauf gebracht hat. Und ich es alleine regeln möchte. Es in eine... private Angelegenheit ausarten könnte."
"Ich weiß nicht, wie unser Abteilungsleiter dazu steht, wenn du..."
"Das schon in Ordnung sein wird", wurde Oldas von Scoglio unterbrochen. "Immerhin diese Diebstähle dann ein Ende haben werden. Hoffentlich."
Mit den Worten wandte er sich von seinem Kollegen ab und ging davon.
Oldas schüttelte den Kopf und setzte die Streife nun alleine fort. Was sollte er auch sonst tun?
Einige Zeit später trat Scoglio, einen kleinen Krug in der Hand haltend und um einige Ankh-Morpork Dollar ärmer, aus dem Eimer heraus. Von dem Krug ging ein starker Geruch nach Äpfeln aus. Nun, zumindest größtenteils Äpfel.
Auf dem Weg zu der Taverne und in derselben hatte der Wächter kleine Gestalten wahrgenommen, was seine Vermutung einmal mehr bestätigte.
Scoglio ging die Buchtgasse entlang und sah an verschiedensten Stellen weiß-blaue Schemen. Er lächelte und ging weiter bis zu dem Haus mit der Nummer 7, in dem er ein Zimmer bewohnte. Der Troll öffnete vorsichtig die Haustür, ließ sie offen stehen, wandte seine Schritte nach rechts und blies seine Zimmertür auf, die zu Boden fiel. Er ließ sie dort liegen und stieg darüber hinweg in sein Zimmer hinein. Den Krug stellte er behutsam auf dem kleinen steinernen Tisch ab und ließ sich dann auf seiner Pritsche unmittelbar daneben hernieder. Jetzt musste er nur noch warten und zwar wahrscheinlich nicht allzu lange.
Er behielt Recht.
Nur wenig später zeigten sich die ersten kleinen Gestalten, die zunächst vorsichtig um den Türrahmen lugten und dann zügig auf den Tisch zu hielten.
"Potz Bliitz! Daas ist echter Knieweich! Aus... Äpfeln!"
Die erste Gestalt erklomm den Tisch und setzte sich an den Krug.
"Na los, Juungs, immer raan an die Buuletten!"
Weitere Gestalten erschienen in der Tür und sogar im geöffneten Fenster und kletterten auf den Tisch, während Scoglio sie mit einem seligen Lächeln anstarrte.
Bald war die ganze Steinplatte von weiß-blauen Gestalten bevölkert.
"Den Triick kennst du noch voom alten Igor, waas?", richtete eine der Gestalten das Wort an den Troll, der nur nickte. "Er war einer deer wenigen doort, die von uunserer Exiistenz wussten und eer wusste, wie er mit uns uumzugehen hatte. Mit einem guten staarken Troopfen kann man uns immer aanlocken. Da sind wiir sozusagen machtloos."
Scoglio sagte immernoch kein Wort. Er war so glücklich wie schon lange nicht mehr. Wann hatte er sie alle das letzte Mal gesehen? Es war schon so ewig lange her...
"Äh, wir düürfen uns dooch bedienen, ooder?", fragte eine der Gestalten und deutete auf den mit Knieweich gefüllten Krug.
"Jaja, macht nur..." Dem Troll versagte die Stimme beinahe.
Aus einem großen Beutel, den Scoglio bisher noch gar nicht bemerkt hatte, holte jede der Gestalten einen kleinen Fingerhut heraus und tunkte ihn in die Flüssigkeit. Einige von ihnen lösten sich augenblicklich auf. Andere blieben zumindest so lange erhalten, bis die Gestalten sie hastig an den Mund geführt hatten. Als der Krug und alle Fingerhüte geleert waren, packten sie diese in den Sack zurück.
Plötzlich erinnerte sich Scoglio wieder, was eigentlich seine Aufgabe war, warum er eigentlich all die Gestalten angelockt hatte.
"Ähm, bitte das nicht falsch versteht, aber ihr unter Verdacht steht, mehrere Diebstähle begangen zu haben." Es fiel dem Wächter nicht leicht, diese Worte auszusprechen.
"Ach, daas!" Eine der Gestalten winkte ab. "Das waaren doch alles nur soo Kleinigkeiteen. Wiird die ehemaaligen Besitzer wohl kaum stören."
"Es einige Beschwerden vorliegen!"
"Uund? Was haat das zu bedeuten? Über uuns haben sich schoon viele beschweert."
"Ich verpflichtet sein, dem nachzugehen", sagte Scoglio und blickte bekümmert auf seine Dienstmarke.
"Daas meinst duu doch nicht ernst, ooder? Ich meine, duu weißt doch, dass wiir sowaas nun mal machen. Das Stehlen geehört zu uns wie..."
"Das Kämpfen!"
"Das Triinken!"
"Ja sicher, das ich doch weiß..." Scoglio zögerte kurz. "...Kleiner Willie, richtig?"
"Aye", sagte Kleiner Willie.
"Aber dennoch ich das nicht einfach so durchgehen lassen kann", sagte der Wächter.
"Nicht? Glaub miir, du kannst daas. Früher waarst du nicht soo. Erinnere diich doch aan damals. Weißt du denn niicht mehr, wie wir uuns kennenlernten und wie wiir dir... geholfen habeen?"
Scoglio wusste es noch.
Nach der gelungenen Operation zog sich Scoglio in eine Höhle nahe Igors Hütte zurück. Es wurde Zeit für ihn, dass er sich mal an einem festen Ort niederließ. Viele Jahre lang war er ziellos über die Scheibe geirrt, um nur möglichst weit weg von seinem Clan in den Spitzhornbergen zu kommen, aus dem er verstoßen worden war. Und das nur, weil er aus so hellem Kalkstein bestand.
Auch hatte er jetzt ein wenig Sorge um sein Bein, obwohl es ja wieder richtig an seinem Körper war. In dem Kampf mit den anderen Trollen, als er aus seinem Clan vertrieben wurde, hatte er sich sein Bein böse angeknackst und dieser Sturz nun hatte die Stelle, die nie richtig verheilt war, vollkommen aufbrechen lassen. Er konnte nur von Glück sagen, dass er sich überhaupt noch zu jemandem hatte schleppen können, der ihn dann sogar noch zu heilen vermochte. Da war es auch nur gerecht, wenn er jetzt hier bei Igor in der Nähe blieb und ihn bei seiner Arbeit so gut es eben ging unterstützte.
Viele Jahre lang streifte Scoglio durch die angrenzenden Wälder, sammelte all die toten Tiere ein und brachte sie zu Igor, der damit seine Forschungen weiter betrieb. Im Gegenzug brachte Igor ihm das Lesen und Schreiben bei.
Aber je länger Scoglio dort lebte, desto seltener begab er sich aus seiner Höhle heraus. Hätte Igor ihn nicht alle paar Tage besucht, wäre der Troll nun wohl nichts weiter als ein schlummernder Felsbrocken.
So ging es viele Jahre lang weiter - Igor mühte sich vergeblich mit seinen Forschungen und Experimenten ab, Scoglio wurde immer weniger lebensfroh und die Bevölkerung der nahen Dörfer, größtenteils aus Zwergen bestehend, störte sich nicht großartig an ihm, obgleich sie doch von seiner Anwesenheit wusste. Bis eines Tages...
"Der große Felsen ist schuld!"
"Vertreibt ihn!"
Igor vernahm die Rufe nur gedämpft, aber er ahnte sogleich Schlimmes. Irgendwann musste es geschehen, er hatte es kommen sehen.
Er ließ die Gänsefüße Gänsefüße sein und eilte so schnell es ging die Treppe hinauf. Jetzt vernahm er die Stimmen lauter und machte auch das Fußstapfen einer wütenden Meute aus. Rasch nahm Igor eine Fackel von der Wand, entzündete sie und trat nach draußen. Der Anblick, der ihn erwartete, nahm ihm den Atem.
Den ganzen Weg hinunter bis zum Dorf glänzten Äxte in hellem Fackelschein. Die Zwerge, die sie trugen, mussten die ganze Dorfbevölkerung ausmachen, vielleicht waren sogar noch einige Bewohner der umliegenden Dörfer dabei.
Igor starrte abwechselnd den Weg hinunter, auf die sich rasch nähernde Menge und den Weg hinauf, zur Höhle Scoglios. Es war klar, wo die Zwerge hin wollten..
Als die Ersten Igors Hütte erreichten, stellte er sich ihnen in den Weg, die Fackel weit voraus gestreckt.
"Haltet ein!", rief er ihnen entgegen. "Ihr wifft nicht, waf Ihr tut!"
Aber die Zwerge wollten ihn nicht erhören und der Erste stieß ihn zu Boden, als er an ihm vorüber ging.
Hilflos musste Igor mit ansehen, wie die Meute an ihm vorüber zog, der Höhle entgegen.
Scoglio öffnete die Augen.
Er richtete sich auf, legte seinen langen, dunkelbraunen Kapuzenmantel um, den Igor liebevoll für ihn angefertigt hatte, und trat nach draußen.
Er starrte geradewegs auf eine große Menge an Zwergen, allesamt mit Äxten und Fackeln in den Händen und stutzte.
Was hatten die bloß hier zu suchen?
Aus dem Augenwinkel meinte Scoglio plötzlich eine Bewegung zu erkennen, aber als er sich umsah, sah er nichts als blanke Felswand.
Er drehte sich wieder um und beobachtete die Zwerge misstrauisch, die sich ihm langsam und bedrohlich näherten. Sie bildeten einen Halbkreis um den Troll, nur wenige Schritte von ihm entfernt.
Der Anführer der Zwerge - zumindest hatte er die größte Axt und den längsten Bart - trat noch einen Schritt vor.
"Verlass auf der Stelle dieses Land oder wir werden dich mit Gewalt vertreiben!", zischte er.
Scoglio blieb bewegungslos und sah den Zwerg überrascht an.
"Wird es bald?", herrschte ihn dieser an.
"Aber... warum denn?"
"Was? Stellst du dich nur so dumm, oder... ach, ich vergaß, du bist ja ein Troll", sagte der Zwerg mit einem spöttischen Lächeln. "Aber das ist kein Grund, jetzt das Unschuldslamm zu spielen. Es reicht schon, dass du ein unschuldiges Lamm gestohlen hast."
Scoglio starrte den Zwerg mit offenem Mund an.
"Und das ist nicht das einzige, nein. Was ist mit unserer Nahrung? Unsere kleinen Kostbarkeiten? Und nicht zu vergessen - unser Gold?!" Der Zwerg schrie fast.
Scoglio wandte seinen Blick von ihm ab und schaute in die Runde - überall sah er grimmige Gesichter.
"Aber ich nie nichts getan..."
"Rückst du jetzt unsere Sachen wieder raus und verlässt dann unser Land?", herrschte ein anderer Zwerg den Troll an.
Scoglio setzte gerade zu einer Antwort an, als neben und hinter ihm unzählige... Dinge zu Boden fielen.
"Potz Bliitz! Wieso seh ich niichts?"
"Du steckst im Baart voon dem Zwerg."
"Hee, von meinem Fuß ruunter, aber schneell!"
"Jungs, hört auf ruumzualbern!"
Scoglio starrte.
Die Zwerge starrten.
Ein Vogel starrte ebenfalls, aber in eine andere Richtung.
"Was ist..."
"Woher kommen..."
"Wie ist..."
Die Zwerge redeten wild durcheinander und beobachteten die seltsamen Gestalten.
"Hört heer, ihr kleinen Zwerge...", rief eines der kleinen Wesen. Es war, genau wie die anderen, nahezu vollständig mit einem weißen Fell überdeckt - bis auf sein Gesicht, seine Hände und seine Füße, die mit blauer Haut überzogen waren.
Der Anführer der Zwerge fuchtelte gebieterisch mit seiner Axt und die Zwerge wurden mit einem Schlag ruhig.
"Wer seid ihr?", fragte er dann.
"Wir siind die..." Das Wesen machte eine kunstvolle Pause. "...Yeti-Riitter."
"So? Nie von euch gehört." Der Zwerg runzelte die Stirn. "Hättet ihr vielleicht die Güte, euch wieder zu entfernen? Wir waren gerade dabei, diesen Troll..." Er nickte verächtlich in Scoglios Richtung. "... aus unserem Land zu vertreiben."
Der Yeti-Ritter sprang plötzlich vor, kletterte an dem Zwerg empor und hing sich an seinen Bart.
"Dies ist niicht euer Laand!", zischte er wütend. "Wir..."
"Kein Köniig! Keine Köniigin!", unterbrach ihn die gesamte Yeti-Ritterschaft rufend.
"Aye. Außerdeem war ees niicht dieser Troll, der eure Sachen gestohlen haat", fuhr der im Bart hängende Yeti-Ritter fort, als wieder Ruhe eingekehrt war. "Wir waaren es!"
"Ach?", sagte der Zwerg mit schmerzverzerrter Miene und versuchte, das Anhängsel aus seinem Bart zu schütteln. "Das kann nicht sein! Wie wollt ihr denn bitte so etwas Großes wie ein Lamm stehlen? Und auch all die anderen Sachen? Ich finde es ja sehr rührend von euch, dass ihr den Felsen schützen wollt, aber das ist einfach lächerlich. Nur ein Troll kann so etwas getan haben. Schaut euch doch mal an, ihr wärt gar nicht dazu in der Lage, komische kleine Gestalten, die ihr seid."
"Soll iich dir maal zeigen, wozu wiir in der Laage sind?", rief die komische kleine Gestalt und kletterte den Bart hinauf. Dann klammerte sie sich an des Zwerges Nase und holte mit dem Kopf kräftig aus.
Etwas knackte und der Zwergenkörper fiel zu Boden. Sofort sprangen drei andere Yeti-Ritter hinzu und hoben den bewegungsunfähigen Körper in die Höhe. Sie trugen ihn einmal vor der Menge her und legten ihn dann an der Felswand ab.
"Seht ihr jeetzt, wozu wir fähig siind?"
"Das ist doch alles bloß Täuschung", rief ein etwas vorlauter Zwerg. "So seht euch doch bloß an. Ihr könnt so etwas nicht! Nur Trolle sind zu so etwas fähig. Sie sind schließlich abgrundtief böse. Und jetzt macht Platz und lasst uns an den Troll heran, sonst werden wir euch mit Gewalt entfernen!"
Die übrigen Zwerge zogen den Kreis enger um die Yeti-Ritter und Scoglio und griffen ihre Äxte fester.
Der Troll hatte die ganze Zeit über nur zugehört und war nicht imstande, ein Wort herauszubringen. Wie konnten diese unverschämten Staubfresser nur so etwas von ihm behaupten?
Jetzt aber ging ein Ruck durch seinen steinernen Körper und er ballte die Hände zu Fäusten.
"Ihr meinen Dank habt, wer auch immer ihr sein und wie auch immer das hier ausgehen", sagte er in Richtung der Yeti-Ritter.
"Keine Sorge, sie weerden keine Chance habeen", sagte einer von ihnen und stimmte zusammen mit den anderen ein furchtbares Geschrei an.
"Wir haun alle uum!"
"Auf sie drauf!"
"Nix wie raan an die Buletten!"
Der Kampf war kurz und schmerzlos - für die Seite der Gewinner. Die Yeti-Ritter sprangen an ihren Gegenüber hoch und ließen sie mit einem gezielten Kopfstoß ihr Bewusstsein verlieren oder hoben sie einfach hoch und rollten sie dann den Berg hinunter.
Nach kurzer Zeit waren die meisten Zwerge schon außer Gefecht gesetzt und die übrigen suchten schnell das Weite.[7a] Die Bewusstlosen wurden von den Yeti-Rittern einfach in Scoglios geräumiger Höhle abgelagert und anschließend um ihre Wertsachen erleichtert.
"Ich dachte mir fon, daff fie hier für Ordnung forgen", sagte plötzlich eine Stimme.
Scoglio, der alleine vor der Höhle war und sich mit geschlossenen Augen an die Felswand gelehnt hatte, sprang geradezu auf.
"Igor!" Der Troll lächelte glücklich. "Diese kleinen Burschen mir das Leben gerettet haben. Immerhin man mit Äxten viel anstellen kann."
"Ja, ich weif."
"Aber wer sie sind? Sie mir sehr seltsam vorkommen."
"Fie nennen fich Yeti-Ritter", antwortete Igor. "Irgendwann einmal find fie auf einem Yeti und einem der Wir-Find-Die-Gröften entstanden. Du weift fon, diefe Gnome. Ich habe dir mal von ihnen ertfählt. Aber du follteft fie beffer nicht fragen, wie ef datfu gekommen ift."
"Aber wieso sie mir geholfen haben?", fragte Scoglio.
"Nun, fie fehen in dir fo etwaf wie einen entfernten Verwandten. Die Yetif find immerhin eine Trollart. Und fie haben einen aufgeprägten Finn für Gerechtigkeit."
"Und trotzdem sie die Zwerge bestohlen haben?"
"Ich habe nur gefagt, daff ihr Gerechtigkeitffinn aufgeprägt ift, nicht in welche Richtung", sagte Igor und grinste. "Auferdem gehört das Ftehlen für fie einfach dazu. Genaufo wie daf Kämpfen und daf Trinken. Wenn du fie anlocken willft, brauchft du nur ein befonderf ftarkef alkoholifef Getränk irgendwo offen hintfuftellen. Wenn fie nur in der Nähe find, werden fie in Faren ankommen."
"Woher du das alles weißt?", fragte Scoglio verwundert.
"Ich habe fon unter fo vielen Herren gedient, da lernt man einigef. Und auch vom Weifen Tom habe ich viel erfahren."
In dem Moment kam eines der Wesen aus der Höhle heraus auf die Beiden zu.
"Naa? Erzählst ihm uunsere Lebensgeschichtee, hmm?", sagte es.
"Oh, hallo, Kleiner Willie." Igor nickte ihm zu. "Ja, ich habe Fcoglio gerade von euch ertfählt."
"Fein, fein. Aaber wollt ihr niicht mit rein kommeen? Die Jungs haben ein paar Flaaschen von deen Zwergen gehoolt. Ich finde, wir haaben ein weniig Ruhe nötiig." Der Yeti-Ritter machte eine einladende Handbewegung in Richtung der Höhle.
"Nein, ich glauben, nicht", sagte Scoglio ruhig. "Ich nicht mehr länger an diesem Ort bleiben will. Ich es nicht ertragen kann. Dieser Hass, den mir die Zwerge haben entgegengebracht - ich ihn nicht verstehe und ich nicht mit ihm leben kann." Der Troll schluckte. "Ich gedacht habe, ich hier glücklich werden könnte, aber es noch schrecklicher ist als... daheim... in den Spitzhornbergen." Seine Stimme versagte fast.
Igor und Kleiner Willie schwiegen betroffen.
"Ich jetzt sofort los ziehen werde", fuhr Scoglio fort, wieder gefasster. "Meine Reise wieder anfängt."
Eine Weile sagte niemand ein Wort. Dann räusperte sich Igor.
"Nun, ich fehe, ef ift dir Ernft", sagte er. "Und ich kann dich verftehen, glaube ich. Ef ift wahrfeinlich das Befte für dich. Aber fei dir ficher, daff ich dich nie vergeffen werde."
Scoglio sah ihn betrübt an und nickte.
"Wie, du wiillst jetzt gehen? Einfaach so?", fragte Kleiner Willie.
Der Troll nickte wiederum.
"Einfach so", sagte er. "Ich glücklich werden muss. Es nicht anders geht. Aber ich euch auch nicht vergessen werde. Euch alle nicht."
Scoglio wandte seinen Blick ab und starrte einen Augenblick die Höhle an - die Höhle, die ihm jetzt viele Jahre lang als Wohnstätte gedient hatte.
"Lebt wohl!", flüsterte er, zog die Kapuze seines Mantels über den Kopf und zog los.
Nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal um und winkte ihnen allen zu - die anderen Yeti-Ritter hatten sich mittlerweile auch vor der Höhle versammelt.
Dann ging er wieder weiter und verschwand langsam in der Ferne.
Scoglio blickte starr geradeaus auf den Tisch.
"Ihr Recht habt, ich euch nicht verhaften kann", sagte der Troll schließlich und seufzte. "Egal, was das für Konsequenzen haben wird."
Kleiner Willie grinste triumphierend.
"Siehst duu? Ich habe es diir ja gesagt."
"Aber sagt mal, ihr doch nicht nur hierher gekommen seid, um zu stehlen, oder?", fragte Scoglio.
"Nein, nein, wiir..." Der Yeti-Ritter brach ab. "Nun, wie sooll ich ees sagen? Du haast den Brief von Igor wohl schon beekommen, ooder?"
Scoglio nickte.
"Gerade heute morgen", sagte er.
"Oh, da haat Bleeth aber ziemlich laange geebraucht. Igor hat ihn vor eineem Jahr oder so losgeschiickt. Er haat noch ziemlich lange duurchgehalteen, aber kürzlich iist er dann doch gestorbeen. Uuns hat er noch etwas für diich gegeben, kurz bevoor er starb." Kleiner Willie machte eine rasche Handbewegung. "Na los, gib's ihm, Komiischer Kauz."
Der angesprochene Yeti-Ritter sprang zu dem Sack und zog ein großes, flaches Gebilde daraus hervor. Es war in Pergament eingewickelt. Komischer Kauz reichte es Scoglio, der es kurz einfach nur in den Händen hielt und es dann öffnete.
Er legte das Pergamentpapier zur Seite und hielt ein Bild von Igor in den Händen.
"Die Ikonoographie hatte er kuurz vor seineem Tod für dich aanfertigen laassen."
Scoglio war sichtlich bewegt. Seine Augen füllten sich mit Tränen und er starrte das Bild an, schien regelrecht in es hinein zuversinken.
Nach langer Zeit hob er seinen verklärten Blick wieder, wischte sich die breiige Salzmasse aus den Augen und sah, dass er ganz alleine war.
"Danke", flüsterte er und stellte das Bild auf den Tisch.
"Bitte, bitte, kein Problem!"
Scoglio erschrak und suchte den Raum mit seinem Blick ab. Woher kam diese Stimme? Es war doch niemand mehr hier.
Epilog
Ein Lachen ertönte.
"Kann der Herr Wächter nicht einmal eine Person in so einem kleinen Zimmer finden?"
Scoglio drehte sich um. Auf seiner Pritsche lag zufrieden grinsend Kleiner Willie.
"Was du noch hier machst?", fragte der Troll.
"Och, ich dachte mir, vielleicht hast du noch etwas von diesem Knieweich übrig? Ist ein verdammt gutes Zeug. Hab ich sonst nirgends außer in Ankh-Morpork gefunden."
Scoglio schüttelte den Kopf.
"Nein, leider nicht."
"Ach, ist nicht so schlimm. Ich werde hier noch häufig genug welchen finden."
"Moment... das heißen soll, du hier bleiben?", fragte Scoglio.
"Ja, sicher", antwortete Willie. "Ich hab gehört, dass mittlerweile viele Gnome hier sind. Ihr habt doch sogar in der Wache welche. Warum soll ich dann nicht hier bleiben? Es gibt so viele Möglichkeiten in einer Stadt. Die anderen Jungs wissen schon Bescheid und sind ohne mich fortgezogen, um ihr traditionelles langweiliges Leben weiter zu führen. Sie waren zwar nicht begeistert, aber sie haben es akzeptiert. Wenigstens wissen sie nichts davon, dass ich heimlich meinen Akzent abgelegt habe."
Scoglio stutzte. Das war ihm noch gar nicht aufgefallen, er war von diesen Neuigkeiten zu überrascht.
"Du denn schon wissen, wo du wohnen willst?", fragte er dann.
"Na, bei dir. Das heißt, falls du nichts dagegen hast." Der Yeti-Ritter lächelte unsicher.
Scoglio nickte - er konnte sich nichts Besseres vorstellen.
[1] In der M-Mission "Die Fänge des Farns Teil 2 - Apokralypse Jetzt"
[2] Die Trübsal ist ein Instrument aus dem fernen Wiewunderland, das an sich aus einem kleinen Rohr besteht, welches man sich in den Mund steckt und durch das man dann ein wenig bläst. Auch wenn Scoglio sie gar nicht spielen konnte und es auch im Moment gar nicht tat, eben aus dem Grund, weil er es nicht konnte, wollte er nicht so da sitzen bleiben und so
aussehen, als würde er Trübsal blasen.
[3] Es waren gute Hühner mit treu drein blickenden Augen gewesen.
[4] Dies hätte man sicherlich als rüde Geste auffassen können, wenn sie nicht so furchtbar magisch gewesen wäre.
[5] Nein,
das ist damit nicht gemeint. Ihm fiel vielmehr ein Stein vom Herzen.
[9][6] Wie Gartenzwerge, nur kleiner.
[7] Es hielt verdammt viel.
[7a] Ob sie es fanden, ist nicht bekannt.
[9] Nein,
das ist damit auch nicht gemeint.
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