Träume rauben dem Anwerber Amok Laufen seit kurzer Zeit den Schlaf und den Anwerber beschleicht ein unheimliches Gefühl, als die Träume Wirklichkeit zu werden scheinen.
Gleichzeitig plant jemand das Leben der jüngsten Bewohner Ankh-Morporks zu verkürzen.
Kann Amok die geplante Gräueltat noch rechtzeitig vereiteln? Oder hält er der kräftezehrenden Aufgabe als Anwerber und Wächter Ankh-Morporks nicht mehr stand?
Dafür vergebene Note: 10
Eine pechschwarze Straße führte weit hinein in ein ungewisses Ende. Keine nächtliche Gestalt befand sich auf dem Weg und soweit man nach hinten schauen konnte, denn ein dichter Vorhang aus weißem Nebel verbot jede weitere Sicht, waren nur vereinzelt Häuser festzustellen. Der Boden fühlte sich ungewöhnlich weich an und es war, als liefe man direkt auf dem Ankh entlang. Der Mond schickte einige Fäden hellen Lichtes zu Boden und überzog den schwarzen Weg mit einem silbernen Glanz. Der Himmel über der Scheibenwelt war wolkenlos - trotzdem war kein einziger Stern zu sehen.
Er streckte seine Hand in die Höhe und griff nach der kalten Luft. Sofort hielt er ein zähes Bündel von dieser in der Hand, deren Dunkelheit mit hellen Mondscheinfäden durchzogen war. Als er die Hand öffnete zerfiel der formbare Klumpen zu Staub und rieselte ungehindert von irgendeiner Art von Wind zu Boden, wo er nutzlos liegen blieb und darauf wartete, dass ihn die nächste Windböe weit weg von diesem Ort trieb. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, als er spürte, wie die Last von seiner Hand genommen wurde. Plötzlich wurde es noch stiller, als es eh schon zu sein schien. Aus dem Nichts tauchten Wolken auf und fielen zu Boden, wo sie dazu führten, dass sich der Nebel noch mehr verdichtete. Er dachte, er würde vom Nebel zerdrückt und schloss kurz die Augen um zu verhindern, dass sich das kondensierte Wasser in seinen Kopf schlich. Das tat es ständig, wenn man nicht darauf aufpasste. Er hörte Schritte. Schritte, die in kurzen Abständen hintereinander erfolgten und ganz langsam zeichneten sich unscharfe Konturen aus dem Nebel ab und ein Mädchen mit blondem, wallendem Haar war langsam zu erkennen. Es hatte ein weiches Gesicht und eine kindliche Nase, mit großen Augen.
Er kniff die Augen zusammen und sein Herz hörte auf zu schlagen, als sich ein Schrei aus dem Nebel löste.Erschrocken fuhr Amok zusammen und saß urplötzlich kerzengerade auf seinem Stuhl. Es brauchte einige Zeit, bis sich der Anwerber entsonnen hatte, wo genau er sich befand, doch nachdem er sich hektisch umgeblickt hatte, und ihm sein gitarrenähnlich anmutendes Instrument in seinen Regal ins Auge fiel, fühlte er sich sicher und ließ sich wieder erschöpft in seinen Stuhl sinken. Kopfschüttelnd legte er die Stirn in Falten und strich sich mit den Händen über das Gesicht, wobei er tief durchatmete. Schon wieder hatte ihn dieser Traum aus dem Schlaf gerissen. Mittlerweile durften es fast sechs Nächte gewesen sein, in denen er nicht ordentlich geschlafen hatte und dementsprechend fühlte er sich auch. Doch es hatte auch einen Vorteil: Der Stapel Akten auf seinem Schreibtisch hatte beachtlich an Masse abgenommen, denn in letzter Zeit war er häufig mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden und urplötzlich so wach gewesen, dass er sich sofort an die Arbeit machte in der Hoffnung wenigstens wieder etwas müde zu werden. Doch die erhoffte Wirkung blieb meistens aus und der Schlafmangel zeigte sich folglich meist eher am Tag, wenn er wirklich arbeiten wollte. Genau betrachtet war es sogar ein Glücksfall, dass Amok diesmal im frühen Morgen geweckt wurde. Der Anwerber ließ seinen Blick zum Fenster schweifen, welches wie immer weit offen stand, um der kalten Nachtluft Einzug zu gewähren. Ein paar milde Sonnenstrahlen färbten die Stadt sanft rot und zum ersten mal nahm Amok singende Vögel wahr, die meist schnell wieder verschwanden, wenn die Stadt gähnend erwachte und die ersten Leute ihren Arbeiten nachgingen. Dann brauchte niemand mehr die Vögel und diese schienen das zu merken und reagierten trotzig, indem sie davon flatterten. In der Stadt war daraufhin meist nur der Lärm der Menschen und Unmenschen zu hören gewesen. Amok war sich nicht sicher welche Spezies er am meisten verabscheute, doch er tendierte von Tag zu Tag zu den Menschen.
Wie lange war er nun schon bei der Wache? Vielleicht ein paar Monate und immer noch war der Winter nicht angebrochen. Amok zweifelte, dass es in der Stadt überhaupt so etwas Schönes wie den Winter geben konnte, doch dann entsann er sich, dass eine so kalte Stadt eigentlich etwas Kaltes verdient hätte. Ja, der Anwerber hatte diese Stadt bis jetzt als nichts anderes kennen gelernt und die Botschaft, die er von seinem Vater als Jugendlicher erfahren hatte und die seine Mutter betraf, trug nicht grad zur Besserung des Eindrucks der Stadt bei. Seine Mutter, so hatte ihm sein Vater, zu welchem Amok ebenfalls nie ein gutes Verhältnis gehabt hatte, berichtet, hatte sich angeblich auf der Durchreise befunden, als sie die Mittellande, Amoks Geburtsort - doch niemals Heimat - durchstreifte. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass sie 13 Monate geblieben war. Als Amok drei Monate alt war, war sie verschwunden und hatte nur die Botschaft hinterlassen, dass sie nach Ankh-Morpork reisen wollte. Sie hatte Amok zurück gelassen. Er hasste sie dafür, weil er der Kälte des Volkes seines Vaters hilflos ausgeliefert war, obwohl er die Gene eines Menschen in sich trug. Amok schob die Gedanken bei Seite. Zu oft versank er in der Vergangenheit und machte seinen Eltern jedes Mal aufs Neue Vorwürfe, die letztendlich - so wusste er natürlich - zu nichts führten.
Er nahm sich ein Blatt und einen sehr weichen Stift und begann - vielleicht um sich abzulenken - das Gesicht des Mädchens zu malen, welches er im Traum gesehen hatte. Irgendwie hatte sich das Gesicht in seine Gedanken gebrannt, und als er die Zeichnung vollendet hatte legte er Stift und Papier zur Seite und fühlte sich tatsächlich etwas erleichterter. Sein Blick fiel auf einen Zettel, der eine andere Färbung, als die restlichen Akten und Blätter auf seinem Schreibtisch aufwies. Irritiert zog er das Papier hervor und las, was in großen Lettern als Schrift hervorging:
WOHNUNG ZUR VERMIETUNG!
Nur schleichend kehrte der Gedanke zurück, wieso er diesen Werbezettel vom "Hier-gibt's-alles-Platz" mitgenommen hatte. Wahrlich hatte er sich vor kurzem Gedanken darüber gemacht, wieso er bis jetzt immer noch keine eigene Wohnung besaß und gezwungen war, in seinem Büro sein Nachtlager aufzuschlagen. Er hatte mitbekommen, dass das seine Person bei den anderen Wächtern noch erschreckender wirken ließ und sich entschlossen, auf Wohnungssuche zu gehen. Zugegeben erweckte dieser Zettel nicht gerade den Eindruck einer seriösen Unterkunft, doch konnte er ohnehin nicht mehr identifizieren, ob die Fettflecken von seiner letzten Mahlzeit stammten oder nicht. Also ging er vom besseren Fall aus, was eigentlich untypisch für Amok war, doch ungewöhnlicherweise wollte er sich die Wohnungssuche nicht gleich selbst vermiesen. Der Anwerber entschloss sich gleich aufzubrechen und erhob sich auch seinem Stuhl. Dann verließ er sein Büro und ließ die Tür hinter sich zufallen.
"Ah... Amok!", ertönte die Stimme des Abteilungsleiters Llanddcairfyn hinter Amok, der gerade dabei war das R.U.M Gebäude zu verlassen.
"Ähm, ja Sör?" Amok drehte sich leicht verdutzt um.
"Hab dich lange nicht mehr gesehen Rekrut", merkte der Hauptmann lächelnd an.
Amok verstand seine Bemerkung falsch und salutierte sofort. Er war mit den Gedanken eben ganz woanders gewesen.
"Ich meine nur", begann der Vorgesetzte, "man sieht dich kaum aus deinem Büro herauskommen und wenn ich mir erlauben darf: Du siehst nicht wirklich wach aus...?"
"Nur ein paar Schlafstörungen", winkte Amok ab und klang unabsichtlich leicht genervt, womit der Abteilungsleiter scheinbar umzugehen wusste und so gleich zu seinem Anliegen kam.
"Ich hätte einen Auftrag für dich."
Amok grinste in sich hinein.
Das weiß ich, hätte er antworten können, denn selten sprach ihn sein Vorgesetzter an, wenn es nicht um einen Fall ging. Es war immer dasselbe. Daemon machte einen verwirrten Eindruck und verwirrte Amok meist unbewusst mit. Dann schweifte er mit den Gedanken ab, um schließlich noch verwirrender auf den Fall zu sprechen zu kommen. Amok sagte gut oder etwas dergleichen und ging der Sache nach, beziehungsweise suchte die für den Fall gewünschten Informanten. Der Alltag hatte das Leben des Anwerbers bei der Wache schneller eingeholt, als er es je vermutet hätte.
"Wir haben einen anonymen Hinweis erhalten.", riss Hauptmann Llanddcairfyn Amok aus den Gedanken.
"Einen Hinweis...", wiederholte Amok gelassen.
"Richtig... einen Zettel auf dem steht, dass bald mehrere Morde geschehen werden..."
"In der Nähe des Ankhs nehme ich an", unterbrach Amok seinen Vorgesetzten.
"Genau." Amok zwinkerte extrem langsam und lächelte kopfschüttelnd.
Wirklich immer dasselbe. "Wir wissen natürlich nicht, ob es stimmt, doch wir wollen kein Risiko eingehen. Wir wissen nur, dass es vor Ewigkeiten mal einen Mord gegeben hat, bei dem anschließend Massen von diesem Hinweiszetteln eingegangen sind. Wir konnten den Mörder jedoch nie finden. Also schau hör dich am besten etwas um und such Informanten, die uns weiterhelfen könnten."
"Darf ich den Zettel vielleicht mal sehen?", fragte Amok. Daemon zögerte.
"Gut, aber nur weil es zum Teil dein Fall ist." Aus der Tasche zog er einen gelben, ausgeblichenen Zettel. Mit roter Tinte, oder zumindest etwas, was so aussah stand ein Schriftzug darauf:
"Es geht waiter. Ballt Mort baim Ankh. Sie ist bai mir. Passt auf! Sie ist gefährlich!"
Amok legte die Stirn in Falten. Er wusste, dass die Rechtschreibung nicht beliebt war, aber so etwas verursachte bei ihm wirklich Kopfschmerzen. Der Anwerber beäugte das Stück Papier näher und entdeckte einen Fleck an der Rückseite des Blattes.
"Ist das Wachs?", wollte er wissen.
"Das
war Wachs.", betonte Deamon. "Jemand hat es abgekratzt."
Seltsam, dachte Amok. Wieso kratze jemand Wachs von der
Rückseite eines Blattes? Nochetwas war auffällig, denn auf der unteren, rechten Ecke befand sich eine Zahl, die eindeutig gedruckt worden war.
"5", sprach Amok laut.
"Was?", wollte Dae wissen.
"Da ist eine 5. Und auf der anderen Seite...", Amok wendete das Blatt um anschließend Bestätigung seiner Vermutung zu finden. "Ja, auf der anderen Seite ist eine sechs. Die Seiten stammen aus einem Buch."
Dae war irritiert. Wieso war das noch niemandem aufgefallen?
"Wir kümmern uns darum! Und zwar sofort." Er riss Amok den Zettel aus der Hand und rauschte leicht sauer ab.
Der Anwerber zog die linke Augenbraue hoch. Dann kramte er in seiner Tasche herum und holte den Werbezettel heraus. Die Straße in welcher sich die Wohnung befinden sollte war gut zu lesen und der Rekrut öffnete die Tür des Wachegebäudes, um die volle Kraft der Strahlen der morgendlichen Sonne entgegengeschleudert zu bekommen.
Müde verließ der Anwerber das Haus. Er hatte die Wohnung nicht bekommen. Zugegeben es war nicht gerade das schönste Exemplar, doch es hätte allemal genügt um unter halbwegs akzeptablen Bedingungen zu leben. Die kleine Wohnung bestand aus einem Schlafzimmer, welches gleichzeitig als Küche und Wohnzimmer dienen musste und einem kleinen Bad. Amok dachte etwas länger darüber nach und stellte fest, dass es vielleicht doch nicht so schlimm war die Wohnung nicht bekommen zu haben
[1] Viel mehr Sorgen machte ihm jedoch, dass der aufgrund seines Daseins als Wächter abgelehnt worden war.
Es sei zu gefährlich Mitgliedern der Wache Unterkunft zu gewähren, hatte die Vermieterin sinngemäß gesagt- natürlich hatte sie es mit genug ähms, öhms und tjas geschickter auszudrücken versucht, was gegenüber einem Anwerber jedoch vergleichsweise wenig, um nicht zu sagen gar nichts brachte.
Was war das nur für eine Stadt, in welcher Wächter einen solchen Ruf "genossen"?
Aber Amok gab die Hoffnung nicht auf, doch noch eine Wohnung zu finden.
Achtlos zerknüllte er den Zettel mit der Werbeaufschrift und warf ihn achtlos auf den Boden, nicht daran denkend, dass er so gewiss kein Vorbild für die Kinder darstellte, die auf der Straße spielten.
Dann dachte er wieder an den Fall. Was hatte Dae gesagt? Amok sollte sich umhören, ob jemand von einer geplanten Mordreihe wüsste? Ja, so in etwa lautete der Auftrag. Der Anwerber strich sich das glatte Haar aus dem Gesicht und machte sich auf in die geflickte Trommel- wie gewöhnlich auch.
NEIN!, kreischte die Stimme in ihrem Kopf.
Leg es zurück! Wieso Kinder? Wieso überhaupt!? Sie hasste die Stimme, die sie im letzter Zeit immer öfter versuchte abzulenken. Doch sie war es auch gewohnt, sie zu ignorieren und war sich ihrer Aufgabe wohl bewusst. Eigentlich war es keine Aufgabe, es war ehr ein Akt der Verzweiflung und dem Hass gegenüber derjenigen, die bekommen konnten, was ihr verwehrt blieb. Sie nahm das Messer in die Hand und schärfte es mit ein paar Wetzsteinen. Dann blickte sie nach draußen, wobei ihre blonden Haare etwas die Sicht behinderten, was sie jedoch ebenfalls zu ignorieren wusste. Solche Kleinigkeiten störten den bösen Teil in ihr nicht mehr. Sie hatte schlimmeres erlebt.
Sie ging zum Waschbecken und füllte einen Becher mit Wasser. Dann steckte sie sich einige Kräuter in den Mund, die sich dann mit dem Wasser hinunterspülte. Kurz darauf erstarb die Stimme in ihrem Kopf völlig. Die Konsequenz waren starke Kopfschmerzen und so verzog die junge Frau ihr Gesicht schmerzlich. Nach einiger Zeit hatten sich die Schmerzen gelegt und sie war endlich fähig, nach draußen zu gehen.
Sie musste aufpassen, ob die Wache verdacht schöpfte, denn irgendetwas sagte ihr, dass nicht alles so verlief, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie hoffte nicht, dass SIE das verursacht hatte, denn SIE war die einzige, gegen sie sich nichts unternehmen konnte ohne sich selbst zu schaden.
Der Anwerber war vom Weg abgekommen. Durch die vielen Gassen hatte er sich irgendwie selbst verloren und gelangte immer wieder zum "Hier gibt's alles" Platz, als würde ihn irgendetwas immer wieder aufs Neue dort hinführen.
Mist., grummelte Amok und beugte sich dem Schicksal, an das er nicht glaubte, indem er mitten auf den Platz spazierte.
Eine junge Frau mit blondem Haar blockierte nach einiger Zeit seinen Weg und streckte ihm einen Zettel entgegen, den Amok sofort wiedererkannte.
"Bitte sehr", sagte sie kühl.
"Oh nein!", lachte Amok bitter und winkte ab. "Da war ich schon, danke."
Amok überlegte. Hier am Markt bekam man doch sicher so einiges mit...
"Aber", rief er der Dame hinterher, die sich gerade wieder von ihm entfernen wollte. "Ich kann ja einfach noch einmal hingehen." Er grinste und ließ sich zum zweiten Mal den Zettel geben. Die Dame zeigte keinerlei Gefühlsregungen. Schweigend gab sie ihm die Werbung, wobei ihr die Haare ins Gesicht fielen, was sie aber nicht weiter zu stören schien.
Unauffällig beäugte sie Amok.
"Ich würde...", wollte der Anwerber beginnen, seiner Aufgabe nachzugehen, als sich die Frau plötzlich umdrehte und im Schnellschritt verschwand.
"Hey!", rief ihr Amok hinterher und fluchte leise, als er feststellte, dass sie ihn nicht mehr hören konnte, da der Platz wie immer sehr belebt war und eine dementsprechende Geräuschkuliesse aufwies.
[2]Der Anwerber schaute ihr einige Zeit nach, als er plötzlich eine Stimme vernahm.
Wortfetzen wie: "...wie geht es dir?" und "Sag doch etwas", waren deutlich zu hören und seine Blicke machten eine alte Frau aus, die aus dem Fenster auf die Straße schaute und der Frau verzweifelt versuchte etwas zuzurufen. Sie schien die Frau zu kennen und irgendetwas veranlasste Amok, mehr über sie zu erfahren. Die Tatsache, dass die Frau gar nicht erst versucht hatte Amok zu überreden und einfach so von ihm abließ verwirrte ihn zutiefst und ließ die Dame verdächtig erscheinen. Wenn auch nicht in dem Fall, an dem er gerade mitwirkte.
"Entschuldigung!", rief Amok der Alten zu und stellte sich direkt unter das Fenster.
"Kennen sie diese Frau?"
Die Alte schien verunsichert. "Ja", kam nach Längerem ihre zittrige Stimme zum Vorschein. Doch schnell lächelte sie.
"Wohl ein Verehrer, wie?", spaßte sie und wirkte dabei nicht unsympathisch.
"Nun ja...", stammelte Amok. Vielleicht war es ganz gut, die Alte in dem Glauben zu lassen. So würde er vielleicht etwas mehr über die Frau erfahren können ohne seine Identität zu gefährden.
"Vielleicht können sie mir etwas über sie erzählen? Ich sehe sie jeden Tag auf dem Platz und..."
"Schon gut.", sagte die Alte mit zittriger Stimme. "Kommen sie hoch!"
Eine Wand widerlichen Gestanks schwappte Amok entgegen und er kämpfte darum, einen Hustenanfall zu unterdrücken. Unangenehme Süße mischte sich mit einem anderen beißenden Geruch und in dem Flur, in den Amok eingetreten war, befand sich natürlich kein Fenster, so, dass die Düsternis mit dem Gestank fast einschläfernd wirkte. Es war fast, als hätte niemand mehr seit Monaten die Tür geöffnet. Doch woher bekam die Frau dann Nahrung?
Die Alte führte Amok in einen größeren Raum und der Gefreite musste feststellen, dass sie sogar noch ziemlich schnell laufen konnte. Ihr graues, volles Haaren war zu einem langen Zopf zusammengebunden graue Augen in fast derselben Farbe, strahlten aus einem von der Zeit gezeichneten Gesicht hervor.
Im Raum löste sich der Gestank allmählich und zwei Fenster, eines davon geöffnet, ließen etwas Sonnenlicht hinein.
"Setz dich", sagte die Frau und bot Amok die grüne Couch an, welche sich neben einem Tisch im Zimmer befand. Ein wuchtiges Bücherregel aus dunklem Holz war vollgestopft mit Büchern, so, dass leicht zu erahnen war, welchem Hobby die Frau nachging, wenn sie nicht gerade aus dem Fenster guckte.
"Und, wie ist es draußen?" Bertha hatte den Kopf nach vorn gestreckt und reckte Amok einen Teller mit alten Keksen entgegen. Der Gefreite schreckte auf und wich mit seinem Kopf angewidert nach hinten.
Die Alte schien die Hand, die Amok ihr als Zeichen dankbarer Ablehnung entgegenstreckte, nicht zu bemerken
[3], denn sie streckte das Gebäck nur noch weiter in Richtung von Amoks Gesicht. Mit zitternder Hand nahm er einen der Kekse und zwang sich zu einem Lächeln.
Genaustens beäugte er das Stück und meinte ein paar schimmlige Stellen entdecken zu können. Auch einige Haare und Verkrustungen deuteten darauf hin, dass die Kekse schon eine ganze Weile in einem Hinterzimmer herumgelegen haben mussten.
Er hielt das Gebäck in der Hand, in der Hoffnung die Alte würde auch nur für ein paar Sekunden wegschauen, damit er den Keks entsorgen konnte - doch im Gegenteil. Sie starrte mit großen Augen, aus denen Vorfreude sprach, und einem Lächeln abwechselnd auf Amok und den Keks und bemerkte nicht, wie Amok der Schweiß von der Stirn rann.
"Na ja, wahrscheinlich ist er zu trocken. Ich hol dir etwas Wasser." Und sie verschwand in einem anderen Zimmer.
Scheinbar wie von selbst fand das Gebäck seinen Weg durch das Fenster und der Gefreite ließ sich entspannt in die Couch sinken. Er schnaufte und wollte nicht daran denken, wie schlimm das Wasser aussehen musste, dass er jeden Moment trinken sollte.
Schnell trat die Frau mit einem Glas wieder zurück in das scheinbare Wohnzimmer und setzte ein Grinsen auf, als sie sah, dass der Keks verschwunden war.
Mit einem
Klack, setzte das Glas auf dem Tisch auf und die Frau ließ sich erneut in den Sessel nieder.
"Und, wie ist es draußen?", wiederholte sie die Frage, als sie einen ganzen Teller voll Kekse unter dem Sessel hervor holte und auf den Tisch stellte.
Amoks Augen weiteten sich und die Frage erreichte nur schleichend sein Gehirn.
"D-d-draußen?", stotterte er und zwang sich wieder zur Besinnung. Wie absurd, dass die Frau das fragte, obwohl sie doch scheinbar den ganzen Tag vor dem Fenster verbrachte, was ein Kissen bewies, welches auf dem Fensterbrett lag und schon einige Abnutzungsspuren aufwies. Auch ein paar Druckstellen wiesen eindeutig darauf hin, dass sie das Kissen regelmäßig zweckentfremdete.
"Es ist hell.", antwortete er schlicht. "Bitte, verstehen sie mich nicht falsch, aber ich möchte so schnell wie möglich erfahren wer..."
"Ja, ja", erfüllte die Frau das Klischee alter Menschen und sprach mit Worten in typischer Betonung. "Man hat heute keine Zeit mehr. Deswegen gehe ich nicht raus. Deswegen bleibe ich hier."
Amok entschied sich nicht weiter nachzufragen, denn er befand sich wirklich etwas im Stress. Er musste endlich vorankommen und herausfinden, was es mit der Frau auf sich hatte.
"Sehen sie oft aus dem Fenster?", versuchte der Anwerber das Gespräch ruhig zu beginnen.
"Ja, ich sehe gerne wie die Menschen ihre Zeit verschwenden. Und ich schaue mir gern die Vögel an. Wissen sie: Wenn man mit den Vögeln spricht, kommen sie öfter wieder."
Amok atmete tief durch und verarbeitete, was die Frau sagte.
wie die Menschen ihre Zeit verschwenden, das war das faszinierendste, was er in Ankh-Morpork jemals gehört hatte und dazu noch von jemandem, der nicht zu viel getrunken hatte. (obwohl die Dame zugegeben etwas verrückt wirkte, aber Amok war schon immer davon überzeugt gewesen, dass die Verrückten die Gesunden wären und umgekehrt... - wenn er so darüber nachdachte konnte ein ganzer Tag vergehen, denn es entstanden immer wieder neue Widersprüche)
Wie gern hätte sich der Rekrut auf ein Gespräch eingelassen, was zweifellos sehr interessant gewesen wäre, doch die Zeit hielt ihm ein Messer an den Hals.
"Kennen sie die Frau denn schon lange?", wollte Amok wissen.
Die Alte starrte auf die Kekse und warf Amok einen bittenden Blick zu.
Der Anwerber starb tausend Tode, als ihm bewusst wurde, dass es nun kein Entrinnen mehr gab. Nach langer Zeit überwand er sich und griff nach dem kleinsten Keks, den er finden konnte. Mit einem schmerzverzogenen Lächeln, schob er den ganzen Leckerbissen in den Mund und kaute gerade auf einem Haar herum.
Er war überrascht, dass nichts seine Speiseröhre hinaufschoss, bis er sich daran erinnerte, dass er heute auch noch nichts gegessen hatte. Mühevoll kaute er auf dem harten Gebäckstück herum, während die Alte immer breiter lächelte.
Nach einer Weile gab er es auf zu kauen, denn er hatte Angst sich die Zähne abzubrechen und würgte den harten Klumpen schmerzlich den Rachen hinunter.
Amok wusste nicht was das für Kekse waren, doch er war sich sicher wer der Täter war, wenn irgendwann mal jemand mit Teiggebäck erschlagen werden würde.
"Ja", beantwortete die alte Frau endlich Amoks Frage, welchem nun ein Stein vom Herzen fiel. Wie viel Gebäck musste er wohl noch essen, um Informationen zu bekommen?
"Sie verteilt hier öfter Werbezettel. Früher war sie besonders oft hier. Hab mich oft mit ihr unterhalten - scheinbar war sie der einzig normale Mensch in dieser verkommenen Stadt", die Alte verdrehte die Augen und sog die Luft tief in ihre Lungen. Dann nahm sie sich einen ihrer Kekse und stecke ihn sich in den Mund.
"Gut, nicht?"
Amok nickte zustimmend, in der Hoffnung verschont zu bleiben.
"Doch die Zeiten ändern sich", fuhr die Alte fort.
"Was meinen sie?", wollte Amok wissen.
"Nun...", sagte die Frau. "Sie erzählte mir, wie sehr sie sich ein Kind wünschte, doch leider hat sie nie welche bekommen können. Irgendwann hatte es dann aus irgendeinem Grund doch geklappt." Sie machte eine Pause. "Die Arme."
"Wieso? Das klingt doch, als hätte sie ein schönes Leben gehabt", merkte Amok an.
"Nein. Das Kind wurde ermordet. In der Nacht. Es hatte sich in der Stadt verlaufen. Sie war danach nie wieder dieselbe. Hat kaum noch mit mir geredet und sich immer mehr zurückgezogen. So wie ich", lachte die Alte bitter. Der Vergleich schien ihr wirklich sehr ironisch.
"Trauriges Schicksal." Sagte Amok und bedauerte, dass es ihn leider in keinster Weise weiter brachte.
"Ach was. Das dürfte sie doch nicht interessieren, oder? Sie müssen ihren Fall lösen."
"Ich...!", setzte Amok an und blickte erschrocken auf. Woher wusste sie, dass...?
"Du solltest deine Dienstmarke nicht so offensichtlich tragen."
Hektisch blickte der Anwerber an sich hinab. An seiner Brust erkannte er, wie sich deutlich die Konturen seiner Dienstmarke abzeichneten.
"Verdammt!", fluchte er und schreckte auf. Damit war seine Tarnung nun endgültig aufgeflogen.
"Nein, warte", sagte die Alte beruhigend und veranlasste Amok sich wieder hinzusetzten, indem sie ihm sanft die Hand auf die Schulter legte.
"Wen interessiert das schon? Gut ich versteh nicht ganz, wieso man zur Wache geht, aber...meine Güte - wir machen alle Fehler. Ich auch..."
Aber nicht den, sich als Anwerber in der ganzen Stadt zu verraten! dachte Amok still und grummelte vor sich hin.
"Also, um was geht es wirklich..."
Amok schwieg.
"Also Ermittler bist du nicht, sonst hättest du nicht versucht deine Dienstmarke zu verstecken."
Woher kannte sie sich so gut aus? Und überhaupt, wieso erkannte sie eine Dienstmarke so gut?
"Ich tippe auf R.U.M."
Der Anwerber war sprachlos. Woher wusste sie das?
"Dachte ich's mir doch. Gute Abteilung."
"Wer sind sie?", wollte Amok misstrauisch blickend wissen und konnte immer noch nicht fassen wie leicht er scheinbar zu durchschauen war.
"Mein Name wird dir wahrscheinlich nichts sagen. Aber ich war bei der Wache. R.U.M.", die Frau lächelte. "Püschologin."
Nun war Amok alles klar und er lehnte sich kopfschüttelnd wieder in die Couch zurück.
"Also?"
"Anwerber." Amok war egal, wie leichtfertig er mit seiner Identität umging - irgendwie hatte er das Gefühl, dass er der Alten wirklich trauen konnte.
"Ahhh, natürlich."
"Was soll das denn heißen?"
"Nichts... Man kann nur leicht drauf kommen, wenn man etwas von Körpersprache versteht..."
Fassungslos schüttelte Amok wieder den Kopf. "Wie dem auch sei... Dann kann ich ja offen mit Ihnen sprechen..."
"Richtig."
"Wissen Sie sonst noch etwas über die Frau?"
"Nein, das ist leider alles. Schade, zuerst dachte ich wirklich du seiest ein Verehrer..."
"Hmmm...", grummelte Amok und erhob sich um zu gehen. "Dann danke ich Ihnen für ihre Mitarbeit."
"Moment", sagte die Frau. "Anwerber sagtest du?"
"Ja."
Die Alte grinste. "Dann hast du eine neue Informantin."
Die Sache schien immer absurder zu werden. Eine ehemalige R.U.M. Püschologin, die sich urplötzlich als Informantin bereit erklärte. Etwas besseres hätte Amok eigentlich nicht passieren können, doch er war zu verwirrt um einfach glücklich sein zu können.
"Gut", lachte Amok, da er mit der ganzen Sache leicht überfordert war.
"Warte, ich begleite dich runter", bot die Alte an, als Amok den Raum schon fast verlassen hatte. "Die Tür unten klemmt manchmal."
Sie kamen an einer Wohnung vorbei und aus dem Augenwinkel erkannte Amok, dass keine Möbel in der Wohnung standen.
"Wohnt hier denn keiner?"
"Nein. Die Leute konnten ihre Miete nicht zahlen. Und sie haben meine Wohnung wirklich nicht gerade gut gepflegt, wenn ich es höflich ausdrücken möchte."
"
Ihre Wohnung?", wollte der Anwerber interessiert wissen und vergaß für kurze Zeit, dass er mit dem Fall keinen Schritt weiter gekommen war.
"Ja. Ich bin die Vermieterin."
Stolz öffnete Amok die Tür Wachehaus und setzte mutig einen Fuß über die Schwelle. Er hatte doch tatsächlich eine Wohnung gefunden, die sich sogar mit dem bisschen Geld, was er verdiente, bezahlen ließ. Eine Last war plötzlich von ihm abgefallen und er bildete sich ein, er könne alles schaffen. Dae schritt geradewegs auf ihn zu.
"Sör.", Amok salutierte.
"Amok.", sagte Daemon mit fester Stimme.
"Schon etwas herausgefunden?"
"Nein Sör, leider nicht. Und bei ihnen?"
"Allerdings.", nickte Dae. "Du hattest recht. Es war eine Buchseite."
Amok brauchte eine Weile, bis er sich wieder daran erinnerte, woran Dae und seine Leute im Wachehaus arbeiteten.
"Aus einem Buch aus der Unsichtbaren Bibliothek."
"Was!?", fragte Amok ungläubig nach. "Und welches?"
"Das wissen wir noch nicht. Wir haben ein paar Ermittler hingeschickt, die sollen dort herausfinden, ob etwas ausgeliehen wurde und wenn ja darauf warten, bis es jemand zurück bringt."
"Und wenn es gestohlen wurde?"
"Davon gehen wir noch nicht aus", meinte Dae und klang dabei, als versuche er sich noch selbst davon zu überzeugen.
"Wenigstens geht es voran", merkte der Anwerber an.
"Genau."
Amok salutierte. Dann ging er hinauf in sein Büro.
Die Tür dazu stand offen. Amok überlegte. Hatte er sie vorhin etwa nicht geschlossen? Unsicher und vorsichtig betrat er das Zimmer und stand mitten in einem Gewirr aus Akten und verschiedenen Blättern. Eine dunkle Schicht Tinte hatte fast jedes der Blätter erfasst und färbte sogar schon den Boden tiefschwarz.
"Oh nein!", rief Amok, als er erkannte, dass das Wichtigste, was er besaß verschwunden war, denn da wo einst sein gitarrenähnliches Musikinstrument im Schrank ruhte, lag nun ein Zettel.
Vorsichtig nahm ihn Amok in die Hand und las, was darauf vermerkt war.
"misch dich nich ain!"
Auf Anhieb erkannte Amok diese schreckliche Schrift, die widerliche Tinte und die Rechtschreibung des Verfassers wieder und stürmte nach unten.
"Noch eine Botschaft!", verkündete er lauthals und streckte die Hand mit der Nachricht in die Höhe. Seine gute Laune und sein Optimismus waren von einem auf den anderen Moment verschwunden.
"Was!?" Daemon schien nicht zu glauben, was er da hörte.
"Diesmal eine Drohung, Sör!", sagte Amok und beäugte das Blatt gut.
"7! Und auf der Rückseite ist ein Wachsfleck."
"Bring mir den anderen Zettel", meinte der Abteilungsleiter zu einem Rekruten, der sich scheinbar noch in Ausbildung befand, ohne ihn anzusehen, der ihn scheinbar aber trotzdem genau verstand.
"Jawohl, Sör!"
Schnell war er wieder da und gab Daemon den Zettel. Dieser verglich ihn mit dem Neuen.
"Die Wachsflecken passen zusammen."
"Ja, das war eindeutig derselbe Autor!"
"Daran gibt es gar keinen Zweifel! Aber...", der Vorgesetzte schien die beiden Zettel zu überfliegen.
"Das ergibt keinen Sinn!", kam Amok ihm zuvor.
"Allerdings...", überlegte Dae...
Ballt mort baim Ankh. Sie ist bai mir. Passt auf! Sie ist gefährlich!
"misch dich nich ain!"
"... eine Warnung und eine Drohung, allerdings vom selben Autor...?"
Die beiden schwiegen eine Weile. Niemand schien sich einen Reim aus den Beweisen machen zu können und Amok zog scharf die Luft über die Unterlippe, was Daes Aufmerksamkeit auf ihn zog.
"Es hat heute keinen Sinn mehr. Wir müssen abwarten, was unsere Ermittler herausgefunden haben. Mehr können wir nicht tun. Auch, wenn es vielleicht um Mord geht. Mach für heute Schluss."
Amok nickte. Dann salutierte er, doch sein Vorgesetzter war bereits verschwunden. Nachdenklich schaute Amok zu Boden, während er die knarrenden Treppen hinaufging. Irgendetwas hatte er übersehen. Irgendetwas
musste er übersehen haben.
Im Büro war es kühl. Durch das offene Fenster fluteten die letzten Sonnenstrahlen des Tages, welcher sich langsam dem Ende zuneigte. Der Anwerber entschied sich sein Büro am nächsten Tag aufzuräumen - jetzt war er zu kraftlos.
Sein Blick glitt zum Fenster. Er lief langsam darauf zu und musste an seine neue Wohnung denken. Dann schloss er das Fenster zum ersten Mal und ging ohne die Tür zu schließen.
Der Boden schien seine Konsistenz zu verlieren und glitt in einem zähen sanften Strom, eine dunkle Straße hinab. Trotzdem war es ihm unmöglich zu stehen. Dichter Nebel verdeckte die Sicht und schmerzte fast in den Augen, als er die Luft langsam in seine schmerzenden Lungen sog. Es war, als würde der Nebel jeden Sauerstoff aus der umgebenen Luft reißen und so fühlte er sich, als atme er aus einem Luftballon.
Plötzlich sah er in der unendlichen Düsternis den Umriss eines Kindes. Es machte Laute, von welchen man nicht zu urteilen wagte, ob es ein Lachen oder Hilfeschreie waren. Immer schneller kam es näher und er fühlte, wie das Herz des Kindes lauter und schneller Blut durch die kalten Venen pumpte.
Langsam verwandelte sich die verschwommene Silhouette zu einem Gesamtbild und eine lockige Mähne deutete auf ein Mädchen hin. Ganz eindeutig rief es etwas, was er jedoch nicht hören konnte, denn Wind zog auf und riss dem Mädchen jedes Wort sofort von den Lippen. Er kniff die Augen fest zusammen, ein Versuch gleich von den Lippen zu lesen, was das Mädchen sagte, doch mehr als ein M konnte er nicht erkennen, denn irgendwie formte der Mund nur sinnlos aneinandergereihte Buchstaben. Er musste handeln und wollte gerade losrennen, als er im Boden versank und bis zu den Knöcheln stecken blieb.
Eine fremde Gestalt näherte sich dem Mädchen, als es ihn fast erreicht hatte. Eine Frau mit blondem Haar kam zum Vorschein und lief dem Kind mit weit aufgerissenen Augen hinterher. In der Hand hielt sie ein Messer und als das Mädchen nur noch einen Fuß von ihm entfernt war, war es, als würde dem Kind etwas in den Rücken gerammt.
Schmerzlich schloss er die Augen, als er das Blut aus des Mädchens Mund rinnen sah.Erschrocken riss Amok die Augen auf und rang mühevoll nach seinem Atem. Aus Angst er könne ersticken sprang er plötzlich auf und blickte geschockt auf den düsteren Boden seiner Wohnung. Immer wieder schaute er hektisch von einem Punkt auf den anderen und gab sich nicht einmal Mühe etwas zu erkennen. Viel zu sehr beschäftige ihn der vergangene Traum und besonders die beiden Personen. Die Frau! Diese Frau! Er hatte sie schon mal irgendwo gesehen!
Hektisch blickte er sich um, da er Angst hatte, sie könne sich im Raum befinden.
"Der Marktplatz!", rief er plötzlich laut aus und warf sich schnell ein Hemd über den Körper. Die Hose hatte er bereits an. Dann machte er sich auf zum Abteilungsgebäude.
Amok hatte Glück, denn die Sonne schickte bereits erste Strahlen zum Boden der Scheibenwelt. Die erste die ihm über den Weg lief war Frän Fromm, welche gerade mit einem Stapel Akten umherzuspazieren schien und nun plötzlich halt machte um Amok mit zerknirschtem Gesicht zu mustern.
"Amok?", fragte sie ungläubig, als würde sie nicht erkennen, wer da vor ihr stand. Wahrscheinlich war der Anblick eines so außer sich dastehenden Amok doch zu selten, als dass man es hätte ignorieren können.
"Wo ist er?!", wollte Amok wissen, ohne weiter auf Fräns Anmerkung einzugehen.
"Guten Morgen auch", brummte Frän etwas beleidigt, was dem Anwerber allerdings völlig egal war. "WO IST ER FRÄN!", sagte er nun schon fast aggressiv.
"Schon gut!", rief Frän zurück. "Beruhig doch mal! Wer denn überhaupt?"
"Dae!"
"Dort hinten...", sie deutete mit der Hand in einen der hinteren Räume. "...aber was..."
Sie konnte ihren Satz nicht mehr beenden, denn sofort stürmte Amok in den Raum und ließ die Püschologin einfach stehen. Diese verdrehte nur die Augen, als würde sie darum ringen müssen sich einen Spruch verkneifen zu müssen, steckte sich einen Keks, von dem Teller auf dem Tresen in den Mund und verschwand in ihr Büro.
"Sör!", rief Amok Dae entgegen, der direkt vor ihm stand und vergaß dabei zu salutieren.
Der Vorgesetzte legte die Stirn schmerzlich in Falten und stocherte mit einem Finger in seinem Ohr herum.
"Ich habe das Gefühl, dass ich alt werde", gab er noch von sich, bevor er feststellte in welcher Verfassung sich Amok befand.
"Meine Güte, wie siehst du denn aus? Habe ich nicht gesagt du sollst dich hinlegen?"
"Sör, die Täterin, ich habe... Sie müssen- ich... geträumt- und..."
"Langsam, langsam.", beruhigte Dae seinem Anwerber. "Ich verstehe kein Wort von dem, was du da sagst. Also alles der Reihe nach: was ist mit der Täterin?"
"Ich habe von ihr geträumt!"
"Geträumt...", wiederholte Daemon, als würde er nicht ganz ernst nehmen, was Amok da sprach. "So, so", hilflos blickte er sich nach der Püschologin um, die er eben noch draußen herumlaufen sah. Dann nickte er mit gespielter ernster Miene.
"Ich habe dir doch gesagt du sollst dich schlafen legen?"
"Aber..."
"Und ich habe dir gesagt, dass wir alle manchmal etwas zu viel arbeiten...?"
"Sör!"
Die beiden wurden unterbrochen, als ein Ermittler im Zimmer erschien. Er salutierte kurz vor Dae und Amok fiel auf, dass er das vergessen hatte. Doch jetzt war es eh zu spät und es gab weiter aus wichtigere Dinge.
"Wir haben Informationen.", begann der Ermittler.
"Wir wissen, dass das Buch
'Ausweg aus der Schizophrenie' regelmäßig ausgeliehen wurde."
"Bitte?", fragte der Abteilungsleiter ungläubig nach.
"Ja...", mischte Amok sich ein, als würde er innerlich ein Puzzle zusammensetzen.
"Die Zettel! Die Widersprüche!"
Dae schluckte. "Wurden denn diese Zettel keinem Püschologen vorgelegt?!", rief er so, dass es jeder im Abteilungsgebäude hören konnte. Für einen kurzen Moment war es still. Dann fuhr der Ermittler fort.
"Wir wissen außerdem, wo die Person wohnt. Die anderen haben sie bereits verfolgt. Wir warten nur noch auf weitere Anweisungen."
"Gut." Dae schien zu überlegen. "Schnappt ihn, sie - wen auch immer. Ich gebe euch ein paar Leute zur Verstärkung mit. Wir wissen nicht, mit wem wir es hier zu tun haben. Frän wird vorsichtshalber als Püschologin mitgehen. Wo ist die überhaupt?"
"Sör", bat Amok mit festem Blick.
"Gut - aber misch dich nicht zu sehr ein, du bist Anwerber, nicht mehr und nicht weniger, vergiss das nicht!"
"Eins...", begann einer der Ermittler herunter zu zählen. Amok und Frän hatten sich weit hinter den Ermittlern postiert und konnten so das Ganze aus sicherer Entfernung betrachten. Amok wurde bleich bei dem Gedanken, dass er gleich die Frau sehen würde, die in seinen Träumen aufgetaucht war. Da war er sich ganz sicher.
Vor diesem Moment hatte er am meisten Angst. Davor zu erfahren, dass das geschehen war, was er geträumt hatte. Wohlmöglich war er daran sogar noch Schuld gewesen - hätte er gleich darauf gehört, was ihm die Träume versuchten mitzuteilen hätte er vielleicht schlimmeres verhindern können.
"Mal nicht gleich den Teufel an die Wand", sagte Frän plötzlich und ließ das Geschehen dort vorn nicht aus den Augen.
"Habe ich das etwas laut gesagt?", wollte Amok verwundert wissen.
Frän warf ihm ein Grinsen zu. "Dae hat recht. Du brauchst definitiv mehr Schlaf."
"Besser nicht", sagte Amok und atmete tief durch.
"Manchmal bedeuten Träume die verschiedensten Dinge...", merkte Frän noch an, als die Ermittler damit begannen die Wohnung zu stürmen. Sie hatten mehrmals angeklopft und wie erwartet hatte niemand geöffnet. Nun war es so weit.
"Komm", sagte Frän ruhig und machte die ersten Schritte in Richtung Wohnung. Komischweise wusste sie immer, wie man mit solchen Situationen umgehen musste, wenn Amok dabei war. Wahrscheinlich lag das an ihrem Posten als Püschologin.
Es dauerte nicht lange, da hatten die beiden die Wohnung betreten, aus welcher ein penetranter Geruch drang, der an Schweiß und anderen Körperflüssigkeiten erinnerte. Genaueres konnte Amok nicht definieren. In einer Ecke entdeckte er sein Instrument.
"Damit wäre die Sache wohl klar.", sagte ein weiterer Ermittler und hielt das ausgeliehene Buch in die Höhe. Amok blätterte darin herum und sah sich die Reste an, die an ehemalige Seiten erinnerten.
Amok nickte und gab dem Beauftragten das Buch zurück. Zwei weitere Ermittler traten aus dem Raum, in ihrer Mitte hielten sie die Frau, die Amok schon auf dem "Hier-gibt's-alles-Platz" gesehen hatte. Für den Hauch einer Sekunde bildete sich Amok ein, ein dankbares Lächeln im Gesicht der Frau erkennen zu können, doch schlagartig verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck in etwas undefinierbar Böses.
"Es hat lange gedauert. Doch es ist zu spät. Und nun dürfen die anderen auch keine Kinder mehr haben! NIEMAND!", lachte die Frau und wirkte dabei fast verrückt.
"Moment!", wies Frän die beiden Ermittler an, welche die Frau gerade wegbringen wollten.
"Was meinst du mit zu spät?"
In ihren Augen zeigten sich Ansätze von Tränen, doch ihr kranker Geist verbat es ihr zu weinen.
"Mein Kind!", sprach sie plötzlich in einer anderen liebevolleren Stimme.
"Sei ruhig!", folgte danach. Ebenfalls aus dem Mund der Frau.
"Schon gut", sprach Frän zu den beiden Ermittlern. "Ich bin mir fast sicher, aber ich will sie trotzdem lieber noch einmal untersuchen.", gab die Püschologin ihre Vermutung preis.
"Was denkst du?", wollte Amok wissen, als sich die Ermittler mit der Mörderin entfernten.
"Viele spielen uns vor, dass sie krank sind - aber in ihrem Fall..."
"Und...", Amoks Stimme wurde heiser. "Meinst du wir waren zu spät?"
"Ich weiß es nicht.", sagte Frän traurig und legte Amok freundschaftlich die Hand auf die Schulter. "Ich weiß es nicht."
Die Tinte klebte mehr als Amok es erwartet hatte. Den ganzen Eichenboden hatte sie erfasst und war über die Nacht mehr als gut in den Boden eingezogen, so, dass Amok sein Büro kaum richtig säubern konnte.
Nach langer Zeit endlosen Schrubbens gab er schließlich auf und blieb stumm auf dem Boden sitzen. Die meisten Akten waren nicht mehr zu retten gewesen, doch zum Glück gab es nie nur ein Exemplar von einer Akte und so war es nicht ganz so schlimm die vollständig mit Tinte getränkten Dokumente zu ersetzen. Einige wenige waren jedoch erhalten geblieben und Amok hatte sie bereits in eine kleine Holzkiste gelegt, damit er sie besser in seine neue Wohnung transportieren konnte.
Seine beiden Stühle hatte er da gelassen
[4], denn Bertha hatte ihm die Wohnung völlig neu einrichten lassen, nachdem er die erste Miete im Voraus pünktlich abgeliefert hatte. So, wie sie es ausgemacht hatten.
Es klopfte an der Tür.
Dae streckte den Kopf hinein. "Nanu?", meinte er überrascht. "Du weißt schon, dass das hier dein Büro bleibt, oder? Ich meine - oder willst du die Wache verlassen?"
"Nein", grinste Amok müde. "Ich brauche nur etwas Abstand hier von allem. Die Akten nehme ich mit, falls mich der Eifer dermaßen packt, dass ich unbedingt arbeiten muss."
"Es ist gut, dass du meinen Rat endlich annimmst. Frän hat sich schon Sorgen gemacht."
Amok lächelte.
"Du hast etwas vergessen", meinte der Vorgesetzte auf einmal und deutete auf Amoks Schreibtisch. Er stieg über den Anwerber hinüber und nahm sich das Blatt Papier vom Tisch.
"Wer ist das?", wollte Dae nach einer ganzen Weile wissen. Er klang ungewöhnlich ernst.
"Ich weiß nicht. Das Mädchen, was ich im Traum gesehen hab, Sör. Es wurde von der Frau..."
"Ja", unterbrach Dae Amok, damit dieser seinen Satz nicht beenden musste. Er schaute mit finsterer Miene auf das Portrait und Amok spürte, dass er innerlich gegen etwas anfocht.
"Sör?", wollte er wissen.
"Hm? Ach - Nichts, nur...", er überlegte kurz, bis er sich schließlich durchrang doch zu sagen, was er dachte. "... dasselbe Bild haben wir in der Wohnung der Täterin gefunden. Sie sagte..." Wieder unterbrach sich Daemon selbst, um den Satz mit neuer Betonung in vereinfachter Form zu wiederholen. "Es war ihre Tochter."
Amok wagte es nicht weiter über den Traum nachzudenken. Nie sprach er mit Frän darüber, die ihn oft darauf ansprach. Er tat es als einen einfachen Traum ab. Einen einfachen Traum. Er hatte ihn zwar auf die Täterin geführt, doch über alles andere wollte er sich einfach keine Gedanken machen.
Es war der Alltag nach dem sich nun Amok sehnte - der müde, einfache Alltag.
[1] den Fakt, dass sein Lohn von der Wache ohnehin nicht für eine bessere Unterkunft gereicht hätte, ignorierte er bewusst
[2] er merkte nicht, dass sie sein rufen ignorierte
[3] oder sie ignorierte es bewusst, oder sie hatte in langer Zeit völliger Isolation verlernt Gestiken und Mimiken zu deuten
[4] ja, die musste er sich selbst kaufen - das heißt, einen davon
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