Jeder hat vor etwas Angst und jeder muss sich dieser Angst einmal stellen.
Dafür vergebene Note: 12
Mit der einbrechenden Nacht kam auch der Nebel. Still und heimlich kroch er von Richtung Mittwärts auf die Mauern Ankh-Morporks zu. Er verhielt sich nicht wie normaler Nebel, vielmehr wie ein Ding mit einem eigenen Bewusstsein, er sah auch nicht so aus wie normaler Nebel, –für Ankh-Morpork Verhältnisse- dafür war er zu rein und klar, wenn man dieses Wort dafür benutzen konnte, und nicht die gelbgrüne Suppe die sonst die Stadt heimsuchte. Zuerst umrundete er die Stadt, bis sie vollkommen umschlossen war und es kein Entrinnen mehr vor ihm gab. Ankh-Morpork bekam eine zweite Stadtmauer, bestehend aus waberndem, weißem Dunst. Dann schob er sich mühsam über die Mauerkronen und flutete in die Stadt. Dort füllte er alle Straßen und Gassen aus, keine noch so verborgene Ecke blieb verschont von ihm, bis Ankh-Morpork in einer kreideweißen Wolke versunken war. Wie ein riesiger Tintenfisch legten sich die Ausläufer des Nebels um Häuser, Brücken, Türme und hielten sie in scheinbar eisernen Griff um sie nie wieder loszulassen. Durch Ritzen und Löcher drang er in Häuser ein, streifte die schlafenden Menschen, ließ sie frösteln und bereitete ihnen Alpträume. Babys begannen zu schreien und weckten ihre Eltern, einige alte schwache Leute würden nie wieder erwachen.
Es war keine Nacht in der man sich draußen aufhielt. Assassinen verschoben ihre Aufträge, trotz des für sie äußerst günstigen Wetters, auf die nächste Nacht, Wächter verließen die Straßen und kehrten lieber in eine der zahlreichen Kneipen ein um dem Nebel zu entgehen, selbst die Vampire, Werwölfe und Zombies suchten sich –natürlich völlig plausible- Ausreden, damit sie in ihren Häusern bleiben konnten. Und die Wasserspeier, nun ihnen blieb zumeist nichts anderes übrig als sich draußen aufzuhalten, aber die die es taten, verhielten sich noch stiller und regloser als normal.
Eine zerknitterte Gestalt, mit roten, krausen Haaren und einen ungepflegten Dreitagebart saß auf dem Dach des Wachhauses am Pseudopolisplatz, neben ihm eine kleine graue Gestalt von der Größe eines Gnoms, und ließ seinen Blick über das weiße Meer vor sich schweifen. Diese Bezeichnung war mehr als zutreffend. Der Nebel hatte die ganze Stadt einfach verschluckt, nur noch die Dächer einiger Häuser ragten wie Inseln aus dem Dunst hervor, die meisten verloren sich jedoch in den dichten unklaren Schwaden und der herrschenden Dunkelheit. Gefreiter Rabe Raben streckte sich und lehnte sich dann wieder gegen den Kamin aus dem sich der feine graue Rauch eines Feuers in den Nachthimmel kräuselte. Es hatte durchaus Vorteile einmal ein Wasserspeier gewesen zu sein. Klettern gehörte immer noch zu Rabes einfachsten Übungen und hier oben, gut zwei Meter über dem weißen Meer, herrschte eine friedliche Ruhe, die man einfach genießen musste.
Aus dem Wachhaus drangen gedämpfte Laute, Lachen und Gesang, an sein Ohr. Die anderen Diensthabenden Wächter nutzten die ruhige Zeit aus -warum auch nicht?- und ließen es sich gut gehen.
"Vielleicht sollten wir auch nach unten gehen", schlug Lordi vor. Rabe reagierte nicht und starrte weiter in das Nichts vor ihnen. Wenn man die Geräusche aus dem Wachhaus ausblendete –was nicht wirklich nötig war, da sie sich sowieso wie ein weit entferntes Flüstern anhörten- konnte er auf den Gedanken kommen, dass nur noch er und Lor
[1] existierten. Gestrandet auf einer einsamen Insel inmitten einer unwirklich scheinenden Landschaft.
"Heute Nacht beginnt in Wolfsheim die Feier zu All Hallows Eve", sagte Rabe schließlich, mit abwesend klingender Stimme.
"Wolfsheim." Der Name verursachte ein unangenehmes Gefühl in Lordis Herzen und er wusste, dass es Rabe genauso ging. Immerhin waren sie einmal eine Person gewesen. Das idyllische Dorf in Überwald lag nur eine Stunde zu Fuß von dem Schloss entfernt in dem sie beide erschaffen wurden und aufgewachsen waren. Thomas Cloppenburg –ihr Ziehvater- hatte sie immer dorthin geschickt um Lebensmittel und andere Dinge zu kaufen die ein Zauberer, der gleichzeitig ein Alchemist war, für seine Experimente brauchte. Dort hatten sie auch viele Freunde gehabt und eine schöne Zeit verbracht, genau deswegen tat es auch weh an diesen Ort zu denken. Rabe vermisste seine alten Freunde.
Er senkte den Blick auf seine Hand, eine menschliche Hand, aus Fleisch, Knochen, Haut und Blut. Keine steinerne Kralle wie noch bei seinem Eintritt in die Wache. Ein Mensch, wirklich lebend und nicht durch Zauberei erschaffen, zu sein war immer sein größter Wunsch gewesen, der ihm auch noch erfüllt wurde.
Aber warum konnte er sich dann nicht richtig darüber freuen?
Lag es daran das man als Mensch immer unzufrieden war mit dem was man hatte, oder lag es daran das er sich das Menschsein nicht verdient hatte?
Ein dummer Zufall machte ihn zu dem was er nun war, ein magischer Unfall. . .
Wieder Magie. Andererseits, wie sollte ein Wasserspeier sonst zum Mensch werden wenn nicht durch Magie?
Die Antwort blieb Rabe in dieser Nacht genauso verborgen wie in all den Nächten zuvor und das einzige was zurückblieb, war die nagende Frage: Würde die Magie die ihm das Leben schenkte eines Tages verlöschen und aus ihm wieder das machen, als das er in diese Welt trat?
Einen Klumpen beweglosen Fels.
Das Geräusch ertönte beim ersten Mal zu weit entfernt um es auf Anhieb zu hören, wiederholte sich jedoch nur Sekunden später, dann wieder, wieder und wieder. Es kam eindeutig näher, wurde immer lauter und riss Rabe aus seinen düsteren Gedanken. Zuerst konnte er es nicht richtig einordnen, glaubte aber nach einer Weile den dumpfen Aufschlag eines Balles zu vernehmen der vom Boden in die Luft zurückhüpfte. Lor warf ihm einen fragenden Blick zu, den Rabe nur mit einem Achselzucken beantwortete.
"Sehen wir mal nach", meinte Rabe. Lor nickte zur Antwort und begann an Rabes Mantelärmel auf dessen Schulter zu klettern, wo er sich niederließ. Seine winzigen Krallen an den Füßen bohrten sich, durch den Stoff des Mantels und der Uniform darunter, in Rabes Haut. Er verzog vor Schmerz leicht das Gesicht, sagte aber nichts.
Zusammen machten sie sich an den Abstieg.
Am Boden angekommen hatte Rabe Probleme damit sich zurechtzufinden. Der Nebel war so dicht, das er die Finger seiner Hand nicht mehr sehen konnte wenn er sie ausstreckte und das Wachhaus wurde von dem alles beherrschenden Dunst verschluckt, nachdem er sich nur einen Schritt davon entfernte.
Das Geräusch wurde immer noch lauter, schien jedoch aus allen Richtungen zu kommen und war unmöglich zu definieren. Neben seinem Ohr beschleunigte Lordis Atmung, der Wasserspeier versuchte mit seinen Blicken den Nebel zu durchdringen, vergeblich. Vor ihnen war nichts zu sehen außer einer wabernden Wand, die beinahe so real war wie der Boden unter ihnen.
Rabe machte einen weiteren Schritt vom Wachhaus weg –zumindest glaubte er das er sich davon entfernte- und rief ein zaghaftes "Hallo!?" in das Nichts.
Keine Antwort. Nur das Geräusch.
Mittlerweile wurde auch ihm der Nebel unheimlich. Seine Nackenhaare stellten sich auf und ein kalter Schauer durchlief seine Glieder, trotz des warmen Mantels. Lors vorheriger Vorschlag, sich den anderen Wächtern drinnen anzuschließen, gewann immer mehr an Attraktivität für ihn, auch wenn er sich einzureden versuchte, dass es keinen Grund gab sich vor etwas Nebel zu fürchten.
Ohne darüber nachzudenken ging er in irgendeine Richtung –jede schien ihm so gut wie die andere- los und er wurde auch nicht enttäuscht. Nach ein paar dutzend Schritten, für die er –um sicher zu gehen nicht gegen ein Haus oder irgendwelches Gerümpel zulaufen- länger brauchte als selbst im langsamsten Wacheschlendergang, stellte er fest, dass das Geräusch vor ihm entstand.
"Hallo!?", rief er erneut, ohne Erfolg. Diesmal setzte der gedämpfte Schlag, allerdings ein wenig länger aus als zuvor.
"Lass uns bitte zurückgehen", bat Lor. Seine Stimme zitterte unmerklich und aus eigener Erfahrung mit einem steinernen Körper wusste Rabe, dass es nicht an der kühlen Nachtluft lag, welche sich mittlerweile seiner Glieder bemächtigte. Seine Finger fühlten sich steif und klamm an, jeder einzelne Schritt wurde zu einer unangenehmen Anstrengung, die ihn zum umkehren bewegen wollte. Dessen ungeachtet ging Rabe weiter.
Es lag sicher nicht daran, dass er besonders mutig war -wenn es danach ging hätte er sich längst unter dem nächsten Bett versteckt-, oder sein Pflichtgefühl ihn darauf drängte den verdächtigen Lauten nachzugehen –es brauchte nicht viel Überzeugungskunst das Hüpfen eines Balles in einer Millionenmetropole wie Ankh-Morpork als unverdächtig anzusehen-, vielmehr übernahm seine Neugier den denkenden Teil. Rabe wollte schlicht und einfach wissen welches Kind um diese Zeit und bei diesem Wetter noch auf der Straße spielte.
Vor ihm lichtete sich der Nebel. Nicht genug um wirklich etwas genau erkennen zu können, die Umrisse einiger Häuser schälten sich aus dem Nebelschleier, schienen aber irreal und trügerisch, ohne jede Kontur. Hier und da schien ein mattes Licht, wie Irrlichter, durch den schneeweiße Brodem.
Das Geräusch verstummte. Rabe hielt inne und fixierte den Nebel mit seinen Augen. Die plötzliche Totenstille reichte seiner Fantasie aus um alle möglichen Monster und Schrecken der Welt in die Unsichtbarkeit des Nebels zu projizieren. Formlose, einäugige Wesen mit hunderten von Tentakeln, die in mit scharfen Zähnen bestückten Mäulern endeten, oder Dämonen die sich wie Menschen kleideten nur um in die Nähe ihrer Opfer zu gelangen, denen sie die Augen und Herzen stahlen, um sehen und leben zu können. Auf all diese Schrecken bereitete sich Rabe vor, mit der festen Absicht, so weit und so schnell wie möglich wegzurennen, sollte sich eines dieser Wesen aus dem abstrusen Dunst auf ihn stürzen, nur nicht auf das was auf ihn zukam.
Eine braune runde Kugel rollte auf ihn zu, scheinbar aus eigener Kraft, falls sich nicht jemand im Nebel verbarg und einen geschmacklosen Scherz mit ihm erlaubte. Wenige Zentimeter vor ihm stoppte sie. Lor sprang von Rabes Schultern, umrundete die Kugel und stupste sie mit seinem Fuß an.
Nichts passierte.
"Das ist ein normaler Ball, mit Rindsleder überzogen", sagte er.
Rabe beugte sich nach unten und hob den Ball auf, bei dieser Gelegenheit sprang Lor wieder auf seine Schulter. Er ließ den Ball fallen, fing ihn wieder als er vom Boden zurückprallte und wiederholte das einige male, bis er sich ganz sicher war. "Das haben wir die ganze Zeit gehört. Kein Zweifel."
"Aber wer hat ihn die ganze Zeit hüpfen lassen?", fragte Lor, wobei er sich nervös umsah.
Ohne seinen Freund eine Antwort zu geben legte Rabe den Ball wieder auf den Boden. Sofort rollte er zurück in die Richtung aus der er gekommen war, blieb aber stehen bevor er aus ihrer Sichtweite verschwand.
"Denkst du er will das wir ihm. . ."
"folgen", endete Rabe den Satz. Gegen jedwede Vernunft fügte er hinzu: "Enttäuschen wir ihn nicht."
Etliche male wiederholte sich das Spiel. Der Ball rollte voraus, hielt kurz bevor sie ihn aus den Augen verloren und setzte seinen Weg fort bevor sie ihm zu nah kommen konnten. Anfangs versuchte Rabe sich anhand von Häusern, Brunnen oder Brücken noch zu merken wo sie die Lederkugel entlang führte, gab es dann aber bald auf. Der Nebel verschloss sich zu seinen Seiten wieder so dicht, dass er nicht einmal merkte ob er über eine Brücke ging, sich in den Schatten oder überhaupt weiterhin in der Stadt befand.
Ein Wächter der sich verläuft, dachte er und unterdrückte ein Grinsen. Wenn die anderen das erfuhren . . .
Er warf einen unauffälligen Blick auf Lor. Sie würden es erfahren. Es gab nichts was er seinem ehemaligen zweiten Selbst anbieten konnte um diese Sache für sich zu behalten, dafür kannte er ihn zu gut.
[2] Bei diesen Gedanken fiel ihm auf, dass der Wasserspeier sich ziemlich still verhielt. Viel zu still für seine Verhältnisse.
Rabe kam nicht mehr dazu den Gedanken weiter zu spinnen.
Auf einmal stand sie da.
Sie trat nicht plötzlich aus dem Nebel oder erschien vor ihnen. Nein, sie war einfach da, als hätte sich der Nebel so dicht zusammengezogen, bis er tatsächlich Substanz und Gestalt annahm, als wäre er, zwei Schritte vor ihnen, zu ihr geworden. Rabe versuchte den Gedanken zu verdrängen, zurück in die dunklen Gruben aus denen er hervor gekrochen war um seinen Geist zu vergiften. Es war nur normaler Nebel, kein Ding aus einer anderen Welt, welches ihn verschlingen wollte. Wenn er solche Gedankengänge zuließ, gab er dem Nebel nur eine Macht über sich, die ihm nicht zustand.
Das Mädchen stand mit gesenkten Kopf da, ihr weißes Kleid war viel zu dünn für die Jahreszeit und ihr langes schwarzes Haar verdeckte ihr Gesicht zur Gänze. Zudem bemerkte Rabe, dass sie keine Schuhe trug. Das arme Ding musste halb erfroren sein, wofür auch die leicht bläuliche Färbung ihrer Haut an Händen und Armen sprach. Umständlich –weil Lor sich weigerte von seiner Schulter zu steigen- zog er seinen Mantel aus und legte ihn dem jungen Mädchen über die Schultern.
"Geht es dir gut? Wie heißt du?"
Das Mädchen reagierte weder auf seine Worte, noch auf seine Berührung, also sank er auf ein Knie, legte die Hände sanft auf ihre Schultern und versuchte die Augen unter ihren langen strähnigen Haaren auszumachen, während er sacht auf sie einredete. Das Mädchen schwieg und wankte, wie wenn es zu schwach wäre um sich weiterhin auf den Beinen zu halten. Rabe verstärkte seinen Griff, damit er sie im Notfall leichter stützen konnte, sollte sie stürzen. Er wünschte sich das Tussnelda von Grantick hier wäre. Die Püschologin wusste bestimmt was man in solch einer Situation tun und sagen musste. Hilflos sah er sich um, in der verzweifelten Hoffnung ein S.E.A.L auf Streife würde vorbeikommen und ihm sagen was er tun sollte. Verdammt noch mal, er war so ratlos das er selbst auf die Befehle eines Assassinen gehört hätte.
"Wir sollten sie von der Straße wegbringen", schlug Lordi vor und Rabe stimmte ihn nickend zu.
Nur wohin? Sollte er an eine Tür klopfen –der Nebel war immer noch so dicht, dass er nicht einmal sicher war das um sie herum überhaupt ein Haus stand- oder sollte er sie zur Wache bringen?
"Bringen wir sie zum Wachhaus", entschied sich Rabe. "Dort kann sie sich aufwärmen und wenn der Nebel sich gelichtet hat suchen wir ihre Familie."
Er setzte dazu an sie hochzuheben um sie zu tragen, als sie den Kopf hob.
Keuchend sprang Rabe ein Stück zurück, Lor verhinderte im letzten Moment das er von dessen Schulter fiel in dem er seine Krallen tiefer in Rabes Haut trieb, woraufhin dieser scharf die Luft einzog.
Das Mädchen sah ihn an. Ihr Haar verdeckte immer noch das meiste ihres Gesichtes, doch jetzt sah er ihre Augen. Sie waren kalt und bar jeden Lebens. Rabe kannte solche Augen. Jedes Mal, wenn er in einen Spiegel sah, blickte er in exakt solche Augen. Die Augen eines Wesens, welches –auch wenn es den Anschein erweckte- kein Mensch war.
Und doch unterschieden die Augen des Mädchens sich von den seinen. In den ihren lag etwas das er nicht richtig zu deuten vermochte. Entweder Trauer oder Wut, womöglich auch eine Mischung aus beiden.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Alles in ihm schrie danach wegzurennen, wie er es auch bei einem dieser Alptraumwesen getan hätte, die er sich vorhin ausgemalt hatte, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Er stand einfach nur da, während sie näher kam.
Sein Erinnerungsvermögen setzte wieder ein als er die Tür zum Wachhaus aufschlug. Warme Luft strömte ihm entgegen und warf sich wie eine Streitmacht gegen den Nebel, der versuchte sich Zugang zum Gebäude zu verschaffen. Eine Wächterin mit silbernen Haar und eisblauen Augen, in denen Verwunderung, aber auch eine kleine Portion gerechter Zorn lag, schloss die Tür wieder und entschied den Kampf somit gegen den Dunst. Ein kurzes Murren ging durch den Raum und an einem Tisch erkannte er Avalania von Gilgory und Tussnelda von Grantick, die ihn besorgt ansahen. Gut, er befand sich also wirklich im Wachhaus. Kein Grund länger wach zu bleiben. Er spürte nicht einmal mehr den Schmerz, als er hart auf den Boden aufschlug.
Kathiopeja genehmigte sich ihre vierte Tasse Kaffee an diesem Abend und widmete sich dann wieder Ava und Tussi, die eine Runde "pfähl den Vampir" spielten. Selbst nach fünf Runden erahnte sie die Regeln des Kartenspiels mehr als das sie sie wirklich verstand und blieb deshalb unbeteiligte Zuschauerin. Mit ihnen zusammen schoben nicht einmal ein dutzend andere Wächter Nachtschicht, darunter auch zwei Rekruten, welche sie nicht mit Namen kannte. Eine von ihnen war auf alle Fälle ziemlich verschwiegen und nahm sich den Ausdruck "stillgestanden" überaus zu Herzen. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die silbernen Haare und wickelte eine Strähne um den Zeigefinger während sie gedankenverloren zur Decke starrte. Die Zeit schlich gemütlich dahin, ohne es eilig zu haben oder sich wenigstens der Wächter zu erbarmen, die sich mit allen möglichen Dingen beschäftigten um die Nacht hinter sich zu bringen.
Eigentlich konnte sie sich auch ein wenig mit Rabe unterhalten. In letzter Zeit verhielt er sich auffällig ruhig und zog sich wann immer es möglich war zurück, so wie vorhin. Sie stellte ihre leere Kaffeetasse auf den Tresen und sagte der Rekrutin dahinter bescheid, dass sie nur kurz nach draußen ging um sich die Beine zu vertreten. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, stieß sie jemand von außen auf und ihr fast gegen den Kopf. Nur knapp verkniff sie sich einen entsprechenden Kommentar, als sie erkannte das es Rabe war.
Das Haus lag einsam und verlassen vor ihm. Es verfügte über zwei Stockwerke, die in ein spitzes halb zerfallenes Dach endeten. Im obersten Stock gab es nur zwei große Fenster die ihn wie unheildrohende Augen anstarrten. Farbe blätterte von den Wänden und die Einganstür knarrte unheilvoll im Rahmen. Das Haus hatte schon bessere Tage gesehen und schien seit langer Zeit unbewohnt zu sein. Er wollte nicht an diesem Ort sein, in der Nähe dieses Hauses. Doch jemand rief ihn hierher und gewährte ihm keine andere Wahl.
Rabe beugte sich seinem Schicksal und folgte den stummen Rufen, ihm fehlten die Kraft und der Wille sich von dem Strang zu lösen, welcher seinen Geist gefangen hielt.
Sollte dieses Haus doch mit ihm machen was es wollte.
Zwei morsch aussehende Stufen führten auf eine charakterlose Veranda. Rabe traute dem spröden Holz nicht genug und überging sie in der stillen Hoffnung, dass wenigstens die Veranda noch stabil genug war sein Gewicht zu halten. Er wurde positiv überrascht. Zwar stöhnte das Holz unter seinen Füßen, doch es machte keine Anstalten einzustürzen und ihn unter sich zu begraben. Unbeschadet erreichte er die Tür und streckte bedächtig eine zittrige Hand vor. Bevor seine Finger die Klinke berührte schwang die Türe nach innen auf.
Sanfter Kerzenschein tauchte den Gang, der dahinter lag und der sich in einem erstaunlich gepflegten Zustand befand, in ein unaufdringliches Orange. Eine Treppe führte in die zweite Etage, was sich an ihrem Ende befand war nicht zu sehen, da sich dort oben nicht die kleinste Lichtquelle befand. Sein Drang sich dort oben umzusehen hielt sich ohnehin in Grenzen. Auf dem Boden lag ein roter, äußerst eleganter Läufer, der mit allerhand aufwändigen Stickereien verziert war und an den Wänden hingen ausgewählte Bilder, welche die schlichte Grazie des Flurs noch unterstrichen.
Am Ende des Ganges befand sich eine Tür, durch deren Ritze ein helleres Licht strahlte, als das von den Kerzenhaltern an den Wänden. Es war diese Tür durch die er gehen sollte. Hinter der sich etwas verbarg was er sehen sollte. Mit zögernden Schritten ging er darauf zu. Jeder Laut, den seine schweren Stiefel auf dem Fußboden hätten erzeugen, können wurde von dem weichen Teppich verschluckt. Wollte das Haus ihm etwa helfen unentdeckt zu bleiben? Er verscheuchte den Gedanken und tat es als Hirngespinst ab. Womöglich verlor er einfach nur den Verstand und sah Leben in Dingen die gar keines beherbergten. Und Bewegungen wo keine sein sollten. Hinter ihm raschelte etwas und nur mit äußerster Geistes-anstrengung schaffte er es, sich nicht panikartig umzudrehen und den Schrecken dieses Hauses somit Macht über sich zu geben. Wenn ein Wesen aus der Kerkerdimension hinter ihm lauerte, musste er ihm nicht auch noch in die Augen sehen bevor es ihn verschlang.
Er griff nach dem Türknauf wie nach einem rettenden Ast, der ihn vor einem Sturz in die Schlucht bewahrte und öffnete sie ohne zu zögern.
Dahinter stand sie. Das junge Mädchen von vorhin sah ihn mit ihren kleinen leblosen Augen an. Neben ihr lag ein Körper, zusammen- gekrümmt wie ein übergroßer Fötus, mit demselben Kleid und den gleichen Haaren wie sie. Rabe begriff das es sich bei dem Mädchen das vor ihm stand und dem auf den Boden lag um dieselbe Person handelte.
"Wolltest du mir das zeigen?", fragte er. "Wer hat dir das angetan?"
Sie machte eine schnelle Bewegung auf ihn zu und Rabe wich reflexartig die genaue Distanz zurück.
"Hilf mir. Er wird kommen und mich holen.", wisperte sie, dabei hob sie den Arm und deutete auf ihn.
"Wer wird kommen, der der dir das angetan hat?"
"Hilf mir!!!", schrie das Mädchen in einer Tonlage die sich bald zum Kreischen steigerte und Rabe wie dutzende eisiger Nadeln durch die Glieder fuhr. Hinter ihr erschien eine schwarze Wolke, welche sie umschloss. Eine Hand schnellte nach dem Kopf des Mädchens, packte sie und zog sie nach oben durch die Decke.
"Wieder wach?" Kathiopejas Stimme klang besorgt, nicht übermäßig, doch immerhin. Rabe unterdrückte ein Lächeln, zuerst weil es einfach nicht angebracht gewesen wäre, dann weil sein Schädel dröhnte als würde eine Herde von Trollen und Zwergen sich in seinem Kopf prügeln. Dazu kam noch ein pochender Schmerz in seiner Nase. Er hob den Arm um sich ins Gesicht zu fassen, senkte ihn dann jedoch wieder ohne die Bewegung zu ende geführt zu haben.
"Was. . . ist passiert?", wollte er wissen. Er setzte sich, eine Winzigkeit zu schnell, auf und sank augenblicklich wieder zurück auf die Pritsche, auf der er lag. Die Trolle und Zwerge verlagerten den Kampf in den Rest seines Körpers.
Kathy grinste schadenfroh. "Eigentlich hatten wir gehofft du könntest uns das sagen", antwortete sie schließlich. In ihrer Stimme vernahm er immer noch diesen Hauch Mitleid, der sie allerdings nicht daran hinderte sein Dilemma zu belächeln. "Du kamst vor ein paar Stunden hier rein gerannt und bist in Ohnmacht gefallen. Rea hat dich untersucht und dann haben wir dich ihn MeckDwarfs Büro gebracht."
"Rea hat mich untersucht!?" Nicht das Rabe etwas gegen Rea Dubiata auszusetzen hatte, ihn störte nur das winzige Detail, dass sie Gerichts-medizinerin war, sie zerschnippelte Tote und hatte nur in den seltensten Fällen mit "lebenden" Körpern zu tun.
"Sie ist das nächste das was wir an einer Ärztin haben", meinte Kathy, die seine Gedanken anscheinend von seinen Augen ablesen konnte. "Natürlich hätten wir auch einen "richtigen" Arzt holen können." Wie sie es sagte hörte es sich nach einer Drohung an.
"Nein, schon in Ordnung." Er sah sich in dem Zimmer um. MeckDwarfs Büro kannte er selbstverständlich –wie jeder von S.U.S.I-, nur wirkte es im Moment so still und abweisend. Wieder richtete er sich auf, diesmal nicht so ruckartig und vorsichtiger. Seine Schulter juckte, wie von einem Stich. Nein, kein Stich, zierliche Krallen die sich darin fest bohrten um halt zu finden.
"Wo ist Lor?!" Er schrie fast, aber Kathy legte ihn nur sanft die Hand auf die Schulter und lächelte.
"Er ist bei den anderen und erzählt ihnen was er weiß. Soweit ich das mitbekommen habe, hat er sich vor etwas erschreckt und ist weggerannt. Er kam nur ein paar Minuten nach dir hier an."
Rabe nickte. Er war nicht böse auf Lor weil er abgehauen war, hätten seine Beine ihm gehorcht, hätte er sich nicht anders verhalten.
"Bist du sicher, dass es dir gut geht?"
Soviel Sorge wurde Rabe schon unheimlich, also zwang er sich zu einem Lächeln, dass wie er hoffte vertrauenserweckend wirkte und stand auf.
"Möchtest du mir erzählen was passiert ist?", bot Kathiopeja an. Anfänglich wollte Rabe das eigentlich nicht, doch er spürte das es ihm danach besser gehen würde und so berichtete er ihr alles, abgesehen von dem Augenblick, als das Mädchen auf ihn zukam, bis er ins Wachhaus kam. Selbst seinen merkwürdigen Traum verheimlichte er ihr nicht.
"Wer auch immer dieses Mädchen ist, ich glaube es will, dass ich ihm helfe", schloss er.
Eine Weile schwieg Kathy. Man sah deutlich, dass es hinter ihrer Stirn arbeitete, da meldete sich die R.U.M-Ermittlerin in ihr. Dann hellte sich ihre Miene auf.
"So wie ich das sehe, haben wir eine fünfzig-fünfzig Chance, dass es sich um einen Hilferuf aus dem Jenseits oder doch nur ein Alptraum, resultierend aus deinem Schockzustand, handelt. Wir können das ganz leicht feststellen indem wir herausfinden ob es dieses Haus in deinem Traum wirklich gibt."
Ein toller Vorschlag, dachte Rabe. Entweder drehte er durch oder er sah tote Menschen. Am Ende lief beides auf das Gleiche hinaus, er verlor den Verstand. Auch ohne kleine Geistermädchen hatte er genug Probleme mit denen er sich rumschlagen musste. Zum Beispiel Mordfälle und Diebställe, welche lebende und untote Menschen begingen.
Und im Augenblick wollte er nur die Schicht rum kriegen, nach Hause gehen und sich ins Bett legen.
Hauptmann Rabe Raben ging die Reihe mit den neuen Rekruten nun schon zum vierten mal auf und ab und immer noch fand er kein besseres Wort, für das was er da sah, als: Erbärmlich. Ihre Haltung glich der des Bibliothekars, nach einer durchzechten Nacht und nur bei jedem zweitem saß die Uniform wenigstens annehmbar.
Wie sollte er –zufälligerweise der jüngste Hauptmann und GRUND Leiter seit bestehen der Wache- aus diesem Haufen gute Polizisten machen?
Er seufzte leise und wandte sich dann zu seinem Stellvertreter, Korporal Humph MeckDwarf, um. Aber da, wo vor einigen Sekunden noch der Korporal stand, hockte nun ein großer, grüner, schleimiger Frosch, der Rabe mit seinen feuchten Glupschaugen unverhohlen anstarrte. Rabe sah den Frosch verständnislos an und fragte sich was ein FROG hier wollte. Als hätte er seine Gedanken gelesen, öffnete der Frosch das Maul und quakte, auf Zwergisch eine Antwort.
Rabe übersetzte es grob als: "Zwergenbrot ist kein guter Gesprächspartner."
Er nickte zustimmend zu und dann explodierte die Welt um ihn herum. Die Rekruten und der Frosch verschwammen vor seinen Augen und durch den Nebel seines schwindenden Traumes, drang eine Stimme mit der Intensität von Donner an sein Ohr.
"Stillgestanden Gefreiter!!!!!", schrie die Stimme. Erschrocken schlug Rabe die Augen auf und schnellte reflexartig nach oben, wobei er aber das Gleichgewicht auf dem Stuhl, auf dem er eingeschlafen war, verlor und nach hinten umkippte. Mit einem lauten "Klonk" fiel er zu Boden.
"AVA!!" Es war Rabe sofort klar wer ihn aus seinem Traum gerissen hatte.
[3] "Na warte du. . ." Rabe stockte. Er erwartete ein breites Grinsen auf Avalanias kleinem –und natürlich von einem Bart bedeckten- Zwergengesicht zu erblicken, doch für das was er sah, reichte gerade einmal das Wort "schockiert" aus.
"Wie hast du das gemacht?", fragte Ava völlig entgeistert und blickte auf den vor ihr stehenden Raben herab. Rabe sah sie nur verständnislos an. Er konnte sich nicht daran erinnern irgendetwas getan zu haben.
"Du. .du", stotterte Ava.
"Was, Ich?", fragte Rabe ungeduldig.
Ava begann sich wieder etwas zu beruhigen. "Fällt dir denn überhaupt nichts auf?" Sie strich sich durch den Bart, was Rabe signalisierte, dass sie nachdachte. Rabe schüttelte resigniert den Kopf.
"Wirklich nicht, Kleiner?" Das letzte Wort hatte sie extra so betont, dass es Rabe einfach auffallen musste, was sie meinte und tatsächlich. . .
Rabes Augen weiteten sich vor schreck, als er endlich begriff. Als er Ava kennen gelernt hatte, musste er nach oben sehen, da sie größer war als er. Das änderte sich allerdings, nachdem er in einen Menschen verwandelt wurde. Im Moment jedoch, sah nicht sie zu ihm hoch, sondern er zu ihr. Erst jetzt fiel ihm auch das seltsame Geräusch wieder ein, als er zu Boden gefallen war.
Menschen machten nicht "Klonk".
Schweißgebadet und mit klopfenden Herzen schreckt Rabe –nun wirklich- aus seinem Alptraum hoch. . .
. . . und sank sofort wieder zurück in sein weiches Kissen. Sein Rücken protestierte gegen die plötzliche Bewegung und in seinem Kopf feierten einige Trolle Neujahr. Ein zweites Mal richtete sich Rabe auf, diesmal jedoch vorsichtiger und sehr viel langsamer. Er setzte seine Beine auf den Boden, strich sich mit der rechten Hand den Schlaf aus den Augen und Atmete noch einmal tief ein, bevor er stockend aufstand. Sein Zimmer pulsierte im ersten Moment, bis Rabe merkte, dass es nicht der Raum sondern sein Kopf war. Stark schwankend steuerte er auf das Badezimmer zu und erreichte es relativ sicher und schnell.
Im Bad angekommen, machte Rabe erst gar nicht den Fehler in den Spiegel zu schauen. Mit angehaltener Luft tauchte er sein Gesicht in die Waschschüssel mit kaltem Wasser. Der erhoffte Effekt trat umgehend ein. Die Müdigkeit fiel größtenteils von ihm ab und das Dröhnen in seinem Schädel, klang wenigstens ein wenig ab. Er zog seinen Kopf wieder aus dem Wasser, ließ die Augen aber noch geschlossen. Jeder Knochen seines Körpers meldete sich, bei der kleinsten Bewegung, mit einem stechenden Schmerz und wenn er nur halb so schlimm aussah, wie er sich fühlte, musste er einen wahrhaft grausigen Anblick bieten. Aber er konnte ja schlecht den ganzen Tag mit geschlossenen Augen durch die Gegend stolpern.
Oder vielleicht doch?
Rabe verwarf den Gedanken wieder und wappnete sich innerlich gegen das Bild des Schreckens, welches ihm zweifelsohne gleich entgegen springen würde. Das was er sah, war nicht wirklich das, was er erwartet hatte, sondern um einiges schlimmer.
Er strich sich noch einmal durch seine Haare und den Stoppelbart, verließ das Badezimmer und ging zu seinem Kleiderschrank. Abgesehen von seiner Uniform, hing nur noch ein alter, brauner Stoffmantel darin, mit dem er aussah wie ein Penner. Rabe lächelte kurz bei dem Gedanken. Er griff nach seiner Uniform, zog sie mit einigen umständlichen Bewegungen an und nahm dann den Mantel aus dem Schrank. Glücklicherweise spürte er nicht mehr jeden einzelnen seiner Knochen, sondern nur noch die Hälfte. Nachdem er auch den Mantel übergestreift hatte, verließ Rabe sein Zimmer, kam aber, kaum da die Tür geschlossen war, wieder herein. Das wichtigste hätte er fast vergessen. Seine Dienstmarke. Er ging an sein Nachttischchen um sie zu holen.
Nach einer halben Stunde, in der er seine gesamte Wohnung, mit dem Ergebnis, dass seine Dienstmarke im unmöglichsten Winkel unter seinem Bett lag, verließ er die Wohnung. Das Wetter hatte sich aufgeklart und es war noch einige Zeit hin zum Sonnenuntergang. Hoffentlich blieb diese Nacht der Nebel aus.
"Morgen, Kollege", grüßte ein alter Bettler Rabe, während er an ihm vorbeischlurfte.
"Morgen, Ron", entgegnete Rabe und ging neben ihn her. Er wusste sofort, dass es der stinkende alte Ron war.
[4] "Gibt’s was Neues?"
"Wir sin in Ankh-Morpok, Jung. Es wär schlimm wenn es nix Neues gäbe. Diese Stadt schläft nie. Vor allm letzte Nacht war schlimm. Zurhöllemitihnenallen." Den letzten Satz hatte er geflüstert. Der stinkende alte Ron lebte schon lange genug in Ankh-Morpok um zu wissen, dass die Wände und Straßen Ohren hatten.
"Was war letzte Nacht?", fragte Rabe neugierig in der Hoffnung sich von seinen eigenen Erlebnissen abzulenken.
Der stinkende alte Ron fuhr erschrocken zusammen und deutete Rabe mit einer Geste leiser zu sein. Im Gegensatz zu Ron lebte Rabe noch nicht so lange in Ankh-Morpork und Wände mit Ohren hatte er auch noch nie gesehen.
"Nix worum du dich kümmern solltest, Kleiner." Rabe verzog das Gesicht. Er hasste es "Kleiner" genannt zu werden. Es störte ihn dabei weniger die Aussage über die Körpergröße,
[5] als vielmehr, wie Ron es meinte, über das Alter. Mit seinen 22 Jahren zählte Rabe sicherlich zu der Jugend Ankh-Morpoks. Im Gegensatz zu den anderen hatte er aber jeden Augenblick seines Lebens von Anfang an aktiv miterlebt. Es hatte eben doch Vorteile erschaffen und nicht geboren zu werden.
"Aber nimm nen guten Rat von mir an. Bleib weg von dunklen Gestalten mit nem Messer in der Hand. Verdammtermistundzugenäht." Der stinkende alte Ron bog um eine Ecke. Rabe sah ihm noch einen Moment blinzelnd nach, ohne seine letzten Worte wirklich verstanden zu haben. Aber das war beim alten Ron nichts Ungewöhnliches.
Im Wachhaus am Pseudopolisplatz herrschte reges Treiben. Zwar dauerte es noch gut zwei Stunden bis Schichtwechsel, was viele Wächter und Wächterinnen aber nicht davon abhielt sich geistig darauf vorzubereiten.
"Wer bereitet sich auf was vor?" Avalania stand neben ihm und sah zerstreut zu ihm hoch.
Rabe erwiderte ihren Blick einen Moment unschlüssig an. Hatte er das gerade laut gesagt? Ava wartete nicht auf eine Antwort und bewegte sich mit hängenden Schultern auf den Tresen zu. Sie wirkte übermüdet und es hätte ihn nicht gewundert wenn sie einfach umgefallen und auf dem Boden eingeschlafen wäre. Rabe folgte ihr.
"Was machst du überhaupt schon hier?", fragte er die Zwergin.
Ava wechselte erst ein paar Worte mit dem Rekruten hinter dem Tresen und lehnte sich dann dagegen. "Gegenüber von meiner Wohnung sitzt ein Hahn auf dem Dach und kräht die Sonne an", erklärte sie. "Wenn er das wieder macht hack ich ihm den Hals durch." Ihre Augen begannen mörderisch zu blitzen, während ihre rechte Hand unmerklich zu ihrer zusammenklappbaren Axt an ihrem Gürtel wanderte.
Fast beiläufig machte Rabe einen Schritt zur Seite und kam so nur zufällig aus der Reichweite Avas. Der Rekrut, hinter dem Tresen, stellte eine dampfende Tasse vor Avalania hin, sah dann mit einem fragenden Blick Rabe an und deutete auf eine blecherne Kanne in der Ecke. Rabe lehnte den Kaffee kopfschüttelnd ab.
"Wieso bist du eigentlich schon auf den Beinen?", fragte Ava, nachdem sie einen großen Schluck aus der Tasse genommen hatte.
"Ich wollte noch einen Spaziergang machen. Außerdem konnte ich nach letzter Nacht ohnehin nicht richtig schlafen." Was eine komplette Lüge war. Abgesehen von diesem seltsamen Alptraum schlief er wie ein Baby.
Ava kam etwas näher und schnüffelte an Rabes Mantel. "Wenn du noch öfters mit Ron rumläufst siehst du nicht nur aus wie ein Bettler sondern riechst auch so", sagte sie, während sie das Gesicht zu einer Grimasse verzog.
"Das sagt jemand der Ratten isst?", konterte Rabe und hob herausfordernd die Fäuste.
"Na warte du. . ."
"Seit ihr jetzt endlich fertig?" Kathiopeja musterte die beiden Streithähne verständnislos und reichte Rabe ein Blatt Papier. "Wenigstens geht es dir wieder besser, im Gegensatz zu Lor. Der arme Kerl weigert sich seit gestern das Wachhaus zu verlassen und versteckt sich in meinen Büro. Da streitet er sich die ganze Zeit mit Marv, dass halt ich nicht mehr aus."
"Soll das heißen du warst den ganzen Tag hier?" Avas Augen weiteten sich erstaunt.
"Einer musste ja der Geistersache nachgehen, wenn ihr es schon nicht macht. Außerdem war ich eh nicht müde", behauptete Kath.
"Kein wunder bei dem ganzen Kaffee den du heut Nacht getrunken hast", äußerte Ava.
"Wie dem auch sei. Ich habe drei Häuser gefunden die auf deine Beschreibung passen. Die Adressen stehen auf dem Zettel." Sie deutete auf das Blatt in Rabes Händen. "Es sind drei Stück. Das heißt wir könnten uns aufteilen und alle einzeln untersuchen" –Rabes Blick zeigte deutlich das diese Option nicht zur Verfügung stand- "oder wir beginnen bei der Liste mit dem Haus das die merkwürdigste Vergangenheit hat."
Rabe gab ihr das Blatt Papier wieder zurück ohne auch nur eine Adresse darauf gelesen zu haben. "Ich danke dir wirklich für deine Mühen, aber was wenn es nur eine Einbildung war und mein Traum einfach nur ein Traum. Wir würden uns zum Gespött der Wache machen, wenn wir einem Phantom hinterher jagen."
"Und wir würden dem Geist eines kleinen Mädchens helfen wenn es nicht nur ein Traum war", konterte Kathiopeja.
Allein schon ihre Haltung verriet, dass sie nicht gewillt war sich etwas anderes einreden zu lassen, weshalb Rabe resigniert seufzend zustimmte.
"Also gehen wir. Ich hol nur noch Olga und Tussi."
"Warum das den?", wollte Rabe wissen.
"Für den Fall das wirklich ein Verbrechen stattfand, ist es doch von Vorteil ein Tatortwächterteam dabei zu haben. Und wenn du doch nicht mehr alle Tassen im Schrank hast, ist es auch kein Fehler Tussi dabei zu haben."
Rabe nahm das Kompliment schweigend hin und wartete zusammen mit Ava darauf, dass Kath die beiden Wächterinnen holte.
Fünf Minuten später waren sie unterwegs.
Pünktlich mit Einbruch der Dunkelheit kam auch der Nebel wieder. In dieser Nacht umschloss er die Stadtmauern schnell und grausam und durchfuhr die Straßen mit einer Geschwindigkeit, die jedem normalen Verhalten von Nebel spottete. Das Haus befand sich außerhalb der Stadt und es würde wohl eine Weile dauern bis sie zu Fuß dort ankamen. Sie marschierten durch die düsteren Gassen Ankh-Morporks und jeder der Wächter achtete penibel darauf Schulter an Schulter
[6] mit einem der anderen zu sein. Kathy nutzte die Zeit um die anderen darüber zu informieren was sie über das Haus herausgefunden hatte.
"Wenn man den Stadtarchiven glauben schenkt, ist das Anwesen schon so alt wie Ankh-Morpork selbst. Hier und da wurde es zwar Aufgrund irgendwelcher Kriege oder anderen Katastrophen teilweise zerstört und musste wieder neu aufgebaut werden, aber im Großen und Ganzen hat es die Zeit unbeschadet überstanden. Erbaut wurde es von einem gewissen Morgan Stark, einen exzentrischen Lord, der sich angeblich der Erforschung der Kerkerdimension widmete. Berichten zufolge hörte man jede Nacht seltsame Gesänge aus seinem Haus und er selbst blieb Menschen, so weit es ging, fern. Die Leute übertrafen sich im Laufe der Jahre selbst mit den Gerüchten über ihn und irgendwann dichtete man ihm sogar an das er die Grenze zwischen den Welten überschreiten konnte.
Irgendwann fing es dann auch an, dass Leute aus der Stadt spurlos verschwanden. Und jetzt ratet wenn man die Schuld gab?"
"Stark", riet Rabe, ohne auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln, dass es nicht so sein könnte.
"Genau. Die Leute hatten Angst und brauchten jemanden dem sie die Schuld für alles geben konnten. Der Lord war das perfekte Ziel ihrer Wut. Außerdem gab es einige Adlige die ihn zu gerne los gehabt hätten. Es würde mich nicht wundern wenn sie einige der Gerüchte über ihn selbst in Umlauf gebracht hätten."
"Wieso haben sie nicht einfach einen Assassinen beauftragt?", warf Olga ein.
"Weil es billiger war die Sache einen wütenden Mopp zu überlassen", vermutete Tussi.
Rabe, Kathy und Ava nickten. Dasselbe vermuteten auch sie. Es gab sicherlich einige Leute in der Zwillingsstadt die die Tatsache, dass sie noch lebten, einzig den hohen Preisen der Assassinengilde verdankten.
"Der Lord starb in einem Feuer, dass glaubt man auf jeden Fall, auch wenn die Leiche nie gefunden wurde."
"Typisch", warf Tussi ein.
"Das Haus selber baute man wieder auf und verkaufte es ein paar Mal. Wenn man sich die Liste der Bewohner durchliest, bekommt man ne Gänsehaut. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Mörder, Selbstmörder, Sadisten und andere Psychopathen. Seit zwanzig Jahren steht es nun leer."
Es war das Haus aus seinem Traum, dass erkannte er lange bevor sie nah genug dran waren um es durch die Nebelschwaden richtig zu erfassen. Es strahlte etwas aus, eine Aura, die Rabe nicht richtig deuten konnte, welche ihn aber einen kalten Schauer den Rücken hinab jagte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er das es denn Frauen nicht anders ging. Es war als atmete das Haus und stieß bei jedem Atemzug eine Wolke weißen Dunstes aus. Als hätte der Nebel, der Ankh-Morpork seit zwei Nächten in seiner Gewalt hielt, hier seinen Ursprung.
"Ist es das?", fragte Kathy. Die Stimme zu einem ehrfürchtigen Flüstern gesenkt.
Rabe deutete ein kaum wahrnehmbares Nicken an und fuhr mit seinem Blick über die Fassade. Alles stimmte. Die abgeblättert Farbe, dass von Schimmel zerfressene morsche Holz, die beiden Fenster im oberen Stockwerk, welche wie ein paar dämonischer Augen in die Nacht starrten und die Tür, die lose im Rahmen knarrte.
"Dann . . . gehen wir rein." Kath zögerte bei dem Satz gerade lange genug um jeden zu zeigen, dass sie bei weitem nicht mehr so sicher war, wie sie sich gab.
Das Schlagen der Uhren von Ankh-Morpork, welches hier nur noch schwach zu hören war, verkündete das es noch eine Stunde bis Mitternacht war.
Kathiopeja:
Kathiopeja betrat als erste das Haus. Der Geruch von Fäulnis schlug ihr entgegen und sie verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, wohl darauf achtend, dass ihre Mitwächter es nicht sahen. Sie hatte darauf bestanden das Haus zu untersuchen, also würde sie jetzt auch keinen Rückzieher machen. Sie wartete bis die anderen ihr folgten, Rabe zögerte am längsten, sah sich noch einmal um und nickte dann zufrieden.
Eine zentimeterdicke Staubschicht bedeckte den Boden und eine Kommode neben der Tür, dicke Spinnenweben hingen von der Decke und die Wände wirkten wie Papier, welches beim leichtesten Windhauch zerreisen würde. Als ihre Stiefel den Teppich berührten, zerlief er wie Matsch.
"Uah", machte sie angeekelt. Das Haus hatte seit Jahrzehnten eindeutig niemand mehr auch nur betreten. So wie es aussah nicht einmal ein Landstreicher.
Sie drehte sich zu den anderen um. An deren Gesichter sah man überdeutlich, dass ihnen die Umgebung genauso unheimlich war wie ihr.
"Wir sollten uns trennen, damit wir schneller fertig sind", sagte sie und teilte jeden einen Bereich zu. Ava schickte sie in den Keller, Rabe und Olga zu der Tür am Ende des Ganges die, wenn Rabes Raum stimmte in die Küche führte, und Tussi und sie stiegen hinauf in den oberen Stock.
Am Ende der Treppe lag ein weiterer Gang, von dem drei Türen abzweigten. Eine zu ihrer linken, eine zu ihrer rechten und eine vor ihnen. Sie deutete Tussi die linke zu überprüfen und nahm sich selbst die rechte vor.
Ein ausladendes Himmelbett, dessen beste Zeiten weit zurück lagen, nahm einen Großteil des Schlafzimmers ein. Die Tapete hatte sich, scheinbar schon vor Jahren, in eine zähe braune Masse verwandelt und sonderte einen seltsamen Geruch ab. Ein großer Kleiderschrank gegenüber dem Bett, war zusammengebrochen und wäre nicht einmal mehr als Brennholz zu gebrauchen gewesen. Ansonsten gab es nichts in dem Zimmer, außer etwas das unter einem grauen Tuch verborgen war. Kathiopeja ging zu dem Gegenstand, der ein wenig größer war als sie, und berührte das Tuch. Es fühlte sich trocken und rau an, was an seinem Alter liegen musste. Ihre Haut begann zu kribbeln, als wanderten dutzende von winzigen Beinen über sie. Mit einem kräftigen Ruck zog sie den Stoff zur Seite und enthüllte einen einfachen, schmucklosen Spiegel. Sie legte die Hand auf das Glas und atmete erleichtert auf. Nur ein normaler Spiegel, dachte sie. Was auch sonst?
Das Kribbeln wurde stärker, zentrierte sich an dem Gelenk der Hand, die den Spiegel berührte. Ihr Blick wanderte von alleine nach unten und sie erblickte etwas das ihr das Blut gefrieren ließ.
Ihr Spiegelbild hielt sie mit eiserner Kraft fest. Kathiopeja versuchte sich zu befreien, aber ihr Abbild ließ keinen Zentimeter nach und grinste sie boshaft an. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, bis sie nur noch ein schwarzer Wirbel waren, die zu keiner vernünftigen Entscheidung fähig waren und Panik ihr Handeln übernahm. Selbst schreien konnte sie nicht, während ihr eigenes Spiegelbild sie gnadenlos immer weiter durch das Glas zog.
Tussnelda von Grantick:
Tussnelda betrat als zweites das Haus. Im Moment fragte sie sich weshalb sie überhaupt mitgekommen war. In der Wache gab es zwar nichts zu tun, abgesehen von Papierkram, was ihr jedoch plötzlich gar nicht mehr so schlecht vorkam. "Eine von Grantick fürchtet sich vor nichts und zeigt allem und jeden, dass man sich vor den von Granticks fürchten muss", hörte sie die Stimme ihres Vaters in den Ohren klingeln. Sie gab sich selbst einen Ruck und folgte Kathy die Treppe nach oben. Auch so etwas das ihrem Vater sicherlich nicht gefallen würde. Nach seiner Meinung hätte sie das Kommando übernehmen und den anderen sagen müssen was zu tun war. Insgeheim war sie aber sehr froh darüber, dass Kathiopeja diese Rolle übernahm und so überprüfte sie auch ohne Widerrede die Tür, welche sie ihr zuteilte.
Lautlos schwang die Tür auf. Silbernes Mondlicht schimmerte schwach durch das verdreckte Fenster, ohne den Raum dabei in irgendeiner Weise zu erhellen. Vielmehr erzeugte das Licht damit nur umso mehr den Anschein, dass die Dunkelheit etwas Greifbares war. Auf dem Boden lagen Nadeln, Wollknäuel und andere Utensilien, wie richtige Näherinnen sie benutzten. Vielleicht war die letzte Bewohnerin eine Schneiderin gewesen, dafür sprach zumindest auch die lebensgroße Holzpuppe in der Mitte des Raumes. Wenigsten war es kein Vampir oder Zombie, dann hätte sie den Verstand verloren.
Als hätte sie einen stummen Zauber ausgesprochen begann die Puppe sich zu bewegen. Der Kopf der Puppe war nicht länger eine gesichtslose Holzkugel, sondern ein Wurmzerfressenes dämonisches Antlitz mit rot leuchtenden Augen. Mit schweren, schlurfenden Schritten kam das Wesen näher und ihre Angst signalisierte ihr den einzigen Ausweg.
Raus aus diesem Haus.
Sie hatte sich gerade umgedreht, da hallte eine wohlbekannte Stimme an ihr Ohr.
"Tussnelda. Wo willst du hin?"
Das konnte nicht sein. Er konnte nicht hier sein. Er konnte kein Zombie sein.
"Wag es ja nicht wegzurennen. Eine von Grantick rennt vor nichts davon."
Tussnelda drehte sich mit gesenktem Kopf wieder um. "Jawohl Vater, ich meine Sir."
Das Wesen kam näher.
Avalania von Gilgory:
Avalania betrat als dritte das Haus. Ihr fiel als erstes auf, das es muffig und feucht roch, wie in den Höhlen, in denen sie aufgewachsen war. Kathiopejas Entscheidung, sie in den Keller zu schicken kam ihr sehr gelegen. Bei dem alter dieses Hauses musste es da unten wirklich wie in einer Hölle aussehen. Wenn dem so war, würde sie sich erkundigen was das Haus kostete. In Ankh-Morpork fand man so schlecht gute Keller.
Ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Der Keller, besser gesagt das Kellergewölbe, ähnelte mit seinen rohen, grob gehauenen Felswänden einem Tunnelstollen, wie sie sich ein Zwerg nur wünschen konnte. Selbst die gestapelten Kisten erinnerten sie irgendwie an zu Hause, an den guten alten Stollen Nummer acht. Avas Barthaare kräuselten sich. Die Erinnerungen an den Stollen Nummer acht, gehörten nicht zu ihren besten. Der Grund dafür war ganz simpel. An einem langen und schweren Arbeitstag, brach einer der Stützbalken des Stollens und die eingestürzte Decke Schnitt sie von den anderen Zwergen ab. Leider gab es auf ihrer Seite keinen Weg nach draußen und sie musste Stunden damit zubringen im Dunkeln auf Rettung zu warten. Seitdem hatte sie eine Abneigung gegen enge, komplett geschlossene Räume.
Ava entdeckte eine stählerne Kiste, welche sie sich genauer ansah. Es war ziemlich düster, doch ihre Zwergenaugen waren so etwas ja gewohnt. Deshalb erkannte sie auch das in der Kiste etwas steckte, jedoch konnte sie nicht genau sagen was. Ohne lange darüber nachzudenken krabbelte sie hinein. Sie dachte gerade daran, dass diese Kiste genau die richtigen Ausmaße für einen Zwerg hatte, da schloss sich der Deckel über sie.
Ihre Schreie verhalten ungehört zwischen den dicken, höhlenartigen Wänden.
Olga-Maria Inös:
Olga betrat als vierte das Haus. Sie hörte sich an was Kathiopeja zu sagen hatte und folgte Rabe dann in die Küche. Sie fragte sich wer gerade Kath die Führung überlassen hatte und jeder ihr seine ganze Aufmerksam-keit zukommen ließ. Naja, eigentlich war sie nur so schlecht gelaunt, weil sie hier ihre Zeit vertat, anstatt einen wichtigen Fall zu lösen. Nicht das es momentan so einen Fall gab, es ging aber ums Prinzip.
Die Küche bot keinen anderen Anblick als der Flur. Staub, Spinnweben von der Größe eines Segels und dieser unangenehme Geruch. Wenn man in Ankh-Morpork lebte, gewöhnte man sich an so manche Duftnoten, dieser hier war jedoch sehr penetrant.
"Es riecht hier wirklich widerlich, irgendwie faulig", sagte Olga.
Rabe schnüffelte, sah zur Tür und zuckte mit den Schultern. "Ein schrecklicher Geruch", murmelte er. "Als verwest hier irgendwas."
"Ich finde "faulig" traf es schon sehr genau", meinte Olga- Maria. Nachdem sie sich ein wenig umgeschaut hatten, schüttelte sie resigniert den Kopf und sagte: "Das ist doch ne dumme Geisterjagt. Hier ist nichts."
Auch Rabe schüttelte den Kopf. "Sieht nicht so aus als ob hier etwas wäre."
"Das hab ich doch gerade gesagt. Sag mal hörst du mir überhaupt zu? Rabe?"
Rabe sah sich noch einmal um. "Ich frage mich wo Olga ist?"
Die Worte trafen sie wie ein Schlag. Was sollte das heißen, sie stand direkt vor ihm. Er hätte schon blind sein müssen um sie zu übersehen. Er verließ die Küche wieder und Olga wollte ihn hinterher stürmen. Ihre Finger griffen nach dem Türknauf und . . .
. . . gingen mitten hindurch.
Sie schrie nach ihren Kollegen, aber niemand hörte sie.
Rabe Raben:
Rabe betrat als letzter das Haus. Sein Zögern hatte mehrere Gründe. Zum einen fürchtete er sich vor dem was sie darin finden könnten und zum anderen davor das er einfach nur den Verstand verlor. Aber wenn er wirklich nur wahnsinnig wurde, wieso sah das Haus dann haargenau so aus wie in seinen Traum? Letzten Endes blieb ihn nichts anderes übrig als dort drinnen nach den Antworten zu suchen. Also betrat er das Anwesen, wenn auch äußerst widerwillig.
Seine erste Erleichterung kam bei Anblick des Flures. Zwar war es der selbe Flur wie in seinem Traum, aber wenigstens sah er so verwahrlost und schmutzig aus wie er es sollte und es brannten auch keine Kerzen in den Haltern an den Wänden.
Kathiopeja schickte Olga und ihn in die Küche. Na wenn es unbedingt sein musste. Er nickte den anderen noch einmal zu und Schritt dann den Gang entlang. Seine Stiefel erzeugten ein knarrendes Geräusch auf den staubigen Dielen, das ihn frösteln ließ. Genau das richtige um die unheimliche Atmosphäre noch mehr zu unterstreichen. Bevor er die Küchentür öffnete atmete er tief ein, hielt die Luft an und schickte ein stilles Stossgebet zu Om, Offler und allen anderen Göttern die ihm einfielen. Insgeheim glaubte er allerdings, dass selbst sie diesem Ort fern blieben. Anscheinend doch nicht. Kein kleines Mädchen wartete, neben ihrem toten Körper stehend, auf ihn und auch die schwarze Wolke blieb aus. Er flüsterte ein leises "Danke", bevor ihm der Geruch auffiel.
Er schnüffelte ein paar Mal und glaubte zu erkennen um was es sich handelte. Dann merkte er, dass Olga verschwunden war. Er drehte sich zur Tür und fragte sich ob sie noch draußen wartete oder sich einen der anderen angeschlossen hatte, bevor er es mit einem Achselzucken abtat. Genau das würde er auch mit dieser ganzen Geschichte hier tun, nachdem er sich ein wenig umgesehen hatte.
"Ein schrecklicher Geruch. Als verwest hier irgendwas."
Er durchsuchte das Zimmer, ohne etwas Verdächtiges zu finden, schüttelte den Kopf und gab sich selbst das Prädikat: Geistesgestört. Ein längeres Gespräch mit Tussnelda war wohl angebracht.
"Sieht nicht so aus als ob hier was ist." Es gab nichts das er noch tun konnte und es schien ihm das Beste zu sein, die anderen zu holen und wieder zur Wache zurückzukehren. "Ich frage mich wo Olga ist?"
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und Rabes Augen weiteten sich schockiert. Zwei Gestalten standen im Flur, die eine so groß und gekleidet wie er, nur die steingraue Haut trübte den Anblick, die andere gekleidet in einen feinen, maßgeschneiderten Anzug und ein wenig größer als Rabe. Trotz der Dunkelheit konnte er die beiden gut erkennen, auch wenn ihm lieber gewesen wäre das er es nicht könnte. Der Erste war sein genauer Doppelgänger, schlimmer eine Statue seiner selbst, unbeweglich, leblos und kalt. Der Zweite erschreckte Rabe noch mehr. Sein Gesicht war erstarrt in einem diabolischen Grinsen, seltsam verzehrt und mit pulsierenden Beulen übersäht. In seinen Händen hielt er einen kostbaren Spazierstock mit dem er auf Rabe zeigte.
"Ach Rabe, endlich begegne ich dir persönlich", sagte der Entstellte. Seine Stimme klang wie ein grausames verzehrtes Kichern. "Seit ich dich das erste Mal gerochen habe, warte ich auf diesen Augenblick, hihihi."
Rabe wich einen Schritt zurück und stieß gegen die Tür. Er versuchte sie zu öffnen, musste aber feststellen, dass sie verschlossen war.
"Wer sind sie? Wo sind meine Freunde?"
Der Entstellte lachte. "Ganz der Wächter, durch und durch. Ich bin Lord Morgan Stark und diese jämmerlichen Weibsbilder, die du Freunde nennst, sind noch hier. Ich halte sie nur fest damit sie mir nicht in die Quere kommen. Ihre Seelen interessieren mich auch nicht." Er holte eine Uhr aus seiner Tasche, klappte den Deckel zu Seite und lächelte noch breiter. "Wir haben nicht mehr viel Zeit. Darum schlage ich vor wir gehen."
"Lord Stark ist tot, was . . ."
"Ein dummes Gerücht", unterbrach Stark Rabe gelassen. "Es ist war was man sich erzählt. Der wütende Mopp, das Feuer. Aber ich konnte mich in die Kerkerdimension flüchten, wo ich meinen Meister, Nug`Shguta, meine Dienste anbot. Und zwei Tage im Jahr darf ich für ihn besondere Seelen sammeln, bis das Fest All Hallows Eve endet und dieses Jahr ist es deine Seele, Rabe Die Seele eines Wesens, dass nicht geboren wurde. Mir läuft schon bei ihrem Geruch das Wasser im Mund zusammen."
"Und das Mädchen?" All Hallows Eve dauerte nur noch einige Minuten. Wenn er ihm lange genug ablenkte musste er wieder verschwinden, ohne seine Seele.
"Ein netter Plan. Leider sinnlos." Der Entstellte tippte die Rabestatue an, die sich daraufhin in Bewegung setzte. "Aber die kleine Tamara war nur eine Seele die ich benutzt habe um dich hierher zu locken, genauso wie deine Träume."
Die Statue kam unaufhaltsam näher und Rabe sah keine Möglichkeit ihr zu entgehen, dazu war der Gang einfach zu eng. Dann war es das also. Es war vorbei. Wenigstens waren seine Freunde sicher wenn Stark ihn hatte. Die Statue streckte die Arme aus und . . .
. . . eine Wolke aus Staub und Steinsplitter rieselte auf ihn hinab. Wenige Zentimeter neben ihm bohrte sich eine Axt in die Vertäfelung.
Der Entstellte drehte sich um, auf seinem Gesicht lag ein zorniger Ausdruck, der alsbald in Verwunderung überschlug.
Ava stand mit einem siegessicheren Grinsen und verschränkten Armen in der Mitte des Flures, neben ihr Kathiopeja und Tussnelda. Beide sahen mitgenommen aus, zielten jedoch ruhiger Hand mit ihren Miniarmbrüsten auf Lord Stark.
[7] "Aber wie . . . ihr wart aus dem Weg geräumt", stotterte dieser.
"Du glaubst doch nicht das so ne läppische Kiste mich aufhält?", antwortete Ava zungebleckend.
"Hände hoch du bist verhaftet!", fügte Kathy dazu.
Der Lord fand seine alte Fassung wieder, sah auf die Uhr und lächelte. "Es tut mir leid, meine Zeit ist abgelaufen." Er drehte sich zu Rabe. "Wir sehen uns nächstes Jahr wieder. Deine Seele ist zu köstlich um dich gehen zu lassen. Auf Wiedersehen."
Sein Körper begann zu verschwimmen, wie ein Bild dessen Farbe nass wurde, kräuselte sich und löste sich in Rauch auf. Rabe starrte mit großen Augen auf die Stelle an der der Entstellte gerade noch stand. Durch die Tür hinter ihm drangen Olgas rufe an sein Ohr, doch er hörte sie nicht. Er begann zu zählen, die Tage bis zum nächsten All Hallows Eve.
Happy Halloween!!!
[1] Rabes Kosename für Lordi
[2] Quasi wie sich selbst
[3] In neun von zehn Unfällen, die Rabe passierten, war Avalania von Gilgory maßgeblich beteiligt
[4] Und es wäre wohl sinnlos zu schreiben warum
[5] 1.71Meter war eben nicht groß
[6] Abgesehen von Ava natürlich. Sie lief zwischen Olga und Kathiopeja und in ihrem Fall musste man eher von Schulter an Hüfte sprechen
[7] Jeder der wissen möchte warum Ava, Kathy und Tussi wieder frei sind, kann sich das selbst ausdenken. Eine Möglichkeit wäre, dass Ava die Kiste in der sie war einfach zertrümmert hat, nachdem sie wieder einen klaren Kopf bekam und die anderen beiden rettete. Eine zweite Option wäre, dass jede der drei ihre Ängste besiegt hat und so den Zauber brach
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