Vorlage: Manchmal geraten die Dinge aus dem Ruder. Dann kommen wir an den Punkt, an dem wir merken, dass unsere Bemühungen nur ein Kampf gegen Windmühlen sind und dass unser einziger Sieg im Aufgeben besteht. Zumindest wissen wir, alles versucht zu haben.
Dafür vergebene Note: 13
***
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schliesslich...
***
Die kalte Winternacht betäubte die schmerzenden Füße der alten Frau, als sie durch den Wald schritt. Trotz der mondhellen Nacht ließen sich zwischen den Bäumen nur Schemen wahrnehmen, denn das Licht des Scheibewelttrabanten schien von schneebedeckten Ästen und Zweigen abzuperlen und den Weg auf den Boden nicht zu finden.
Die Alte schritt weiterhin durch den Wald, ignorierte die Kälte und die Wölfe, die vor ihr fortliefen, als hätten sie einen Geist gesehen. Mit Bedacht setzte sie ihre Schritte, immer aufmerksam, nicht in Löcher zu treten, oder über Wurzeln zu stolpern und wie sie auf den Boden starrte, hörte sie mit einem Mal ein leises Wimmern, welches sich klar von den restlichen Geräuschen des nächtlichen Waldes unterschied. Sie horchte auf und lief dann etwas schneller in die Richtung aus der die Laute kamen. Sie war schon fast an der Wolfsschlucht, einer der tiefsten Schluchten in den Spitzhornbergen, angelangt, als sie den Verursacher des Wehklagens endlich entdeckte. Ein kleines Bündel lag dort, direkt am Abgrund, daraus erhob sich für einige Sekunden ein winziges Händchen. Mit wehendem Haar lief die Alte auf das Bündel zu und hob es vorsichtig auf. Tatsächlich verbarg sich ein Säugling darin, die Lippen blau und das Gesicht vor Kälte gerötet, hatte er die Augen zusammengekniffen und !
die winzigen Fäustchen geballt, eingenommen vom Kampf gegen die Schnee und Eis. Die Frau erkannte sofort, dass sie ein kleines Mädchen in der Hand hielt, sie hatte in ihrem Leben viele Säuglinge gesehen und dieser war ganz gewiss weiblich. Es schien schon ein wenig älter zu sein, sicherlich drei oder vier Monate. Doch was machte es hier, in dieser lebensfeindlichen Umgebung? Die Alte sah sich um, aber sie konnte nirgends eine andere Person entdecken � alleine war das Kind sicherlich nicht hierher an die Schlucht gekommen. Jemand hatte das Baby zum Sterben hier gelassen. Normalerweise kam hier niemand vorbei, die Leute hielten sich fern von der Schlucht, denn sie war nicht umsonst nach den Wölfen benannt. So mancher Wanderer hatte aus Angst vor den wilden Tieren den Abgrund übersehen und hatte sich so sein eigenes Grab geschaufelt. Doch warum hatte man das Kind nicht in die Schlucht geworfen, wenn man es loswerden wollte? Das wäre ein gnadenvollerer Tod gewesen als hier jämm!
erlich zu erfrieren. Die Alte wusste aus Erfahrung, dass sogar!
kleine
Kinder bis zu zwei Tage dem knochigen Sensenmann trotzen konnten.
Behutsam drückte sie das das Kind an sich. Warum hatte man es loswerden wollen? Warum, wenn es in den Spitzhornbergen doch generell viele Mütter gab, die sich nicht drum scherten ob sie nun zehn Kinder versorgten oder elf, sich sogar damit brüsteten, ein Findelkind großzuziehen.
Dann, plötzlich, als die Alte in die klare Nacht starrte und das Kind gegen ihre schlaffe Brust drückte, spürte sie es. Es übermannte sie ein Gefühl der Furcht welches mit einer Welle der Erkenntnis einherging. Zärtlich strich sie dem Kind über die Wange und trat dann einen Schritt näher an den Abgrund heran. Das Kind merkte nichts von ihrem Vorhaben, beruhigt hörte es auf zu wimmern und drückte sich eng an den großen, wärmenden Körper. Doch die Alte streckte das Kind von sich weg, die Arme ausgetreckt hielt sie es über dem Abgrund fest. Sie würde vollenden, was die Eltern dieses Säuglings versäumt zu haben schienen, sie würde kurzen Prozess machen.
In diesem Moment schlug das Kind die Augen auf.Rea wachte auf. Fort war die Kälte, der Wald hatte sich in ein Zimmer in Ankh-Morpork verwandelt, die Wölfe waren die beiden Ratten Sancho und Piedro, die auf dem Tisch nach Essensresten suchten und der Abgrund war nur 30 Centimeter tief und reichte von der Bettkante bis zum Boden.
Müde schaute die junge Frau auf den Wecker auf ihrem Nachttisch und hörte den Dämon darin schnarchen. Es musste also noch Nacht sein. Müde schloss sie die Augen und drehte sich einige Male in ihrem Bett herum, als ob sie glaubte, den Traum damit verscheuchen zu können.
Traurig saß Alyssa am Fenster und sah hinaus in die sternenklare Nacht. Wann würde er heute nach Hause kommen? Sie waren nun schon so lange verheiratet, fast acht Jahre, und nun, seit gar nicht mal drei Monaten hatte sie das Gefühl, dass er sie betrog. Gefühl? Nein, sie wusste es. Wie lange schon sehnte sie sich abends nach seiner Nähe, wie lange schon waren ihre Gefühle füreinander so vereist, dass selbst die Hölle sie nicht mehr erwärmen konnte. Etwas Wesentliches fehlte in ihrer Beziehung und sie konnte sich nicht erklären, was genau es war. Die fehlende Zärtlichkeit war nur eine Folge aus etwas, dass sie nicht ganz verstand. Es war, als wäre sie stehen geblieben und Groß A'Tuin hätte ihren unendlichen Weg ohne sie fortgeführt.
Sehnsüchtig sah sie aus dem Fenster, der den Blick auf den Ankh freigab. Kein sonderlich schöner Anblick, doch jetzt, kurz nach Mitternacht, hatten die Seeleute kleine Laternen an den Mästen entzündet und tauchten die Schiffe in ein gespentisch-romantisches Licht. Als Alyssa noch ein Kind gewesen war und die Wohnung noch ihrer Mutter gehört hatte, hatte sie oft den Schiffen nachgesehen und die Matrosen gewunken und sich dann gefragt, welche Reise diese Giganten aus Holz wohl hinter sich hatten und was sie erwarten würde. Nun fühlte sich Alyssa selbst wie ein kleines Schiff, das zwar wusste, auf welches Ziel es zusteuerte, doch von den Ereignissen des nächsten Tages keine Ahnung hatte.
Sie schwelgte noch immer in Gedanken, als sich die Wohnungstür knarzend öffnete.
"Du bist noch wach?" Dorean fuhr sich ein wenig nervös durchs Haar, seine Augen hatten etwas seltsam ängstliches an sich, was Aylssa an ihrem Gatten noch nie gesehen hatte.
"Wo warst du?", entgegnete sie seine Frage und spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug, als sie ihn so sah. So anders.
Er beantwortete ihre Frage nicht. Doch als sie auf ihn zuging, wusste sie, was er getan hatte. Der Geruch von fremden Damenparfüm umgab ihn wie eine Mauer und als wäre sie daran abgeprallt, blieb sie stehen.
"Ich gehe jetzt schlafen", sagte sie nach einer Weile, in der sie sich unverwandt in die Augen gesehen hatten. "Gute Nacht."
R. Dubiata, unterzeichnete Rea die Untersuchungsergebnisse während sie ein Gähnen unterdrückte. Sie hatte die letzte Nacht äußerst schlecht geschlafen, wahrscheinlich, weil Neumond war. Was andereren Menschen bei Vollmond den Schlaf raubte, schien Rea bei Neumond zu treffen, wieso wusste sie nicht. Doch sie ließ sich von körperlichen Schwächen wie Müdigkeit schon lange nicht mehr beeindrucken. In Gedanken versunken flog sie noch einmal über den Bericht, der wie immer kurz und sachlich ausgefallen war und nippte an ihrem Kaffee. Der Verstorbene hatte einen offensichtlich unbeabsichtigten Sprung von einem Baugerüst nicht überlebt. Vorläufig hatte man den Tod Benjamin Turmbauers als Unfall eingestuft, denn alle bisherigen Zeugen hatten nur den Fall selbst gesehen, nicht das, was ihm vorangegangen war. Doch auch Gerichtsmediziner stießen ab und zu an ihre Grenze und Rea war an eine solche gelangt. Alle Kratzer am Körper des Toten waren zu alt, um mit seinem unglücklichen Aufschl!
ag auf dem Erdboden in Verbindung gebracht werden zu können und alle Wunden die vom Sturz zeugten, wirkten auf das mittlerweile geübte Auge der SuSi vollkommen normal � wenn man bei irgendeiner Leiche von normal sprechen konnte. Sie würde sich an Herrn Made wenden müssen, denn wenn irgendjemand über die Bewegungen eines Körpers in der Luft Auskunft geben konnte, dann er.
Die Expertin trank ihren letzten Schluck Kaffee und stand dann vom Schreibtisch auf um den Zombie zu suchen.
Harald zog sich die Handschuhe aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Hochsommer in Ankh-Morpork war nicht zu verachten, vor allen Dingen wenn man den ganzen Tag in einer Fabrik mit wenig Fenstern verbrachte und noch dazu in der Nähe der Schmiedeöfen arbeitete. Er sah auf die Uhr und freute sich, dass bald Mittagspause war, der kleine Lichtblick von einer halben Stunde frischer Luft und der Möglichkeit, sich Schmieröl und Schweiß von der Haut zu waschen. Ein wenig melancholisch dachte er daran, wie normalerweise um diese Zeit seine Freundin Alyssa, kurz durch die Werkshalle ging um die erste Ladung der fertigen Teile zur Verabreitung zu schieben. Dabei hatte sie mit ihrer hellen Stimme immer ein Lied auf den Lippen, meist traurige Volkslieder, die ihn trotzdem erfreuten, da sie eine so wunderbare Abwechslung zu den ewig gleichen Bewegungen am Schmiedeofen boten. Doch heute war Alyssas erster Urlaubstag. Er wusste, wie sie sich seit Wochen darauf gefreut hatte, e!
ndlich das zu tun, wovon sie als Kind immer geträumt hatte: Sie und ihr Mann hatten eine Schiffsreise geplant. Nur bis nach Quirm, aber immerhin. Wochenlang hatte Alyssa von nichts anderem gesprochen, doch ein wenig machte er sich schon Sorgen. Während er wieder begann, auf das Stück Eisen einzuschlagen, rief er die Unterhaltung ins Gedächtnis zurück, die er mit der jungen Frau erst vor einigen Tagen geführt hatte.
"Er verhält sich so komisch in letzter Zeit. Er kommt immer später nach Hause und ich bin mir fast sicher, dass er bei einer anderen Frau war", hatte Alyssa gesagt und hatte damit das erste Mal wirklich private Dinge angesprochen, die sie sonst aus ihrer Freundschaft herausgehalten hatte.
"Warum glaubst du das zu wissen?" Harald war seit fast dreißig Jahren verheiratet und kannte alle Höhen und Tiefen einer Beziehung. Als seine Frau nach acht Jahren Ehe zum sechsten Mal schwanger gewesen war, hatte er gewusst, dass das Kind nicht von ihm war. Er hatte die drei Monate vom Tag der Verkündung zurückgerechnet und hatte sich sofort an den schlimmen Husten erinnert, welchen Erika zusammen mit ihm auf das Sofa im Wohnzimmer verbannt hatte. Noch wenige Jahre zuvor hatte er mit Sicherheit gewusst, dass er seine Frau bei der kleinsten Untreue vor die Tür schicken würde, doch an jenem Tag war er einer anderen Überzeugung gewesen. Hatte sie ihn nicht trotz seiner Launen, seinen vielen Macken und seiner manchmal nervtötenden Impulsivität immer geliebt?
Er hatte Erika nie gesagt, dass er von ihrer Untreue wusste und aus dem mittlerweile zweiundzwanzigjährigen Thomas war ein gescheiter Mann geworden, den Harald genauso sehr liebte wie seine fünf anderen Kinder.
Genau das hatte er Alyssa erzählt. Dann hatte er ihr gesagt, sie solle sich auf den Urlaub freuen, ein Ortswechsel würde sicherlich viele Dinge wieder ins Lot rücken.
Ein leises Quietschen kündigte den Nachschub an und riss Harald aus seinen Gedanken. Etwas verwundert starrte er auf das platte Stück Eisen in seiner Zange und warf es dann in den Ausschuss.
"Also", Herr Made ging die Szene noch einmal durch. "Er stand hier auf der Treppe, ging dann durch das Zimmer am Pfosten vorbei und blieb hier eine Weile stehen. Das sagte zumindest Akky. Dann stieg er aus dem Fenster auf das Baugerüst und sprang."
"Oder er wurde gestoßen", sagte Rea und sah sich in dem untapezierten und unmöblierten Raum um.
"Oder das. Die Frage ist nur wer ihn gestoßen hat." Der ehemalige Ballistiker hätte lieber die wahren ballistischen Experimente weitergeführt und die neue Burlich&Starkimarm Doppelarmbrust im kühlen Hinterhof des Wachhauses ausprobiert, in der Mittagshitze war Ankh-Morpork einfach unerträglich und er fragte sich, wie Rea es unter all ihren Röcken aushielt.
"Nun, es waren kurz vor und kurz nach seinem Sturz zu viele Leute hier, sonst hätte Akkhuna uns da sicherlich weiterhelfen können." Rea ging mehrere Male von der Tür des unfertigen Zimmers zum Fenster und wieder zurück. Nachdenklich legte sie den Finger an die Lippen und suchte zum hundertsten Mal nach irgendeinem Hinweis, den die Spurensicherer vergessen hatten. Doch das Team Eleonora hatte gute Arbeit geleistet und die Fundstelle zweier Zigarettenstummel markiert, die einzige Besonderheit in diesem Raum. Ansonsten gab es nur tapetenlose Wände, einen staubigen Boden durch den schon zu viele Spuren führten und eine Freilichtdecke bestehend aus Dachlatten. Schließlich blieb Rea am Fensterbrett stehen. Es war gerade mal so hoch wie ihre Hüfte, was bedeutete, dass man einen zwei Meter großen Mann wie Benjamin Turmbauer leicht hätte hinunterstoßen können, wenn man die nötige Kraft besaß.
"Wir verschwenden hier unsere Zeit, ich denke nicht, dass wir da noch etwas herausfinden können. RUM wird sich drum kümmern, schaun ob der Kerl Feinde hatte und irgendwann einen Täter präsentieren." Die Gefühlskälte in Mades Stimme löste eine Art Reflex in Rea aus und ihre Augen und Lippen wurden mit einem Mal etwas schmaler.
"Menschen lügen. Leichen nicht", sagte sie mit einem bitteren Unterton. "Und überhaupt. Man müsste doch unterscheiden können ob ein Körper hinaus gestoßen wurde, gefallen oder gesprungen ist. Wer war denn hier so lang Ballistiker?"
"Erinnere mich nicht an mein neue Spezialisierung." Ein leises Knurren schwang im Satz des Zombies mit, welches jedoch schnell verflog."Im Grunde kann man es an den verschiedenen Verletzungen unterscheiden. Ein gestoßener Körper hatte mehr Schwung, fliegt weiter vom Absprungspunkt weg und fällt schneller in die Tiefe, da er sicherlich auch nach unten gestoßen wird. Aber bei dieser vergleichsweise niedrigen Höhe macht das kaum Unterschied."
"Man könnte trotzdem versuchen, Vergleiche mit einem Gestoßenem Körper ziehen..", sagte Rea.
"Könnte man. Aber wo willst du einen Leichnam hernehmen, der genau die gleiche Höhe gefallen ist und von dem du weißt, dass er geschubbst wurde?" Made bemerkte den unschuldigen Blick der blonden Wächterin und machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. "Nein. Egal was du jetzt sagst, ich bin kein Versuchskaninchen!"
Harald wischte sich erneut die Schweißtropfen von der Stirn und besah sich dann die Arbeit, die er bis zur Mittagspause geschafft hatte. Er grinste zufrieden und sah dann auf die schon brächtlich leerer gewordene Tonne Rohmaterial. Gerade wollte er sich abwenden um sein verdientes Mittagessen einzunehmen, da sah er es. Ein fahles, rosanes Etwas schimmerte durch die fielen kleinen Eisenstäbe hindurch. Neugierig schob er die Stäbe beiseite und zog dann ruckartig die Hand zurück und schrie laut auf. Er ging einige Schritte zurück und lief gegen den Amboss, wodurch er ins Fallen geriet. Mit einem Lauten Scheppern warf er eine Tonne um, in der falschen Hoffnung, bei ihr Halt zu finden und fiel dann selbst zu Boden.
Die anderen Männer, die in der Halle arbeiteten, kamen schon auf ihn zugerannt � wo man mit Feuer und schweren Hämmern arbeitete, da nahm man selbst kleine Unfälle ernst.
"Was ist passiert?", fragte Roland von Hammer Sieben und half Harald auf die Beine.
"In der Tonne ist ... ist ... eine ..." Harald konnte es noch immer nicht fassen. Ein anderer Kollege, Varrak, ging zur Tonne und sah hinein, nicht einmal eine Sekunde später wurde er totenblass.
"Ist ja gut, ich hör schon auf." Rea legte die Akte von Benjamin Turmbauer auf einen Stapel im Büro der Gerichtsmediziner. "Mal sehen was die Ermittler draus machen."
"Es ist besser, sich keine Gedanken zu machen," erwiderte Made und legte die Füße auf den Tisch. "Als Gerichtsmediziner machst du deine Arbeit, die ist schwierig genug. Für den Rest bist du nicht zuständig."
"Als ob du ständig deine Arbeit machen würdest... in jeder freien Minute rennst du in den Innenhof und schießt mit ein paar dämlichen Waffen auf ein paar dämliche Puppen und was weiß ich.."
"Das ist Forschung!", erwiderte Made trotzig und wollte gerade zu einem längeren Diskurs über Ballistik ausholen als die Tür aufgestoßen wurde. Olga-Maria und Rabe Raben betraten den Raum.
"Hi, man hat Leichenteile in der Schlosserei Schiffering gefunden. Wir sollen dahin!", erklärte Olga kurz.
Rea nahm ihre Tasche und sah dann Herrn Made an.
"Hab zu tun", erwiderte dieser und hielt sich eine Akte falschherum vor die Nase.
Das kleine Mädchen saß im Schneidersitz im Gras. Es war für sie nie schwer gewesen, Tiere anzulocken, zumeist kamen sie zu ihr und wenn sie sie einmal kannten, blieben sie auch länger in ihrer Nähe. Da war die kleine Waldmaus, die Rea Dana genannt hatte, zwei kleine Kaninchen, ein Igel und einige Rotkehlchen, die um sie herum saßen. Hinten am Waldrand sah Helena ein Reh.
Würde es heute klappen? Würde das nichtsnutzige Kind endlich einmal ihren Körper verlassen? Fast acht Jahre war es nun her, dass Helena das Mädchen zu sich genommen hatte. Acht Jahre war sie alt. Nur für eine Woche hatte sie sie an eine Amme geben können, denn diese hatte das Blag fürchten gelernt. Irgendetwas, so hatte sie gesagt, jage ihr Angst ein, Das Kind war nicht normal, soviel stand für sie fest. Sie hielte es für besser, es einer erfahrenen Hexe anzuvertrauen.
Natürlich war das Kind nicht normal, dachte Helena. Niemand war das. Doch Rea...
Rea hatte bereits früh begonnen, sich für Heilkräuter zu interessieren. Sie hatte geholfen, die Kräuter zu schneiden und auch wenn sie immer wieder daran gescheitert war, das scharfe Messer richtig zu benutzen, der Sturkopf hatte nie aufgegeben. Unzählige Schnitte in den kleinen Händen zeugten davon und Helena ließ sie noch immer nicht an das Hackmesser, nicht bevor sich endlich einmal ein Igor in das kleine Dorf verirrte.
Das junge Ding kannte mittlerweile mehr Heilkräuter als Helena selbst. Sie hatte neue Mixturen ausprobiert, ein kleines Rechteck im Garten fiel allein ihren Pflanzenzüchtungen zu. Doch Rea wurde unzufrieden. Alleine Heilkräuter seien nicht genug, hatte sie gesagt. Sie wolle Püschologie lernen, und Borgen. Sie wollte den Hut tragen und sich schwarz anziehen dürfen. Doch Helena hatte immer wieder den Kopf gechüttelt. Das käme für ein Gör wie sie nicht in Frage, hatte sie immer wieder geantwortet. Und wenn Rea nach dem Grund fragte, dann hatte sie ihr aufgetragen, den Kamin zu fegen, das Unkraut zu jäten, die Blumen zu gießen oder ein neues Loch für den Abort zu schaufeln. Folgsam war sie. Sie hatte ihre Zeit abgewartet, so wie im Winter vor sieben Jahren.
Doch das Bitten war häufiger gefolgt, es war nie abgeebbt wie Helena es sich erhofft hatte. Es war nicht gut für dieses Kind das zu erlernen, was die Hexen der Spitzhornberge so mächtig machte. Sie würde es ihr nie beibringen.
Doch da saß sie nun, ein Stück Käse in ihrer Hand und starrte auf die Maus. Die Maus wiederum starrte auf den Käse und Helena selbst starrte auf einen Punkt in Reas Nacken. Sie sah zu, wie sich ihr Rücken versteifte.Jeder Muskel wurde, einer nach dem anderen, hart wie Stein.
"Habe ich dir nicht verboten, borgen zu lernen?", fragte Helena kühl. "Komm rein und mach die Suppe für's Abendbrot, du lernst das sowieso nie."Olga-Maria hatte bereits den Fundort ikonographiert. Es war eine Hand, die aus einem großen Kasten voller Rohmaterial, dass wohl einmal zu Schlössern verarbeitet werden sollte, herausragte. Es war die linke Hand, die schlanken, zarten Finger wiesen sie als eine Frauenhand aus. Rea hatte begonnen, das Rohmaterial aus der Kiste in einen Bottich zu verfrachten, doch alles was sie fand, war diese eine Hand. Der dazugehörige Körper war nicht in dem Kasten. Nicht einmal ein Ohr.
Harald saß immer noch zitternd auf einem Stuhl und drehte seine Mütze in den Händen. So eine schaurige Sache hatte er noch nie gesehen. "Eigentlich sollten wir die Bestellung für Lutz&Löw Tresore erst nächsten Mittwoch anfangen, aber sie brauchten die Ware doch früher. Hilft ihnen das?"
Rea nickte. "Sicher, ich denke man wollte die Hand verstecken um Zeit zu gewinnen. Der Schwachpunkt eines Mordes ist immer die Frage: 'Wohin mit dem Körper?'"
Olga-Maria notierte sich diesen Spruch in ihr Notizbuch. So langsam wollte sie endlich ihre Ausbildung abschließen und sie versuchte wirklich alles um so viel Erfahrung zu sammeln wie möglich. Sie hatte sich inzwischen einen anderen Kasten vorgenommen und durchsuchte ihn nach weiteren Leichenteilen. Schwitzend seufzte sie. "Wir hätten Akky mitnehmen sollen."
"Das wird nicht nötig sein", ein leichtes Knurren überdeckte die Stimme, die unter dem Schlapphut und dem über die Nase gezogenen Halstuch hervordrang.
Rea rang sich ein Lächeln ab, begrüßte den stellvertrenden Abteilungsleiter RUMs und zählte ihm die Fakten auf. "Vor circa einer Stunde hat man diese linke Frauenhand in diesem Kasten voller Rohmaterial gefunden. Harald Antler da drüben war der Glückliche."
Rea beobachtete, wie der Chief-Korporal krampfhaft versuchte, durch den Mund zu atmen. Sein Halstuch wurde immer wieder leicht angesaugt. "Hat man noch keine weiteren Leichenteile gefunden?", fragte er.
Rea schüttelte den Kopf. Sie konnte sich vorstellen was los war, der ganze Raum musste nach Blut stinken. Hier mussten noch mehr Leichenteile sein. Vor allen Dingen in Bestellungen, die erst in einigen Wochen rausgehen sollten. Die Hitze machte es dem Ermittler sicherlich nicht leichter. Metall heizte sich schnell auf, das Fleisch wurde warm und zersetzte sich schneller. Eine wahre Folterkammer für Werwölfe, die des menschlichen Fleisches abgeschworen hatten.
"Dann werde ich mich auf die Suche machen. Dürfte schnell gehen", erwiderte Romulus und zog das Halstuch ab.
Die Hauptgefreite starrte auf die Leichenteile. Noch immer hatte sie keinen ganzen Körper beisammen � da war ein Bein, zwei Füße und die linke Hand. Einige Gedärme waren gefunden worden. Lunge, Leber, Milz und Dünndarm. Und dann war da der Kopf. Oder besser dass, was einmal ein Kopf gewesen war. An ihm hing noch eine halbe Schulter, ein Auge war fast vollständig erhalten doch der Rest? Eine Laie hätte geglaubt, dass dieser Kopf von einer Ratte angefressen worden sei, aber sie hatte es sofort gesehen, dass es dies nicht gewesen ein konnte. Nicht so, nicht so schnell. Das Auge war ja noch halbwegs klar, kaum 12 Stunden tot. Die Haare waren fast ganz verschwunden. Nur wenige Strähnen im Nacken waren verblieben. Der Schädel war an den meisten Stellen entblößt, vor allen Dingen im Gesicht.
Rea ging zurück zum Schreibtisch auf dem ihre Tasche lag. In einer kleinen braunen Tüte lag ihr Sandwich, zusammen mit einem Apfel und einer Flasche Rosmarintee. Sie würde heute wohl vegetarisch essen, dachte sie ein wenig zynisch und nahm die Scheibe Schinken vom Brot. Sie ging zurück zu dem grausigen Schädel und hielt das Stück Schinken daran. Ein ganz leises Zischen war zu vernehmen. Sie hatte Recht gehabt. Säure.
Die drei dicken Wälzer auf dem Tisch der Hauptgefreiten waren voll mit Lesezeichen der unterschiedlichsten Farben. Reas Farbsystem hatte sich des öfteren als hilfreich erwiesen, um Gifte, Waffen und Krankheiten nachzuschlagen. Momentan hatte sie alle Bücher bei einem Grünen Band aufgeschlagen: Anatomie.
Sie wusste bereits, dass Salzsäure das Gesicht der Toten entstellt hatte. Nur blanker Knochen und angefressenes Fleisch, aber hauptsächlich Knochen, waren übrig. Nicht sonderlich hilfreich, wenn man die Leiche identifizieren sollte. Ihr Gebiss machte aus ihr wohl eine 27 bis 32-Jährige, schlanke Frau. Davon gab es in Ankh-Morpork sicherlich genügend. Die Braunen Haare und Augen � keine Seltenheit. Das Register der Vermissten wurde bereits durchsucht, doch die Frau war noch nicht lange tot. Zehn, zwölf Stunden vielleicht.
Sie blätterte nachdenklich in "Gerichtsmedizin � Die Botschaft der Toten" und blieb dann interessiert bei einer Illustration des Schädels stehen. Auch der Autor des Buches hatte Farben verwendet, hier um die verschiedenen Punkte am Schädel zu kategorisieren. Blaue Knochennamen, Gelb für besonders verletzliche Punkte und Rot für Muskelansätze. Jeder Muskelansatz, so sagte der Autor Johann D'eau, sei anders. Je größer er sei, umso größer seien die Muskeln.
Logisch, dachte Rea. Und mit einem Mal kam ihr die Idee. Die Idee, mit der sie die Tote vielleicht auferstehen lassen konnte. Zumindest ihr Gesicht.
Es war gekommen wie es kommen musste. Rea war nun fast eineinhalb Jahre fort. Kein Brief, kein Lebenszeichen dass sie ihr geschickt hätte. Nichts.
Doch Helena wäre keine Hexe, wenn sie nicht ab und zu die Fischerkugel unter ihrem Bett hervorgeholt hätte und in ihr nach dem Mädchen gesucht hätte. Da war sie also nun, in Ankh-Morpork, und es fiel Helena immer wieder schwer, dass das dort Rea war, die sich alleine, vollkommen auf sich gestellt, in der großen Stadt zurechtfand. Äußerlich hatte sie sich kaum verändert, sie trug immer noch die dunklen Farben und zeigte kaum Haut, wie es sich für eine anständige Hexe gehörte. Sie hatte eine kleine Hexenküche, braute weiterhin Tränke und verkaufte sie an ein Haus voller Frauen welches sich Näherinnengilde nannte. Anscheinend war sie dort nicht unbeliebt, wenn ihr Besuche auch diskret und kurz waren und sie das Haus immer über durch die Hintertür betrat.
Doch ihr kleines Mädchen, so hatte Helena vor einer Weile schmerzhaft lernen müssen, war zu einer jungen Frau geworden, die nebenbei Verbrechern auf die Spur kam und bei der Wache Leichen sezierte. Menschen in den Tod zu geleiten war zwar eine der wichtigsten Aufgaben einer Hexe, der nur das Heilen und das zur Welt bringen voranging, doch sie im
Tod zu begleiten war nicht unbedingt das, was Rea sich in ihrem Herzen wünschte.
In ihrem Herzen war sie eine Hexe, dass hatte Helena damals in ihren Augen gesehen. Doch das Rea zu einer wahren Hexe wurde, hatte sie mit aller Kraft verhindert. Sie hatte ihr genug beigebracht um das zu sein was sie wollte aber zu wenig um das zu werden, was aus ihr werden konnte. Und nun half sie den armen Seelen ihren Frieden zu finden, indem sie ihre Mörder fand und sie schien sich damit zu begnügen. Sie wusste ja nicht, was Helena wusste.
Es war richtig gewesen, es ihr zu verschweigen und sie davon abzuhalten! Natürlich war es richtig, was machte sie sich Gedanken darum. Rea und sie hatten sich damals zerstritten, die Wut hatte sich in ihr immer weiter aufgebaut, die unerfüllte Hoffnung hatte sich schließlich aus der bescheidenen Hexenhütte vertrieben � und es war richtig gewesen. Wer wusste, ob sie es nicht doch irgendwann geschafft hätte, Helena das Geheimniss zu entlocken, warum sie ihr die Ausbildung verweigerte.
Die alte Frau merkte, wie sehr es sie mal wieder beschäftigte, das Rea fort war. Auch wenn es sicher die richtige Entscheidung gewesen war, der Anblick ihrer Kleinen in der Fischerkugel machte das Haus so leer. Sie nahm Zettel und Stift und schrieb einen Brief. Es war nicht der Erste, den sie an ihre Adoptivtochter schickte und mit Sicherheit nicht der Letzte.Eine Stunde nach Reas Idee war aus der Pathologie eine Töpferei entstanden. Jedenfalls sah es danach aus. In einem Eimer schwappte eine Weiße Flüssigekeit, die Rea immer wieder umrührte. Als sie einen bestimmten Grad erreicht hatte hängte Rea den Kopf der Toten in das weiße Zeug hinein. Dank ihren Beziehungen zu der Näherinnengilde hatte Rea auch einen guten Draht zu dem Besitzer der Ohnesorge Fabrik und hatte von ihm das gummiartige Material, dass den Hebammen in der richtigen Form die Arbeit nahm, erhalten. Für ihre Zwecke war es Hervorragend geeignet. Doch ersteinmal musste es trocknen.
Olga-Marias zaghaftes Klopfen erklang an der Tür zum Seziersaal und wenig später betrat sie den Raum. Staunend sah sie ihre Freundin an.
"Was soll dass denn alles? Tonerde? Hammer, Meißel, Feilen und Modelliermasse? Bist du unter die Künstler gegangen?" Dann erst sah sie, was Rea schleunigst hatte abdecken wollen: einen Eimer über dem ein Stock lag, an dem menschliche Knochen hingen. Der größte Teil des weißen Gebeins war eingetaucht, doch Olga konnte den Teil des menschlichen Schultergürtels erkennen. Schlgartig wurde ihr schlecht und sie hielt sich die Hände vor die Augen. "Rea! Das ist Leichenschändung!"
Rea lachte ein wenig amüsiert. Langsam müsste sich Olga-Maria an Leichen gewöhnt haben, doch den Begriff der 'Leichenschändung' fand Rea noch besser.
"Olga-Maus, was ich hier mache, trägt dazu bei, den Täter zu finden."
"In dem du einen Kopf weiß anmalst?"
"Weiß anmalen? Quatsch, das ist Gummi. Ich mache einen Abdruck."
"Ahja. Und? Wozu brauchst du einen zweiten Schädel? Reicht dir einer nicht?"
"Nein", antwortete die Gerichtsmedizinerin. "Ich werde am Schädel herummodellieren um mal zu sehen ob sich die Muskeln rekonstruieren kann."
Olga horchte auf. "Und dann?"
"Dann rekonstruiere ich die Haut und so, vielleicht ergibt sich so ein akkurates Bild der Verstorbenen."
Olga nickte. Das war in der Tat eine interessante Idee. Wenn es wirklich möglich wäre ein Gesicht nachzumodellieren, nur anhand der Knochen...
"Aber was hast du denn auf dem Herzen?", fragte Rea.
Olga, deren Gedanken sie gerade für eine Weile entrückt hatten schreckte auf. "Äh..", sagte sie. "Achja, ich hab ja den Tatort ikonographiert..." Sie holte eine Mappe aus ihrer Tasche und begann darin zu kramen. "Hier", sagte sie schließlich und reichte Rea ein Bild vom Tatort, genauer gesagt, der Lagerhalle die direkt an den Raum des Fundortes anschloss.
"Ja, und?", fragte Rea irritiert.
"Naja", Olga rückte ihre Augengläser zurecht und deutete dann auf einiger Fässer auf dem Bild. "Was ist das?"
Rea sah genauer hin, wobei sie die Augen zusammen kniff. "Köhnigswaser, steht doch drauf!"
"Ja, aber was genau ist das?"
Rea runzelte die Stirn. "Ich weiß, dass es irgendeine Säure ist, aber nicht genau welche oder was sie tut. Warum fragst du nicht Ratti oder Isis, die sind Laborantinnen, die sollten sich damit auskennen!"
Olga wurde leicht rot und sah dann zu Boden. Rea seufzte. Manchmal war Olgas Schüchternheit wirklich albern. Ratti und Isis hatte Rea bisher nur als nette Kolleginnen gesehen, denen es fern lag anderen SUSEN die Ohren abzubeißen wenn sie etwas von ihnen wollten. Etwas genervt stand sie auf und suchte ihre Ausgabe von "Das Tödliche � Alles was dich um die Ecke bringt". Sie blätterte durch das Glossar. "Hier steht nichts von Königswasser. Das heißt du musst Ratti oder Isis fragen."
Olga-Maria zuckte die Schultern und verließ das Büro, während Rea sich wieder ihrer Arbeit annahm und über eine mögliche Rekonstruktion des Gesichts Informationen einholte.
Isis öffnete die Tür zum Labor und lächte Olga-Maria freundlich zu.
"Was gibt es, Gefreite Inös?"
Olga merkte, wie sich Schweiß in ihren Handflächen bildete und sich ihre Finger um die Ikonographien herum versteiften. "Ähm, ich, äh, ich bräuchte eine Information?", fragte sie vorsichtig.
"Das brauchen die meisten", lachte Isis und winkte Olga herein.
Ehrfürchtig sah sich die Tatortwächterin in dem Labor um. Überall standen brodelnde Reagenzgläser und Erlenmeierkolben herum. Es war warm, noch heißer als draußen, und es stank nach Schwefel.
"Wir führen gerade ein paar Experimente zur Lichterzeugung durch. Hier, sieh mal."
Isis deutete auf einen kleinen Daemon der in einem Laufrad rannte und dabei rot glühte. Ratti stand daneben und feuerte ihn an
[1]. "Er muss die richtige Betriebstemperatur bekommen, dann fängt er an zu leuchten. Extrabeschwörung, eigentlich noch gar nicht erhältlich.Wir versuchen, ihn dazu zu bringen, sonnenähnliches Licht zu erzeugen. Noch ist er rot, und auch wenn wir ihm einheizen wird er höchstens noch röter."
Olga-Maria nickte und wischte sich das Kondensat von der Brille. "Interessant. Wie findet der Dämon das?"
"Keine Ahnung", meinte Ratti. "Aber im Winter wird er uns dafür danken." Sie grinste und bemerkte dann die Ikonographien in Olgas Händen. "Was ist das?"
"Ikonographien von einem Tatort", erwiderte Olga. "Da sind Fässer drauf, von denen ich nicht weiß was in ihnen ist. Aber es steht Köhnigswaser darauf. Wisst ihr was das ist."
Isis und Ratti sahen sich an und Isis nahm Olga die Bilder aus den Händen. "Ah", sagte die Mumie. "Wie es aussieht ist dass in einer Fabrik, die auch Metall verarbeitet?"
"Ähm, sie stellen Schlösser her", sagte Olga und wurde dann ein wenig ungeduldig. "Was ist es denn nun?"
"Naja, Königswasser löst Gold von Silber. Es ist eine starke Säure. Kaum ein Metall hält ihm stand."
"Und Haut?"
"Hm", sagte Ratti. "Königswasser besteht zu einem großen Teil aus Salzsäure und zum Rest aus Salpetersäure. Beides ist nicht gerade pH-neutral."
"Bitte was?" Olga sah Ratti fragend an. Warum musste sie unbedingt diese Alchemiesprache, verwenden, wo sie doch keine Einsicht darin hatte.
"Die Säuren sind nicht hautfreundlich. Beides ist sehr ätzend." Isis lächelte. "Was meinst du haben sie für die Fässer genommen, Ratti? Wolfram?"
Ratti sah noch einmal genauer auf das Bild. "Ich denke ja. Sie werden es allerdings nicht gelagert haben. Wahrscheinlich sind in den Fässern Salzsäure und Salpetersäure, sie werden es nur angemischt haben, wenn sie welche brauchten. Reicht dir das, Olga?"
Die Gefreite nickte. Allerdings brachte sie es keinen Deut weiter. Man hatte das Gesicht der Leiche mit Salzsäure zerstört. Das war anscheinend nicht allzuschwer gewesen, denn Salzsäure war genügend vorrätig. Sie hatte gehofft, das Königswasser hätte die Suche ein wenig eingeschränkt, doch nun war die ganze Belegung der Fabrik in Verdacht, das sie Zugang zu den Fässern hatten.
Rea schlief. Helena hatte immer wieder in ihre Kugel gestarrt und dann war ihr aufgefallen, dass ihr Mädchen zwischen mehreren Tonköpfen auf dem Schreibtisch eigeschlafen war. Der blonde Schopf, voller Tonkrümel und weißen Gummistückchen, ragte aus dem Durcheinander hervor, das Gesicht versteckend in den Ellenbogen gelegt. Helena beobachtete Rea eine Weile, dann bemerkte sie, wie sich etwas in dem Raum bewegte. Sie kam durch die Tür, doch ohne sie geöffnet zu haben. Sie sah aus wie ein normaler Mensch. Fast. Ihr ganzer Körper schimmerte silbern, und ihr braunes Haar glänzte leicht rot.
Die Frau ging durch das Zimmer, näherte sich langsam aber zielstrebig den Leichenteilen auf dem Seziertisch. Helena sah sie nun frontal. Die Kleidung der Frau war einfach und sah aus wie die einer normalen Mittelständigen, wenn man von mehreren Einstichen in ihrem Brustkorb absah. Sie hatten ihre Bluse zerissen und rot gefärbt. Auch über das Gesicht floss Blut, aus der großen Wunde am Hinterkopf herrührend.
Die Frau betrachtete die Gliedmaßen auf dem Seziertisch. Sanft strichen blutige Hände über die Teile, es schien, als trauere sie. Dann ging sie zurück zu dem Schreibtisch an dem Rea schlief. Gedankenverloren betrachtete sie den Schädel, der auf einem Stuhl platziert war. An ihm hingen noch weiße Reste des Gummis, in dem er vor nur wenigen Stunden versenkt gewesen war.
Erneut ging sie weiter, stellte sich hinter das schlafende Mädchen und betrachtete ihr Werk auf dem Schreibtisch. Helena sah, wie die Frau ihre rechte Hand nach Reas Kopf austreckte. Langsam näherte sich die Geisterhand den blonden Haaren. Dann, plötzlich, sah sie auf. Sie sah nach oben, direkt in Helenas Augen. Helena starrte zurück. Die Geisterfrau hatte die heimliche Beobachterin entdeckt, so etwas hatte Helena noch nie erlebt. Der Geist sah sie an, lächelte und streckte dann die Hand die letzten Millimeter. Die blutigen Finger berührten den Kopf Reas und fielen dann von ihrem Arm ab und verschwanden. Das Lächeln auf dem blutigen Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als die Haut um ihre Lippen sich kräuselte und verschwand, blanken Knochen freilegte. Ihr Arm fiel ab, ein Auge verfärbte sich rot und verflüssigte sich in einen Schwall roten Blutes, dass auf ihre Kleidung tropfte. Auch der Torso löste sich auf, der Brustkorb zeigte sich und gab den Blick auf verwundete Org!
ane frei. Schließlich knickte der Kopf nach hinten und riss ein Stück Schulter mit. Selbst in der tonlosen Welt der Kugel konnte Helena das Krachen hören, mit der der Schädel auf dem Boden auftraf und verschwand. Auch der Torso verschwand. Beine lösten sich in Luft auf und nur wenige Minuten nach dem Auftreten der Frau war sie wieder verschwunden. Alles war so wie vorher.
Die Geisterfrau war die Leiche auf dem Seziertisch, doch was hatte sie Helena sagen wollen? Sie hatte sie direkt angesehen, die Hand auf Reas Kopf gelegt. Wollte sie, das Helena Rea bei ihren Ermittlungen half?Rea wachte auf. Sie war an ihrem Schreibtisch eingeschlafen. Zwei zerbrochene Schädel aus Ton lagen um sie herum. Verwirrt starrte sie in zwei leere, tönerne Augenhöhlen. Was war passiert? Sie musste eingenickt sein. Während sie langsam begann, ihre Glieder zu strecken welche protestierend knackten sah sie auf die Wanduhr. Sie war nicht eingenickt, sie hatte gute 4 Stunden geschlafen.
Sie fühlte sich seltsam, unausgeruht sowieso, ihr Arm war unter der Last ihres Kopf eingeschlafen und ihr Nacken hatte sich verspannt. Verschlafen ließ sie ihren Kopf kreisen und hörte dem munteren Wirbelknacken zu, bis auch dies verstummte. Sie sah auf den zerbrochenen Tonkopf und beschloss, dass die Modeliermassenmuskeln unmenschlich aussahen. Sie brauchte mehr Anhaltspunkte, sie musste sehen, wie ein Schädel zu einem Gesicht passte. Eine Idee baute sich vor ihren Augen auf und sie nahm ihre Tasche vom Kleiderhaken und hing ihren Kittel dort auf.
"Ang-Morporg, Staddwache, so wat formelles brauchen wir hier nit. Wie heeßt du, Kleinet?", eine zahnarme Frau hatte die Tür zu der großen Halle geöffnet, aus der Kälte entwich und Rea wie ein Geist daran erinnerte, dass darin tausende von Toten lagen.
"Rea. Rea Dubiata." Die Hauptgefreite versuchte zu Lächeln und scheiterte an dem Versuch. Die Atmosphäre war kühler als die in ihrem kleinen Seziersaal. "Ich bin Gerichtsmedizinerin."
"Ich weeß, ich weeß. Sprischt sich rum in unserm Gewerbe, weeßt." Die Frau winkte Rea hinein in die Kälte. Es war dort so kalt, da das Beinhaus einige Meter unter der Oberfläche lag, das versuchte Rea sich einzureden, doch kalte Schauer rannten selbst über ihren abgebrühten Rücken, der schon unzählige Leichen gesehen hatte, doch noch nie so viele Knochen beieinander die ihren neuen Platz teilweise als Baustoff für Mauern gefunden hatte.
"Nun, wen suchste, Mädsche?", fragte Frau Karner und sah Rea mit der Glückseeligkeit an, die auch Rea manchmal verspürte, wenn sie nach einem langen Tag der Leichenbeschau einen ihrer Kollegen traf.
"Jemanden berühmten, egal wen."
"Wozu?", erwiderte die Frau. "Weeßt, hier kommen nicht selten Leud vorbei, die eenfach nur eenen berühmten Schädel klaun wolln." Sie führte Rea durch eine Halle, die mit Schädeln und Knochen verziert war. Wenn man nicht genau hinsah konnte man es für Stein halten, doch Rea wusste es besser. Es war keine Seltenheit, dass man in Ossuarien die Gebeine kunstvoll aber makaber verwendete. In einer Ecke befand sich ein Skelett auf einem Pferd und Frau Karner führte sie zu ihm.Auch das Pferd war ein Skelett, auf seiner Wirbelsäule war ein alter lederner Sattel und eine Trense hing um seinen Kopf. Das menschliche Skelett hielt die Zügel in der Hand. Es war wie eine Momentaufnahme, wie eine Satue, für die jemand zu lange Modell hatte stehen müssen.
"Des is ne Berühmtheit. Michael Beule, hest wahrscheinlich nie von gehört. War ein berühmter Ritter."
"Gibt es Bilder von ihm?" Rea betrachtete das seltsame Standbild mit skeptischen Augen. Würde ihr das helfen?
"Sischer dat. Im Opernhaus hängen einige. Er hett damals viel für jespendet."
Rea nickte. "Gut, ich bräuchte seinen Schädel."
Maike Karner sah der Gerichtsmedizinerin hinterher. Sie bekam nicht oft Besuch von Lebenden. Nur der Totengräber kam hier oft vorbei, brachte neue Skelette vom Friedhof der geringen Götter. Oftmals beobachtete sie die Friedhofsbesucher von den kleinen Fenstern aus, wie sie an den Gräbern saßen und ihre Verwandten und Freunde betrauerten oder an sie dachten. Die Geschichte der Gerichtsmedizinerin hatte sie berührt. Sie suchte nach einer Identität, nach einem Gesicht, damit die identitätslose Frau einen Namen bekam, damit ihre Freunde an ihrem Grab knien konnten.
Doch die Gerichtsmedizinerin hatte mehr als das hinterlassen. Rea, so fand sie, war warmherziger gewesen als die anderen Gerichtsmediziner, die sie bisher getroffen hatte. Das Schicksal "ihrer" Leiche hatte sie dazu veranlasst mehr als nur ihre eigentliche Arbeit zu tun. Sie wollte nicht nur wissen, woran sie gestorben war, sondern wie das Gesicht der Toten aussah. Ein kleiner Trost. Für Verwandte und Freunde, ebenso wie für jeden anderen. Sollte sie, Maike, einmal gewaltsam ums Leben kommen, es war doch nicht so schlimm wie es sein könnte, denn es würde Menschen geben, denen das Schicksal von fremden Toten am Herzen lag.
Der Chief-Korporal ging nocheinmal die kurze Liste von Frauen durch, die in letzter Zeit als vermisst gemeldet worden waren. Dort war keine Frau mit braunen Haaren und übereinstimmender Größe. Es war erstaunlich was die Gerichtsmedizinerin bereits wusste. Dabei hatte er selbst nur wenige Teile des Körpers finden können. Anscheinend hatte man den Rest woanders versteckt, doch außerhalb der Fabrik hatte sich die Geruchsspur verloren. Das Schicksal hatte gewollt, dass an jenem Morgen ein Wagen voller Zimt vor den Toren verunglückt war. Ein Mann war von einem nebenanstehenden Gerüst gefallen. Er erinnerte sich, Kathiopeja mit dem Fall beauftragt zu haben. Der Zimt war fast so schlimm wie Pfefferminze. Erst jetzt, fast 24 Stunden später, begann er langsam wieder, die gröberen Gerüche warzunehmen. Wenigstens verursachte Zimt weniger Kopfschmerzen.
Romulus ging noch einmal hoffnungslos die Liste durch, als es klopfte. "Herein?" rief er und die Tür öffnete sich und der Ermittler sah auf. Ein großer, bulliger Mann, mit Augen die so aussahen als können sie keiner Fliege etwas zu leide tun, trat ein. Unwilkürlich musste Romulus an einen zu groß geratenen Teddybären denken. "Ah, Herr Rivell. Schön, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Setzen Sie sich."
Harald nickte dem Wächter zu und nahm Platz. Er musterte den stark beharrten Mann mit ein wenig Skepsis. Er traute der Wache nicht über den Weg. Es war nicht lange her, da hatte sich sein ältester Sohn Anton mit einem der Rekruten geprügelt und Harald hatte ihm Geld leihen müssen um die Strafe dafür zu bezahlen, obwohl Anton beteuert hatte, er sei provoziert worden. Schon vorher hatte er die Wache für einen undisziplinierten Haufen gehalten. Die Sache mit seinem Erstgeborenen hatte ihn nur noch mehr in seiner Ansicht überzeugt. Doch die Angelegenheit mit den Leichenteilen war etwas anderes. Er wusste, dass ihm hier niemand anderes weiterhelfen konnte, denn ihn plagte die Frage, wen er da entdeckt hatte. Außerdem schien der Mann mit den tiefen Augenringen ein höherrangiger Wächter zu sein, vielleicht wies er etwas mehr Verantwortungsbewusst sein auf.
"Nun, Herr Rivell... Ich bin Chief-Korporal Romulus von Grauhaar und wollte ihnen zu gestern Nachmittag noch ein paar Fragen stellen. Wir hatten leider nicht die Gelegenheit miteinander zu Reden. Mir ist die Verantwortung für diesen Fall übertragen worden und es gibt da noch Vieles, was ich wissen müsste um den Fall wirklich bearbeiten zu können."
"Fragen Sie. Die Klärung der Sache liegt mir sehr am Herzen."
"Darf ich fragen warum?"
"Weil ich die Hand entdeckt habe?!" Harald sah von Grauhaar verwundert an.
"Jaja, Sie müssen wissen, sowas ist Protokoll", erwiderte der Wächter trocken und hakte dann etwas auf einem Notizblock ab. "An welcher Bestellung haben sie gearbeitet, als sie die Hand fanden?"
"Ich hatte gerade einen neuen Kasten Material erhalten. Einen ganz bestimmten Rohstoff für Lutz&Löw Tresore, den wir aufgrund der hohen Sicherheit des Produkts auf eine andere Art und Weise bearbeiten müssen." Harald seufzte. Dies war mehr eine Tortur als eine Befragung. Die Bilder des gestrigen Mittags stiegen wieder in seinem Kopf auf.
"Gut, gut. Aber wenn alles nach Plan verlaufen wäre hätten sie diese Bestellung gestern gar nicht bearbeiten sollen. Warum taten Sie es?" Der Chief-Korporal hatte begonnen, am Ende seinen Bleistifts zu nagen und sah Harald fest in die Augen.
"Weil es mein Auftrag war. Lutz&Löw sind unsere besten Kunden und sie wollten ihr Zeug früher haben." Ärger schäumte in Harald auf. Warum blieb sein Gegenüber so ruhig? Hatte er keine Gefühle? Ging ihn der Tod einer Person nichts an? Machte er einfach so seinen Job? Er ballte die Fäuste, versuchte sich zu beherrschen, während ihn die Augen des Wächters ansahen wie ein Räuber seine Beute.
"Herr Rivell, wie ist das Arbeitsklima in ihrerem Betrieb?"
Harald zuckte die Schultern. "Gut, denke ich. Die Leute sind freundlich, wir müssen nur selten Überstunden machen und bislang kriegen wir sie bezahlt. Wir fangen halt früh an und es ist eine harte Arbeit, da strahlen einem nicht zwanzig hübsche Blondchen entgegen, wenn man die Halle betritt sondern ein Dutzend alter, dreckiger Bären, die grimmig auf ein Stück Stahl hauen."
Von Grauhaar lächelte und machte sich eine Notiz. "Wieviele Frauen gibt es denn in ihrer Fabrik?", fragte er.
"Hm, gute Frage. Die Moni und die Petra in der Kantine, die Else, oh, ja die Else von Hammer 9." Harald lachte kurz auf, wurde dann aber direkt wieder ernst. "Die ist's bestimmt nicht, ihre Hand erkenn ich, unterscheidet sich praktisch nicht von einer Männerhand." Er zwinkerte, doch sein kleiner Witz blieb vom Wächter unbemerkt. "Naja, und dann ist da noch die Alyssa Schiffering, die Sekretärin vom Chef: Dorean Schiffering. Sie ist seine Frau. Beide sind momentan im Urlaub."
"Soviel habe ich schon gehört. Kennen Sie die Frauen näher?"
Ein leichtes Grinsen breitete sich auf Haralds Gesicht auf und erstarb sofort wieder als er sich der Angelegenheit entsann, wegen der er hier war. Es schien im alles so irreal, dass er es von einer Sekunde auf die andere vergaß. "Also, die Moni und die Petra nur flüchtig. Wir kriegen unser Mittagessen oder Frühstück von denen und das war's, ich meine für viel mehr sind sie nicht da und hinter dem Tresen kommt es nicht zu viel Plausch. Mit der Else hab ich schon ein paar Bier getrunken und Alyssa... naja, wir sind gut befreundet, würde ich sagen."
"Wie gut?" Der Wächter hatte sich eifrig Notizen gemacht.
"Wollen Sie mir was anhängen? Mann, Alyssa und ich essen an einem Tisch in der Kantine und wir grüßen uns. Mehr ist da nicht, sie ist immerhin mit dem Chef verheiratet!"
"Warum isst sie nicht bei ihrem Mann?"
"Der isst nich in der Kantine, nich bei uns Dreckspack."
"Sie sagten, Alyssa sei ihm Urlaub... Wie sieht sie eigentlich aus?"
Harald kramte in seiner Tasche und zog eine kleine, dünne Brieftasche heraus. Sie war eher mit Ikonographien als mit Geld gefühlt, und jene durchsuchte er nun. "Ich hab ein Bild von ihr... irgendwo... hier."
Romulus nahm das kleine, schon etwas zerknickte Bild entgegen.
"Ha!" Rea sprang auf. Der Kopf sah nicht sonderlich menschlich aus, vor allen Dingen weil Rea die Augen nicht detailiert dargestellt hatte. Aber sie hielt es für nicht schlecht. Gespannt auf die Reaktion der Ermittler machte sie sich auf den Weg zu RUM .
In Gedanken malte sie sich aus, wie man sie für ihre Arbeit loben würde, für ihre Hingabe zum Beruf und achtete nicht darauf, als der große, rundlich wirkende Mann, den sie schon vom Vortag her kannte, ihr auf dem düsteren Flur entgegen kam und fuhr erschrocken zusammen als dieser schrie.
"Bei allen Göttern!" Der Mann sank in sich zusammen, Rea ließ den Tonkopf fallen und stürzte sich nach vorne um dem Mann zu helfen. Der Kopf brach in der Mitte und Harald Rivell in Tränen aus.
"Das ist Alyssa! Das ist Alyssas Kopf! Was hast du mit ihr gemacht?!" schrie Harald und wollte sich nun wiederum auf Rea stürzen. Zwei paar Hände hielten ihn im letzten Moment davon ab. Romulus und Herold hatten den bärigen Mann an den Schultern gepackt und auch der Rest der anwesenden Abteilung war bei dem Geschrei hinaus auf den Flur gestürmt. Auch Rea griff jemand unter die Arme und als sie sich umdrehte blickte sie in das ihr vage bekannte Gesicht Ophelia Ziegenbergers.
"Es... ist nur ein Tonkopf.. Eine Nachbildung... mit einer Perücke", stammelte die Gerichtsmedizinerin, vollkommen durch den Wind. "Nur Ton."
"Ist ja gut, jetzt beruhigen Sie sich doch Herr Rivell!" Selbst der stämmige Werwolf hatte Probleme damit, den blindwütigen, bärigen Mann in Schach zu halten, während Herold mittlerweile kaum noch etwas anderes tun konnte, als sich an den Arm Haralds zu hängen um ihm zumindest das Heben eben des Selben zu erschweren. Auch Amok und Magane hatten sich nun dazu entschlossen, ihrem stellvertretenden Abteilungsleiter zu helfen und nach und nach schnaufte dieser nur noch.
"Der Kopf ist aus Ton, es ist eine Rekonstruktion, Herr Rivell", sagte Rea zaghaft und leise, immer noch vor Schock auf Ophelia gestützt.
"Eine Rekonstruktion von was?" Harald atmete schwer, er war immer noch am Rand des Wutausbruchs.
"Von dem Kopf, den wir in ihrer Fabrik gefunden haben", sagte Rea.
Es war nicht gut gewesen, ihr so lange zuzusehen, doch die Ereignisse in der Kugel waren viel interessanter als jene in dem kleinen Dorf in den Spitzhornbergen. Helena besah sich die versammelte Wächterschaft in dem dunklen Flur, einige hielten den riesigen Mann, der sich mit aller Kraft gegen sie wehrte, andere hatten sich um den zerbrochenen Kopf geschart.
Sie erschien genauso plötzlich wie schon beim vorigen Mal, bahnte sich einen Weg durch die zuschauenden Wächter und blieb dann bei Rea stehen. Wieder lächelte sie Helena zu und legte ihre Hand auf Reas Schulter. Das Mädchen schien nichts zu bemerken. Auch kein anderer der Anwesenden schien die geisterhafte Gestalt wahrzunehmen.Haralds laute Schreie der Wut und der Trauer waren auch in Romulus' Büro noch gut zu hören, doch weder Rea noch er scherten sich darum. Sie hielt den zerbrochenen Kopf in den Händen, im Licht konnte man deutlich den Ton erkennen, doch der flackernden Fackelschein hatte ihm für kurze Zeit Leben eingehaucht.
"Das war eine gute Idee", erklärte der stellvertretende Abteilungsleiter RUMs. "Alyssa wäre jetzt eigentlich in Quirm, wenn sie nicht tot wäre."
"Und ihr Mann ist wohl über alle Berge." Reas Miene verfinsterte sich. Harald hatte in seiner Wut als erstes den Gatten beschuldigt, etwas von Betrügereien gerufen, geschmückt mit rüden Schimpfworten.
"Das ist dann meine Sorge." Sein Nicken nahm Rea als Zeichen zum Gehen auf.
Sie ging nach Hause, um endlich aus der Kleidung heraus zu kommen, die sie seit zwei Tagen trug, sich zu waschen und für einige Stunden zu schlafen.
Als sie die Tür zur Schlechten Brücke 2a öffnete, fiel ihr sofort der Brief auf, den jemand durch den Spalt geschoben hatte. Sie erkannte die Handschrift, hob ihn auf und legte ihn zu den anderen Briefe vom gleichen Absender, in die Kiste unter ihrem Bett.
Dinge die gesagt wurden, blieben gesagt. Worte konnte man nicht zurücknehmen, die Wunden die sie verursachten waren tiefer als die eines Messers. Vielleicht verheilten sie irgendwann, doch es blieben Narben.
'Ich hätte dich loslassen sollen, bevor es zu spät war. Ich hätte niemals in deine Augen sehen sollen, ich hätte deinen Körper nicht berühren sollen. Wer auch immer da wollte, dass du stirbst, er hatte recht. Also sei endlich dankbar darüber, dass ich dir das Leben gewährt habe, du nichtsnutziges Mädchen, zeig endlich, dass es das alles wert war! Gib mir endlich einen Grund dafür, dass ich dich am Leben gelassen habe!'
'Hättest du doch einfach losgelassen.'
Sie war daraufhin in ihr Zimmer gestürmt und das wohl erbärmlichste Bündel gepackt, dass Helena je gesehen hatte. Zwischen Unterwäsche und Kleidern hatte ein Teddybär herausgeragt, ihre Notizbücher über die Pflanzen, die sie gezüchtet hatte und kleine Tütchen mit Samen hatte sie in Windeseile in ihre Tasche gepackt. Sie hatte sich vor Wut das Haarband aus dem Zopf gerissen � vielleicht des Effekts wegen, den die flatternden Haare im Schneesturm hatten, vielleicht auch um eine der vielen kleinen, fast unsichtbaren Fesseln Helenas gestrenger Erziehung endlich abzuschütteln. Sie war ohne ein weiteres Wort gegangen, ohne die sprachlose Helena noch eines Blickes zu würdigen, die die plötzliche Widerspenstigkeit in dem Mädchen nicht verstand.Eine Taube flog an Reas Fenster vorbei als sie erwachte. Sie fühlte sich müde und unausgeschlafen � war es noch oder schon wieder Tag? Es war ihr egal, sie wollte zurück ins Wachhaus, einfach um zu sehen, was passiert war, ob man eine Spur hatte, die zu Alyssa Schifferings Mörder führen könnte.
Sie hatte gerade den ersten Schritt auf die Straße gesetzt, als sie eine ihr nur allzugut bekannte Wächterin entdeckte. Mindy stand, an eine Hauswand gepresst und beobachtete etwas auf der Gegenüberliegenden Straßenseite.
Rea Blickte zu den Dächern, wo sie einen Zwerg mit angelegter Armbrust entdeckte. Was bei allen Göttern war hier los?
Dann erkannte sie, wie aus dem Haus, das Mindy so sorgsam beobachtete, eine Person abgeführt wurde. Michael Machwas und Sidney hielten ihn am Arm.
Mindy atmete aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wohlwissend, dass die KommEx keine Deckung mehr brauchte, lief sie zu ihr herüber.
"Rea, was machst du denn hier?", fragte diese die Gerichtsmedizinerin.
"Ich wohne hier", erwiderte Rea und nickte zu den beiden Wächtern mit dem Gefangenen. "Wer ist das?"
"Das ist der Mörder von der Frau die zerhackstückt gefunden wurde! Die halbe Wache redet darüber, dass du ihren Kopf rekonstruiert hast, steile Leistung!"
Rea winkte ab. Das war erst heute gewesen? Sie musste ihren inneren Kalender neu einstellen. "Er hat diese Alyssa getötet?"
"Ja, und offenbar nicht nur sie. Gestern morgen wurde ein Mann namens Benjamin Turmbauer von einem Gerüst gestoßen, er war ihr Geliebter" Mindy sah in Reas müde Augen, die sich kaum daür zu interessieren schienen. "Ich meine, da betrügt er seine Frau seit Monaten, aber sobald sie fremdgeht..." Mindy zog ihren Zeigefinger unmissverständlich an ihrer Kehle vorbei.
"Woher wisst ihr das? Ich habe Turmbauer seziert und es gab keine eindeutigen Hinweise auf einen Mord." Rea und Mindy waren automatisch in Richtung Wachhaus losgegangen und passierten nun den Wagen, auf den gerade Dorean Schiffering geworfen wurde.
Mindy grinste. "Max ist in die Wohnung und hat einen Brief mitgenommen, den sie offenbar an ihre Freundin schreiben wollte. Da stand etwas von ihrer Affaire mit Turmbauer drin und auch von den nächtlichen Ausflügen ihres Mannes. Die Näherinnen konnten uns das bestätigen, daher wussten wir, dass er noch hier war. Hat sich gestern wohl noch prächtig amüsiert. War seiner Sache ganz schön sicher."
"Denk ich mir."
"Mindorah, steigst du bitte auf? Die Sache ist noch nicht ganz zuende." Kanndra, die den FROG-Wagen lenkte, holte die beiden Wächterinnen ein.
Die KommEx winkte Rea zu und sprang dann auf den Wagen.
"Du auch, Rea?", fragte Reas ehemalige Ausbilderin.
"Nein, danke ich möchte ... laufen." Das war nur die halbe Wahrheit. Sie hatte etwas... gespürt und nun, als Kanndra nickend die Zügel auf den Hintern des Maultiers klatschen ließ und der Wagen davonrollte, sah sie ihn auch. In einer Seitenstraße saß Tod auf seinem prächtigen weißen Hengst. Er schien auf jemanden zu warten und Rea lief ein kalter Schauer über den Rücken als sie erkannte auf wen.
Die hübsche Frau mit den braunen Haaren lächelte Rea zu. In silbrigen Schimmer gehüllt stand sie direkt vor der Gerichtsmedizinerin, in ihrem Brustkorb waren mehrere blutende Wunden, doch noch als Rea sie betrachtete begannen sie sich wie von Zauberhand zu schließen.
Der Geist sah Rea in die Augen und streckte dann die Hand nach ihr aus, immer näher kam sie ihrer Wange damit und berührte sie schließlich, doch Rea fühlte nichts. Die Gestalt verblasste langsam und verschwand schließlich gänzlich.
Irritiert griff sich Rea an die Wange, an der eben die Geisterhand gelegen hatte. An diesem sonnig-warmen Hochsommertag war sie eiskalt.
***
....und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Doch sie gingen an einen ganz anderen Ort
und rührten in keinen Tassen.
Sie sahen sich an und sagten kein Wort
Da nahm Er das Messer und stach sie nieder
und immer und immer und immer wieder
und konnte es einfach nicht lassen.
[1] Was hier tatsächlich wörtlich zu verstehen ist
Zählt als Patch-Mission.
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