Des kleinen Mannes Rache

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von Hauptgefreite Mindorah Giandorrrh (FROG)
Online seit 30. 09. 2005
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Eine Leiche im Hof der Wache. Die Presse stürzt sich darauf wie die Geier - Hat die Wache wohlmöglich Mitschuld?

Dafür vergebene Note: 11

Ein heiseres Lachen tönte durch die Nacht, bevor es in einem krächzenden Husten unterging. Ein Paar zerschlissene Stiefel ertastete sich den Weg durch faulende Herbstblätter. Der Geruch von Moder, Alkohol und Fäkalien hing zwischen Nebelschwaden in der Luft. Knöcherne Finger, dürftig verborgen unter der mottenzerfressenen Wolle alter Handschuhe, schlossen sich fest um ein Stück Papier.
Der nächste Schritt trat ins Leere.

***

Schlotternd in der beißenden Kälte stapfte Mindorah Giandorrrh zum Wachhaus am Pseudopolisplatz. Dieser Umhang ist eindeutig zu dünn, dachte sie mürrisch, während sie ihn noch fester um ihren Körper schlang. Da haben es ja die Tauben unter ihrem Gefieder wärmer...
Missmutig blickte sie nach vorn, wo sich vor der Wache eine Traube aus Wächtern gebildet hatte. Nichts Gutes ahnend, runzelte die Hauptgefreite die Stirn. Leises Murmeln wurde vom Wind zu ihr hinüber getragen. Sie schickte einen sehnsüchtigen Blick zu einer Marktfrau, die schimpfend auf ihrem Eselskarren gestikulierte und versuchte, das Lasttier zum Gehen zu bewegen.
So ein einfacher Beruf ist vielleicht doch nicht das Schlechteste..., grübelte sie, wenn die einzigen Probleme, die der Fortbewegung zum Arbeitsplatz sind.
Solche Probleme waren ihr fremd. Im Gegenteil - als Wächter pflegte die Arbeit einen stets einzuholen.
[1]

Ein trockenes Blatt zerbarst knisternd unter Mindorahs Schritt zum Wächterrund. Routinemäßig bahnte sie sich unter Gebrauch der Ellenbogen einen Weg zum Mittelpunkt des Geschehens, vorbei an aufgeregt tuschelnden Rekruten und wild diskutierenden Höherrangigen. Endlich erblickten ihre müden Augen das Bündel in deren Mitte. Ein Bündel von Mensch, mehr Dreck als Kreatur. Eine karge Gestalt gebrochener Knochen in schmutzigem Blut.
"Eindeutig Selbstmord", urteilte Kathiopeja in selbstsicherem Ton neben der jungen Hauptgefreiten.
"Ausgerechnet hier?", tönte es von der anderen Seite zweifelnd.
"Ob es deswegen heute dienstfrei gibt?", wagte weiter hinten einer der Rekruten zu tuscheln.
Mindorah entzog sich der Diskussion, gleichwohl dem Anblick der Leiche. Schweigend drängte sie aus der homogenen Truppe debattierender Wächter und trat abseits der Szenerie.
Hart schlug der rechte Flügel des Wache-Haupteingangs auf. Seinem stechenden Blick folgend, polterte Rascaal Ohnedurst aus dem Wachhaus und baute sich mit funkelnden Augen vor der Wächterschar auf. Der Geräuschpegel sank exponentiell, bis es gänzlich still war und sogar der Wind nur noch kleinlaut um die Füße der Wächter strich. Der Vampir benötigte keine Worte, um sich Gehör zu verschaffen - wo seine Autorität nicht ausreichte, tat die Offenlegung seiner Eckzähne ein Übriges.
"An die Arbeit, die Damen und Herren", forderte er scharf, "SUSI sichert die Leiche. Die Abteilungsleiter sehe ich in einer halben Stunde in meinem Büro - bis dahin will ich erste Ergebnisse von der Spurensicherung."
Mit diesen Worten wandte er sich um und verschwand wieder im Wachhaus. Die Menge der Wächter beeilte sich, ihm nachzufolgen, während die Mitarbeiter der Abteilung SUSI sich größtenteils widerwillig um die Leiche scharten.
"Eine Halbe Stunde", schnaubte Tatortwächterin Alice kopfschüttelnd, bevor auch sie sich an die Arbeit machte.
Mindorah Giandorrrh hingegen schloss sich dem Pulk der Wächter an, lenkte jedoch nach dem Eintreten ins Wachhaus ihre Schritte nach oben zum Taubenschlag. Die Vögel nahmen kaum Notiz von ihr, als sie die knarrende Holztür aufstieß. Träge saßen sie in den Ecken zusammen und putzten ihr Gefieder.

***


Die Abteilungsleiter hatten sich nach und nach im Büro des Kommandeurs zusammengefunden. Atera und Robin Picardo hatten auf den zwei klapprigen Holzstühlen vor Rascaals Schreibtisch Platz genommen, während Humph MeckDwarf mit verschränkten Armen daneben stand. Daemon stützte sich missmutig auf die Lehne von Ateras Stuhl, Araghast hingegen lehnte an der kalten Außenwand und erwartete mit dem finsteren Blick unguter Ahnungen, den alle Anwesenden gemeinsam hatten, die Worte des Kommandeurs.
Diese blieben jedoch aus. Stattdessen knallte Rascaal schweigend ein dünnes Blatt Papier vor sich auf den Tisch. Misstrauisch näherten sich die Abteilungsleiter dem Schriftstück, um es in Augenschein zu nehmen.

Extrablatt, war da in großen Aufmerksamkeit heischenden Lettern geschrieben. Links oben war das schreiend bunte Logo der lokalen Klatschpresse abgebildet. BALD, hieß es da in breiten Buchstaben und darunter, kleiner und kursiv gehalten: Bist du uns'rer Meinung.
Mitten auf dem Papier war eine unscharfe Ikonographie zu erkennen. Sie zeigte die Rücken einiger Stadtwächter, die sich um etwas unkenntliches drängten.
Leiche vor dem Haupteingang der Stadtwache, erläuterte die Bildunterschrift.
Über der Abbildung prangte die reißerische Überschrift, die frische Druckerschwärze leicht verwischt:
Wache hat Leiche vor der Tür
Arbeitserleichterung für Wächter: Die Leichen kommen neuerdings direkt vor ihre Haustür... Heute Morgen stolperten die Stadtwächter im wahrsten Sinne des Wortes über eine Leiche, als sie auf dem Weg zur Arbeit waren. Vor Entsetzen scheinbar arbeitsunfähig geworden, verloren sie sich in ewige Diskussionen, wie der tote Körper seinen Weg dorthin gefunden hat. Eine nähere Untersuchung des Falles hat bisher noch nicht stattgefun...

Weiter kamen die Abteilungsleiter nicht beim Lesen des Artikels.
"Der Ruf der Wache steht auf dem Spiel", unterbrach sie Rascaal bissig, "sofern ihr der Presse genug Zeit lasst, die Sache breitzutreten. MeckDwarf, was hat die Spurensicherung gefunden?"
"Bei der Leiche handelte es sich um einen Mann um die fünfzig", begann Humph in standardisiertem Tonfall zu berichten, "Er hat sich wohl vom Dach gestürzt - und dabei eine ganze Menge Brüche erlitten. Hauptgefreite Dubiata schätzt den Todeszeitpunkt auf drei Uhr heute Nacht. Wirklich interessant ist eigentlich nur ein kleiner Zettel, den wir in seiner verkrampften Faust gefunden haben..." Der SUSI-Abteilungsleiter stockte kurz. "'Ihr seid Schuld', steht darauf."
Araghast runzelte die Stirn. "'Ihr seid Schuld'? ...Meinte er damit die Wache?"
"Genau das habt ihr herauszufinden", Rascaal tippte grimmig auf das Zeitungspapier, "und zwar möglichst schnell. Breguyar, FROG hat den Fall. Natürlich bedeutet das für die anderen Abteilungen nicht, dass sie nicht gegebenenfalls beteiligt werden. Ich will diese Sache schnell vom Tisch haben."
Mit diesen Worten lehnte sich der Vampir zurück. Die Polster seines Sessels knarzten leise. Die Gestik kam einer Aufforderung zum Gehen gleich - einer nach dem anderen verließen die Abteilungsleiter das Büro. Araghast seufzte, als sich die Tür nach dem Letzten geschlossen hatte. Mit Rascaal im Nacken konnte man auf Verantwortung gerne verzichten. Er seufzte erneut und warf mit einer ruckartigen Kopfbewegung seine zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare nach hinten.
"Atera?", hob er mit kräftiger Stimme an, woraufhin die SEALS-Abteilungsleiterin, die sich schon eiligen Schrittes entfernt hatte, noch einmal umwandte und Araghast fragend anblickte.
"Kannst du einen deiner Szenekenner mal einen Blick auf die Leiche werfen lassen?"
Atera nickte. "Ich schicke ihn dann gleich zu dir", erwiderte sie, drehte sich schwungvoll wieder um und setzte ihren Weg fort.

Ein Klopfen hallte durch die Räume der Gerichtsmedizin.
"Herein", murmelte Rea Dubiata, die auf einem klapprigen Holzstuhl saß und gedankenverloren auf den aufgebahrten Körper starrte, den sie zuvor untersucht hatte.
Bevor das Wort jedoch ihren Mund gänzlich verlassen hatte, wiederholte sich das Klopfen - diesmal länger, aufdringlicher.
Rea zuckte zusammen, ihre Lider flackerten einen wortwörtlichen Augenblick, der notwendig war, um aus Gedanken in die Realität zu springen.
"Herein", rief sie nun lauter und strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht, während sie sich aufrichtete.
Die Tür wurde aufgestoßen und ein bleiches Gesicht schob sich zögerlich ins Zimmer. Es folgte eine große, dürre Gestalt in SEALS-Uniform. Deren schwarze Haare fielen strähnig zur Seite und wippten sachte bei jeder Bewegung.
"Guten Morgen", meldete der junge Mann sich zu Wort, "ich soll mir mal die Leiche von heute Morgen näher angucken."
"'Morgen", grüßte Rea freundlich zurück und deutete auf die leblose Gestalt auf dem Seziertisch, "da liegt der Kerl..."
Der Szenekenner Damien G. Bleicht näherte sich der Leiche. Seine Mundwinkel zuckten angeekelt beim Anblick des Toten, trotzdem beugte er sich vor und musterte eingehend die modrige Kleidung des Menschen. Ein ehemals wohl weinrotes Hemd bedeckte dürftig den Oberkörper. Es war aufgeknöpft und zur Seite geschlagen, sodass es die vom Sturz deformierte Brust freigab. Schmutz und Blut verfälschten Farbe und Wirkung des Hemdes, kleine und größere Löcher durchzogen das Kleidungsstück und bildeten ein unfreiwilliges Muster.
Auch Hose und Stiefel starrten vor Dreck, waren ungepflegt und erkennbar lang getragen.
Das Gesicht des Mannes war geprägt von einer Ernsthaftigkeit, von der selbst die auffallend gebrochene Nase und die blutigen Schrammen nicht abzulenken vermochten. Damiens Blick strich über das kantige Kinn nach oben. Ergraute Locken umrahmten das Gesicht des Toten, glänzend vor Fett und Blut.
Der Szenekenner runzelte die Stirn.
"Das könnte...", murmelte er und tippte grübelnd mit seinem Daumen gegen die bleiche Haut seines Kinns, "...das müsste..."
Ruckartig wandte er sich um und eilte schnellen Schrittes zur Tür. Rea sah ihm erstaunt nach. Schulterzuckend ließ sie sich wieder auf ihrem Stuhl nieder.

"Die Hütte", sagte Damien schlicht, nachdem Araghast ihn herein gebeten hatte. Ein leises Lächeln des Stolzes umspielte seine Lippen.
Es folgte die kurze Pause verständnislosen Schweigens, die das typische Bild skeptisch hochgezogener Augenbrauen und Lob heischender Blicke des Gegenübers offenbarte.
"Die Hütte", wiederholte Damien, ohne sich durch die karge Reaktion des Abteilungsleiters entmutigen zu lassen. "Ein heruntergekommenes Haus am Rande der Schatten, das von einer Gruppe von Obdachlosen bewohnt wird. Die spuken schon ewig immer wieder durch unsere Akten, aber wer nichts hat, kann auch nichts verlieren... scheinbar nicht mal das Leben - sind nicht totzukriegen..."
Der Szenekenner stockte, als ihm das Makabere seiner Aussage im aktuellen Bezug bewusst wurde und räusperte sich beschämt.
"Jedenfalls", fuhr er in schüchternem Tonfall fort, "bin ich mir fast sicher, dass die Leiche von heute Morgen zu den Bewohnern des Hauses gehörte."
Araghasts Miene hatte sich gewandelt. Seine Stirn lag in krausen Falten und in dem Auge, dass nicht von seiner Augenklappe bedeckt war, konnte man Interesse lesen.
"Die Gruppe findet sich in unseren Akten, sagst du?"

Betont langsam lenkte Bregs seine Schritte in Richtung Archiv. Sein Auge schwenkte wachsam hin und her, um einen FROG-Mitarbeiter zu erspähen, dem er die undankbare Aufgabe des Aktenstöberns aufbürden konnte.
Gerade bog eine kleine gedrungene Gestalt um die Ecke des Flurs. Ein schwarzer Kapuzenumhang schlug hinter ihr Falten, auf dem dunkelgrünen Hemd, dass sich darunter zeigte, war das FROG-Symbol zu erkennen.
Araghast lächelte. "Hallo Halbtag!"

Missmutig stieß Halbtag Baumfellerson die schwere Kellertür zum Archiv auf und steckte seinen Kopf in die Räumlichkeiten. Stickige Luft schlug ihm entgegen. Halbtag langte nach der bereitstehenden Kerze und zückte ein Streichholz. Kurz darauf flammte der Docht auf. Staubflusen tanzten im Schein der Flamme. Das flackernde Licht schlug Grenzen zur abgestandenen Kälte des Kellerraums. Der Zwerg schritt einen Teil der Wand ab und entzündete mehrere der Lichter, die in starren Kerzenhaltern befestigt waren. Am groben Mauerwerk der Wand schlugen sich zuckende Lichtflecken nieder. Der Kerzenschein enthüllte hohe Regale, die sich dicht an dicht reihten, gefüllt mit Stapeln losen Papiers, Aktenordnern und schlampig zusammengehefteten Blättern.
Halbtags Gesichtzüge verloren an Grimmigkeit... und gewannen an Verzweiflung. Zögerlich machte er einige Schritte in die Regalreihen. Links und rechts ragten die Gestelle neben ihm auf und verloren sich jenseits des Kerzenscheins in der Dunkelheit. Staub kratzte in Halbtags Lungen. Unangenehme Assoziationen wurden wach. An die Enge des Bergwerks - diese furchtbare erdrückende Enge...
Keuchend langte sich Halbtag an die Kehle. Der Staub schien sich darin festzusetzen, die Luft knapper zu werden. Er atmete schneller, heftiger. Guckte sich panisch um.
Beruhige dich, pochten seine Gedanken gleichzeitig und versuchten die Klaustrophobie in Zaum zu halten. Beruhige dich!
Mühsam richtete Halbtag seinen Blick zur Tür, vor der sich die Regalreihen lichteten und zwang sich, seine Atmung zu verlangsamen. Er rief sich den Anblick der morgendlichen Leiche in Erinnerung. Ein Selbstmord mehr in der Suizidfülle dieser Stadt. Wie gern würde er die Fülle ausdünnen... er atmete noch einmal tief durch. In erzwungener Konzentration wandte er sich wieder den Regalen zu, um seine Aufgabe in Angriff zu nehmen.

Bregs klopfte unterdessen an die karge Holztür des Büros von Maximilian R. Schreckt. Ein schüchternes "Ja?" erklang aus dem Raum und Araghast trat ein.
Max mümmelte geduckt hinter seinem Schreibtisch in einer Ecke des dunklen Zimmers. Aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse war die Kontur des schwarzen Mannes kaum auszumachen.
"Ich hab' Arbeit für dich", erklärte Araghast dem Späher in der knappen Sprechweise, die ihm eigen war. "Es geht um den Todesfall heute morgen. Damien Bleicht vermutet, der Tote habe mit einigen Obdachlosen am Rande der Schatten gewohnt... schau dich da mal um!"
Max nickte. Jedoch ließ sich die Bewegung höchstens erahnen - ein kurzes Flackern schwarz in schwarz. "Wo muss ich genau hin?"

***

Der schwarze Mann bewegte sich langsam auf das Haus zu, das Bregs ihm genannt hatte. Die Kapuze seines alten Mantels aus grobem, schwarzem Stoff hatte er weit über den Kopf gezogen, seine Klauen in den Manteltaschen verborgen. Er hielt sich am Rand der Gasse, sodass sein rechter Arm ab und zu die Hauswand streifte. Den Blick hatte er auf "Die Hütte" geheftet. Es handelte sich um ein kleines, heruntergekommenes Haus - das Dach wies Löcher auf, die zackig gebrochenen Ziegel an den Rändern wirkten ausgefranst. Die ergraute Hauswand wurde unterbrochen von glaslosen Fensterhöhlen. Das Haus duckte sich an den Straßenrand, lauernd, wie zum Sprung. Es schien, als habe "Die Hütte" die trotzige Feindseligkeit der Obdachlosen gegenüber der Außenwelt übernommen - sie glich der kaputten Persönlichkeit eines letzten Revoluzzers, der trotz aller Niederlagen nur darauf wartet, zum nächsten Schlag gegen die Obrigkeit auszuholen.
Max hielt auf einen Schatten an der Seite des Hauses zu, eine schmale Gasse zwischen "Der Hütte" und dem angrenzenden Haus. Er begann, sich auf die Finsternis zwischen den beiden Gebäuden zu konzentrieren, während er sich weiter näherte. Sein schwarzer Körper sehnte sich nach der Dunkelheit... er spürte, wie er in den Schatten eintauchte, wie er mit der Schwärze verschmolz und seine Gestalt in der Finsternis aufging...
Er befand sich nahe einer der Fensterhöhlen. Stimmen drangen aus "Der Hütte". Max verharrte in und mit dem Schatten...und lauschte.

"Schade, um den Kerl", lallte einer der Männer lautstark, die in "Der Hütte" im Rund um ein mühsam flackerndes Feuer saßen, "der hätt echt ma'n bess'res Leben verdient jehabt!"
"Ruhe, Gartenzwerg", maulte ein anderer. Eine junge Gestalt mit rotgefärbten Haaren, die eine Lederjacke um den dürren Körper geschlungen hatte und sich frierend die Hände rieb.
"Er hat's doch richtig gemacht... früher oder später verrecken wir eh alle", erwiderte ein zahnloser Zwerg von der anderen Seite des kleinen Feuers. Seine Augen funkelten mürrisch aus dem ausgezehrten Gesicht. Der Bart war lang und verfilzt, Dreckklümpchen hingen in den Strähnen. Er nahm einen kräftigen Schluck aus einer großen Flasche billigen Knieweichs. Mit einer fahrigen Handbewegung wischte er sich über den Mund, dann gab er die Flasche an seinen Nebensitzer weiter, der eine schmuddelige Wolldecke um sich gelegt hatte. Dankbar setzte er den Alkohol an seine trockenen Lippen. Nachdem er getrunken hatte, lachte er auf - verächtlich und unnatürlich laut.
"Ich könnte wetten, dass spätestens morgen die Bullen vor der Tür stehen", spuckte er aus. Seine Stimme klang rauchig und dumpf. "Aber die können was erleben..." Kampfeslustig hob er die Faust in die Höhe. Ein drohendes Abbild flackerte als Schatten an der Mauer der "Hütte"...
...dann schlossen sich seine schmutzgeränderten Finger wieder um die Flasche Knieweich.


***


...Widerstand gegen die Staatsgewalt...
...Obdachlose wehren sich mit Tritten und Schlägen gegen Festnahme...
...Wächter müssen sich lauthalse Beschimpfungen gefallen lassen...
...weigern sich nachdrücklich, das Haus zu verlassen...

Araghasts Miene verdunkelte sich zusehends beim Durchsehen der Akten, die Halbtag ihm mit von Staub ergrauter Gestalt gebracht hatte.
Ein Klopfen ließ ihn vom Papier aufschauen. Er seufzte. Er sehnte sich nach Lea... stattdessen schien es heute nur immer noch mehr Arbeit zu geben.
"Ja, herein", murrte er schließlich resigniert.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und Max Schreckt huschte herein. Er streifte die Kapuze ab und salutierte. Der schwarze Mann räusperte sich.
"Wir werden schon erwartet", kommentierte er trocken. Sorgfältig rekonstruierte er das belauschte Gespräch und erläuterte Lage und Architektur der "Hütte".
Bregs hörte schweigend zu. Nachdem Max seinen Bericht beendet hatte, nickte er ihm zu. "Gute Arbeit. Finde dich morgen früh wieder hier ein zur Abteilungsbesprechung..."
Nun nickte Max, seinerseits, und wandte sich zum Gehen.
Na, das kann ja heiter werden, dachte Bregs, während sein Blick erneut über die Akten wanderte. Widerwillig nahm er ein leeres Blatt Papier zur Hand, fischte Tintenfass und Feder zwischen zwei Stapeln auf seinem Schreibtisch hervor und begann, ein Memo an die FROGs aufzusetzen.

***


Müde und mit schweren Augenlidern schlurfte Mindorah über die Holzdielen des Taubenschlags. Das Flattern der Vögel erfüllte die stickige Luft des Dachzimmers. Routiniert griff die Kommunikations-Expertin in die Schachtel, die mit "Köhrnerfutta" beschriftet war und verstreute das Futter quer über den Boden. Es dauerte kaum eine Sekunde, da hatten sich die Tauben in einem wilden Pulk versammelt, pickten aufgeregt auf dem weißgesprenkelten Holz herum und eilten willkürlich gewählten Konkurrenten nach, die schon ein Körnchen im Schnabel hielten. Mindorah betrachtete ihre Schützlinge einen Moment, schüttelte lächelnd den Kopf, dann ließ sie die Vögel mit ihren kleinen Kämpfen allein, um rechtzeitig zur FROG-Besprechung zu kommen, die Araghast angesetzt hatte.
Als sie das Büro betrat, war der kleine Raum schon beinahe voll. Beschämt bemerkte Mindorah, wie sich alle Blicke auf sie richteten.
"Guten Morgen", stammelte sie und lächelte entschuldigend in die Runde, "ich musste noch die Tauben versorgen..."
"Schön, dass wir jetzt vollzählig sind", unterbrach Bregs sie harsch und kam sofort zur Sache: "Die Leiche in unserem Hof habt ihr ja gestern alle selbst gesehen. Rascaal hat uns für die Ermittlungen beauftragt. Valdimier, Mindorah, Tyros, wir machen uns auf den Weg zu einer", Araghast zögerte einen Moment, bevor er weitersprach, "..Zeugenbefragung. Alles weitere erkläre ich euch auf dem Weg."
Er suchte kurz Blickkontakt mit den drei Angesprochenen, die jeweils mit einem Nicken ihre Bereitschaft zusicherten.
"Von euch anderen erwarte ich", wandte er sich wiederum an den Rest der FROGs, "dass ihr euch in den Fall einarbeitet - was in dem Fall heißt, dass Max Schreckt nochmals von seinen Beobachtungen berichtet und ihr euch diese Akten", Araghast klopfte auf einen Stapel Hefter und Blätter, "sowie den Bericht von SUSI anguckt."
Wiederholtes Nicken, wenn auch widerwillig.
"Dann los", forderte Bregs und erhob sich ruckartig.

Bereits als die kleine vierkörpfige Einsatztruppe fertig ausgerüstet das Wachhaus verließ, sah sie sich dem ersten Hindernis gegenüber: Eine Hand voll penetranter Journalisten umrundete sie, Notizbuch und Stift gezückt und mit zu vielen Fragen auf den Lippen.
"Wissen Sie schon etwas über die Herkunft des 'Wache-Toten'?, fragte ein drahtiges Männlein heftig blinzelnd.
"Können Sie ein Stäitmänt zu den gestrigen Ereignissen abgeben?", ließ sich die nächste aufdringlich laute Stimme vernehmen.
"Und was sagen Sie zu dem Vorwurf, die Wache hätte 'was mit der Leiche zu tun?", pflegte der Nächste vehement zu wiederholen.
Allen gemeinsam war das Heischen nach Sensation in ihren Augen, die sadistische Lust zum Verriss...
Verärgert schob Valdimier die ausgestreckten Arme der Journalisten beiseite und drängte aus der Menge. Mindorahs Taube schlug hektisch mit den zerzausten Flügeln und pickte panisch in die Luft. Behutsam strich die Kommunikations-Expertin ihr über den Nackenflaum, um sie zu beruhigen. Gleichzeitig bemühte sie sich, Valdimir nachzufolgen. Auch Araghast und Tyros kämpften mit den enthusiastischen Zeitungsmenschen, doch diese schienen an den Wächtern zu haften wie Kletten.
"Warum, meinen Sie, lag der Tote gerade hier?", blaffte einer Mindorah ins Ohr. Die junge Frau war schon nahe daran, es ihrer Taube an Verzweiflung gleichzutun und nestelte nervös an einer ihrer Haarsträhnen herum.
Und plötzlich war das Gerangel verschwunden. Rascaal war aus dem Wachhaus getreten. Offensichtlich war dessen Anziehungskraft auf die Reporter noch deutlich ausgeprägter.
Übrig geblieben war nur eine zerknitterte Ausgabe der heutigen BALD, die gebündelt auf den Pflastersteinen lag. Mindorah bückte sich und nahm sie neugierig auf. Mitten auf der Titelseite fand sich eine Wächterkarikatur - Es war ein hochrangiger Wächter mit hochnäsigem Blick abgebildet, der sich auf einem Liegestuhl räkelte und stilisierte Verbrecher mit blutbespritzten Messern durchwinkte. Betitelt war das Ganze mit In Ankh-Morpork wird das Verbrechen gut bewacht!
Die großgedruckte Überschrift zum Leitartikel hingegen lautete: Wache mitschuldig? Wächter lassen sich Zeit mit Ermittlungen
Die Kommunikations-Expertin schüttelte fassungslos den Kopf.
"So ein Müll", murmelte sie und ließ die Zeitung achtlos zurück in den Dreck fallen.
Araghast warf einen letzten Blick auf die verlagerte Gruppe Journalisten, atmete hörbar erleichtert aus und wagte einen neuen Anlauf: "Dann los..."

"Und wie gehen wir jetzt vor?", erkundigte sich Mindorah, den Blick auf das heruntergekommene Haus gerichtet und dabei abwesend über das Gefieder ihrer Taube streichend.
Etwas ratlos standen die vier Wächter auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Araghast lehnte an einer verdreckten Hauswand und hielt die Arme verschränkt. Schließlich schlug er nachdenklich vor: "Mindorah und ich gehen da jetzt einfach mal rein. Ihr zwei haltet euch hier in Alarmbereitschaft... wenn Mindorah ihre Taube rausschickt, ist das für euch das Zeichen, uns zu Hilfe zu kommen. Einverstanden?"
Valdimier runzelte zweifelnd die Stirn. "Die scheinen mir nicht sehr kooperativ zu sein...wollt ihr da wirklich allein rein?"
"Die werden schon nicht sofort auf uns losgehen", beschwichtigte Bregs ihn bissig.
Der Vampir zog skeptisch die Augenbrauen hoch, gab sich dann jedoch geschlagen und zuckte die Schultern. "Du bist der Boss!"
Araghast musste grinsen: "Stimmt."
Mit diesem Wort stieß er sich schwungvoll von der Wand ab und schritt auf die "Hütte" zu.
"Stimmt", wiederholte Mindy leise seufzend und folgte dem Abteilungsleiter langsamen Schrittes. Sie war wenig überzeugt von dessen Idee, die Gesprächsbereitschaft der Obdachlosen zu testen. Doch sie wagte nicht, ernsthaft zu widersprechen. Der lebensgefährliche Patzer, der ihr unterlaufen war, als Araghast ihr das letzte Mal Verantwortung übertragen hatte, steckte ihr noch zu tief in den Knochen. [2] So begnügte sie sich damit, einmal tief zu schlucken und Zeige- und Mittelfinger Hilfe suchend im Gefieder ihrer Taube zu vergraben.
Die morsche Holztür der "Hütte" war übersäht mit faulenden Flecken. Schief hing sie in den Angeln zwischen dem Mauerwerk, das wiederum von bröckelndem Mörtel geprägt war. Araghast hob die Hand und klopfte entschlossen gegen das nachgiebige Holz.
Drinnen war ein Rascheln zu hören. "Immer rein da, wenn's kein Bulle is'", rief eine verschlafene Stimme und lachte heiser.
Bregs stieß gegen die Tür und sie schwang knirschend zur Seite. Das Lachen erstarb.
"Ich glaub's nich'...'n Bulle", stellte die Stimme fest, mehr spöttisch als fassungslos. Sie gehörte einem müde dreinblickenden Mann, der im Schneidersitz vor einem kleinen Feuer saß und seine Hände wärmte. "Respekt! Ganz schön mutig von dir, dich her zu trauen", grinste er.
"Hab ich's nicht gesagt? Spätestens heute die Bullen vor der Tür... und da sind 'se schon!", kam es grimmig aus einer anderen Ecke der "Hütte". Eine Gestalt erhob sich von einem Lager aus Wolldecken und ausgebreitetem Zeitungspapier. Grimmig starrte er die Wächter an. "Verschwindet hier", forderte er sie verärgert auf. Sein schmales Gesicht wirkte alt und gegerbt, die Haut fahl.
"Och", erwiderte der Erste verschmitzt und drehte seinen Kopf zur Seite, sodass er Mindorah mustern konnte, die sich schräg hinter Bregs verbarg, "die Kleine kann ruhig dableiben!"
"Ihr seid wegen dem Lehrer da, oder?", fragte ein Junge misstrauisch, dessen rotgefärbte Haare bis auf einen unsauberen Streifen in der Mitte auf Millimeter-Länge gekürzt waren. In Nase, Ohren und Augenbraue blitzten kleine Silberringe.
"Dem Lehrer?", wiederholte Araghast stirnrunzelnd.
"'N feiner Kerl war dit", meldete sich daraufhin ein anderer zu Wort, fleckige bunte Klamotten am gedrungenen Leib, "n richtijer Musterknabe! Hat immer politische Reden jeschwungen... hatte echt wat in der Birne, der Kerl! War sogar inner Bücherei ab und zu... Und hat sich nie wat zu Schulden kommen lassen, nich' so wie wir anderen. Nie jeklaut oder so, nischt! Aber hat's ihm was jebracht? Ne, janz jenauso nischt..." Ein Anflug von Wut zeigte sich in den wässrigen Augen des kleinen Mannes. Er seufzte. "Übrijens, Gartenzwerg mein Name - wejen meiner Größe", erklärte er schulterzuckend und deutete mit der Hand die Höhe eines Gartenzwergs an, "und dem da hinten." Er wandte sich zur Seite und zeigte auf einen tönernen Gartenzwerg mit abgebrochener Zipfelmütze und krakeligen Beschriftungen auf dem ganzen Leib, der neben zwei leeren Flaschen stand und sein leeres Grinsen zur Schau stellte. "Im tiefst'n Innern is' halt jeder 'n Spießer, sogar icke...", behauptete der Mann und zwinkerte den Wächtern zu.
"Lad' sie doch gleich zum Tee ein", schnauzte der junge Punkt [3] und scharrte mit seinen ledernen Stiefeln auf dem Boden. Aus aggressiven kleinen Augen starrte er die FROGs an.
Mindorah wagte sich aus dem Schatten ihres Vorgesetzten und ließ ihren Blick unsicher durch die "Hütte" wandern. Die ganze Szenerie wirkte grau - Bröckliges Mauerwerk, karger Steinboden, über den altes Stroh verstreut war, ebenso wie einzelne Blätter zerknittertes Zeitungspapier. In einem Eck verharrte eine trostlose Armee aus leeren Flaschen. Daneben ein kleiner Stapel mit Holzscheiten.
In der Mitte eine Feuerstelle, aus der karge Flammen züngelten. Überall auf dem Boden alte Zigarettenkippen. Und trotz des kalten Herbstwindes, der durch den Raum strich und mit dem flackernden Feuer rang, war der Geruch langer Nächte - Bier und Zigarettenrauch - allgegenwertig.
Und mittendrin acht graue Gestalten...
Aus einer Ecke war leises Klappern zu hören. Ein dürrer junger Kerl saß mit ausgestreckten Beinen an die Wand gelehnt. Die verschlissene Hose war zu kurz, sodass zwischen Hosenbein und seinen dunklen rissigen Stiefeln ein Streifen bleicher Haut zu Sehen war. In den Händen hielt er zwei Stricknadeln, mit denen er mechanisch ein Bündel grüner Wolle bearbeitete. Sein kantiges Gesicht wirkte konzentriert, der Kopf kahl geschoren. Misstrauisch schielte er zu den Wächtern herüber. Zu seinen Füßen machte sich ein großer schwarzer Hund breit, den Kopf auf die Pfoten gelegt. Seine glänzenden dunklen Augen verfolgten ruhig das Nadelspiel seines Herrchens und der buschige Schwanz wippte sachte zum monotonen Rhythmus der aneinanderschlagenden Stricknadeln.
"Tja, glaubt man gar nicht, was? Es gibt auch welche von uns Asozialen, die was können", kommentierte der Wortführer vom Anfang verschmitzt, als er Mindorahs Blick bemerkte.
"Aber hallo", lallte ein anderer aufbrausend und schwenkte mit seinem Arm zur Seite, sodass sich ein Schwall Flüssigkeit aus der Flasche in seiner Hand ergoss und den Flaschenhals hinab ronn. Er deutete schwankend auf einen verbittert drein schauenden Zwerg in einer Ecke der "Hütte".
"Der da, das is'n richtiger Erfinder", verkündete er laut. Die Worte krochen ihm nur widerwillig über die Lippen, die Silben klangen undeutlich und schwammig. "'N Eischalenmusskaputtmacher nämlich", brachte er mühsam hervor, "hatt'er erfunden...nee... 'n Eihautdarfknackentuer..."
"Eierschalensollbruchstellenverursacher", knurrte der Zwerg verkniffen.
Der Betrunkene nickte wissend. "Genau", bestätigte er platt, "und dann hat irgnd'n Arsch ihm die Idee geklaut und reich geworden. Und unser großer Erfinder sitzt im Dreck!" Das letzte Wort spuckte er richtiggehend aus. Er hob die Flasche und prostete mit einer ausschweifenden Geste in die Runde.
"Genau wie der Lehrer", lallte er nach einem großen Schluck weiter, Spucke und Alkohol hing an seinem Kinn und tropfte in seinen Schoß, "voll der inne...intelligente Kerl, aber fertig von der Welt... und jetzt? Jetzt isser tot und keine Sau erinnert sich an ihn... und nur so'n Haufen Kram is' übrig von ihm..."
Mindy folgte dem unsteten Blick des Mannes auf eine modrige Decke, einen rissigen Mantel und ein großes Glas Erdnussbutter, zusammengeschoben in einer Ecke.
Gleich daneben lehnte ein anderer Mann an der Wand. Regungslos verharrte er in seiner Position und starrte Mindorah mit aschgrauen Augen feindselig an.
"Was wird das hier eigentlich?", rief der Punkt plötzlich verärgert aus. Fassungslos guckte er von einem zum anderen, dann sprang er mit einem Mal auf und ballte die Fäuste. "Haut endlich ab hier, ihr habt hier nichts zu suchen", brüllte er die Wächter an. In seinem Blick konnte man blanke Verachtung lesen. "Leute wie ihr seid doch Schuld an seinem Tod! Und jetzt steht ihr hier rum und ihr -", anklagend schaute er in die Runde, "ihr redet mit denen, als wären's eure neuen besten Freunde!" Hasserfüllt spuckte er aus.
Die Züge des vom Verfall gezeichneten Mannes, der auch anfangs schonmal das Wort gegen die Wächter erhoben hatte, erhärteten sich. "Er hat Recht", zischte er und bückte sich nach einer Flasche, die in der Nähe auf dem Boden stand. Das Glas kratzte auf dem Steinboden, als er sie anhob.
"Hey, hör auf mit dem Scheiß, ich hab' kein' Bock auf noch mehr Ärger", forderte der Kahlkopf, der sein Strickzeug inzwischen beiseite gelegt hatte, genervt, "außerdem is' hier 'n Hund - wenn der was abkriegt, bist du dran!"
Araghast hob beschwichtigend die Hände und tastete vorsichtig mit dem Fuß nach hinten, um sich zu entfernen. "Wir gehen ja schon", erklärte er mit ruhiger Stimme, "es tut mir Leid, dass euer Freund tot ist!"
Ein Schrei löste sich aus einer Kehle. Einen Moment später zerschellte die Flasche mit einem lauten Krachen an der Wand, knapp neben der Türöffnung. Glasscherben und Alkohol spritzte durch die "Hütte". Ein weiterer hässlicher Fleck bildete sich an der Stelle, an der die Flasche aufgekommen war.
Araghast und Mindorah hingegen flohen. Mehr aus Reflex, denn irgendetwas anderem, waren sie durch die Tür gestürzt.
Verärgerte Rufe wurden in der "Hütte" laut. Und irgendwo durch das laute Stimmengewirr klang ein hasserfülltes "Scheißheuchler" hinter den Wächtern her...

Eine Straßenecke weiter waren Araghast und Mindorah stehen geblieben. Selbst nervös, versuchte Mindy ihre Taube zu beruhigen, die verzweifelte Laute von sich gab und mit den Flügelspitzen zuckte. Kurz darauf bogen auch Valdimier und Tyros um die Ecke.
"Doch keine gute Idee, einfach reinzugehen?", fragte Valdimier, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
"Mindorah, schick deine Taube. Wir brauchen Verstärkung", befahl Bregs mit harten Gesichtszügen.
Die Kommunikationsexpertin runzelte die Stirn. "Tut mir Leid, aber in der Verfassung würde die Taube sich glatt verfliegen... außerdem..."
"Außerdem was?", blaffte Araghast.
Mindy biss sich auf die Lippe. Beim Blick in Bregs' stechendes Auge, wünschte sie sich sehnlichst, sie hätte nichts gesagt. "Sollen wir nicht vielleicht mal in der Bibliothek vorbeischauen? Der eine sagte doch, der Tote wäre da manchmal hingegangen..." Verunsichert sah sie Araghast an.
"In die Bibliothek?", wiederholte er ungläubig.
"Wer weiß? Bücher sagen viel über jemanden aus", versuchte Mindy verzweifelt, ihren Vorschlag zu rechtfertigen.
Bregs zögerte. Dann seufzte er und lehnte sich resigniert an die Hauswand.
"Gut. Geh' in die Bibliothek", er legte den Kopf in den Nacken, "ich brauch' was zu Trinken."

Schüchtern drückte Mindorah die große Glastür zur Bibliothek auf und betrat das Gebäude. Stickige Luft schlug ihr aus dem niedrigen fensterlosen Raum entgegen. Dem Eingang gegenüber befand sich eine Art Theke, hinter der eine kleine rundliche Frau mit Brille zusammengesunken auf einem Stuhl saß und die Nase in ein Buch drückte. Als sie die Schritte hörte blickte sie über den Rand ihrer Brille. Lächelnd legte sie das Buch beiseite.
"Guten Tag", wünschte sie aufgeweckt, "wie kann ich Ihnen helfen?"
Rote Locken säumten ihr rundes Gesicht. Die braunen Augen zwinkerten freundlich.
"Guten Tag", erwiderte Mindorah, erleichtert über den netten Empfang. "Kam hier manchmal ein Mann vorbei... er sah recht heruntergekommen aus... man nannte ihn den Lehrer..." Verzweifelt suchte sie nach weiteren Worten zur Beschreibung und sah die Frau fragend an.
"Der Lehrer?", fragte die Bibliothekarin lächelnd nach. Es bildeten sich kleine Grübchen in ihren Backen. "Ja, der kam öfter her. Man mag es ihm vielleicht nicht ansehen, aber man kanne sich wunderbar mit ihm über Literatur unterhalten", schwärmte sie, doch schließlich stutzte sie. "Sagten Sie, 'man nannte ihn den Lehrer' - ist ihm etwa etwas passiert?" Ihre Augen weiteten sich besorgt.
Mindorah schluckte und nickte. Sie legte der Frau die Hand auf die Schulter und erklärte mit belegter Stimme: "Er hat sich umgebracht..."
"Oh nein", rief sie bekümmert aus und schlug sich die Hände vor den Mund. Trauer spiegelte sich in ihrem zuvor so fröhlichen Gesicht.
"Aber ich habe fast schon so etwas befürchtet", gestand sie. "Er sah überhaupt keinen Sinn mehr in seinem Leben..." Sie seufzte tief. "Aber sag, gute Frau, was kann ich für Sie tun?"
"Wissen Sie, welches Buch er als letztes ausgeliehen hat?", fragte Mindorah leise.
Die Bibliothekarin nickte. "Ja, sicher." Sie zwängte sich an der Theke vorbei. "Kommen Sie nur mit", forderte sie die junge Wächterin mit einem traurigen Lächeln auf und führte sie durch die nächste Tür, hinter der sich die staubige Luft vieler Bücher verbarg. Geschäftig ging sie die Regale entlang und fuhr mit den Fingern über die Buchrücken, bis sie schließlich stehenblieb und bestimmt ein Buch hervorzog.
"Er hatte einen wirklich guten Geschmack", befand sie, während sie sinnierend über den Einband strich, dann händigte sie es Mindorah aus und zog sich still zurück.
Es handelte sich um ein altes Buch, eingebunden in rissiges Leder. Goldene Lettern wiesen es als Plädoyer über die Gesellschaftssituation aus. Sacht blätterte Mindy durch die Seiten, bis sie zwischen zweien hängen blieb, die aneinander hafteten. Vorsichtig versuchte sie, sie zu trennen, was ihr nach einigem Bemühen auch gelang. Sie runzelte die Stirn. Zwischen den Seiten hatte ein Klecks Erdnussbutter geklebt.
...eine modrige Decke, einen rissigen Mantel und ein großes Glas Erdnussbutter, zusammengeschoben in einer Ecke... erinnerte sie sich an das Bild in der "Hütte".
Behutsam fuhr sie mit dem Finger über die Zeilen.
"Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen[4]", las sie leise vor.
"Bist' gar nicht so dumm", erklang plötzlich eine rauchige Stimme hinter ihr.
Erschrocken zuckte die Wächterin zusammen und fuhr herum. Vor ihr stand der Mann, der so still neben den Überbleibseln des Toten ausgeharrt hatte und musterte sie aufmerksam.
"Er war früher wirklich Lehrer", sagte er schließlich trocken, "Total überzeugt vom System und produktives Mitglied der Gesellschaft..." Der Mann verzog das Gesicht. "Aber dann hat er irgendwann beobachtet, wie'n Bulle ein junges Mädel angefasst hat. Das muss irgendwie sein Weltbild zerstört haben..." Er sah auf und Mindorah direkt in die Augen. "Und sein restliches Leben hat er nur immer noch mehr Scheiß gesehen. Und hilflos zugesehen. Sein Selbstmord, das war nur ein letztes rebellisches Aufbegehren... Das brauchte er für seinen Seelenfrieden... zu zeigen, dass die Wache Schuld ist, dass Menschen kaputt gehen. Aber eins hat er nicht verstanden. Dass ihr eigentlich ein genauso kaputtes Volk seid wie wir." Er schwieg einen Moment.
"Ihr seid doch auch nur Opfer dieser Gesellschaft..."
[1] "Bei Io, beweg dich endlich!" Zwischen zwei Flüchen schielte Elvira zu der jungen Frau hinüber. Auf deren Brust prangte das Wappen der Spezialeinheit der Stadtwache Ankh-Morpork. Sie seufzte. Was würde ich dafür geben, einmal diesem verflixten Einerlei zu entgehen und nur ein Fitzelchen des Abenteuers zu verspüren, das diese Frau tagtäglich erlebt? Elvira gönnte sich einen letzten Blick des Neides, dann fuhr sie fort, ihrem gewohnt bockigen Esel zuzusetzen.

[2] siehe S-Mission "Finsternis"

[3] siehe Archiv

[4] Zitat: Tacitus, röm. Historiker und Politiker um 55 n. Chr.

Zählt als Patch-Mission.



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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

01.11.2005 21:32

Lob: Deine Hauptfigur eröffnete die Geschichte sozusagen "im Vorübergehen". Sie betrat die Szene, erschien dem Leser als vertrauter Wegweiser in den Plot und trat vorerst wieder in den Hintergrund, um auch den Abteilungskollegen die Möglichkeit zu geben, in Erscheinung zu treten. Ein humoristisches 'Blitzlicht' war die "BALD". Der mit ihr einhergehende Mediendruck ließ sich leicht nachvollziehen. Was besonders auffiel und sehr angenehm zu lesen war: die Geschichte wies auf einen großen aktiven Wortschatz bei Dir hin, den Du aber ungekünzelt einzubringen verstandest.

Kritik: Was den Schluss und die Schlussfolgerungen betraf, da bin ich etwas zwiegespalten. Die Aussagen Wächter seien ein kaputtes Volk, gleich den selbstzerstörerischen Trinkern, oder "auch nur Opfer", wurden in einer provokativen Härte vorgebracht, dass sie einem wirklich vor den Kopf schlugen. Gesellschaftskritik arbeitet meistens erfolgreich auf diese Weise, so dass man Dir fast zu etwas Tiefergehendem gratulieren möchte. Andererseits hat diese Leserprovokation auch etwas Aufmerksamkeitsheischendes, diesen Totschlag-Moment, der Gegenworten einen schalen Beigeschmack untermischt, als wenn man durch Kritik an der Form unweigerlich zum Befürworter sozialer Mißstände mutieren könnte. Wie gesagt... ich bin zwiegespalten, was das angeht. Aber ich tendiere, trotz der tristen Härte der Geschichte, zu einer wohlwollenden Einstellung ihr gegenüber.

Von Tussnelda von Grantick

04.11.2005 09:22

Mir hat gut gefallen, wie Du die BEsonderheiten der Figuren herausgegriffen hast. Auch die gesamte Ausführung an sich gefiel mir, nur der Schluss kam mir wieder etwas zu wilkürlich und ich möchte fast sagen: pathetisch daher.

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