Konstantina

Bisher hat keiner bewertet.

von Obergefreite Ophelia Ziegenberger (RUM)
Online seit 12. 09. 2005
PDF-Version

 Außerdem kommen vor: Rogi FeinstichHerr KurbelBreda KrulockIrina Lanfear

Diese Geschichte spielt vor einer Menge Beförderungen - auch vor der Beförderung Ophelias zur Gefreiten. Sie erklärt ansatzweise wie es dazu kam, dass ihre anschließende Entscheidung auf die Abteilung R.U.M. fiel.

Dafür vergebene Note: 13

Wache Kröselstraße


Sie hätte es gleich geschafft. Nur noch durch die Lobby. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Die großen Türen hatten sich kurz dem Sonnenlicht geöffnet, um zwei Menschen hinein zu lassen. Konstantina! Ophelias Blick wanderte zu dem jungen Mann, der offensichtlich für die Inhaftierung ihrer Bekannten verantwortlich war. Sie dämpfte den aufsteigenden Groll in sich – Chaleb war Wächter. Er hatte gewiss gute Gründe für sein Verhalten. In diesem Moment wurde sie ihrerseits von der jungen Frau an Chalebs Seite entdeckt. Konstantinas Blick war irgendwie merkwürdig. Wie versteinert. Ophelia war sich auf einmal überdeutlich ihrer eigenen Uniform bewusst. Sie lächelte zaghaft und schritt auf das blonde Mädchen zu.
"Du hier? Wie kommt das denn?" Die Angesprochene wich ihrem Blick aus.
"Ach."
Ophelias Neugier meldete sich. "Du siehst so blass aus. Geht es Dir nicht gut?"
Chaleb drehte sich misstrauisch und ungewohnt geschäftsmäßig zu ihnen um. "Tut mir leid, Rekrutin Ziegenberger. Aber wir haben jetzt keine Zeit für so etwas", er unterzeichnete schnell noch einen Schein auf dem Tresen und deutete Konstantina sodann, voraus zu gehen. Sein Blick streifte Ophelia fast entschuldigend, als er mit den Worten schloss: "Dort entlang, bitte, zum Verhör."
Die Rekrutin blieb am Wachetresen stehen und sah ihnen verwirrt nach. Was ging hier vor sich?

Zu Hause


Allmählich begann sie daran zu zweifeln, dass man sich an das Leben in der Wache gewöhnen könnte. Nie zuvor hatten ihre Arme derart geschmerzt! Aber sie hatte bisher auch nicht solche Mengen von Akten umsortieren und archivieren müssen. Ophelia hörte lautes Klopfen durch die dunstigen Schwaden dringen.
"Misses! Ihre Mutter lässt ausrichten, dass Sie sich eilen sollen, hören Sie?" Die schlanke Frau stöhnte leise und sackte noch etwas tiefer in den, mit heißem Wasser gefüllten, Badezuber.
"Ja, ja. Ich mach ja schon", erwiderte sie. Nun gut. Noch einmal tief durchatmen und dann hinaus in die feindliche Welt. Sie hatte überhaupt keinen Funken Motivation für die Teegesellschaft über. Während Ophelia vor dem Spiegel stand und das lange Haar hoch wickelte, dachte sie unwillkürlich an ein anderes blasses Gesicht, dem ihren gar nicht so unähnlich. Was um Himmels Willen hatte Konstantina getan, das eine Verhaftung rechtfertigen konnte? Raub? Mord? Oder gar unlizenziertes Nähen? Sie bedachte sich selbst mit einem vorwurfsvollen Blick.
"Wie kannst Du nur! Hast Du denn gar kein Schamgefühl mehr in deinem Leib, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen! Womöglich haben die Tanten doch Recht, wenn sie behaupten, Du seiest plötzlich verrückt geworden und daher zur Wache gegangen", sie begann mit dem Einkleiden. Zwar erforderte dies auf sich allein gestellt bei der derzeitigen Mode einiges an Geschick aber sie mochte die Abhängigkeit gegenüber einer Bediensteten nicht. Der letzte winzige Hakenverschluss rutschte in seine vorgesehene Position und Ophelia ließ den angehaltenen Atem ganz vorsichtig wieder entweichen. Sie würde nicht eher Ruhe finden, bis sie nicht zumindest den Versuch gewagt hätte, ihre Neugier zu befriedigen. Was bedeutete, dass sie morgen in der Wache möglichst unauffällige Nachforschungen anstellen würde.

Wache Kröselstraße


Normalerweise hielt sie nicht viel vom Tresendienst. Doch nachdem sie den Auftritt Frau Willichnichts überstanden hatte, begann sie mit dem Sortieren und Ordnen von Unterlagen, bis sie sich an das große Buch mit den chronologischen Einträgen herangearbeitet hatte. Breda sah ihr teils belustigt, teils gelangweilt dabei zu.
"Was ist denn heute mit Dir los? Hast Du zu wenig geschlafen, dass Du so aufgedreht bist?" Ophelia blickte irritiert auf, fasste sich jedoch schnell wieder und konterte mit einem ungewohnt frechen Grinsen:
"Nur weil Du nicht sonderlich viel vom Tresendienst hältst, muss das ja nicht auch auf andere zutreffen, nicht wahr? Ich beispielsweise, bin sehr an den Vorgängen in dieser Wache interessiert!" Hoffentlich würde Breda sie nicht sofort durchschauen. Die Frau ihr gegenüber lächelte gefährlich.
"Vorsicht, Kleine! Bring dein Blut nicht zu sehr in Wallung!", in den dunkelbraunen Augen konnte man die Belustigung tanzen sehen. Ophelia lachte leise, schnappte sich betont beiläufig das Buch, auf das sie es seit heute morgen abgesehen hatte, und erwiderte neckend:
"Was dann, Kleine? Bekommst Du sonst etwa zu großen Hunger?" Die Vampirin neigte den Kopf in einer zustimmenden Geste.
"Das wäre durchaus möglich." Ihre Freundin zwinkerte ihr zu:
"Wenn das so ist, werde ich mir diesen unsagbar langweiligen Batzen aus Anzeigen zu Gemüte führen und mich über die neuesten Fälle von zu lauten Kindern, zu lauten Hunden und zu lauten Musikern auf den Stand bringen, um meinem Kreislauf etwas Gutes zu tun und Dich nicht allzu sehr in Versuchung zu führen." Nun musste auch die Rekrutin mit den spitzen Eckzähnen lachen.
"Na toll! Was bleibt denn dann noch für mich übrig?" Ophelia zeigte generös auf die Formularsammlung im Karton unter dem Schreibtisch.
"Du könntest die da ordentlich einsortieren." Breda schnaufte spöttisch, stützte sich stattdessen auf der Schreibfläche des Tresens ab.
"Das lassen wir mal schön für die nächste Schicht übrig. Wir hatten heute immerhin schon die liebe Amalie zu Besuch. Sonst haben die Ärmsten nach uns ja gar nichts mehr zu tun." Doch Ophelia hörte nicht mehr richtig hin. Sie las alle Einträge, die am Vortag gemacht worden waren, genau durch. Endlich fand sie den gesuchten:

"Rekrut Chaleb, GRUND, absolvierte gegen 11 Uhr vormittags seinen Streifgang Ulmenstraße, Ecke Paradies, wurde von Händler Turzius Gernereich aufgehalten, der Händler hielt ein Mädchen am Arm fest, das Mädchen habe unlizenziert einen Apfel aus seiner Auslage geraubt, er erstattete Anzeige, Personalien der Verhafteten nach erster Befragung: Konstantina Tiara, 17 Jahre alt, wohnhaft an der Langen Mauer 22, leistete keinen Widerstand, erste Aussage war: Sie hatte Hunger, Verhaftete wurde zum Verhör ins Wachhaus gebracht." Unterschrift des Tresendiensthabenden und Unterschrift des eintragenden Wächters.

Sie blickte nachdenklich auf den beigefügten Zettel, der eigentlich an den Rohrpostdämon hätte gehen sollen. Wahrscheinlich hatte Konstantina lange auf das Verhör warten müssen, da der entsprechende Püschologe die Benachrichtigung erst sehr spät, wenn überhaupt erhalten haben durfte. So wie sie die Sache einschätzte, klang es nach einem Fall von Mundraub. Sie meinte sich daran zu erinnern, dass darauf durchaus auch Inhaftierung drohen konnte. Schon als Schutzmaßnahme vor der Diebesgilde, die am liebsten alles alleine regeln wollte. Wie hatte ihre Bekannte sich nur auf etwas derart Gefährliches einlassen können? Hunger? Konstantina wohnte in keiner armen Gegend und auch über ihre Familie wusste man sich nur standesgemäß Gutes zu erzählen. Ophelia wurde sich des Blickes der anderen Rekrutin bewusst, der zielsicher auf ihrer Halsschlagader ruhte. Sie klappte das Buch zu und ließ es auf den Tisch fallen.
"Du hast echt Langeweile, oder?" Ophelia spürte, wie sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten, während Breda nur stillvergnügt grinste.
"Ach komm schon, lass den Quatsch!", doch sie musste nun auch grinsen, "Du bist echt unmöglich, weißt Du das? Fast schon kindisch!" Das ließ die gutgelaunte Ältere sich nicht zweimal sagen:
"Sag das noch mal, und Du bekommst ein Problem, Kindchen!" Die Kabbelei zog sich noch ein gutes Weilchen hin und verkürzte zumindest subjektiv die langweilige Schicht.

Zu Hause


Ophelia drückte vorsichtig ihr Rückrat durch, während sie das dünnwandige Tässchen auf dem fast noch dünneren Untertellerchen balancierte. Gerade wechselte Großtante Pätrischa abrupt das Thema ihres Vortrages:
"Junge Damen von heute sind sich ja in den seltensten Fällen ihres Standes bewusst", ihr kunstvoll gestecktes Haarnest wackelte unwillig auf dem hoch aufgerichteten Kopf. Ihr grauer Blick richtete sich bei diesen Worten streng auf die Großnichte, "Und damit meine ich nicht nur diejenigen Damen, die sich in selbstvergessener Überheblichkeit den über ihnen stehenden gesellschaftlichen Schichten zuwenden." Ophelia stöhnte innerlich auf. Nein, bitte nicht schon wieder dieser Vortrag! Sie konnte die andauernden Vorwürfe nicht mehr hören. Vielleicht war dies der optimale Zeitpunkt, den Gesprächsverlauf vorsichtig zu steuern? Immerhin war die Großtante nicht nur sehr gerne am dozieren, sondern in der Regel auch hervorragend über Hintergründe und den neuesten Tratsch informiert. Sie lächelte und senkte bescheiden ihren Blick.
"Wie Recht Du hast, Großtante Pätrischa. Es gibt heutzutage nur wenige junge Frauen, die ihrer Familie Ehre bereiten." Die alte Dame hob erstaunt eine ihrer perfekt geschwungenen Brauen.
"Ich bin erfreut, dass Du dir dessen bewusst bist, Kind. Aber ich muss dem, was Du sagst, zu meinem unsäglichen Kummer, zustimmen. Zu meiner Zeit, da war das noch etwas anderes. Jedes Mädchen, das etwas auf sich hielt, verließ das Haus ab ihrem siebenten Lebensjahr nur noch in ständiger Begleitung durch die Gouvernante. Wir hatten Besuchskarten und all die vielen kleinen Möglichkeiten zur Verständigung, die man heute gar nicht mehr kennt", ein knapper Stoßseufzer löste sich von dem dünnlippigen Mund, "Ach! Die Schule der Hohen Konservation ist so gut wie ausgestorben! Und wer sich dennoch um Contenance müht, scheitert womöglich an der, nun ja", sie räusperte sich, "finanziellen Seite." Ophelia wusste um die gemeinsame Vergangenheit Amalgam Pätrischas und Ellis Tiaras. Die Lebensläufe standen ursprünglich durch gesellschaftliche Verpflichtungen in Verbindung, dann jedoch verloren die beiden unterschiedlichen Frauen sich durch eben jene "finanzielle Seite" aus den Augen. Die alte Dame war ziemlich rigoros, wenn es um Kontakte ging, die man pflegen und solche, die man nicht mehr in gleichem Maße bewahren sollte. Was jedoch nichts an ihrem grundsätzlichen Wunsch änderte, über jedes Detail informiert zu werden. Ophelia wagte einen ungewöhnlichen Vorstoß.
"Hast Du denn mal wieder etwas von Lady Tiara gehört, wo Ihr Euch doch so gut verstandet?" Die blassen Lippen der älteren Frau kräuselten sich säuerlich. Die Grande Dame unterbrach den Blickkontakt, griff nach ihrer Tasse und spreizte geziert den kleinen Finger ab. Ihre Stimme verriet ein ambivalentes Mitteilungsbedürfnis, als sie unwillig antwortete:
"Ich möchte mal wissen, wie Du ausgerechnet jetzt auf diese Frage kommst, meine Liebe."
"Wieso ausgerechnet? Hast Du etwas von ihr gehört? Wie geht es ihr?" Die Großtante würde Neuigkeiten nicht lange für sich behalten können, erst recht nicht, wenn sie um interessierte Zuhörer wusste. Ophelia wartete ein weiteres Mal. Die elegante Dame räusperte sich.
"Nun ja, ich habe tatsächlich erst gestern erfahren, dass Ellis derzeit eine sehr schwierige Zeit durchmacht." Ophelia folgerte, gleich würden ihre Mutter und sie über die unsäglichen Eskapaden der "Kleinen Tiara" informiert werden, wurde jedoch überrascht. Die alte Dame bedachte ihre Nichte mit aufmerksamem Blick.
"Ich wollte Dir heute bei passender Gelegenheit davon berichten, Kathrine, da Du sie ja ebenfalls kennst. Je nun, was soll' s. Du erinnerst Dich sicherlich noch daran, wie ich Dir von der misslungenen Erziehung im Falle der älteren Tochter Ellis' erzählte? Ihr Name lautete Andrea." Ophelias Mutter nickte.
"Ja, natürlich erinnere ich mich."
"Diese Andrea, sie hat sich ja nie an Konventionen gehalten. Und das wird sich nun auch nicht mehr ändern. Sie ist vorgestern bei einem unglückseligen Unfall verstorben!" Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein und nippte an der dampfenden Porzellantasse. Die junge Dame im grauen Abendkleid saß stocksteif vor dem niedrigen Tischchen. In ihrem Innern jedoch beugte sich die Rekrutin vor. Das waren tatsächlich neue Informationen! Kein Wunder, dass Konstantina so merkwürdig steinern gewirkt hatte.

Wache Kröselstraße


Der Wischmopp klatschte etwas entfernt von dem rostigen Blecheimer auf die Steinplatten und begann die Dreckkrümel gleichmäßig zu verschmieren. Ophelia war es gleich. Zum einen musste sie daheim keine Böden wischen, womit ja wohl niemand Erfahrung in so etwas von ihr erwarten konnte, zum anderen gab es wirklich wichtigere Dinge. In welchem Büro würde sie am wahrscheinlichsten auf die gesuchte Akte stoßen? Vermutlich eher im Büro des Abteilungsleiters. Sie arbeitete sich zielstrebig dorthin vorwärts. Großtante Pätrischa war gestern Abend in redselige Stimmung verfallen. Natürlich täte ihr Ellis leid. Sie habe sich das aber auch selber zuzuschreiben. Wie könne man eine Tochter derart eigenwillig aufwachsen lassen, es sei kein Wunder, dass dies alles ein schlimmes Ende habe nehmen müssen. Die Familie habe sich auf dem gesellschaftlichen Parkett immer makellos benommen, aber seit der etwas voreiligen Spekulation Henrys sei der Abstieg der Familie in die Bedeutungslosigkeit immer schneller vonstatten gegangen. Die Einnahmen schienen kaum die Kosten eines großen Hausstandes zu decken, die Dienstboten wurden weniger, die gesellschaftlichen Einladungen ebenso. Andrea habe sich mit diesen unmöglichen jungen Leuten getroffen, ob schon vorher, wisse man natürlich nicht, so etwas ließe sich ja, wenn auch nicht ewig, doch eine Zeitlang verbergen, aber womit so etwas endete, wenn man ihm nicht schnellstmöglich Einhalt gebot, wisse man ja. Dieser unsägliche Tod bestätige nur wieder die Regel.
Ophelia ging kurz entschlossen auf die Bürotür des Abteilungsleiters zu und klopfte an.
"Herein!" Hinter seinem ausladenden Schreibmöbel sah Hauptmann Llanddcairfyn auf.
"Sir, ich wollte Sie nur vorwarnen, dass ich Sie gleich stören muss. Wegen des Wischens", sie hielt den tropfenden Mopp wie als Beweismittel etwas höher. Der Llamedône runzelte missbilligend die Stirn.
"Ja, danke." Die Rekrutin schloss die Tür vorsichtig hinter sich und begann neuerlich auf dem Gang davor herum zu wischen, wobei sie lauter als unbedingt nötig mit den Kanten gegen die Wände anschlug. Kurz darauf öffnete sich wieder die Tür des Abteilungsleiters. Er wollte, nach einem Blick auf die schmierigen braunen Lachen, etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders und wandte sich schlecht gelaunt ab. Ophelia blickte ihm nach, schlüpfte samt Eimer und Wischer in den Raum, verteilte dort großzügige Pfützen und begann dann - vorsichtig, um nichts durcheinander zu bringen - die Akte zu suchen. Sie wurde fündig und durchblätterte die wenigen Seiten.
Als Püschologin hatte die Gefreite Fromm der Vernehmung beigewohnt. Sie erklärte in ihrem dicht beschriebenen Bericht, dass das Mädchen offenbar unter Schock stand. Dieser schien im Zusammenhang mit dem überraschenden Unfalltod der älteren Schwester zu stehen, über den der Vater, der kurz nach Beginn der Vernehmung dazu stieß, die Püschologin unterrichtete. Der Schock konnte als natürliche Reaktion angesehen und als mildernder Umstand gewertet werden. Das Mädchen sei, laut eigenen Angaben, verwirrt durch die Straßen geirrt, so lange, bis sie tatsächlich aus Hunger gehandelt habe. Laut Püschologin schieden böswillige Absicht oder Gewohnheit aus. Konstantina entspräche nicht dem Bild eines Widerholungstäters. Es wurde Mundraub vermerkt. Der Diebesgilde sei inzwischen von Seiten des Vaters eine angemessene Entschädigungssumme zugesichert worden. Die kurze Zusammenfassung auf der obersten Seite der Akte besagte, dass Konstantina inzwischen gegen Kaution wieder frei- und der Fall fallengelassen worden sei. Sogar eine Entschädigung an den anzeigenden Händler wurde umgehend entrichtet.
Ophelia richtete alles wie vorgefunden wieder her. Im Notfall würde sie einfach behaupten, mit dem Besenstiel gegen die Unterlagen gestoßen zu sein. Sie wischte schnell die Pfützen auf und verließ den Raum.

Friedhof


Sie hatte den Vormittag nur mit einiger Mühe freibekommen. Hauptsächlich durch einen halboffiziellen Schichttausch. Sie hatte sich mit ihrer Mutter am Eingang Mondteichweg getroffen. Großtante Pätrischa hatte bedauernd abgesagt. Sie wolle nicht in die sicher sehr persönliche Trauer der Familie eindringen. Der Beisetzungsplatz war ausgehangen worden, so dass sie einfach den anderen Gästen folgen konnten, die sich den verschlungenen Weg hatten merken können. Es würde eine Rede direkt am offenen Grab geben, die von einem multikonfessionellen Redner gehalten würde. Dieser hatte auf jede lauschende Gottheit Rücksicht zu nehmen. Ein solcher Vortrag war schwer zu formulieren und dementsprechend kostspielig in der Buchung. Ophelia beobachtete die Anwesenden, denen sich immer neue Gesichter hinzugesellten. Schon war der gesamte Raum um sie und die Grube umstellt und die Hinzukommenden im hinteren Bereich begannen die ausgeteilten Klapptreppchen aufzustellen. Als sie sich umschlossen fühlte, wie inmitten eines Kessels, trat ein dünner kleiner Mann vor, zittrig wie Espenlaub, und hielt mit exakt gewählten Worten eine überraschend kurze Ansprache. Ophelia ließ ihren Blick über die Gemeinde wandern. Die Mutter der Verstorbenen, Ellis Tiara, war eine schlanke dunkelhaarige Frau. Sie musste vor gar nicht allzu langer Zeit eine Schönheit gewesen sein. Sie bewahrte Haltung, selbst als sie nach den ersten fünf Minuten in lautloses Weinen verfiel. Die Tränen liefen ihr über die knochigen Wangen, ohne dass sie blinzelte. Henry Tiara stand stützend neben ihr, strich ihr immer wieder beruhigend über den Arm und nickte betrübt. Bei den anschließenden Beileidsbekundungen drückte er immer wieder jedem Einzelnen seine tiefe Dankbarkeit und Bewegtheit dafür aus, dass er seiner Tochter die letzte Ehre erwiese. Konstantina hingegen stand emotionslos inmitten der Menschen. Ihre eisige Ausstrahlung schuf einen unsichtbaren Ring um sie und niemand wagte es, diesen zu durchbrechen. Dann wurden Dinge als gut gemeintes Geleit auf den Sargdeckel geworfen. Blumen, Vasen, Erde, Asche, Kaffeepulver, Lehm und Mehl. Ganz nach religiöser Tendenz. Dann begannen die Totengräber mit ihren Schaufeln frische Friedhofserde vom Rand der Grube in diese hinein zu schieben. Die Gemeinde wandte sich einhellig dem Ausgang zu; schweigsam, bedrückt.
Ophelia beobachtete, wie Konstantinas Vater ihr zum Trost die Hand auf die Schulter legen wollte, diese jedoch schnell der Berührung auswich und zu ihrer Mutter aufschloss. Auch bemerkte sie eine Gruppe Jugendlicher, die ihnen zum Friedhofstor folgte. Die Mädchen und Jungen schienen irgendwie nicht in das Gesamtbild der Trauernden zu passen. Sie trugen weite Kleider in betont legeren Schnitten und sie schwiegen mit der Beharrlichkeit zutiefst betroffener Menschen. Als Konstantinas Vater sich am Friedhofseingang noch einmal umwandte, um die Anwesenden zum Leichenschmaus einzuladen und dabei nochmals in bewegenden Worten für die zahlreiche Anwesenheit bei diesem Abschied von seiner geliebten Tochter dankte, hörte Ophelia hinter sich unwilliges Gemurmel.
"Hey, lass ihn reden. Reg Dich nicht auf, okay?" Dann hörte sie jemanden spucken und eine mürrische Jungenstimme antwortete:
"Was für ein Arsch! Was für ein unsagbarer Heuchler! Den schwülstigen Kram kann er sich doch sonst wohin stecken! Wenn ihm so viel an Andi lag, hätte er ihr das Leben vorher nicht zur Hölle machen sollen!"

Im Hause Tiara beim Leichenschmaus


Das allgemeine Brummen gedämpfter Kommentare hatte bereits eingesetzt und man konnte die mitleidigen Blicke zu den Hinterbliebenen hin beobachten. Ophelia merkte, wie bleierne Müdigkeit sie zu überwältigen drohte. Da ihre Mutter darauf bestand, dass sie trotz ihrer neuen Wache-Verpflichtungen keinesfalls die Handarbeiten, insbesondere den großen Stickrahmen, vernachlässigte, waren ihre Nächte in den letzten Wochen ungewohnt kurz ausgefallen. Nur gut, dass sie sich nicht, wie andere Rekruten, persönlich um die Pflege ihrer Uniform zu kümmern brauchte, sondern dafür Märrie hatte. Wie hätte sie das sonst alles schaffen sollen? Ophelia blinzelte. Ihr waren soeben die Augen zugefallen. Es hatte keinen Sinn. Wenn sie nicht einen unglaublich peinlichen Zwischenfall riskieren wollte, musste sie sich selber aus dem Verkehr ziehen. Sie begann langsam, den Raum zu durchqueren, indem sie mit suchendem Blick am Büffet entlang wandelte. Kurz darauf erreichte sie eines der im Dunkeln liegenden Nebenzimmer und ließ sich dort erschöpft in einen Sessel fallen, der in der Ecke stand. Sie rieb sich die müden Augen und das Bild der lebenslustigen Verstorbenen entstand in ihrem Sinn. Sie hatte Andrea gekannt, wenn auch nur flüchtig. Genaueres zu ihrem frühen Tod war nicht herauszubekommen gewesen. Aber es hatte sich um einen Unfall gehandelt. Andrea war wohl in die falschen Kreise geraten, in einen Personenkreis, der Gefahren provozierte. Ophelia streckte sich und sank noch etwas tiefer in das Polster, wobei sie das steife Korsett verwünschte. Sie hatte sich erstaunlich schnell an das ungezwungene Tragegefühl der Rekrutenkleidung gewöhnt. Ihre Gedanken wanderten wieder zu den verhängnisvollen Freunden. Kein Wunder, dass diese nicht zum Leichenschmaus erschienen waren. Sie selber würde nicht mit solch einer Schuld leben wollen, nur aufgrund einer lächerlichen Mutprobe ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben!

Ein Schatten verdunkelte den Eingang zum dunklen Raum, es folgte ein zweiter. Ophelia erkannte den schwarzen Umriss Konstantinas sowie denjenigen ihres Vaters. Sie wollte aufspringen, zögerte jedoch eine Sekunde zu lang.
Ein leises Zischen zerschnitt förmlich die Luft: "Konstantina!"
Ihre Bekannte blieb sichtlich widerwillig stehen, wandte sich dann mit einem ungeduldigen Ruck zum Vater um: "Was willst Du?"
Der größere Umriss näherte sich und die leise männliche Stimme verlangte nachdrücklich: "Etwas mehr Haltung von Dir! Lass Dich gefälligst nicht so gehen. Du solltest Dich den Gästen präsentieren und ihnen wenigstens das Gefühl geben, nützlich zu sein. Das ist immerhin auch für sie keine angenehme Sache! Und wo wir schon mal dabei sind: Ich verlange von Dir, dass Du dich von dieser Mörder-Gruppe gefälligst fern hältst! Sie sind an all dem Schuld und ich möchte nicht, dass sie auch nur in die Nähe meiner Familie kommen können, um noch mehr Unheil zu stiften!"
Ein ersticktes Lachen erklang, das Ophelia eine Gänsehaut verpasste. Ganz gewiss war dies nicht mehr der richtige Zeitpunkt, um sich bemerkbar zu machen. Sie hielt beinahe die Luft an in dem Bemühen, nicht entdeckt zu werden.
Konstantina flüsterte: "Wer hier wen Mörder nennen darf, wäre wohl noch zu klären."
Eine bleischwere Sekunde lang herrschte Schweigen in dem dunklen Zimmer, nur die scharf umrissenen Scherenschnitte im Türrahmen waren als Bestätigung der Anwesenheit der zwei Personen zu sehen. Dann erklang die emotionslose Frage: "Willst du etwa den Fußstapfen deiner arroganten Schwester folgen und womöglich so wie sie enden?"
Das Mädchen neigte den Kopf und antwortete: "Keine Angst. So viel Mut wie sie hatte, werde ich niemals haben", und trat zurück auf den beleuchteten Korridor. Sie entfernte sich.
Henry Tiara sah seiner Tochter nach. Er rieb sich die Schläfen, schüttelte den Kopf und folgte ihr wieder in den Hauptraum.

Wache Kröselstraße


Der nächste Tag zeichnete sich durch Langeweile im Tresendienst aus. Bis Ophelia die Gelegenheit nutzte und ihren Mitrekruten fragte, ob er von diesem Mundraub-Fall wisse und davon, inwieweit dieser noch irgendwelche Folgen nach sich zöge. Rein Interessehalber. Ermittlungstechnisch.
Der große Rekrut neben ihr blickte mit leuchtenden Augen auf sie herab: "Ach, die Sache mit Chalebs kleiner Blondine?"
Sie brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, dass der auf den Straßen groß gewordene Rekrut mit dieser Beschreibung dieselbe Person wie sie meinte. Sie nickte.
Falko wog seinen Kopf hin und her: "Ja, da hab ich mich auch schlau gemacht. War ja der einzig interessante Fall in letzter Zeit. Dummes Ding", er strich sich bei diesen Worten über die ersten neuen Stoppeln am Kinn, dass es knisterte. "Soweit ich das mitbekommen hab', haben sie die Akte erst vor 'ner Stunde in die Wache Pseudopolisplatz geschickt. Diesmal sind die Seals in die Familie gerufen worden. Sieht so aus, als wenn die Kleine nicht vorsichtig genug ist mit ihren Eskapaden. Lässt sich zu schnell erwischen."
Ophelias Atem stockte ihr. "Weißt Du vielleicht auch, was genau dort vorgefallen ist?"
Der Rekrut Spindel schüttelte enttäuscht den Kopf. "Ne, Du. Leider nicht."

Zu Hause


"Die kleine Konstantina und ihre Mutter sind übrigens zur Kur gefahren."
Ophelia hätte sich beinahe an ihrem Tee verschluckt. Wie passte das denn nun wieder zu den Informationen, die sie erst vor wenigen Stunden von Falko erfahren hatte, in denen es um einen Fehlalarm und einen häuslichen Unfall ging?
Kathrine Ziegenberger blickte interessiert auf. "Ach. So kurz nach der Beerdigung?"
Die grauen Äuglein Mamie Kläretts schimmerten wässrig in Richtung ihrer Tochter. "Na, ich denke mal, dass das dem Mädel nur gut tun kann – man hört ja so einiges." Anna-Gramma nickte, als wenn sie sich ihre eigenen Worte bestätigen wolle. Ihre unzähligen Silberreife klimperten an den dünnen Armen. "Ich weiß ja nicht, inwieweit meine hoch verehrte Schwester Euch schon auf dem Laufenden hielt", bei diesen Worten blickte sie verschmitzt in die private Runde, "aber es scheint, als wenn der Trauerfall mit all den Leuten und den Umständen für beide zu viel gewesen ist. Und wer will es ihnen schon verdenken? Als mein Jochen starb, die Götter seien ihm hold, da wäre ich auch gerne einfach fort gegangen für eine Weile. Weg von all den mitleidigen Blicken und den falschen Beileidsbekundungen, die hinter meinem Rücken geflüstert wurden. Dieses Mitleid ist einem irgendwann so über! Aber das ging damals natürlich nicht." Sie fasste Kathrine zärtlich unter dem Kinn. "Um deinetwillen nicht, mein Schatz. Man verlässt die Stadt ja schließlich nicht mitten in den Hochzeitsvorbereitungen der eigenen Tochter, nicht wahr? Eine weitere Saison hätte es nicht gegeben. Und eine bessere Partie wohl auch nicht." Ein Lächeln stahl sich auf die trockenen Lippen. "Aber wenn ich Euch beiden sehe, dann war es das wert."
Ophelia beobachtete amüsiert, wie ihre Mutter rot wurde. Wie um von ihrer ungewohnten Irritation abzulenken, fragte Kathrine schnell: "Nur die beiden? Was ist mit Henry? Fährt er nicht mit auf' s Land?"
Anna-Gramma setzte die Tasse vorsichtig auf dem überladenen Tischchen ab. "Der Vater hält natürlich als braver Mann im Hause die Stellung. So hat das zu sein. Er hat ja auch noch Geschäfte zu tätigen. Natürlich ist er außer sich vor Sorge. Verständlich, denn selbst auf dem Lande ist es ja bekanntlich nicht mehr sicher. Was einem auf so einer Reise alles zustoßen kann, daran möchte man gar nicht denken." Die kleine Frau strich den Faltenwurf der edlen Stoffbahn über ihrem überschlagenen Knie glatt. "Vielleicht ist es ja gut für die Familie, wenn Konstantina aus der Stadt und weg von diesen merkwürdigen Freunden kommt? Nicht, dass noch mehr Unheil geschieht."
Ophelia sah erst ihre Oma, dann ihre Mutter an. "Diese Jugendlichen, die auch bei der Beerdigung waren? Ich glaube nicht, dass sie Konstantinas Freunde sind."
Kathrine fragte skeptisch: "Woher willst Du das denn wissen?"
Die Wächterin sah vor ihrem inneren Auge Mutter und Tochter in schweigender Trauer vorangehen, während die merkwürdig unpassenden Jugendlichen einen anderen Weg einschlugen, sobald sie die Friedhofspforte erreicht hatten. Ein hoch gewachsener blonder Junge blickte der großen Gruppe zwar noch nach, doch niemand überwand sich, auf die jüngere Schwester der Verstorbenen zuzugehen, um ihr gut zuzureden. Zu schwer lastete wohl das Gewissen auf ihnen. Ophelia erwiderte zaghaft: "Keiner von ihnen ging auch nur auf Konstantina zu, um ihr Trost zu spenden. Hätten Freunde das nicht getan?"

Auf dem traditionellen Oktotagsspaziergang im Hide Park


Die Sonne glitzerte an diesem Tag wie poliert durch die von randwärts kommende, frische Luft. Ophelia genoss den traditionellen Spaziergang. Und das hatte sie schon lange nicht mehr getan! Keine Bücher die sie wälzen, keine Akten oder schweren Stiefel, die sie tragen musste. Zwar hatte ihre Mutter auf das enganliegendste Kleid bestanden, und Märrie das Mieder entsprechend schnüren müssen, aber das waren vertraute Schmerzen, die sie den beiden an solch einem Tag verzeihen konnte. Sie schritt hinter den plaudernden Tanten einher.
"... Ja, aber ja doch, meine Liebe. Ganz genau das habe ich auch erwidert!"
"Wie kann sie nur derart ungeschickt argumentieren?" Die fülligere Dame mit den tiefblonden Haaren schüttelte in fast komischem Eifer immer wieder den Kopf.
Eine andere, ganz in merkwürdig rosafarbene Stoffberge gehüllt, antwortete hastig: "Das darfst Du mich nicht fragen. Wenn sie auf mich gehört hätte..."
Ophelia blickte mit amüsiertem Lächeln zu den älteren Damen, welche Mühe hatten, sich nicht gegenseitig unhöflich ins Wort zu fallen. Dünne Armreife klimperten, seidige Schultertücher flatterten in der leichten Brise. Sie schloss mit einem zufriedenen Seufzer die Augen, während sie ihnen folgte. Das trockene Reiben der Kiesel unter den Schuhen der Gruppe vermittelte den Eindruck friedlichen Sommers. Nichts konnte diesen idyllischen Moment stören! Ophelia öffnete die Augen und blickte zu den dunkelgrün und silbrig flimmernden Baumkronen auf.
Vor wenigen Wochen war sie dieselbe Strecke jeden Oktotag in völlig anderer Stimmung abgelaufen. Unzufrieden und rastlos. Die stets gleichen Gespräche hatten ihre Nerven angegriffen, die freundliche Damenriege war in ihren fantasievollen Gedankengängen zum Kronrat eines intriganten Machtapparates mutiert.

Wie viel sich durch die Wache in ihrem Leben geändert hatte! Gewiss, es gab Spannungen. Ihre Mutter würde diese Entscheidung wahrscheinlich immer verabscheuen. Aber eben darauf hatte sie es damals ja auch angelegt. Sie war die Bevormundung durch ihre gesamte Familie leid gewesen. Sie gestand sich nun ein naiv reagiert zu haben. Die Wache würde ihr keine Abenteuer in der Art bieten, die sie sich erträumt hatte. Ihre neue Verantwortung hielt stattdessen Ungerechtigkeit und Leid bereit, jede Menge davon sogar, verborgen unter einer so dünnen Schmutz- und Schutzpatina, dass es oftmals genügte näher hinzusehen. Natürlich könnte sie auch über solche Dinge schreiben. Aber irgendwie... die üblichen Formulierungen, die klassischen Momente der Dramatik und Theatralik, kämen ihr im Vergleich mit den Schwierigkeiten der echten Menschen Ankh-Morporks wie spottende Worthülsen vor.
Sie senkte die Lider und seufzte.
Konstantinas frostiger Anblick tauchte ungewollt, doch klar vor ihrem inneren Auge auf. Und wurde von einem dicken weißen Kiesel zerschossen, der an ihren Schienbeinen vorbei flog. Steine, die waagerecht auf Bodenhöhe flogen? Sie blickte in die Richtung aus der das ungewöhnliche Artefakt gekommen war.
Dort befand sich eine Wiese, die fast von plaudernden, lachenden, essenden und vor sich hin bratenden [1] Menschen, Trollen und Zwergen [2] verdeckt wurde.
Rechterhand, etwa zehn Schritte entfernt, hinter dem Gebüsch am Wegesrand, standen ein Mädchen und ein Junge, die beide erwartungsvoll zu ihr herüber sahen. Das Mädchen sah sich schnell um und winkte dann nervös. Auch ihr Begleiter nickte Ophelia bedeutungsvoll zu, sie solle doch herüberkommen.
Die junge Frau sah sich suchend nach ihrer Familie um, wobei sie feststellte, in Gedanken versunken zurückgefallen zu sein. Die anderen schlenderten etliche Meter voraus dem Parkausgang entgegen.
Wieder sah sie zurück.
Der braunhaarige Wirrkopf schaute nun fast flehentlich.
Was die beiden wohl von ihr wollten?
Auch das hatte sich geändert – vor einigen Wochen wäre sie schnell an diesen "Verrückten" vorübergeeilt. Ein Mädchen aus gutem Hause verkehrte nicht mit zufälligen Bekanntschaften. Nun war sie mehr als das. Sie war auch Wächterin.

Die beiden wirkten erleichtert, als sie sich ihnen vorsichtig näherte.
Das Mädchen war nur etwas jünger als sie selber und strahlte Ophelia dankbar an. "Hi!"
Der hochgeschossene Jüngling nickte wieder.
Die rothaarige Rekrutin räusperte sich zurückhaltend: "Ähm, hallo! Wer seid ihr denn und warum sollte ich hier herüber kommen?"
Die Kleine strich sich nervös die Locken aus dem Gesicht. "Wir sind Freunde von Andi, ich meine, von Andrea Tiara."
Der Blonde bestätigte die Aussage mit einem Nicken.
"Ah. Und wieso... also... wie kann ich euch weiterhelfen?" Ophelia schaute kurz zum Weg hin, sah aber nur die ruhige Rückansicht der sich langsam entfernenden, gestikulierenden Tanten und restlichen Verwandten.
"Wir..." Das Mädchen drehte sich zu dem schweigsamen Jungen um und stieß ihn leicht in die Rippen. "Sag du doch auch mal was!"
Der Angesprochene fasste sich schlecht gelaunt an die Seite. "Wir machen uns Sorgen um Konti."
Die Braungelockte rollte mit den Augen. "Also echt mal!" Sie wandte sich wieder Ophelia zu und erklärte: "Mit Konti meint er die kleine Tiara – Konstantina heißt sie richtig, glaube ich."
Die Rekrutin äugte misstrauisch von einem zum anderen: "Ihr macht euch Sorgen um Konstantina und wisst nicht mal ihren richtigen Namen?"
Der Junge ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Ja."
Wieder griff seine Begleiterin helfend ein: "Das kommt daher, dass Andi immer nur in der Kurzform über ihre Schwester sprach und wir haben ja nicht sehr viel miteinander zu tun gehabt, so richtig. Eigentlich sogar gar nichts. Also, wir haben sie dann auf dem Friedhof gesehen aber vorher auch nicht viel häufiger. Und..."
Blondie brach sein Schweigen: "Wir machen uns Sorgen, weil sie verschwunden sind."
Ophelia vergewisserte sich: "Konstantina und ihre Mutter, meint ihr?"
Wieder dieses abgehackte Neigen des Kopfes.
"Da kann ich euch beruhigen. Die beiden sind nicht verschwunden, sondern zur Kur gefahren." Sie beobachtete, wie die beiden sich ansahen und simultan die Köpfe schüttelten – der Junge nur ein striktes Mal, das Mädchen mit beharrlicher Ausdauer.
"Doch! Die beiden müssen sich erholen, weil Andreas Unfall ihnen so sehr zugesetzt hat."
Die Stimme des Jungen klang reif und unerschrocken, seine Überzeugung felsenfest: "Mag sein, dass ihnen etwas, oder besser gesagt 'jemand', zusetzt. Aber eines steht mal fest: Andis Tod war kein Unfall, sondern Mord! Das hatte nichts mit der Mutprobe zu tun – darin war Andi meisterklasse! Und Kontis Verschwinden gerade jetzt ist ja wohl auch kaum zufällig oder als unerwartete Reise zu erklären."
Ophelia musste schlucken.
Der junge Mann stand unbeweglich vor ihr, sah ihr fest in die Augen: "Wir haben gehört, dass du sie kanntest. Und dass du in der Wache bist."
Sie nickte nun ihrerseits, auf das Schlimmste gefasst.
Seine Bitte klang wie eine nur schwerlich gedämpfte Forderung: "Es wäre gut, unauffällig nach etwas zu suchen, um die beiden zu finden. Sie brauchen gewiss Hilfe. Kannst du dich etwas für uns umhören? Konti und ihrer toten Schwester zuliebe?"

Wache Kröselstraße


"...Kommen wir in dieser Unterrichtseinheit zu einer weiteren Spezialisierung: Die Verdeckten Ermittler!"
Ophelia war zwar körperlich anwesend aber nicht geistig. Sie malte Kringel und Blätterformen auf das weiße Papier, das vor ihr lag und ihre generell aufrechte Haltung mochte dem dozierenden Wächter dabei sogar Aufmerksamkeit vermitteln, doch in ihrem Kopf drehte sich alles um ganz andere Fragen. Was ging hier vor sich? War etwas dran an den Vorwürfen der Jugendlichen? Oder bildeten sie sich das alles nur ein, weil sie den Tod Andreas' und die damit zusammenhängenden Anschuldigungen nicht ertragen konnten?
"...ihr Einsatzgebiet ist weitläufig und kaum einzugrenzen, vor allem im Zusammenhang mit der..."
Informationsbeschaffung! Ihr fehlten im Grunde unvoreingenommene Fakten, auf deren Grundlage sie die Situation besser beurteilen könnte, als lediglich durch die vorgebrachten Beschuldigungen und das Hören-Sagen. Nur wie sollte sie an solche Informationen gelangen?
"...dabei sind sie größtenteils auf sich selber angewiesen. Es gibt natürlich Leitfäden, Grundsätze und den Erfahrungsschatz der Kollegen, von dem man sich während der Ausbildung in einer der Spezialisierungen so viel wie möglich aneignen sollte, so auch in dieser, aber letztendlich..."
Eine Möglichkeit bestand natürlich darin, die alten Akten, soweit sie Zugriff bekäme, einzusehen.
Sie malte frustrierte Kästchen in den Block und grübelte eine Weile vor sich hin.
Wahrscheinlich hatte sie ihre Chancen was das anging schon aufgebraucht. Der Fall war nicht wirklich alt, er wäre wohl kaum im Archiv zu finden, sondern vielmehr auf irgendeinem Schreibtisch unter einem Stapel begraben.
Den Kästchen gesellten sich dicht beieinander stehende, senkrechte schwarze Balken hinzu.
Außerdem konnte sie nicht ständig die Akten in den Büros ihrer Vorgesetzten durchwühlen. Das würde irgendwann entdeckt werden.
Innerlich formte sich in ihr das Bild eines großen schlanken Mannes, dessen schimmernde Augen sie aufmerksam, ja geradezu lauernd, aus den Schatten der Gänge heraus beobachteten, ihr folgten. Ein Mann, dessen wissendes Lächeln raubtierhafte Eckzähne entblößte, ein Mann, dessen Gegenwart... sie fröstelte. Ihr phantasievolles Naturell war einfach zu empfindlich für Gerüchte dieser Art! Nein, mit einem I.A.-Wächter wollte sie vorerst lieber keine nähere Bekanntschaft schließen.
Mal abgesehen davon, dass es kein guter Ton war, unerlaubt in jemandes Dingen herumzuwühlen – so etwas schickte sich nicht!
"...Versteht das nicht falsch. Das bedeutet dennoch keinen Alleingang des Wächters. Zusammenarbeit ist unabdingbar für gute Ermittlungen..."
Was für Möglichkeiten gab es denn sonst noch, um an Informationen heranzukommen? Ihre Tanten?
Nicht wirklich. Gut, sie wussten stets mehr vom gesellschaftlichen Geschehen, als beispielsweise den wenigen Zeilen der Zeitungen zu entnehmen war. Aber sie erzählten ungern von sich aus genau die Details, die für Ophelia interessant gewesen wären, vor allem im Hinblick auf den vorliegenden "Fall", und direkt nachzufragen verbot sich schon um des lieben Hausfriedens willen. Überhaupt! Sie konnte ja schlecht durch die Gegend rennen und alle Personen, die mit der Familie Tiara in Kontakt gekommen waren, zum angeblichen "Mord" an Andrea befragen!
Frustriert zog sie einen scharfen Strich quer über das Blatt. Der Wächter vor der Tafel blickte mit gerunzelter Stirn zu ihr hinüber und stockte kurz. Mit einem säuerlichen Grinsen sagte er direkt an sie gewandt: "Natürlich ist diese Spezialisierung nicht für jeden etwas."
Sie lächelte verlegen, legte vorsichtshalber die Hände artig gefaltet vor sich auf die degradierten Krakeleien und täuschte Aufmerksamkeit vor.
Er wandte sich wieder den übrigen Rekruten zu und fuhr fort: "Was Ermitteln bedeutet, hatten wir schon im Zusammenhang mit der Abteilung F.R.O.G. besprochen. Was aber beinhaltet Verdecktes Ermitteln?"
Die Antwort schoss in ihren Sinn und blieb dort überraschend nachhaltig haften: Unauffällige Informationsgewinnung!
Eine Rekrutin meldete sich hinter ihr und sprach Ophelias Gedankengang in anderen Worten aus.
Der lehrende Wächter nickte zufrieden. "Das ist richtig. Unauffällig bedeutet in dieser Spezialisierung allerdings mehr, als nur unaufdringlich. Ein Verdeckter Ermittler sammelt Informationen und Vermutungen ebenso ein, wie Beweise anhand von Briefen, Ikonographien, Tonaufzeichnungen durch Diktierdämonen, sichergestellte Fingerabdrücke oder sonstigen Dingen. Das alles jedoch ohne offensichtlich in Erscheinung zu treten!"
Die mentale Stille des inneren Ozeans der jungen Wächterin wurde von einer sachten Gedankenwelle überquert. Wäre es möglich, dass sie etwas aus dem Unterricht hier für sich mitnehmen und tatsächlich in die komplizierte Praxis ihres privaten Ansinnens umsetzen könnte?
"Ein Verdeckter Ermittler existiert im Grunde bis zum Ende seiner Ermittlungen nicht. Er oder sie wird sozusagen zu einer anderen Person, einer Person vor allem, die nichts mehr mit der Wache und deren Regeln zu tun hat. Der Ander Kaffer-Wächter wird diese Regeln zwar nicht vergessen oder leichtfertig verletzen, ihm sind jedoch zur Wahrung seiner Rolle gewisse Freiheiten in ihrer Umsetzung gestattet, die für andere Abteilungen und deren Angehörige niemals in Frage kämen."
Ein halblauter Kommentar aus der letzten Reihe löste Belustigung aus: "Ist eine gute Spezialisierung für durstige Wächter."
Der Vortragende unterdrückte ein Schmunzeln und winkte ab, wurde dann jedoch unerwartet ernst. "Ist auch eine gute Spezialisierung um schnell abzuleben."
Die Lacher erstarben abrupt.
Der Wächter vor ihnen lehnte sich schwer an das Pult und schwieg bedeutungsvoll, bevor er weiter sprach. "Ein Verdeckter Ermittler bewegt sich in gefährlicher Umgebung und unter Vorspielung falscher Tatsachen. Er lebt in der ständigen Gefahr, entdeckt zu werden. Und was das bedeuten kann, wenn beispielsweise in Zusammenhang mit den Unlizenzierten ermittelt wird, brauche ich wohl kaum in Worte zu fassen?"
Ophelia dachte bei sich, wenn sie solch eine Wächterin würde, und dann verdeckt ermittelte, ließe sie sich niemals entdecken! Die Idee des Verdeckten Ermittelns hatte sowieso etwas für sich. Ob es möglich wäre, dieser Art an nützliche Informationen in Konstantinas Sache zu kommen? Entschlossen schlug sie eine neue Seite auf und begann eine Liste von Personen zu erstellen, die eventuell als Ermittlungsopfer in Frage kamen: Konstantinas Nachbarn und Freundinnen, ihr Vater, andere Verwandte, auch Freundinnen der Mutter, Wächterkollegen.
Die Theoriestunde neigte sich ihrem Ende entgegen und der Wächter vor der Gruppe schloss mit den Worten: "Wer noch weitergehende Fragen zu dieser Spezialisierung hat, kann mich zum Ausgang begleiten. Ich muss zwar dringend zurück, einige Leseempfehlungen hätte ich aber noch. Allen andern wünsche ich einen schönen Nachmittag. Bis nächste Woche."
Ophelia überlegte nicht lange, packte ihre Tasche und eilte dem älteren Wächter auf den Flur nach.

Wache Pseudopolisplatz


Der Rekrut sah seinem Kollegen hinterher, der mal "ganz dringend und auch nur für fünf Minuten" weg musste. Die Ankunft der jungen Rekrutin aus der Kröselstraße war ein fadenscheiniges Argument dafür, denn immerhin brachte diese nur einige Akten und würde andere wieder mitnehmen. Sie hatte gewiss nicht vor, wenn auch nur "kurz", seinen Platz einzunehmen und ihn hinter dem Empfangstresen zu vertreten, um die Anforderung der stets doppelten Besetzung an seiner Statt zu erfüllen. Andererseits schien es Ophelia, als wenn ihr das Schicksal heute hold wäre, so dass sie ihm zumindest nicht widersprochen hatte, als er, sichtlich unter Druck stehend, um die Ecke gerannt war. Der verbliebene Rekrut wandte sich wieder ihr zu.
Die kleine rothaarige Rekrutin sah etwa einen halben Meter in die Höhe und lächelte möglichst unbefangen. "Du bist der Rekrut Kurbel, nicht wahr?"
Der Golem nickte stumm. Seine Schiefertafel lag blank gewischt vor ihm bereit.
"Freut mich, dich kennen zu lernen. Mein Name ist Ophelia Ziegenberger."
Der große Ton-Mann hob seine schwere Hand, nahm das zarte Kreidestück auf und schrieb in überraschend klaren Zügen: "Hocherfreut, Fräulein Ziegenberger!", zeigte es ihr und wischte es wieder mit dem kleinen Wolltuch ab.
Sie musste nun doch offen lächeln. Sie betrachtete ihn eindringlich. Das samtige Braun seiner hellen Haut gefiel ihr, es schien eine angenehme Wärme auszustrahlen, obwohl dies natürlich auch pure Einbildung sein konnte. Auch er sah sie an.
Ophelia erinnerte sich an die vielen Stunden des Grübelns und den beinahe aufgegebenen Wunsch, auch durch ihre Arbeit bei der Wache an Informationen zu gelangen. Sie wollte nicht noch einmal in 'fremden' Akten schnüffeln. Aber vielleicht bot sich hier ja eine legale Möglichkeit an?
"Kannst du mir Informationen zu der Akte Tiara geben?" Etwas nervös war sie schon. Würde er sich ausgenutzt fühlen? Verstünde ein Golem diese Zwickmühle überhaupt? Kannte er Gefühle wie Neugier oder die Neigung, den neuesten Tratsch mit anderen austauschen zu wollen? Würde er später anderen von ihrer Frage erzählen?
Diese Wesen waren zwar für ihre Friedfertigkeit bekannt, aber sie hatte auch von mindestens einem gehört, der fähig gewesen war, zu morden – oder zumindest zu töten. Diesen Unterschied sollte sie wohl machen?
Zudem sah man nicht häufig welche. Normalerweise verrichteten sie ungeliebte Arbeiten im Dunkeln der Erde oder zwischen stinkenden Tierkadavern. Solcher Aufgaben gab es genügend in einer Stadt.

Herr Kurbel schwieg. Irgendeine Art von Prozess hatte hinter seiner Stirn eingesetzt, zu welchem Schluss dieser ihn allerdings führte, ließ sich noch nicht feststellen. Die tönerne Hand nahm wieder die Kreide auf und schrieb in flüssigen Lettern: "Ist das ein Befehl?"
Die junge Frau errötete schlagartig und schüttelte hastig den Kopf. "Nein, nein, kein Befehl." Sollte jemand Anderer, nicht Wohlwollender, dieser 'Konversation' lauschen, mochte man ihr womöglich noch Amtsanmaßung unterstellen. Sie begann schon zu bedauern, dass sie so forsch gefragt hatte.
Der Rekrut vor ihr jedoch schrieb seine nächste Frage auf die dunkle Fläche: "Ist es eine Bitte?"
Sie beruhigte sich wieder und nickte etwas enttäuscht. "Ja, eher das. Vermutlich also kein Grund für dich, mir Auskunft zu geben."
Die Kreide quietschte diesmal leise, bevor sie abgesetzt wurde. "Bist du ein Verdächtiger oder ein Verbrecher, Rekrutin Ziegenberger?" Die dunklen Augenhöhlen mit dem sanften Glühen betrachteten sie gelassen.
Ophelia wurde es etwas mulmig. Wie konnte er nur auf solch eine Idee kommen? Wieder verneinte sie die Frage.
Seine Tafel schien für die nächste Frage zu kurz zu sein, so dass er den ersten Teil zeigen und dann fortwischen musste, bevor er den zweiten anfügte. "Deine Bitte um Informationen zur Akte Tiara... verstößt sie gegen 'andere Regeln'?"
Ophelia überlegte kurz. Sicherlich konnte man diese Bitte als ausgefallen ansehen. Sie gestand sich ja selber einen Zwiespalt der Gefühle ein. Aber eine Regel oder ein Verbot schien es nicht zu geben, wonach man keine Fragen über Akten stellen durfte. So ein Verbot wäre zwar in Anbetracht eines Golems in der Wache vielleicht sinnvoll gewesen, wie sie zu ahnen begann, zumindest im Zusammenhang mit besonders wichtigen Fällen, aber das bereits eines existierte, davon wusste sie nicht. Sie antwortete daher mit reinem Gewissen und vorgetäuschter Überzeugung: "Nein, meine Bitte verstößt gegen keine Regeln und Gesetze...", fügte gedanklich allerdings ein "...so weit ich weiß?" hinten an.
Die Linien bildeten ein helles Muster geschwungenen Auf und Abs auf der Tafel: "Welche Tiara-Akte betreffend fragst du, Rekrutin Ziegenberger?"
Ophelia blickte überrascht auf? "Wie viele gibt es denn?"
Leises Schaben: "Fünfzehn in den letzten dreiundzwanzig Jahren." Lautloses Wischen. Ein wartender Blick der glimmenden Augenhöhlen.
Sie überlegte kurz und antwortete dann: "Ich suche alle Informationen zur Familie Tiara, wohnhaft an der Langen Mauer, vor allem deren Töchter Andrea und Konstantina betreffend."
Schon wollte der Rekrut neuerlich zur Tafel greifen, da unterbrach sie ihn hektisch: "Moment, warte kurz!". Sie kramte in ihrer seitlich am Gürtel hängenden Tasche und reichte ihm schnell ihr Notizbuch mit dem Stift. "Dann kannst du hintereinanderweg schreiben, ohne alles immer wieder fortwischen zu müssen." Sie lächelte ihn unschuldig an.
Er nahm die Utensilien schweigend in die viel zu großen Hände. Dann begann er, aus dem Gedächtnis heraus zu schreiben – auch er hatte während seiner bisherigen Ausbildung offensichtlich schon einige Stunden im Archiv verbracht. Nur war in seinem Fall Einiges mehr hängen geblieben, als nur Staub.
Winzig kleine Buchstaben lösten sich von den geschickten Fingern und füllten eine Seite nach der anderen mit einem so klaren Schriftbild, dass es Großtante Pätrischa eine Augenweide gewesen wäre.
Ophelia spürte Euphorie in sich aufsteigen. Was für ein Glücksfall! Jetzt konnte sie nur hoffen, dass der andere Rekrut etwas länger brauchen würde, als beabsichtigt.
Der Golem schrieb zwar nicht besonders schnell, dafür jedoch ohne Pausen einzulegen. Nach etwa zehn ansonsten ereignislosen Minuten vervollständigte er die Stichwörter mit einem letzten Schwung und reichte sowohl Notizblock als auch Stift vorsichtig über den Tresen hinweg zurück an seine kleinere Kollegin.
Ophelia blickte kurz auf das Geschriebene. "Vielen, vielen Dank, Rekrut Kurbel! Das wird mir sicherlich weiterhelfen. Dankeschön!"
Die Augen schienen für eine Sekunde etwas heller zu glühen. Sie interpretierte es als Freude des Kollegen, ihr weitergeholfen haben zu können.

Gerade, als sie das Notizbuch wieder eingesteckt und die Akten des Pseudopolisplatzes für die Kröselstraße aufgenommen hatte, kehrte der andere Rekrut sichtlich erschöpft und mit rotem Gesicht zurück. "Das war knapp... ich kann euch nur empfehlen, nichts von diesem kleinen Straßenhändler am Hier-Gibt’s-Alles-Platz zu kaufen. Das geht irgendwie jedes Mal in die Hose!" Er wurde noch etwas farbiger im Gesicht und murmelte unbeholfen: "Sozusagen." Mit einem schuldbewussten Seufzer ließ er sich hinter dem Tresen auf den Holzhocker fallen. "Ich hoffe, ich habe euch nicht zu lange warten lassen?"
Die Kreide kratzte leise über die Tafel und hinterließ ein absolut neutrales: "Nein."
Ophelia lächelte übermütig und antwortete: "Das war schon in Ordnung. Wir hatten eine ganz reizende und zudem sehr informative Unterhaltung." Mit einem freundlichen Nicken wuchtete sie den Aktenstapel von der Ablage und machte sich auf den Rückweg ihres Botenganges.

Zwischen den Wachen Pseudopolisplatz und Kröselstraße


Kaum außer Sichtweite des Wachhauses, setzte sie sich an einer günstigen Stelle etwas abseits auf eine niedrige Mauer am Straßenrand. Den Aktenstapel legte sie so neben sich ab, dass kein Windstoß ihm etwas anhaben würde. Mit vor Ungeduld zitternden Fingern kramte sie ihr Notizbuch hervor.
Rekrut Kurbel hatte ihr Informationen zu zwei Akten hinterlassen: offenbar handelte die eine von Andreas Unfall-Tod, während die andere sich mit den Ereignissen rund um Konstantina beschäftigte.
Sie überflog die Stichwörter und versuchte, die Aussagen sinnvoll zu ordnen.
Andreas' Tod war wohl wirklich ein Unfall gewesen. Der Gedanke erleichterte sie irgendwie, wenn sie an das bedauernde Kopfschütteln des armen Vaters dachte, wie er am Tag der Beerdigung von seiner jüngeren Tochter verbal verletzt und dann im Türrahmen stehengelassen worden war.
Sowohl die Aussagen der Familie Tiara, als auch die der Freundesclique stimmten in folgenden Punkten überein: Andrea hatte an besagtem Abend eine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Vater, sie verließ das Haus sofort darauf, er folgte ihr, sie traf sich mit ihren Freunden, wo er sie einholte und zur Rede stellte. Im Verlauf dieses zweiten Streites gebot er ihr strikt, wieder heim zu kommen und fasste sie am Arm, um seinen Worten durch Ziehen Nachdruck zu verleihen.
Die Freunde sagten einhellig aus, selbstverständlich hätten sie an diesem Punkt eingegriffen und wären anschließend gemeinsam mit Andrea zum Haufen abgezogen, ihrem Lieblingsplatz zum 'Abhängen'. Andrea hätte sich zwar noch eine Weile über ihre Familie aufgeregt, wäre dann aber wieder auf den Teppich gekommen. Sie hätten am Feuer gesessen, Wein getrunken und geplaudert. Später dann wären sie zur Mutprobe über die Ruinen-Mauerreste balanciert, dort, wo diese sich unvermittelt und bröckelnd in die Höhe reckten. Ja, auch Andi hätte munter mitgemacht, nein, sie hätte keinerlei Probleme aufgrund des Alkohols gehabt. Sie sei darin immer eine der Besten gewesen. Als alle anderen sich langsam auf den Heimweg gemacht hatten, habe sie Begleitung abgelehnt und lachend erwidert, sie sei ja schließlich kein Baby mehr und auch nicht zum ersten Mal alleine des Nachts in den Straßen unterwegs. Sie wolle noch etwas an der Lagerfeuerglut sitzen und nachdenken.
Henry Tiara sagte aus, er sei nach seinem erfolglosen Versuch die Tochter heim zu holen, in eine der Bars der Gegend gegangen und habe dort zum ersten Mal in seinem Leben einen über den Durst getrunken. Anschließend habe er sich frustriert auf den Heimweg gemacht und am nächsten Morgen, als Andrea noch immer nicht zurückgekehrt sei, eine Vermisstensuche bei der Wache erbeten.
Andrea war noch am selben Vormittag gefunden worden. Sie lag mit eingeschlagenem Schädel an der Mauer, die sie sonst lachend zum Klettern erklommen hatte. Neben ihr lagen die Scherben einer Weinflasche auf dem Boden zerstreut und ihre Kleidung war fleckig von geronnenem Blut und Wein. Der intakte Flaschenhals wies nur ihre Fingerabdrücke auf, Fußabdrücke waren zwischen all den zerwühlten Stellen rund um die Feuerstelle keine mehr zu unterscheiden.
Sie schien, kaum dass sie allein gewesen war, nochmals dem Wein zugesprochen zu haben, stolpernd zur Mauer zurückgekehrt und dort mit verhängnisvollen Folgen noch ein letztes Mal hinauf gestiegen zu sein.
Ophelia ließ all das in ihrer blühenden Vorstellungskraft Revue passieren. Das übermütige hübsche Gesicht, das sich im Fall noch mit einem Ausdruck überraschter Ungläubigkeit überzog. Sie, die nie gefallen war! Das verzweifelte Wedeln ihrer Arme, der Aufprall, das Klirren der zerberstenden Flasche und das hässliche Knacken, als der Schädel des älteren Mädchens am Stein aufgeschlagen war. Sie hatten sogar diesen Stein identifizieren können. Er hatte ihren Fall erst kurz über dem Boden gestoppt und wäre sie nicht gar so unglücklich gefallen, wohl mit einer seitlichen Drehung in der Luft, dann hätte sie jetzt noch unter ihnen weilen können.
Ophelia seufzte traurig. Natürlich hatte es in Folge von beiden Seiten viele Anschuldigungen gegeben. Henry Tiara beschuldigte die ehemaligen Freunde seiner Tochter, an ihrem Tod schuld zu sein. Sie hätten die Mutprobe schließlich zugegeben, sie hätten seine Tochter zum Alkohol und zur Rebellion getrieben. Sie hingegen warfen ihm Mord vor und behaupteten, selbst wenn man ihm offiziell nichts nachweisen könne, da der Wirt seine Aussage bestätigte, wäre er in jedem Fall für die Ereignisse verantwortlich. Sein engstirniges Verhalten und die arrogante Maskerade, die er der Familie aufgezwungen hatte, hätten Andi ins Extrem getrieben. Und darüber hinaus, könne er ja viel behaupten. Gewiss sei er ihnen in Wirklichkeit nachgelaufen, habe sich dann eine Kneipe gesucht und den Wirt der Kaschemme bestochen, damit dieser ihm ein Alibi gebe, man wisse ja, wie so etwas laufe. In Wirklichkeit sei er zurückgekommen und habe Andi umgebracht!
Der ungefähr festgelegte Todeszeitpunkt Andreas' ließ diese Folgerung zu, erst recht, da der Wirt sich auf den exakten Zeitpunkt des Gehens seines Gastes nicht festlegen wollte. Doch der Zeitkorridor für solch ein Verbrechen hätte im Höchstfall, wenn man die Wege berechnete, eine halbe Stunde betragen und ein absolut zielgerichtetes, kaltblütiges Vorgehen vorausgesetzt. Es gab keine Beweise! Und davon abgesehen sprach ja auch die Leiche gegen diese Theorie. Sie war wohl eher von der Mauer gefallen.
Kein Wunder, dass das Verhältnis zwischen diesen Fronten gespannt war und jede Abweichung von der Normalität als Schuldgeständnis erklärt wurde. Eine objektive Aussage wäre wohl von keiner dieser Seiten zu erhalten. Und so war die Akte Andrea als abgeschlossen 'zu den Akten' gelegt worden.
Was Konstantinas Akte betraf, sie stellte die logische Folge zu den vorangegangenen Ereignissen dar. Das Mädchen war erst am Tag von Andreas Auffinden auffällig geworden. Sie war völlig aufgelöst von daheim fortgelaufen, überfordert von der Situation, und stundenlang durch die Stadt gestreunt. Irgendwann hatte sie der Hunger übermannt und ohne Überlegung hatte sie einen Apfel von einem Stand genommen. Sie wurde gefasst und der Wache übergeben, verhört, freigelassen und wieder nach Hause gebracht.
Ophelia erinnerte sich an das blasse, von blonden langen Locken umrahmte Gesicht, an die leblosen Augen, die keinerlei Emotionen mehr spüren mochten. Konstantina hatte ihre große Schwester verloren, zudem noch im Zusammenhang mit einem Unfall, der jegliche Ehre tilgte. Wie sollte sie sich von nun an an Andrea erinnern? Auch wusste sie garantiert von den Verhören des Vaters und den Anschuldigungen der Freunde – innerhalb der Familie war dies sicherlich kein Geheimnis geblieben.
Wieder tauchte das Bild der zwei Schatten im Türrahmen vor ihr auf. Hatte Konstantina irgendjemanden zum Sprechen und sich anvertrauen gehabt?
Ellis Tiara schien in eine Grube des Schweigens gefallen, aus der zu entsteigen sie, selbst ihrer jüngeren Tochter zuliebe, noch nicht bereit wirkte.
Ein Herz, das einsam und richtungslos auf einem Meer der Trauer trieb, mochte empfänglich für Verdächtigungen der schlimmsten Sorte sein.
Die letzte Zeile der säuberlich geschwungenen Schrift besagte, dass die Akte derzeit bei den S.E.A.L.S. lagerte. Eine Nachbarin der Tiaras habe aus falschem Eifer heraus nach der Wache gerufen. Es stellte sich heraus, dass Konstantina gegen Abend in die verwaiste Küche gegangen war, um sich noch spät eine Kleinigkeit zuzubereiten. Aufgrund der zerrütteten Nerven jedoch hatte sie sich dabei mit einem der Messer geschnitten. Natürlich habe es Aufruhr gegeben, den die Nachbarin gehört habe, da Konstantina reichlich geblutet habe, wenn die Wunde auch unbedeutend gewesen sei. Die zwei Wächter vor Ort hatten sowohl Konstantina, als auch deren Eltern zu dem Vorfall befragt und die entschuldigenden Aussagen hatten alles wieder ins rechte Licht gerückt. Gegen Ende der Akte wurde vermerkt, dass Frau Tiara am nächsten Tag, laut Aussage ihres Mannes, mit der Tochter aufs Land gefahren sei, um endlich wieder etwas zur Ruhe zu kommen.
Eine letzte Eintragung in die Akte Konstantinas besagte, dass ein Unbekannter in einem Brief darauf gedrängt habe, die Wache solle den beiden Frauen mit ihren Untersuchungen folgen.
Folgender Vermerk schloss wohl wörtlich die Original-Akte ab:
"Die Familie Tiara seien eine ährbare Familie, die geradigst jätzt nur ihr Ruhe brauchigen. Alle sie haben viel erlebigt in den Tagen zuvorigst und seien von schwachen Nerfen, wie die Ungeschicktheit der Tochter zeigigte. Herr Tiara hat uns übärzeugigenst erklährigt, das seine geliebte Frau und Tochter wohlaufigt seiigen. Auserdäm ist er nicht värflichtigt, weil ja auch kainige Straftat vorligigt, uns den Ort des Aufänthalts seiner Familie zu verratigen, weswegigen diese Akte geschlossigen wurd."
Ophelia schloss langsam ihr kleines Buch mit den gewellten Seiten und dachte nach. Ein Klingeln und Bimmeln setzte ein, dass sie an die vergangene Zeit gemahnte und schnell sprang sie auf, stopfte das Büchlein wieder in die Tasche und nahm den schweren Stapel auf. Hoffentlich war ihr langes Fernbleiben niemandem aufgefallen.

Im G.R.U.N.D.-Fundus


Der Fundus war nicht viel mehr als ein Raum mit vielen Kleiderstangen, Körben und Regalen. An den Wänden beiderseits waren Metallschienen befestigt worden, die etwas in den Raum hineinragten und von der Längswand aus einem gebogenen Schwung nach Vorne folgten. Die obere Reihe dicht befüllter Kleiderstangen hing an Seilen, die über unübersichtliche Schlingen bis zur Decke reichten und einem Pfad folgten, der sie bis zu der Kurbel nahe der Tür führten. Zusätzlich gab es zwei lange Stangen, an deren Enden jeweils ein Metallhaken angebracht war. Mit diesen Haken konnte man die Kleiderstangen der oberen Reihen packen und diese mit etwas Geduld vorziehen. War man zu zweit, so konnte einer nun anhand der Kurbel etwas Seil geben, so dass die Wäscheberge sich absenkten und in die seitlichen Schienen rutschten. Dadurch bildeten sie unten angekommen eine vorgelagerte Reihe. Zwar konnte man sich dann kaum noch drehen und wenden, weil dafür der Platz fehlte, aber man kam an die zusätzlichen Kleider heran.
Die hiesige Sammlung hätte eigentlich nur Anschauungszwecken und zu ersten Übungen dienen sollen. Anfänglich war sie wohl nicht einmal ein echter Fundus gewesen. Dann jedoch hatten sich nach und nach Stücke angesammelt, bei vielen von ihnen wusste man nicht einmal, woher sie stammten, und auch ein Teil der zu häufig genutzten Sachen aus den anderen Abteilungsbeständen war hierher ausgelagert worden. Wer wollte schon mit einer Jacke gesehen werden, die das letzte Mal bei der gründlich schief gegangenen Observierung eines Gildenmitgliedes getragen worden war? Ein Rekrut würde wohl kaum schon zu Anfang gleich in so gefährliche Kreise geraten, dass es wirklich eine Rolle spielte, was er anhatte!
Leider war Ophelia allein im Fundus. Jedenfalls hätte sich die Prozedur der Stangenabsenkung beträchtlich in die Länge gezogen, weswegen sie sich von Anfang an damit begnügte, sich bei den unteren Kleidungsstücken umzusehen. Die meisten Fundusnutzer sahen das wohl ähnlich, denn die entsprechenden Kleidungsstücke wirkten abgenutzter, als die oberen. Aber sie wollte unnötigen Fragen aus dem Wege gehen. Immerhin hatte sie mit dem Hinweis auf eine "Übung" den Fundusschlüssel erhalten. So weit, so gut.
Sie betrachtete die abgeschabten Stellen eines dunkelblauen Kleides. Es hatte so vieles in dem Informationsblatt für Verdeckte Ermittler und dem Leitfaden gestanden. Und dann gab es ja auch noch diese Auflistung der Regeln und die Tipps und Hinweise zum Verkleiden. Sie hatte vorsichtshalber alles gelesen. Aber jetzt, wo sie sich ohne die Hilfe eines erfahrenen Kollegen daran machte, die Theorie in die Praxis umzusetzen, war sie etwas verunsichert.
Daheim hätte sie für diesen Zweck bessere Kleidung gehabt. Aber das schloss sich natürlich aus. Wenn sie erst einmal die Wohnung betreten hätte, würde ihre Mutter keinerlei Argumenten mehr zugänglich sein. Und die wirklichen Beweggründe dürfte sie ihr gegenüber wohl kaum erwähnen!
Sie hielt den dicken wollenen Umhang daneben, der es schon in die engere Auswahl geschafft hatte. Noch einmal seufzte sie, dieses Mal inniger. Es würde reichen müssen. Ohnehin hatte sie ja nicht vor, gesehen zu werden. Sie wollte zuvorderst selber andere beobachten.
Fünf Minuten später trat sie, in dunkle Farben gehüllt, vor den fleckigen Spiegel in der Ecke des muffigen Raumes. Sie zupfte an den Haaren, zog die Nadeln heraus und ließ sie probehalber über die Schulter fallen. Offenes Haar! Das hatte etwas Verwegenes. Wenn Großtante Pätrischa sie so sehen könnte! In alberner Stimmung zog sie schwungvoll den weiten, schwarzen Umhang durch die Luft, warf ihn sich über die Schulter, und blickte mit funkelnden Katzenaugen herausfordernd durch die feurigen Strähnen hindurch ihr Ebenbild an. Sie ließ ihre Stimme tiefer und rauchiger klingen: "Aber, aber! Zu so später Stunde noch in den Gassen dieser rottigen Stadt unterwegs? Fürchtet Ihr Euch denn nicht?" Die Rekrutin wandte sich seitlich und antwortete dem Spiegel mit keckem Augenaufschlag und säuselnder Stimme: "Aber nein, warum sollte ich? Mit einem so ritterlichen Schutz an meiner Seite!" Sie kicherte leise.
Weitere fünf Minuten später hatte sie das Haar wieder sittsam hoch- und festgesteckt, die entliehene Kleidung säuberlich nummeriert in das Ausgangsbuch eingetragen, den Fundus verschlossen, den Schlüssel zurückgelegt, ihre Rekrutenkleidung im Spind verstaut und eine kurze Nachricht an ihre Mutter aufgegeben, dass sie heute erst spät von Arbeit kommen werde. Sie solle sich deswegen keine Sorgen machen.

Lange Mauer, Nummer 22


Es gab nicht viele Möglichkeiten, um sich in einer Straße, wie die 'Lange Mauer' eine war, zu verstecken. Weder Mülltonnen, noch Müllhaufen säumten die Wege. Und Straßenverkäufer waren hier nicht gern gesehen. Als Ophelia sich von der Kröselstraße aus auf den Weg gemacht hatte, war es dunkler geworden. Sie wickelte sich noch etwas fester in den schwarzen Umhang und trat gänzlich hinter den wuchtigen Eckpfeiler in der Ummauerung des Hauses gegenüber der Nummer 22.
Gerade eben, in dem Moment ihrer Ankunft, hatte sie Herrn Tiara das Haus verlassen gesehen – und so lange für die Entscheidung gebraucht, ihm zu folgen, dass sie ihn auch schon wieder aus den Augen verloren hatte! Was für eine peinliche Situation! Sie durfte gar nicht daran denken, wie ihr kritisches Selbsturteil ausgesehen hätte, wäre dies ein offizieller Einsatz gewesen! Inzwischen hatte sich ihre Aufregung etwas gelegt. Dennoch...sie war so motiviert gewesen, so davon überzeugt, das Richtige zu tun. Und davon, dass es heute getan werden musste, ohne Aufschub. Das konnte doch nicht umsonst gewesen sein. Etwas hatte heute noch zu geschehen!
Ophelia entschied sich, wenn sie denn schon hier sei, zumindest die Nachbarn vorsichtig zu befragen.

Sie klingelte und wartete nervös auf eine Reaktion. Tatsächlich öffnete eine freundliche Dame um die Lebensmitte herum ihr. "Ja, bitte?"
Die junge Frau blickte mit großen Augen auf, es fiel ihr wesentlich schwerer als erwartet, selbstsicher zu klingen. "Guten Abend, Frau von Kleinodhupfen. Mein Name ist Maja Degenheim und ich wollte eigentlich zu Konstantina Tiara, hier nebenan." Sie atmete tief durch, um das unterschwellige Zittern und die hastige Nervosität aus der Stimme zu bekommen. "Es tut mir leid, wenn ich Sie so spät noch störe, das ist sehr unhöflich von mir, ich weiß, es ist nur so, dass auf dem Weg einiges Unerwartetes dazwischen kam. Dennoch... ich war mit Fräulein Konstantina verabredet, wegen der Handarbeitsstunde in der nächsten Woche, kann nun aber niemanden erreichen. Die Verabredung war fest zugesagt und für mich nicht unbedeutend, so dass ich mir das nicht erklären kann. Vielleicht ist etwas geschehen, von dem Sie wüssten?"
Frau von Kleinodhupfen blickte skeptisch zur Tür der Tiaras hinüber, keine fünf Meter von der ihrigen entfernt. "Es ist in der Tat schon sehr spät, junges Fräulein. Ihre Eltern sind gewiss nicht darüber erfreut, so noch draußen zu wissen." Der sondierende Blick, der sich ihr zuwandte, wollte nicht so recht zum ansonsten eher unbedarften Gesamteindruck passen. "Sind Sie mit Konstantina befreundet? Ich habe Sie noch nie hier gesehen?"
Ophelia spürte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Das setzte ihr mehr zu, als der Abend ihrer Einführung in die Gesellschaft. Gut, damals waren nur Verwandte zugegen gewesen aber sie hatte eine kurze Ansprache als Dankeschön für deren Kommen vortragen müssen. Sie erinnerte sich an die Stunden davor, in denen sie das Lächeln geübt hatte, bis es wie festgenagelt in ihren Mundwinkeln hing – und auch so schmerzte. Sie konnte genau das gleiche Lächeln in diesem Moment einrasten spüren.
Unvoreingenommene, vertrauensvolle Unschuld strahlte der Dame im Türrahmen entgegen. "Ja, ich bin sehr gut mit ihr befreundet. Normalerweise kommt Konstantina allerdings zu mir zu Besuch."
Solch ein Lächeln wurde reflexartig erwidert. "Ach, das ist ja schön, mein Kind! Wissen Sie, ich hatte schon befürchtet, dass sie keine Freunde hätte, wo doch nach der Beerdigung nie... Nun ja." Sie hatte sich mit einem schnellen Blick zur nebenan liegenden Tür unterbrochen. "Wie dem auch sei... Es ist also niemand da?"
Ophelia schüttelte sichtbar niedergeschlagen den rothaarigen Schopf.
Die gutmütige Nachbarin rang die Hände und seufzte dann ungewollt. "Es war sicherlich keine Absicht, dass sie dir keine Nachricht hinterließ. Lady Tiara ist mit ihrer Tochter für einige Zeit aufs Land gefahren. Ich nehme an, dass sie erst in einigen Wochen wieder zurück sein werden. Hoffentlich ist irgendeine Alternative wegen euerer Verabredung möglich? Du musst wissen, sie waren wirklich sehr in Eile. Sie haben gewiss nicht daran gedacht."
"In Eile? Für einige Wochen fort? Aber sie hatte mir gegenüber doch keinerlei Reiseabsichten geäußert! Sie hätte mir doch..." Ophelia war sich sicher, dieses Mal genau den richtigen Ton getroffen zu haben.
Die freundliche Dame war dann auch sehr bemüht, vertretend um Verständnis zu bitten. "Oh, wirklich. Diese Pläne müssen sich erst sehr kurzfristig, um nicht zu sagen spontan, ergeben haben. Ich nehme an, aufgrund der öffentlichen Anteilnahme und all dem. Und dann auch noch die Sache mit..." Ihre Wangen röteten sich von einer Sekunde auf die nächste und Schuld stand in ihren Augen. "Ich habe dann auch noch die Wache gerufen, ich Unglücksselige, wo es doch nur ein kleiner Unfall war, und alles noch schlimmer gemacht, als es eh' schon war. Wo sie doch so viel Pech hatten in letzter Zeit! Aber die Nerven! Wirklich... das war alles sehr viel für Ellis. Selbst ich bin von all dem mitgenommen und mich betrifft es ja nur am Rande! Machen Sie sich keine Sorgen, Kindchen. Mir hatte Ellis auch nicht abgesagt – Ihre beste Freundin, Margot Marrakesch, war die einzige, die unterrichtet war. Ich habe auch nur von Margot erfahren, dass unser Strickkränzchen diese Woche ausfallen muss. Die Erholung kann den beiden nur gut tun. Und sicherlich erhalten Sie in den nächsten Tagen schon einen schönen Brief von Konstantina." Sie blickte aufmunternd aus den blaugrün gesprenkelten Augen und erwartete eindeutig ein zustimmendes Nicken. Sie wurde nicht enttäuscht.
"Sicher. Wenn Sie das sagen, Frau von Kleinodhupfen..."
Diese lächelte warmherzig. "Natürlich. Sie wird eine gute Freundin nicht vernachlässigen."
Mit einem zaghaften Unterton in der nun gänzlich kontrollierten Stimme setzte sie zur letzten Frage an: "Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie um die Adresse von Lady Marrakesch bäte?" Schnell, ehe ein falscher Eindruck entstehen konnte, fuhr sie fort: "Es ist nur wegen der Handarbeit, wissen Sie. Das liegt mir wirklich am Herzen und so kurz vor der monatlichen Waisenhausaktion wäre es wirklich zu schade... Vielleicht hat sie ja wenigstens daran gedacht, vor der Abreise bei ihrer Ladyschaft etwas für mich zu hinterlegen? Wenigstens eine kurze Nachricht?"
Bei der Erwähnung der gemeinnützigen Unterstützung eines Waisenhauses durch die beiden Mädchen wurde der Blick noch etwas weicher. "Natürlich, mein Kind. Komm doch kurz herein, dann schreibe ich dir einen Zettel mit ihrer Adresse, ja?"
"Gerne, Frau von Kleinodhupfen, vielen Dank!"
Die gutherzige Frau war schon beiseite getreten und hielt die Türe weit auf.

Im Hause Lady Marakeschs


Ein letztes Mal verglich sie die handgeschriebene Adressangabe des kleinen Zettels mit dem verschnörkelten Straßenschild aus Blech, das über ihr hing. Das Haus dort musste es tatsächlich sein. Ophelia trat langsam näher. Niemals würde man sie dort um diese Zeit noch empfangen!
Wenn Großtante Pätrischa auch nur geahnt hätte, dass sie sich anschickte die 'Schwarze Witwe' zu besuchen... wie hatte sie nur vergessen können, dass Lady Marakesch und "die liebe Margot", von der ihre Großtante zwar oft sprach, zu der sie allerdings ihrerseits aufgrund gewisser gesellschaftlicher Unterschiede kaum Kontakt bekam, vermutlich die Selben sein würden?
Lady Marakesch hatte nie dermaßen Wert auf den Segen der höheren Schicht gelegt, wie Ophelias ältere Verwandte dies tat. Sie hatte, so munkelte man, nicht zugunsten zweifelhafter Ehrbezeugungen auf den Umgang mit früheren Bekanntschaften verzichtet – es dafür aber viel weiter an die Spitze eben jener Gesellschaft geschafft. Weder sie selber, noch ihr Mann, hätten es, wie alle wussten, nötig gehabt, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dennoch war er erst kürzlich seiner heimlichen Passion erlegen - ein Arbeitsunfall. Offiziell war zwar von einem Jagdunfall die Rede, die Gerüchteküche wusste aber von ansehnlichen Beträgen der Witwenrente aus dem Fond der Assassinengilde zu berichten, so dass Lady Marakesch nicht nur finanziell augenblicklich mit dem Tod ihres Mannes ausgesorgt hatte, sondern auch mit allen Ehren in die letzten, ihr bis dato verschlossenen, Bereiche der Gesellschaft eingelassen worden war, die sie interessiert hatten. Ein Ereignis, das zu seinem Bekannt werden verächtlich erhobene Augenbrauen der Großtante und den vom Kurier verliehenen Spitznamen zur Folge hatte.
Ophelias Blick wanderte zweifelnd über die zurückgesetzte weiße Front mit den hohen Fenstern, hinter denen man die schweren Samtvorhänge üppige dunkle Falten werfen sah, über die geschwungene Freitreppe, die zu dem säulengestützten Vordach und der schwarzen Ebenholzpforte mit dem eisernen Klopfer empor führte. Die sorgfältig gestutzten zwei Kübelbüsche links und rechts der Tür waren im Dunkel der hereingebrochenen Nacht nur mehr zu erahnen. Vereinzelt war sanfter Kerzenschimmer durch die Vorhangritzen zu sehen.
Sie konnte hier nicht einfach anklopfen, eine lächerliche Geschichte über Freundinnen erzählen und dann eine hilfreiche Auskunft erwarten! Wenn sie sich zu ungeschickt anstellte, mochte sogar ein Kollege gerufen werden!
Sie überlegte verzweifelt hin und her. Wenn den zwei Frauen der Tiara-Familie wirklich etwas geschehen war, dann wäre ein Aufschub unverzeihlich gewesen. Wenn nicht, so eher ihr Auftritt. Der nächste Tag würde voll von Verpflichtungen sein und sie konnte nicht schon wieder jemanden zum Schichttausch überreden. Auch würde sie nicht vor Ende der Woche zu einer 'passenden Zeit' erscheinen und die Aufwartung machen können – es fiel ihr schon daheim schwer, die Arbeitszeiten auch nur annähernd mit den Teezeiten zu vereinbaren und dort hatte ihre Mutter wenigstens damit begonnen, ihr ein Service bereit zu stellen, wenn es arg knapp wurde! Und wer würde ihr nach über einer Woche Abwartens noch echte Sorgen um das Wohl Konstantinas glauben?
Sie rang mit sich und ihren Befürchtungen.
Das Haus stand doch schon vor ihr, sie müsste nur noch klopfen!
Vielleicht würde man sie sowieso nicht zu Wort kommen lassen – egal, wann sie erschiene.
Sie seufzte tief, setzte sich in Bewegung, erklomm die polierten Marmorstufen und schmetterte den schweren Metallring der Tür drei Mal gegen die dahinter liegende Schutzplatte. Ein Licht fiel durch die schmalen Buntglasfenster in und neben der Eingangstür und die Tür wurde von einem Krüppel in Livree geöffnet. "Fie wünfen?"
"Mein Name ist Maja Degenheim und ich bitte untertänigst um Verzeihung für die späte Störung. Eine Bekannte und Nachbarin Ellis Tiaras, Frau von Kleinodhupfen, hat mir Lady Marakeschs Adresse genannt. Es geht um eine dringende Angelegenheit im Zusammenhang mit Konstantina Tiara. Ob es wohl unter Umständen noch möglich wäre, von ihrer Ladyschaft empfangen zu werden?"
Der Igor ließ sich den Widerwillen fast nicht anmerken, auf den diese Bitte stieß. "Ihre Ladyfaft empfängt um diefe fpäte Ftunde keine Besucher mehr. Fielleicht könnten Fie morgen zu einer günftigeren Feit noch einmal erfeinen?"
Ophelia schüttelte vage mit brennend roten Wangen den Kopf, ihre Stimme ließ auf extreme Nervosität schließen: "Ich habe leider gerade heute keine Visitenkarte bei mir aber vielleicht könnten Sie Ihr wenigstens ausrichten, dass ich hier bin? Ich möchte auch wirklich nicht lange stören, nur eine kurze Frage..." Ein kleiner, sehr neugieriger Teil ihres Gehirns beschäftigte sich damit, warum der Bedienstete, bei all den kunstvollen Narben dieses abstrakten Musters in seinem Gesicht, keinen Wert darauf gelegt zu haben schien, die tiefen Furchen der graueren Hautpartien zu glätten?
Der Blick ihres Gegenübers schielte beinahe herablassend an ihr vorbei, als er sie zum Eintreten aufforderte. "Bitte gedulden Fie fich einen Moment. Ich werde Fie Ihrer Ladyfaft ankündigen."
Ophelia trat ein und die große Eingangshalle schlug sie in ihren Bann, so dass sie das Verschwinden des Bediensteten nicht einmal mitbekam. Der gekachelte Boden, die breite Treppe rechterhand mit dem dicken Steingeländer, die Galerie im oberen Stockwerk, die sich zur linken Wand hinüberzog, darunter die weit geöffnete Flügeltür in den Empfangssalon. Gerade hatte sie ihren Umhang dem beflissenen Dienstmädchen gegeben, als der Butler unerwartet hinter ihr stand: "Ihre Ladyfaft wird heute niemanden mehr empfangen. Sie läfft aufrichten, daff fie morgen fum Fehn-Uhr-Tee im Hause oder anschliefend fum Aufritt im Hide Park anfutreffen fei."
Das junge Dienstmädchen hielt inne und den Umhang unauffällig bereit.
Ophelia sah nervös zur Galerie hoch. "Bitte... wenn Sie ihr ausrichten könnten..." Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie hatte nicht vorgehabt, in diesem Haus dumme Geschichten über Waisenhäuser und Handarbeiten aufzutischen. Aber sie hatte dummerweise auch diese Situation nicht vorausgesehen. Aus irrationalem Gedankengang heraus hatte sie irgendwie immer geglaubt, der Hausherrin persönlich zu begegnen und anhand ihrer Reaktionen erahnen zu können, inwieweit diese von Frau Tiara ins Vertrauen gezogen worden war. Was konnte sie nur sagen, dass nicht gar zu lächerlich klang, das irgendwie plausibel war? "Mir wurde gesagt, dass sie eventuell über den Aufenthaltsort Konstantina Tiaras informiert sei, und es geht doch um... die Handarbeiten... und die Aktion im Waisenheim..." Sie suchte nach den richtigen Worten, schien aber keine zu finden. "Vielleicht könnte Sie mir nur die Adresse nennen, die Konstantina zu erwähnen vergaß, damit ich mich selber mit ihr in Verbindung setzen kann?"
Der Igor sah sie nun eindeutig missbilligend an, drehte sich um und war mit einem gegrummelten "Ich werde Ihr diefe Nachricht übermitteln. Wenn Fie fich bitte nochmalf einen Augenblick gedulden würden.", auch schon wieder verschwunden.
Ihr Besuch im Hause Marakesch endete keine fünf Minuten später. Der Diener deutete dem immer noch bereitstehenden Mädchen an, dem Gast seinen Überwurf zu geben. "Ihre Ladyfaft läfft aufrichten, daff dief wirklich eine ungünftige Ftunde für einen Befuch fei, Fie aber gerne morgen zur offifiellen Befuchffeit wieder forfprechen dürfen. Waf die Dame Tiara und deren Tochter anginge, könne Fie allerdingf auch nift fiel weiterhelfen, da diefe derfeit fur Kur gefahren find." So etwas wie ein schadenfrohes Glitzern tauchte in den schielenden Augen auf, wich aber nahtlos einem ausdruckslosen Schauen, als er hinzufügte. "Darüber hinauf drückt Ihre Ladyfaft ernfthafte Fweifel an Ihrer Aufrichtigkeit aus – Konftantina Tiara habe sich bifher weder für Waifen, noch für Handarbeiten intereffiert!"
Ophelia wäre am liebsten in einen Strudel zu ihren Füßen versunken. Stotternd nahm sie den Fundus-Umhang entgegen: "Es... es t-tut m-mir leid, dass ich zu so später... ich meine... natürlich hätte ich bis morgen..."
Der Bedienstete geleitete sie schweigend zum Ausgang.
Sie murmelte immer leiser in die peinliche Stille: "S-sehr f-freundlich, von Ihrer Ladyschaft... dann also... bis morgen, nehme ich an... also... es muss wohl so l-lange w-warten?"
Die Tür schloss sich mit einem schweren Schnappen hinter ihr und Ophelia kam sich wie eine schäbige Hausiererin vor, die man bei einem Einbruch ertappt hatte. Sie wandte sich der Nacht zu, seufzte tief und machte sich auf den Rückweg zur Wache. Schließlich wollte sie nicht auch noch aufdringliche Fragen zur Kleiderwahl beantworten, sondern lieber an diesem Abend alles was möglich war wieder gerade rücken.
Der Besuch war ein Reinfall gewesen. Offensichtlich war ihre ungeschickte Tarnung aufgeflogen. Sie konnte nur froh sein, dass Lady Marakesch nichts von ihrer wahren Identität wusste!
Die junge Frau bemerkte nicht den Schatten, der sich kurz darauf von dem hinter ihr liegenden Haus löste und jeden ihrer nächtlichen Schritte zu verfolgen begann.

Zu Hause


Die Beine taten ihr weh. Den ganzen Tag war sie unterwegs gewesen und auch wenn diese Stiefel ihre Füße nicht ebenso unbarmherzig umschlossen wie die normalerweise getragenen Schuhe, waren die Schmerzen nach einigen Stunden höllisch. Die Wächterstiefel waren ungewohnt schwer und deren harte Lederkanten scheuerten auch nach oftmaligem Tragen an der Haut, was sie von ihren weichen Wildlederstiefelchen nicht gewohnt war. Außerdem fehlten die hohen Absätze, was eine komplett andere Fußstellung bedeutete. Die Knochen schienen sich jeweils nach den ersten zehn Minuten in den schweren Stiefeln neu anzuordnen, regelrecht zu verschieben, ungeachtet der Sehnen und Bänder um sie herum. Ophelia biss die Zähne zusammen und verlagerte vorsichtig das Gewicht auf die vorderen Ballen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie konzentrierte sich darauf, die aufflammenden Waden zu ignorieren. Immerhin lag dieser Tag fast hinter ihr und sie konnte gleich ins Bett fallen, um noch einige Stunden Schlaf zu tanken.
Vorsichtig öffnete sie die Wohnungstür. Märrie hatte die Öllampen an der Eingangstür auf kleinem Docht als Nachtlichter brennen lassen.
Die Rekrutin putzte ihre Schuhsohlen auf der großen Matte ab. Ihre Augen glitzerten etwas mehr und sie sog schmerzhaft die Luft ein. Nun gut... es würde genügen, die Schuhe hier für Märrie abzustellen. Eben hatte sie sich dazu gebückt, die Schnüre zu öffnen, als sich vor ihr etwas regte. Eine rothaarige Frau ragte unvermutet auf, die Arme vor dem Körper verschränkt. Sie trug ein seidenes Nachtgewand aus mehreren Schichten, ein Haarnetz und einen eisigen Gesichtsausdruck. "Was hat das zu bedeuten, mein Fräulein!" Die Stimme war leise, doch drohend.
Ophelia richtete sich schuldbewusst wieder auf. "Ich hatte Dir eine Nachricht zukommen lassen. Ist sie etwa nicht ange..."
Kathrine Ziegenberger schnitt ihr erbarmungslos das Wort ab. "Willst du mich etwa tatsächlich mit einer derart profanen Ausrede abspeisen, Fräulein? Mit einer flüchtigen Notiz? Mich? Deine Mutter!" Sie hatte bei diesen Worten nach und nach lauter gesprochen, so dass sie nun in normaler Zimmerlautstärke sprach. "Ich habe ja wohl mehr verdient als einen kleinen Zettel!"
Ophelia war überrascht. Selbst als sie ihren Eltern die Entscheidung, zur Wache zu gehen, in reizbarer Stimmung bekannt gab, und regelrecht auf einen noch nie da gewesenen Familienkrach gehofft hatte, war das missbilligende Schweigen ihrer Mutter lediglich der eisigen Missachtung für solcherlei Kindereien gewichen. Es hatte viele Sticheleien, Abfälligkeiten, Bedenken und offenen Widerwillen gegeben. Es fielen oft Sätze wie "Sie wird sich das noch mal überlegen.", "Das letzte Wort wird es ja wohl nicht sein." oder "Das sind unvernünftige Kindereien." Aber keine harschen Worte oder Verbote. Sie erlebte nun zum ersten Mal in ihrem Leben, dass etwas ihre Mutter dazu brachte, deren Haltung aufzugeben. "Aber ich habe doch eindeutig geschrieben, dass es spät..."
"Unterbrich mich nicht!" Die Mutter schnitt mit einer abrupten Geste ihrer Handkante durch die Luft zwischen ihnen und durch die heftigen Bewegungen begannen sich einzelne Haarsträhnen aus dem Netz zu lösen. "Ich bin immer noch deine Mutter, Ophelia! Und ich gestatte es dir unter gar keinen Umständen, hörst du, niemals, um solch eine Zeit ohne standesgemäße Begleitung auf den Straßen unterwegs zu sein!"
Die Tochter in Ophelia spürte Trotz aufsteigen, die Wächterin jedoch Belustigung. Was bildete ihre Mutter sich denn ein? "Ich weiß sehr wohl, dass du meine Mutter bist – Mutter."
Kathrine Ziegenberger wollte schon aufbrausen, ob der spottenden Anrede, doch dieses Mal wurde sie ihrerseits von der Tochter unterbrochen.
"Aber ich habe dich völlig korrekt darüber informiert, noch in einer Angelegenheit der Wache unterwegs gewesen zu sein! Ich war das erste Mal zu solch einer Stunde draußen, ja, aber gewiss nicht das letzte Mal! Das gehört dazu!"
"Ophelia!" Der unterdrückte Aufschrei ihrer Mutter kündete von blankem Entsetzen. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie zitternd auf dem dunkel polierten Parkett. Die Dochte waren weit zurück gebrannt, so dass die Flammen rußend zu blaken begannen. Licht und Schatten huschten flackernd über die sich so ähnelnden Gesichter. "Ophelia...", flüsterte sie wieder. "Du vergisst dich! Du machst uns Schande! Du... du bist eine Tochter aus gutem Hause, keine gildenlose Stadtstreicherin!"
Der unterschwellige Groll der Tochter, sprang nun auch auf die bisher eher gelassene Wächterin über. Sie zog düster die Brauen zusammen, ihre Stimme ebenfalls eher ein warnendes Flüstern. "Die Wache ist jetzt ein Teil meines Lebens, ob es dir gefällt oder nicht! Ich werde so oft ich muss und so oft ich will nachts durch die Straßen laufen und meistens sogar in Begleitung, wenn es dich beruhigt. Aber ganz sicher hat das dann nichts mit Anweisungen deinerseits zu tun. Und ich würde dir dringend raten, das schnellstmöglich zu akzeptieren!"
Die schlanke Frau vor ihr schnappte fassungslos nach Luft und zwinkerte schockiert. "O... Ophelia!" Sie brauchte einen Moment um sich so weit fassen zu können, dass sie wieder einen Ton heraus brachte. "I... Ich verbiete dir, so mit mir zu reden!" Und nach einer weiteren Sekunde fügte sie in gallebitterem Tonfall hinzu: "Das ist nur die Schuld dieser Männer! Die Arbeit dort wird dich ruinieren, sie wird all deine Manieren zerstören und dir die Ehre nehmen! Hör dich nur reden! Ich habe es gleich befürchtet, ich habe es gewusst! Das ist kein Umgang für ein Mädchen – Verbrecher und Schufte, ehrlose, raue Kerle, denen kein anderer Unterschlupf übrig blieb! Was wird nur aus meinem kleinen Mädchen - eine Dirne!"
"Das reicht! Ich muss mir das nicht länger anhören! Du hast nicht die geringste Ahnung davon, wie es auf der Wache wirklich zugeht oder wie die Menschen dort sind, du... du saugst dir irgendwelche Geschichten aus den zusammen gesponnenen Schlagzeilen irgendwelcher Zeitungen oder den tratschsüchtigen Mäulern unterbeschäftigter Frauen und nimmst sie deswegen Wort für Wort für bare Münze, weil sie deinen Theorien so gut zu Pass kommen..."
Die Mutter fasste sich mit einem schrillen Aufschrei an die Kehle. "Zielst du etwa auf Amalgam ab? Deine Großtante hat sich in ihrem ganzen Leben nichts zuschulden kommen lassen!"
Ophelia lachte bitter auf. "Außer zu tratschen? Nein, bestimmt nicht. Großtante Pätrischa hat ja sonst auch kaum etwas getan!"
Diese ungerechtfertigte Beleidigung weckte bisher unangetastete Reserven und in loderndem Zorn zischte Ophelias Mutter mit strikt ausgestrecktem Arm zum Zimmer ihrer Tochter: "Das reicht! Wie kannst du es wagen! In dein Zimmer und mir aus den Augen. Ich will dich nicht mehr sehen bis zum Mittagessen morgen!"
Die Wächterin in ihr horchte auf und mit fast ruhigem Tonfall antwortete sie, ohne sich vom Fleck zu rühren: "Dir ist schon klar, dass ich morgen nicht bis mittags auf der faulen Haut liegen kann? Ich werde auch morgen wieder zur Arbeit gehen und dazu logischerweise aus dem Zimmer kommen müssen?"
Ein unsichtbares Unwetter schien im Korridor aufzuziehen und sich mit elektrischen Entladungen über ihren Köpfen zusammenzuballen. Die zierliche Frau im Nachtgewand deutete noch immer vor Wut zitternd in Richtung des Korridors hinter sich. "Sofort, sagte ich! Und du wirst nie wieder zu diesen Männern gehen – du hast ab sofort Stubenarrest!"
Ophelia hörte plötzlich all die kleinen Geräusche der Nacht überdeutlich. Das entfernte Bellen eines Hundes, das Scheppern eines metallenen Tonnendeckels auf dem trockenen Kopfsteinpflaster einer Straße, das Knarren einer Diele im Nebenraum, das leise Atmen hinter den Türen und den aufgebrachten Atem ihrer Mutter. Graue Augen wurden zu giftigen Schlitzen. Das war es also gewesen, ausgesprochen, was sie ihr seit Wochen am liebsten ins Gesicht geschleudert hätte. Sie spürte den Groll einem frostigen Kalkül weichen und schritt, ohne ihre Mutter eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen, hoch erhobenen Hauptes an ihr vorüber. Sie schloss die Zimmertür hinter sich mit einem Knall, der alle unsicher lauschenden Ohren in den übrigen Räumen zurückzucken ließ.

Wache Kröselstraße


Alle Blicke wandten sich ihr zu. Sie wich ihnen aus, murmelte ein halbherziges "Tschuldigung, hab' verschlaf'n.", und eilte zum letzten freien Platz in der zweiten Reihe. Breda warf ihr einen sondierenden Blick zu, sagte aber nichts. Irgendjemand frotzelte: "Im Rekrutenschlafsaal wäre ihr das nicht passiert!".
Der heute zur Ausbildung abkommandierte Wächter war stattlich und ungewöhnlich korrekt gekleidet. Sein Kinn war glatt rasiert und seine blonden Haare ebenso gepflegt wie seine gebügelte R.U.M.-Uniform. "Rekrutin Ziegenberger, nehme ich an?"
Sie nickte schlecht gelaunt. "Ja, Sir."
Er beugte sich über ein dickes aufgeschlagenes Buch und notierte sich etwas darin. Dann fuhr er, als wenn nichts gewesen wäre, in der Theoriestunde fort. "Im Wesentlichen kann man also zusammenfassen, dass unsere Kollegen der 'Dienststelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten' über ausführliche Informationen zu den diversen Gildeninterna verfügen und im Fall der Fälle die korrekten Ansprechpartner für euch darstellen. Während eurer G.R.U.N.D.-Ausbildung natürlich noch über die Abteilungsleitungen. Immerhin könnte es ja sein, dass ihr euch etwas verschätzt und da ist es besser einen Vorgesetzten darüber entscheiden zu lassen, wie das weitere Vorgehen mit einem Verdächtigen aussehen sollte. Nicht, dass es zu viel Durcheinander gibt." Der erfahrene Wächter beugte sich wieder kurz über den schweren Wälzer und notierte sich etwas.
Ophelia erinnerte sich. Ach ja, heute handelte der Unterricht von den Gilden und ihrer Rolle in Strafjustiz und Strafvollstreckung Ankh-Morporks. Dann musste der Wächter dort vorne Nemott oder so heißen? Wie auch immer.
Er stellte die Frage nach den Zuständigkeiten und Ophelia schreckte regelrecht beiseite, als neben ihr der Arm der Freundin in die Höhe schnellte.
"Rekrutin Krulock!"
Bredas Augen leuchteten in diesem irreführend samtigen Braunton, als sie antwortete: "Für den Tatbestand Totschlag übernimmt die Assassinengilde die Akten zur weiteren Bearbeitung. Oder zumindest Kopien dieser Akten."
"Das ist richtig..." Wieder notierte er sich etwas.
Ophelias ohnehin schlechte Laune sank in den Keller. War er etwa einer dieser Vorgesetzten, die sich jedes kleinste 'Vergehen' notierten? Dann hätte sie bei ihm schon jetzt alle Chancen auf Wohlwollen vertan. Sie rutschte etwas tiefer auf ihrem unbequemen Stuhl.
Neben ihr bemühte sich die Vampirin um Aufmerksamkeit, doch Ophelia hatte heute keine Lust auf Konversation. Das hätte bedeutet, dass sie die Gründe für ihre dunklen Augenringe oder die Schürfwunden an den Händen hätte erklären müssen. Breda hatte diese natürlich längst entdeckt. Ophelia wusste, wie unsinnig es gewesen wäre, das zu bezweifeln, dazu kannten sie sich schon zu gut. Sie schlug stattdessen ihr geliebtes Notizbuch auf und begann, lustlos darin herum zu krakeln.
Die unauffälligen Handzeichen neben ihr verebbten.
Ophelia malte Gitterstangen und Flügel. In Gedanken wütete sie gegen ihre Mutter. Was für eine unglaubliche Dreistigkeit, sie in ihren eigenen Räumen einzusperren! Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass ihre Mutter sich derart niederträchtig verhalten könnte! Natürlich ließ sie sich das nicht gefallen! Wenn Kathrine gedacht hatte, ihre eigensinnige Tochter dadurch aufhalten zu können, dann hatte sie sich aber gründlich geirrt. Ophelia entdeckte nicht nur an ihrer Mutter neue Wesenszüge, sondern ebenso an sich selbst. Mit aufgeregtem Stolz hatte sie ihre Rekrutenuniform an diesem Morgen angezogen, ihr Haar festgesteckt und den Gürtel mit den wichtigsten Dingen geschnürt. Sie hatte ihre noch immer verschmutzten, schweren Stiefel an den Senkeln zusammengebunden und sie sich über die Schulter gehangen, das Fenster geöffnet und nach Haltepunkten an der Außenwand des mehrstockigen Hauses Ausschau gehalten. Ein Glück nur, dass ihr Räume nicht zur Vorderseite hinaus zeigten.
Mit Genugtuung erinnerte sie sich der waghalsigen Kletterpartie über das kleine Simsstück vor ihrem Fenster bis zur Regenrinne. Von dort an war das Klettern nicht schwer gewesen. Aber sie hatte tausend Ängste ausgestanden bei der Frage, wie stabil die Befestigungshaken sein mochten. Die juckenden Schrammen an den Fingern und den Handgelenken sah sie zwar als exzentrische Trophäen an, erklären wollte sie das alles aber im Moment niemandem. Wenigstens tat es gut, sich das verblüffte Gesicht der Mutter vorzustellen, wenn diese gegen Mittag nach ihr sehen würde!
Die Stimme des blonden Wächters drang wieder bis zu ihr durch. "Das stimmt natürlich. Andererseits muss man bedenken, dass die meisten Gilden von Personen mit einem exzellenten Geschäftssinn geführt werden. Und tote Verurteilte dürften nur wenig Profit bringen, nicht wahr? Es gibt wesentlich effektivere Möglichkeiten, mit schwarzen Schafen in den eigenen Reihen umzugehen."
Ein mächtiges Knirschen kündigte einen Beitrag des Trolls Tuffstein an. "Was sein mit Kaputtmachen von Sachen? Wer zuständig sein?"
Der Vortragende lächelte unwillkürlich. "Eine gute Frage, Rekrut." Er wandte sich mit seiner Antwort allen zu, nachdem er wieder kurz in sein Buch geschrieben hatte. "Natürlich kann es sein, dass auch Sachbeschädigungen in die Zuständigkeit einer Gilde fallen. Beispielsweise möchte ich nicht in der Haut desjenigen stecken, der zur Beschädigung einer Schmugglerware beigetragen hat. Aber von solch eindeutigen Fällen mal abgesehen... Sachbeschädigung gehört, mit dem Tatbestand der Körperverletzung, zu den zwei großen Bereichen, deren Tatverdächtige, mangels zuständiger Gilde, direkt an die Palastwache übergeben werden können." Er lächelte wieder, denn die bedeutungsvollen Blicke seiner Schüler waren ihm nicht entgangen. "Richtig. Unter Umständen wird sich seine Lordschaft persönlich solcher Fälle annehmen. Wenn er die Zeit dafür erübrigen möchte. Meistens wird er sich jedoch von einem seiner Sekretäre vertreten lassen. Aber so weit ich weiß, behandelt ihr das Thema 'Gerichtsverhandlung' erst etwas später. Gibt es sonst noch Fragen?"
Die Rekruten dachten mit Vorfreude an die ausnahmsweise etwas längere Pause im Anschluss an diese Unterrichtseinheit. Der nächste Block sollte überraschend ausfallen, da der Vortragsredner sich im Datum vertan hatte. Nur einige wenige Bedauernswerte waren vorgezogenen Arbeiten zugeteilt worden.
Der R.U.M.-Wächter wusste dies offensichtlich und nickte verständnisvoll. "Gut, dann soll es das von meiner Seite aus für heute gewesen sein." Und während er ein letztes Mal etwas in den Wälzer eintrug, begann ringsum augenblicklich das charakteristische Plaudern, Klappern und Stühlerücken. Als Ophelia sich Breda zuwenden wollte, war diese schon mit einer Gruppe anderer Rekruten an der Tür angelangt.
Ophelia zuckte mit den Schultern. Auch gut. Dann würde sie sich mit dem noch durchzuarbeitenden Bücherstapel in den Pausenraum setzen. Sie hatte den Großteil der Informationen zwar schon gelesen, wollte das eine oder andere aber noch abschreiben, bevor sie die Bücher zurückgeben musste. Sie rieb sich müde übers Gesicht. Es gab dort auch Kaffee. Normalerweise mochte sie keinen. Aber etwas davon wäre jetzt wahrscheinlich eine gute Idee.

Die Müdigkeit machte ihr wirklich zu schaffen. Erschöpft legte sie den Stift auf ihren Notizen ab und griff nach dem zweiten Becher der schwarzen Flüssigkeit. Eine Person in Uniform war vor ihrem Tisch stehen geblieben. Sie sah auf.
"Rekrutin Fiegenberger... ich wollte dich fon gestern anfprechen aber irgendwie kam mir dann doch etwaf dafwifen. Haft du einen Moment Feit?"
Ophelia stand schnell auf und deutete auf den zweiten Stuhl. "Natürlich, Mam. Setzen Sie sich doch bitte."
Ihre Ausbilderin Rogi Feinstich schien sich nicht ganz wohl zu fühlen, setzte sich aber nach kurzem Zögern mit an den wackligen Tisch. Sie wirkte regungslos, bis sie ohne ersichtlichen Gesprächseinstieg begann: "Du kommft gut voran, mit deiner Aufbildung. Bald wirft du dich entfeiden müssen, zu welcher Abteilung in der Wache du nach Abfluff der Aufbildung wechfeln und in welcher Fpefialifierung du dort anfangen möchteft. Haft du dir darüber fon Gedanken gemacht?"
Die Frage überrumpelte Ophelia gewissermaßen. Zwischen all den Prüfungen und Tests hatte sie noch nicht darüber nachgedacht. Das schien immer noch so lange hin zu sein. Und dann Konstantinas Auftauchen in der Wache, Andreas Beerdigung, der Streit mit ihrer Mutter... Sie hatte ja nicht einmal wirklich geglaubt, bis zu diesem Zeitpunkt dabei bleiben zu dürfen! Immerhin war sie, wie ihre Mutter nicht müde wurde zu betonen "ein Mädchen aus gutem Hause". Jede andere hatte gewiss bessere Gründe und mehr Lebenserfahrung als sie, um als Wächterin erfolgreich zu sein. Und doch...
"Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, nein. Das ist alles interessant. Ob D.O.G. oder R.U.M. oder eine andere Abteilung? So im Besonderen kann ich mich, glaube ich, noch nicht entscheiden. Es tut mir leid. Ist es denn so dringend?"
Die Igorina blickte vielsagend auf die Bücher und deren Titel. Sie handelten von den Grundlagen der Zeugenbefragung und denen der Tarnung. Ein weiterführender Aufsatz zur Verdeckten Ermittlung lag aufgeschlagen unter dem allgegenwärtigen Notizbuch der Rekrutin und schien Ophelia wichtig genug zu sein, um ihn Wort für Wort in ihre Unterlagen zu übertragen.
Rogi behielt ihre Gedanken für sich, sagte aber: "Du mufft dich bald entfeiden. Ich werde dich in den nächften Tagen nochmalf fragen, alfo follteft du dir in der Fwifenfeit darüber Gedanken machen."
Ophelia nickte schnell. "Natürlich. Ich werde es nicht aus den Augen verlieren."
Die Igorina schien von dieser Redewendung unangenehm berührt. Sie hatte noch etwas ergänzen wollen, wurde aber von einem vorbeikommenden Igor abgelenkt. Sie runzelte die Stirn und entschuldigte sich. "Gut. Vergiff ef nift! Informationen fu fammeln ift richtig aber irgendwann mufft du dich auch entfeiden!" Sie erhob sich. Und noch ehe Ophelia etwas sagen konnte, war die Vorgesetzte in tiefsten Gedankengängen aus dem Raum gegangen.
Die junge Rekrutin stützte sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab, legte ihr Gesicht in die Handflächen und atmete erst einmal tief durch. Als wenn sie nicht schon genug um die Ohren gehabt hätte!
Sie strich mit beiden Händen an den Schläfen entlang und stütze dann ihr Kinn ab. Müde blickte sie auf die Bücher und den abgeschriebenen Text. "...Ermittler sollten eng mit dem Informantenkontakter der Szene zusammenarbeiten, in der sie ermitteln werden, um über aktuelle Ereignisse informiert zu sein." Sie hatte sich gerade eine Randnotiz zu dem einen Absatz machen wollen, als die Ausbilderin sie angesprochen hatte. Was war das noch mal gewesen?
Sie las den abgehakten Teil noch einmal durch. "...Es sollte ein abteilungsübergreifendes Geheimwortsystem genutzt werden, damit bei Ermittlungen die Ermittler und anderen Wächter sich erkennen und nicht einander verraten..." Ah ja! Jetzt fiel es ihr wieder ein!
Sie schrieb in schräg gestellten Lettern an den Rand der Seite: "Aktives Geheimwortsystem? Woher Informationen dazu? Für wen zugänglich?"
Die letzte halbe Stunde ihrer Pause verbrachte sie damit, einen dritten Becher Kaffee von den Dämonen zu erbetteln, sowie den Aufsatz zu Ende zu kopieren.
Als sie ihre Notizen in der Tasche verstaute, krachte etwas gegen das Tischbein und versetzte den Tisch in beängstigende Schlingerbewegungen. Sie dachte schon, selber dagegen getreten zu sein, als ein wuscheliger kleiner Haarschopf über dem Rand auftauchte und diesem Kopf ein lendengeschürzter dürrer Körper folgte. Die großen Füße ballerten auf das malträtierte Holz und ein nachlässig gefaltetes Blatt Papier mit schwerem Siegelklecks knallte zwischen die Leihbücher. Der grantige Nachrichtendämon starrte sie böse und mit tief hängenden Tränensäcken und noch tiefer hängenden Mundwinkeln an. "Glaub ma nich, ich wär ein persönlicher Liebesbote oder was! Hab ich diese dämlichen Flügel, hä? Hier, guck! Hab ich nich! Wenn du noch ma mit deim Rome-Oho während der Dienstzeit Briefchen tauschen willst, halt ich nich Händchen, klar? Dann kriegste ne Anzeige bei I.A. vorn Latz, dass du's nur weißt! Merk dir das!" Und grummelnd und schimpfend sprang er vom Tisch. Das widerwillige Gebrabbel wurde leiser und verschwand aus Ophelias Hörweite.
Noch immer starrte sie auf den Brief vor ihr. Sie führte keine heimlichen Brieffreundschaften! Und mit männlichen Bekanntschaften nicht einmal offene! Was also hatte der hässliche Kom-Dämon mit "Rome-Oho" gemeint? Der Zettel war wohl am Wachetresen zur Weiterleitung abgegeben worden, denn das klumpige Wache-Siegelwachs war schnell zu identifizieren. Sie nahm den Brief auf und öffnete ihn. Die braunen Wachsbröckchen krümelten auf den Boden.

Hi! Bitte warte heute nach Dienstschluss am Ausgang auf mich. – Jack

Sie ließ das mehrmals gefaltete Papier wieder sinken und blickte verwirrter denn zuvor ins Leere. Warum sollte sie sich mit diesem Kerl treffen? Klang seine Bitte nicht etwas abstrus? Ob sie lieber jemanden fragen sollte, mit ihr zu warten? Und vor allem: Wer war dieser Jack überhaupt?

Vor dem Wachhaus Kröselstraße


Inzwischen war sie fast soweit zu vermuten, dass hinter dem Namen "Jack" ein Kollege stecken würde. Aber eben nur fast. Zwar war sie selbstbewusst genug erzogen worden, sich auch Männern gegenüber angemessen zu verhalten, sprich, sich ihnen gegenüber behaupten zu können, aber der Gedanke, Ursache amouröser Neigungen zu sein, befremdete sie zu sehr, als dass sie ihn weiterverfolgt hätte. Die Nachricht würde wohl eher etwas mit "ihrem" Fall zu tun haben. Und das schloss eine uneingeweihte Begleitperson aus – also jeden außer ihr.
Sie stand neben dem Haupteingang auf der Straße und wartete.
Es war ihr irgendwie gar nicht recht, gerade heute aufgehalten zu werden. Wenn sie an ihre Mutter dachte, dann auch an die zu erwartende Szene, die diese ihr machen würde. Noch später heim zu kommen, als unbedingt nötig, würde die Sache zusätzlich verkomplizieren.
Nervös knipste sie in den Taschen ihres Überwurfs mit den Fingernägeln.
Wann er wohl käme? Sie konnte ja nicht ewig hier stehen und warten. Ohnehin hatte sie schon merkwürdige Blicke von Passanten und Kollegen geerntet, die zur Nachtschicht eintrafen. Und es wurde dunkel! Wusste dieser Jack eigentlich, wann sie Dienstschluss hatte oder hatte er nur eine ungefähre Zeit erraten und dann darauf vertraut, dass sie aus Neugier auf ihn warten würde? So lange, wie sie hier schon stand, tippte sie auf Letzteres.
Sie sah sich wieder um – und entdeckte ein vage vertrautes Gesicht. Der junge Mann von der Beerdigung! Derjenige, der auch im Park dabei gewesen war.
Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie die beiden jungen Leute nicht nach ihren Namen gefragt hatte. Sie machte sich eine mentale Notiz für spätere Ermittlungsarbeiten: Merke dir immer die Namen deiner Informanten!
Er blieb kurz vor ihr stehen und nickte wieder diese kurz angebundene Zustimmung zur Begrüßung.
Ophelia nickte automatisch zurück. "Du bist also Jack."
Er war irgendwie schwer einzuschätzen in seiner stillen Art. Die Hände lässig in den Hosentaschen versenkt nickte er. "Ja."
Belanglose Kleingespräche waren nicht gerade seine Stärke, so viel hatte sie zumindest schon herausgefunden. Es wäre wohl besser, wenn sie ihm den Gesprächseinstieg abnähme und sie so schneller zum Kern kämen. "Warum wolltest du mich sprechen?"
Er verlagerte sein Gewicht leicht auf das andere Bein. "Wegen der Informationen. Hast du was raus gefunden? Wo ist die Kleine mit ihrer Mutter?"
Ophelia schüttelte den Kopf. "Leider kann ich dir nichts Neues erzählen. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben aber irgendwie... Alle Aussagen laufen darauf hinaus, dass beide zur Kur sind. Nur dass mir niemand den Ort dafür verraten konnte... oder wollte. Sie sind wohl in sehr großer Eile gefahren."
Der junge Mann spuckte verächtlich auf die Straße zu seinen Füßen. "Blödsinn!" Aber er bedachte sie mit einem nicht unfreundlichen Blick. "Trotzdem danke! Immerhin hast du uns ernst genommen und es versucht."
Sie wollte diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. "Darf ich dich auch etwas fragen?"
Sein Kopf neigte sich um diesen minimalen Spielraum, den er zum Nicken brauchte.
Welches wäre die sinnvollste Frage, um möglichst viel herauszubekommen? "Was ist wirklich an dem Abend passiert, an dem Andrea starb? Stimmt das mit der Mutprobe?"
Er blickte sie lange ohne etwas zu sagen an. Dann blickte er zum Himmel hoch, an dem nur die tief ziehenden Aschewolken der abendlichen Herdfeuer zu sehen waren. "Wollen wir ein wenig Gehen?"
Ophelia nickte. "Eine gute Idee. Wenn es dir nichts ausmacht, könnten wir uns auf den Weg zu mir nach Hause weiter unterhalten?"
Jack antwortete stumm und ging dann einige Schritte wortlos neben ihr her. "Andi hat sich bei mir... bei uns allen immer wohl gefühlt. Wir sind gut miteinander ausgekommen."
Ophelia versuchte, einen unauffälligen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen.
"Sie hatte zu Hause viel Stress." Er betrachtete jetzt beim Laufen seine Schuhe und schien in ein trauriges Selbstgespräch zu fallen. "Das ganze Getue hat nicht zu ihr gepasst. Sie war nie ein Mensch, der sich verstellt hätte. Ihre offene und lebhafte Art... da ist er nicht mit klar gekommen. Das sind sie alle nicht. Die wollten nicht Andi in ihrer Familie haben, sondern einen komplett anderen Menschen. Sie hat immer gesagt, irgendwann würde sie wirklich sie selbst sein und ihnen damit einen dermaßen großen Strich durch die Rechnung machen, dass keiner mehr mit einem Tuch kommen und das verstecken könne." Er lief nur noch neben Ophelia her, die dem Gesagten sehr aufmerksam folgte.
"Ständig sollte sie sich verstellen. Tu dies nicht, tu das nicht, benimm dich nicht so, sondern so... Andi hat das gehasst."
Sie bogen in eine neue Straße ein, doch Jack war gedanklich weit, weit fort. "An dem Abend als sie... starb. An diesem Abend trafen wir uns wie so oft zuvor. Allerdings war ihr Vater ihr hinterher gerannt. Nicht zum ersten Mal. Der hatte ihr schon drei Mal zuvor am Frühstückstisch vor allen Anderen Vorwürfe gemacht, dass sie sich mit uns getroffen und die Nacht auf dem Haufen verbracht hatte. Ist ja nicht so, dass wir Arme-Leute-Kinder gewesen wären, aber davon wollte er nichts wissen. Wer anders lebt, als die Norm, den muss man ausgrenzen – klar. Hat wohl auch was mit Minderwertigkeitskomplexen zu tun, denke ich. Ist schon schwer zu ertragen, wenn man andere das machen sieht, was man sich selber nicht traut. Na ja... jedenfalls hat er sie nach Hause befehligen wollen. Als sie sich weigerte hat er sie am Arm gepackt und wegzerren wollen. Lächerliche Aktion! Bekkie, Tala und ich haben da natürlich nicht mehr mitgemacht und ihm unsere Meinung gesagt. Klar musste er abziehen, obwohl es für ihn eine bittere Pille war. Er hat rumgezetert, geschimpft und gemeckert. Aber dann war er weg. Wir haben uns da noch nichts bei gedacht und waren einfach nur froh drüber. Jetzt bin ich mir aber sicher, dass er sich bei diesem Wirt ein Alibi beschaffte und auf direktem Wege zum Haufen kam, um uns zu beobachten. War ja schließlich, wie gesagt, kein Geheimnis, wo unser Lieblingsplatz war." Er schüttelte traurig den blonden Schopf. "Das mit der Mutprobe... kindisch, ich geb's zu. Aber damals war es einfach eine witzige Sache. Wir hatten Spaß daran, auf den Ruinen zu klettern. Etwas, das keines unserer Elternteile akzeptieren würde. Und so gefährlich war es unserer Ansicht nach nicht. Wir hatten das schon so oft gemacht, dass wir jeden lockeren Stein und jede bröselnde Stelle kannten. Andi war immer gut in so was. Sie hatte einen erstaunlichen Gleichgewichtssinn. Und die morschen Balken oder die brüchigen Platten konnte sie sogar mit geschlossenen Augen punktgenau beschreiben!" Er blickte Ophelia an bei diesen Worten, wie um etwas endgültig klar zu stellen. "Und da gab es nichts dran zu rütteln. Auch mit Wein im Blut konnte sie noch besser klettern und balancieren als jeder von uns ohne Wein in den Adern!"
Seine Züge offenbarten nun echte Trauer. "Das ist so unfair...", und geflüstert: "Ich kann es einfach nicht glauben, dass es ein Unfall gewesen sein soll."
Ophelia beobachtete ihn zurückhaltend, doch als er immer abwesender wirkte, zog sie ihn mit einer weiteren Frage zurück ins Gespräch: "Hat sie damals noch etwas gesagt, als ihr euch an jenem Abend verabschiedetet?"
Das Nicken ging mit einer verräterischen Geste einher. Er hatte seine Hand über die bebenden Lippen gelegt. Offenbar kostete es ihn Überwindung, weiter zu sprechen: "Aber das hilft nicht weiter."
Sie wartete.
Der junge Mann holte zitternd Luft. "Sie sagte: 'Was auch immer du machst: Fall nicht in Ohnmacht!'."
Ophelia kannte die Worte. Es war ein Zitat aus einem ephebischen Liebeswerk. Ihre Mutter hatte nie alle Bücher gelesen, die Ophelia im Laufe der Jahre ins Haus geschleppt hatte. An Nachschub zu kommen war, nachdem sie wusste wie, für die Tochter eines Mitherausgebers nicht schwer gewesen. Kathrine hatte höchstens noch die Buchtitel kontrolliert und war der Meinung gewesen, dass aus dem Land der Gelehrten und Philosophen nichts kommen könne, was einem romantischen Gemüt zuträglich sein und es aufrühren könne. Sie errötete bei dem Gedanken an das Buch, aus dem das Zitat stammte. Und war froh, dass ihr Begleiter dies nicht mitbekam.
Jack ließ die Schultern sacken. "Es war eine besondere Wendung zwischen uns, die auch zuvor schon öfter fiel. Außer sentimentaler Erinnerung hat sie nichts zu bedeuten. Sie ist... war... unser Abschiedsgruß."

Zu Hause


Die Beine taten ihr wieder einmal weh. Ophelia biss die Zähne zusammen und verlagerte vorsichtig das Gewicht. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie konzentrierte sich darauf, die Krämpfe in den Fußsohlen zu ignorieren und schloss leise die Wohnungstür hinter sich.
Wenn sie erst einmal aus der G.R.U.N.D.-Ausbildungszeit raus war, würde sie sich wohl eine Spezialisierung suchen müssen, die ihr eine angemessene Kleiderauswahl gestattete. Hemd und Hosen waren zwar nach anfänglicher Umstellung und Gewöhnungszeit bequemer zu tragen als ein Korsett aber sie waren trotz allem irgendwie sehr peinlich. Und dann natürlich auch wegen ihrer Füße!
Die Öllampen waren aufgefüllt und deren Glashauben poliert worden, so dass der Eingangsbereich in ein warmes, helles Licht getaucht war. Eben hatte sie sich dazu gebückt, die Schnüre der Stiefel zu öffnen, als sich vor ihr etwas regte. Sie blickte ahnungsschwanger auf.
Ihre Mutter stand dort, die Hände missbilligend an den Seiten verkrampft. "Ophelia..."

Etwas stimmte hier nicht! Sie war plötzlich hellwach, richtete sich vollends auf und stand misstrauisch vor der Ausgangstür. Sie hatte mit allem Möglichen gerechnet, wenn sie schon wieder so spät zurückkäme. Erst recht, nach ihrer ungenehmigten morgendlichen Flucht. Der Tonfall ihrer Mutter jedoch kündete von nervöser Unsicherheit! Zumindest warf sie ihr, nach einer flüchtigen Kenntnisnahme der Wacheuniform, einen beruhigend grimmvollen Blick zu, ehe sie wieder dieser atypischen Hilflosigkeit anheim fiel.
"...ich hatte dich schon etwas eher zurück erwartet..." Ihr Kopf ruckte hastig in Richtung des Salons und ohne eine Antwort abzuwarten, wedelte sie vage mit der Hand, ihr dorthin zu folgen. "Wie auch immer. Wir haben jedenfalls Besuch und die Dame musste sich deinetwegen viel zu lange gedulden."
Ophelia sah ihr erstaunt nach. "Aber... soll ich mich nicht lieber erst frisch machen?" Sie hätte zu gerne die Schuhe von sich geworfen und ein Bad genommen.
Kathrine blieb, völlig aus dem Konzept gebracht stehen. "Wie? Sie etwa noch länger warten lassen? Mein liebes Kind! Das ist nicht irgendwer, das ist..."
Eine große, schlanke Frau trat aus dem Empfangssalon. Ophelia wäre am liebsten im Boden versunken vor Scham. Alles war aus. Wie hatte sie auch annehmen können, unbeschadet aus dieser Sache heraus zu kommen?
Das Schwarz der offiziellen Trauer schien wie eine zweite Haut so natürlich ihren Körper herabzufließen, das hochgesteckte Haar fiel in dunklen Wellen unter dem kurzen Schleier hervor auf ihre Schultern und die langen, zartgliedrigen Finger wurden von edler Spitze nur halb verdeckt. Die Schwarze Witwe hätte trefflich die Klischees des Vampiradels der Stadt erfüllt, wäre sie nicht gleichzeitig der Inbegriff blühenden Lebens gewesen. Ihre Haut war von gesunder Bräune und ihre aufmerksamen Augen blickten Ophelia mit geschärftem Interesse an.
Die junge Frau ging fast reflexartig in einen tiefen Knicks. "Lady Marakesch!"
Ihre Ladyschaft neigte den Kopf nur andeutungsweise. "Ophelia." Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten.
Ophelias Mutter war nun noch unschlüssiger, welches die korrekte Vorgehensweise sein mochte und rettete sich daher in das Standardrepertoire: "Darf ich noch etwas Tee anbieten? Im Salon lässt es sich doch so viel besser sprechen, als auf dem Flur. Euer Ladyschaft?"
Lady Marakesch wandte sich wieder um und gemeinsam betraten sie das gemütliche Zimmer, in dem Kathrine sofort die Gedecke bewirtete. Das Teearoma kringelte sich in die Luft und die schwarz gewandete Dame wandte sich mit ruhigem Ton an ihre Gastgeberin: "Vielen Dank, Kathrine!" Sie hielt den Blickkontakt eine Sekunde länger als nötig aufrecht.
"Oh!" Ophelias Mutter entschuldigte sich mit rot gehauchten Wangen. "Ich... ich habe noch etwas zu erledigen, sicherlich benötigen Sie meine Anwesenheit nicht länger und meine Tochter kann Ihnen auch jederzeit noch etwas nachreichen... Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden?" Mit einem tiefen Knicks verließ sie rückwärts das Zimmer und schloss leise die Türen.

Die Lady richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf die junge Wächterin. Ihrem Blick schien kein Detail der zerknitterten Rekruten-Aufmachung zu entgehen. "Du warst in meinem Haus... 'Maja'."
Auf diese Feststellung gab es nur eine Antwort. "Ja, My Lady." Sie fühlte sich eindeutig nicht wohl in ihrer Haut. Sie war unter fremdem Namen in die hochherrschaftliche Stadtresidenz eingedrungen und in Anbetracht des gemunkelten Vermögens der Schwarzen Witwe war es eindeutig, wessen Recht es wäre, das Recht zu definieren. Und wenn diese es darauf anlegte, wäre Ophelias gesamte Familie innerhalb weniger Stunden in einen gesellschaftlich vernichtenden Skandal verstrickt und aufgrund exorbitanter Anwaltskosten finanziell ruiniert. "Lady Marakesch, wenn ich etwas dazu sagen dürfte?..."
Die dunkelbraunen Augen warteten auf Ophelias Verteidigungsrede, unverrückbar auf sie gerichtet. "Wenn du möchtest."
"Ja, ich möchte. Vor allem muss ich mich für mein ungebührliches Verhalten entschuldigen! Bitte denken Sie nicht, dass meine Familie in irgendeiner Weise mit dem Vorfall zu tun hatte, wirklich nicht. Sie wissen nicht einmal davon, dass ich gestern Abend in eigener Sache unterwegs war. Sie denken noch immer, ich wäre im Auftrag der Wache länger eingeteilt gewesen. Aber diese Angelegenheit hat auch nichts mit der Wache zu tun. Jedenfalls nicht mehr so richtig." Sie blickte lieber schnell wieder auf ihre Hände, statt in diese kalkulierenden Augen. "Ich habe mich sehr ungeschickt angestellt und Sie damit beleidigt. Ich meine... nicht dass ich es hätte einfach geschickter machen sollen! Das war alles nicht richtig. Ich hätte Sie zu einer passenden Zeit aufsuchen und nach Konstantina fragen sollen. Nur sehen Sie, ich war gestern Abend sehr, sehr erschöpft und wohl nicht mehr imstande, klar genug zu denken, um den Anstand zu wahren. Ich dachte, es wäre besser, die Gelegenheit sofort zu nutzen. Und außerdem war ich mir auch nicht sicher, welche Vorgehensweise erfolgreicher sein könnte. Ich hatte so große Sorge um Konstantina und ich habe sie noch immer. Länger zu warten erschien mir... riskant."
Margot Marakesch lächelte leicht. "Noch riskanter, junges Fräulein, als meinen Unwillen herauszufordern?"
Dieses Lächeln ließ Vorsicht vergessen und Ophelia fasste augenblicklich gefährliches Vertrauen. Sie lächelte ebenfalls zaghaft. "Ich fürchte ja, My Lady. Obwohl mir unter keinen Umständen daran gelegen ist, Euch irgendwie zu verstimmen."
Die Lady nahm in vollendet fließender Bewegung ihre Teetasse auf und nippte an ihr. Das Absetzen des Porzellans geschah lautlos. Ophelia beobachtete dies fasziniert und verstand endlich, was Großtante Pätrischa ihr seit Jahren erfolglos beizubringen versuchte.
Die melodische Stimme ihres Gegenübers riss sie aus den Gedanken: "Und ich meinerseits fürchte, Ophelia, so leid es mir tut, dass ich hier und jetzt, in erschreckend brüskierender Weise, auf eine wahrheitsgemäße Erklärung bestehen muss." Sie legte ihre schlanken Hände ineinander. "Wie kam es zu diesem gänzlich undamenhaften und unpassenden Schritt? Du hast angedeutet, dass die Familie Tiara involviert sei?"
Ophelia nickte. "Es ist wegen Konstantina." Sie konnte sich nicht logisch erklären worauf sich ihr Zutrauen gründete. Aber es erschien ihr richtig, das wenige Wissen, das sie inzwischen gesammelt hatte, mit dieser älteren Frau zu teilen. "Ich traf sie an dem Tag, als sie zur Wache gebracht wurde. Sie stand unter Schock. Später erfuhr ich, dass kurz zuvor ihre ältere Schwester bei einem Unfall gestorben war, was Konstantinas Verhalten erklärte. Nach der Beerdigung war ich versehentlich Zeugin eines Gespräches zwischen ihr und ihrem Vater, das fast bedrohlich klang. Ich dachte mir erst nicht so viel dabei. Doch dann traf ich im Park auf die Freunde Andreas' und diese hegten bitteren Groll gegen Konstantinas Vater, was den bedrohlichen Eindruck des zuvor belauschten Gesprächs verstärkte. Sie verdächtigen ihn irgendwie des Mordes an seiner älteren Tochter – es gibt böse Unterstellungen, wegen eines Streites kurz vor dem Unfall. Jedenfalls war Konstantina inzwischen mit ihrer Mutter zur Kur gefahren. Hieß es. Ich habe mich sehr darum bemüht, die entsprechende Adresse ausfindig zu machen, hatte bis jetzt aber noch keinen Erfolg damit. Natürlich habe ich noch nicht alle Möglichkeiten genutzt aber es erscheint mir schon alles irgendwie merkwürdig." Sie strich über die Maschen des Häkeldeckchens, das als Armschoner diente. "Vor allem wenn man an die anderen kleinen Dinge denkt, wie den Aufruhr wegen eines Messerschnitts Konstantinas. Nie zuvor musste die Wache in diese Familie gerufen werden. Und jetzt, innerhalb weniger Tage, mehrmals. Und eine Kurreise wird normalerweise länger geplant und durch die Hausvorsteherin persönlich deren engen Freundinnen erklärt. Um so etwas kümmert sich die Dame des Hauses – gewiss nicht der Herr!"
Lady Marakesch saß ihr noch immer regungslos gegenüber, gelassen in sich ruhend. Ihre dunklen Augen beobachteten das zurückhaltend gestikulierende Studienobjekt ohne Unterlass. "Du sagtest, du hättest dich über verschiedene Wege darum bemüht, den aktuellen Aufenthaltsort der Damen Tiara ausfindig zu machen?"
Die Rekrutin nickte.
Der Blick wurde noch eine Spur aufmerksamer. "Hast du auch ganz direkt Henry nach der Adresse befragt? Ellis' Ehemann?"
Ophelias Wangen röteten sich und sie schlug die Augen nieder. "Nein... wissen Sie, es erschien mir nicht... richtig? Ich meine... ich denke nicht unbedingt, dass die Anschuldigungen stimmen..."
Aber ihre Augen, und das wusste sie, verrieten das Gegenteil. Zumindest war ihre Unsicherheit groß genug gewesen in dieser Frage, dass sie die Möglichkeit nicht ausschloss. Und was wäre dann? Was, wenn die Vorwürfe stimmten und ihre Nachforschungen völlig berechtigt wären? Sie wollte es nicht hoffen, befürchten, nicht daran glauben. Aber so ganz war ihr das Ausmaß dieser Aussage bis jetzt nicht bewusst gewesen. Sie spürte, wie sich die kleinen Härchen auf den Unterarmen aufzurichten begannen.
Nach einigen Sekunden bedeutungsschweren Schweigens murmelte sie: "Ich denke nur, dass es merkwürdig ist, dass zwei Menschen so plötzlich von der Bildfläche verschwinden können, ohne dass dies zu einer misstrauischen oder anderswie nennenswerten Reaktion in ihrer Umgebung führt. Nur, weil ein einzelner Mensch irgendetwas dazu behautet!"
Die Schwarze Witwe betrachtete sie nachdenklich. "Ich weiß, es ist schon spät. Dennoch. Würdest du mich für ungefähr zwei Stunden begleiten wollen, Ophelia?"

In einer kleinen Wohnung nahe der Schatten


Das Haus musste einst eine gewisse Würde und Erhabenheit ausgestrahlt haben. Doch seitdem war viel Zeit vergangen, Adel und Reichtum hatten den Blick von diesen Straßenzügen ihrer Jugend abgewandt und waren einhellig weitergeschlendert. Neue Bewohner hatten die alten Gebäude bezogen. Erst ging es ihnen mehr um Arbeit, als um die Pflege ihrer Behausungen – dann mehr um die Suche nach einer Arbeit. Für Kontakte zur Nachbarschaft blieben weder Zeit noch ein Rest von gutem Willen.

Ophelia entstieg dem edlen Zweispänner. Der schlanke Schatten ihrer älteren Begleiterin schritt leise raschelnd an ihr vorüber, als sie den Kopf in den Nacken legte, um an der nächtlichen Fassade empor zu sehen. Schnell wurde ihr klar, dass dieses Relikt einer Stadtresidenz dem Vormarsch der Schatten überlassen worden war.
Was konnte gerade eine Dame wie Lady Marakesch hier wollen?
Diese war derweil schon an der Fronttür angelangt. Ophelia beeilte sich, ihr zu folgen.
Die Tür ließ sich problemlos öffnen und beide traten ein. Im Innern erwartete sie eine chaotische Bauweise. Nachträglich eingezogene Wände verliefen quer über das verblichene Muster des zersprungenen Kachelbodens, welcher den mittigen Ausschnitt einer Eingangshalle darstellte. Nur ein schmaler Gang zur Treppe war frei geblieben, von dem links und rechts viele provisorische Türen abgingen. Zwei Öldosen mit Docht spendeten hier flackerndes Licht, eine auf dem oberen und eine auf dem unteren Treppen-Ende. Sie rußten erheblich und hinterließen ölige Schlieren an den Wänden. Das Ganze wirkte auf Ophelia wie das Entree eines merkwürdigen Verlieses.
Sie erklommen das obere Stockwerk, das einstmals von einer ebenhölzernen Balustrade umgeben gewesen sein mochte, jetzt aber nur noch einen engen Bretterverschlag zur nächsten Treppe darstellte. Auf dem oberen schmalen Absatz angekommen bemühte sie sich, den Namen auf dem polierten Schild an der grauen Tür zu entziffern. Vergebens. Zwar zeugte das reflektierende Metall vom verzweifelten Bemühen des dahinter einquartierten Wohnungsbesitzers, einen letzten Rest Würde zu bewahren, die vollständig zerkratzte Oberfläche bewies jedoch häufige Angriffe mit ebenso wiederkehrenden Rettungsaktionen. Lady Marrakesch ließ den silbernen Knauf ihres eleganten Spazierstockes mehrmals gegen die Bretter schlagen und wartete gelassen.

Ein leises Schlurfen, wie von schweren Füßen näherte sich der Tür von deren Rückseite. Ein schabendes Geräusch, dann Stille. Eine zittrige Stimme fragte lauernd: "Wer ist da?"
"Ich bin es – Margot! Und ich habe eine junge Dame zur Begleitung mit mir."
Das schabende Geräusch wiederholte sich leise und Ophelia wusste, dass die Abdeckung über das nicht sichtbare Guckloch zurück gerutscht war. Die Stimme der offensichtlich schon älteren Frau hinter der Tür blieb stumm und auch sonst gab sie keinen Laut von sich, der auf Aktivität hingedeutet hätte.
Die Schwarze Witwe senkte lächelnd den Kopf und sagte leise zur Tür: "Hanna, bitte öffne uns! Du weißt ganz genau, ich würde niemanden her führen, der gefährlich werden könnte. Und wir haben weder die Zeit noch die nötige Geduld dazu, eine Nacht wartend vor deiner Tür zu verbringen."
Ein abweisendes Keifen konterte ihr prompt: "Dann geht halt wieder! Zwingt euch ja niemand, an meiner Tür zu verweilen!"
"Hanna! Bitte!" Die Worte waren nicht lauter als zuvor ausgesprochen worden, der bittende Tonfall jedoch schien das alte Herz gnädiger zu stimmen. Leises Schimpfen begleitete das Geräusch unzähliger Innenschlösser, die eines nach dem anderen geöffnet wurden.
"Ich habe es wahrlich nicht nötig, mich von euch jungen Spunden herumkommandieren zu lassen!"
Ein weiteres Rasseln.
"Und bilde dir nicht ein, du hättest einen besseren Stand vor mir als all die anderen Bittsteller, Margot, denn den hast gerade du nicht, mit deinen lästigen Angewohnheiten..."
Etwas Schweres schlug krachend von Innen gegen den Rahmen und die Tür wurde misstrauisch geöffnet.
Ophelia zuckte instinktiv zurück. Der Zugang hatte den Weg in ein schwarzes Loch freigegeben. Jedenfalls war dies ihr erster Eindruck. Aus diesem unheilvollen Dunkel stachen zwei ungesund gelbe Augen hervor und schienen sich in ihren Blick bohren zu wollen.
Die Schwarze Witwe ließ sich von diesem ausgefallenen Wachtposten nicht beeindrucken und trat mit einer Gelassenheit ein, die der Gewohnheit entspringen musste. Die untersetzte Frau wich ihr in letzter Sekunde aus. Ophelia folgte schnell in die Wohnung, bevor die Greisin sich entschließen konnte, sie auszusperren. Sie war immer darauf bedacht, nicht auf den langen Rocksaum der Frau vor ihr zu treten, der irgendwo als Schatten in den Schatten schleifen musste. Hinter ihr setzten wieder das leise Grummeln und die Geräusche unzähliger Ketten ein.
"Früher, da hielt man noch etwas auf Höflichkeit, oh ja! Aber das ist natürlich nichts für das verzogene Gör."
Dies musste ein ehemaliger Dienstbotengang sein, anders ließ sich die Enge nicht erklären. Zusätzlich war er der gesamten Länge nach von niedrigen Kommoden und hohen Schränken mit Glastüren gesäumt. Ophelia stieß sich an einer Regalecke den Ellenbogen an und sog zischend die Luft ein. Der Gang näherte sich offenbar seinem Ende, denn das Zwielicht wurde heller. Sie gelangten an eine weitere Tür, die nur leicht angelehnt war. Lady Marrakesch öffnete sie vollends und alle miteinander betraten sie den eng möblierten Wohnraum.
Schwere Samtvorhänge schotteten die Außenwelt ab und schlossen die sengende Hitze mehrerer entzündeter Kerzenleuchter in dem engen Raum ein. Ophelia schritt an der Lady vorbei und...
"Konstantina!"
Auf dem unter kleinen Häkeldeckchen versteckten Sofa saßen das blonde Mädchen und deren Mutter. Beide sahen sie Ophelia erschöpft entgegen, als sie sich beim Eintreffen der Besucher zur Begrüßung erhoben.
Die junge Rekrutin eilte ihrer Bekannten entgegen und ergriff deren Hände. "Konstantina! Ich war dermaßen in Sorge um Dich, um Euch. Wie geht es Dir?"
Über ihre Köpfe hinweg begrüßten sich Lady Marakesch und Lady Tiara mit einem stummen Kopfnicken. Die Grande Dame legte ihren bestickten Überrock ab und reichte ihn, mit Hut und Handschuhen an die hutzelige Wohnungsbesitzerin weiter. "Danke, Hanna."
Derweil hatte Konstantina sich dem Zugriff mit einem gemurmelten "Gut, danke." entzogen und wieder neben ihrer Mutter niedergelassen.
Ophelia blickte sich fragend nach ihrer Begleiterin um und als sie deren aufmerksame Augen auf sich ruhen sah, hielt sie bewusst mit ihren Kommentaren und Fragen an sich und legte statt dessen ebenfalls erst einmal ab und nahm geduldig in der kleinen Runde auf einem niedrigen Plüschsesselchen Platz.
Die mürrische Alte stellte scheppernd zwei neue Porzellangedecke auf den überladenen Marmortischchen ab, wobei sie besonders Ophelia mit einem bedrohlichen Blick ihrer eitrig gelben Augen bedachte.
Das wartende Schweigen lastete ebenso auf Ophelia, wie die Hitze der verbrauchten Luft. Bald schon konnte sie nicht mehr an sich halten und wagte einen neuerlichen Anlauf: "Ich habe mich gefragt, wie es dir wohl gehen mag, Konstantina, und wollte dich besuchen. Dabei musste ich jedoch feststellen, dass ihr offenbar...", sie stockte kurz, bevor sie fortfuhr "...auf Kur gefahren seid?"
Das blonde Mädchen wich ihrem Blick aus, doch unerwartet meldete sich deren Mutter zu Wort: "Die Ereignisse der letzten Tage waren nicht leicht für uns." Die Stimme der Frau klang gelassen, nichts an ihr deutete auf eine gewisse Befangenheit hin, weil sie auf ihrer Flucht in einer zweifelhaften Unterkunft bei einer offensichtlichen Lüge ertappt worden wäre. "Es erschien uns klüger, das Abflauen des allgemeinen Interesses an unserer Familie nach der Beerdigung an einem ruhigen Ort abzuwarten."
Wie um ihre Worte zu verhöhnen setzte im Treppenhaus ein Getrampel von Stiefeln ein und ein Rufen, das von Verfolgern kündete. Die Greisin sprang empört auf, als etwas an ihrer Wohnungstür aufschlug und jemand schmerzerfüllt stöhnend an dieser hinunter zu rutschen begann. Das schabende Geräusch hatte kaum eingesetzt, da war sie schon humpelnd zu ihrer Schlösserphalanx gehastet und begann zu zetern. "Schert euch weg, ihr Lümmel! Darauf falle ich nicht herein oder sehe ich vielleicht schwachsinnig aus? Zum Donnerdrummel mit euch!"
Ellis Tiara hatte nicht einmal mit den Wimpern gezuckt. Sie sprach mit teilnahmsloser Gelassenheit weiter, immer wieder vom Gekeife an der Wohnungstür begleitet. "Es ist überaus freundlich von ihnen, meine Liebe, dass sie an uns gedacht haben."
Aus dem langen Flur hinter Ophelia ertönte ein erbostes: "Nein, das werde ich ganz bestimmt nicht machen, du überflüssiger Hampelmann! Und wehe ihr macht Kratzer ins Holz, dann Gnade euch Om!"
Ellis Tiara schloss den begonnenen Satz mit einem überraschend direkten Blick ab: "Es ist allerdings ebenso überflüssig, sich um Konstantina zu sorgen. Wir kommen schon zurecht."
Ophelia bemühte sich darum, Ellis Ausdruck zu deuten, begegnete aber nur emotionsloser Distanz. "Nun...", begann sie zögernd von neuem, "Ich bin nicht die Einzige, die sich sorgt." Hilfe suchend wandte sie sich der neben ihr sitzenden Lady Marakesch zu, doch diese schien sich eher als Beobachterin zu wähnen. Sie blickte wieder ihre Gesprächspartnerin an. "Die früheren Freunde von Andrea haben sich ebenfalls nach ihrer beider Wohlergehen erkundigt."
Konstantinas Blick verriet positive Überraschung, derjenige ihrer Mutter dagegen verfinsterte sich schlagartig. "Diese... diese unheilvollen, verzogenen Kinder! Sie sollen sich von uns fernhalten! Sie haben schon genug Schaden angerichtet!"
Ophelia hatte nie vorgehabt, sich als Patrizier aufzuspielen oder sich intensiv in das Familienleben ihrer Bekannten einzubringen. Es war einfach Eines zum andern gekommen.

Sie wollte schon besänftigend antworten, als die Schwarze Witwe ihre Zuschauerrolle ablegte.
"Ellis?"
Ophelia nahm sich sofort zurück, während Lady Tiara ihre Freundin mit schlecht verhohlenem Missmut ansah.
"Sicherlich fragst du dich, weswegen ich beschlossen habe, diese junge Dame hierher mitzubringen."
Ein verhaltenes Nicken bestätigte sie in der geäußerten Vermutung.
"Nun... Aus mehreren Gründen. Ich habe auf beeindruckend ungewöhnliche Weise von Fräulein Ziegenbergers unstillbarem Interesse an Konstantinas Verbleib erfahren. Es wäre schwerlich längerfristig möglich gewesen, sie schlicht zu ignorieren. Wer weiß, was ihr noch eingefallen wäre!"
Die junge Frau spürte, wie ihre Wangen sich röteten. Glücklicherweise würde man dies ohne weiteres der flirrenden Wärme dieses Raumes zuschreiben können.
Lady Marakeschs Haltung kündete von ernsthafter Dringlichkeit. "Ihr Interesse stellt in Vehemenz und Findigkeit nicht unbedingt den Durchschnitt dar. Ebenso rührt es von aufrichtiger Anteilnahme her, was mir selten und kostbar dünkt, weswegen ich sie anhand der Wirklichkeit beruhigen wollte. Vor allem freue ich mich, dass sie sich als echte Freundin deiner Tochter erweist, jetzt, da diese wirklich Beistand brauchen kann. Darüber hinaus jedoch möchte ich dir damit auch den Ernst der Situation vor Augen führen."
Ellis ließ sich in ihrer deutlich ablehnenden Stimmung nicht erweichen.
Ihre Freundin redete weiter auf sie ein: "Es gibt Andere, die ihre Vermutungen, Spekulationen und haltlosen Behauptungen nicht ebenso umsichtig für sich behalten." Sie seufzte leise. "Ellis! Es ist ein sinnloses Vorhaben, dem du dich da verschrieben hast – Klatsch und Tratsch entfliehen zu wollen! Dem gefürchteten Skandal kannst du nicht mehr ausweichen, da er sich längst schleichend herumspricht, wie du sehr wohl wissen musst. Euer plötzliches Verschwinden hat dem nicht gerade entgegen gewirkt. Du weißt, dass ich dir immer helfen und dich gerne bei mir haben werde. Aber du kannst dich nicht auf Dauer verstecken! Oder deine Tochter dazu verdammen."
Die Angesprochene schwieg eisern und kniff ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.
"Du musst dir Gedanken um euer beider Zukunft machen!"
"Das weiß ich selber, Margot. Dazu braucht es nicht deine Belehrungen."
Die Witwe lehnte sich zurück, nichts deutete auf eine Verstimmung ob des ernüchternden Tonfalls ihrer Freundin hin. "Und? Zu welchem Schluss bist du bisher gekommen?"
Lady Tiara holte tief Luft, blieb aber auch nach dem Ausatmen unzugänglich und steif. Sie strich sich in einer ruckartigen Bewegung eine dünne Strähne aus dem Gesicht. "Wir werden eben noch etwas warten... und..." Sie ließ das Satzende offen.
"Worauf, Ellis?" Als Konstantinas Mutter wieder in ihr übliches Schweigen zu versinken drohte, hakte Lady Marakesch erbarmungslos nach: "Wie lange willst du warten mit einer lebensbejahenden Entscheidung? Solange, bis Henry sich selber der Wache stellt und sich wegen Mordes an Andrea anzeigt?"
Ellis blickte auf – widersprüchliche Gefühle spiegelten sich in ihrem erschöpften Gesicht. Sie erwiderte nichts.
Die schwarz gekleidete Freundin schüttelte sacht den Kopf. "Du weißt, dass das nicht geschehen wird. Weder wird er sich dort blicken lassen, noch irgendwelche Beweise gegen sich vorlegen, die bisher unentdeckt geblieben wären." Sie sprach nun mit leisem Bedauern in ihrer Stimme: "Ich fange nicht davon an, um dich zu quälen aber es läuft doch auf diese Gerüchte hinaus, nicht wahr? Seit Andreas Tod bist du nicht mehr die Selbe, Ellis, und ich frage mich, ob mehr dahinter steckt, als der Verlust, sondern ob das daher rührt, dass du dem Gerede mehr Bedeutung beimisst, als einer treuen Gattin von Rechts wegen gestattet würde?"
Ellis Blick senkte sich auf ihre Hände und blieb dort regungslos haften.
Konstantina regte sich unbehaglich neben ihrer Mutter, so dass ihre Röcke raschelten.
Ophelia war sich nicht mehr sicher, ob sie bleiben und weiter Zeugin dieses Gesprächs sein wollte. Das vorwurfsvolle Gepolter an der Wohnungstüre jedoch machte schnell deutlich, dass es vorerst kein Entkommen geben würde. "Komm mir nicht frech, Thorren, ich kannte schon deinen Vater, als er mit seinem Daumen in der Gusche diese Straße runter gerannt ist und dessen Vater auch und wenn du nicht augenblicklich deinen nutzlosen Hintern vor meiner Schwelle entfernst, dann kannst du Gift drauf nehmen, dass ich..."
Margot seufzte tief. "Meine Liebe... hätte es genügend Beweise gegeben, dann hätten sie ihn der Gilde übergeben."
Oder dem Patrizier, dachte Ophelia leise bei sich. Wenn er darauf bestanden hätte.
Lady Tiara saß bewegungslos in ihrer Mitte.
Die Schwarze Witwe erhob sich in einer fließenden Bewegung, wobei sich die schattigen Stoffbahnen wasserfallartig glätteten. Sie schritt langsam zum Fenster. "Du musst dich jedenfalls entscheiden!" Sie näherte sich den schweren Vorhängen und schob diese mit spitzen Fingern etwas beiseite, während sie vom Rahmen aus mit dem Knauf ihres eleganten Gehstockes die Verriegelungen löste. "Vielleicht wäre es hilfreich, die Alternativen durchzugehen. Oder deine Gefühle für Henry zu bestimmen?" Ein leises Knirschen hinter den Gardinen verriet, dass sie das Fensterglas ein kleines Stück weit aufgeschoben hatte.
Sofort spürte Ophelia einen erfrischenden Luftzug und atmete tief ein.
Die Kerzen flackerten, als Lady Marakesch an ihnen vorbei schritt und neben ihrem Sesselchen stehen blieb. Freundlich blickte sie auf ihre schweigende Freundin herab und fragte: "Hasst du Henry?"
Konstantina blickte ihre Mutter mit großen Augen an.
Diese schüttelte zögernd den Kopf.
Lady Marakesch ließ den schwarzen Stab durch ihre Finger gleiten, bis sie ihn waagerecht vor dem Körper hielt. "Misstraust du ihm?"
Dieses Mal drückte die Verneinung deutlichen Widerwillen aus.
Die Stehende senkte den Gehstock und legte ihre Hände hinter dem Rücken ineinander. "Eure Ehe war nie besonders glücklich oder zufrieden stellend für dich, wir beide wissen das. Dennoch... möchtest du die Gelegenheit zu einem Neuanfang ergreifen?"
Lady Tiaras Hände krampften sich unwillkürlich in ihrem Rockschoß zusammen und ehe sie überlegen konnte, hatte sie schon ausgestoßen: "Nein! Ich will nicht zu ihm zurück, auf keinen Fall! Ich kann ihn nicht mehr ertragen mit seinen Einschränkungen und Verboten, seinen Launen und Vorwürfen! Nie kann man ihm etwas gerecht machen, immer muss alles perfekt sein und selbst dann ist es nicht gut genug!" Sie schnappte überrumpelt nach Luft und blickte von sich selbst erschrocken auf. Mit deutlicher Beherrschung in der zittrigen Stimme sagte sie: "Er... er soll mich in Ruhe lassen... soll weg gehen?"
Ophelia sah das junge Mädchen vor sich sitzen, das Ellis Tiara einst gewesen sein mochte – schüchtern, verängstigt, doch voller guter Vorsätze und Hoffnungen auf eine arrangierte Ehe. Es musste bitter sein, diesen Käfig weder durch eigene Mühen vergolden, noch ihn verlassen zu können. Jahr um Jahr die Frau hinter dem Mann, diejenige, die mildes Lob für eine Häkelarbeit und herablassendes Mitleid für seine Fehlinvestitionen erntete. Entsetzt beobachtete Ophelia, wie ihre Phantasie ihr das eigene Bild vorgaukelte, wie es sich, gleich einer neuen Gemäldeschicht, über das vorige schob. War es das, was ihr in nicht allzu ferner Zukunft bevorstehen mochte? War es das, was Großtante Pätrischa in gemeinsamer Anstrengung mit ihrer Mutter für sie vorbereiten würde? Ein sehr ungutes Gefühl beschlich sie.
Schleifende Schritte vom Gang her kündigten die Rückkehr der Alten an.
Ophelias Augen fokussierten sich wieder auf das Hier und Jetzt und registrierten, wie Konstantina aufgewühlt zwischen ihrer Mutter und deren Freundin hin und her sah.
Lady Marakesch hatte sich derweil vorgebeugt auf ihr Sesselchen gesetzt und der unbeholfenen Freundin eine mitfühlende Hand aufs Knie gelegt. "Wenn du dir darin absolut sicher bist, dann gibt es Möglichkeiten..."
Lady Tiaras Hände waren inzwischen zu Fäusten geballt, als sie wispernd erwiderte: "Sobald ich zurück ginge... er würde... es wäre wieder genau so wie vorher..."
Die Freundin ergriff die Fäuste und sagte fest: "Ich könnte dir helfen und eine endgültige Lösung in Auftrag geben – wenn du das wolltest. Man kann Vorgaben machen, weißt du? Richtlinien, die beispielsweise ein besonders schnelles oder schmerzfreies Ende anordnen..."

Konstantina sprang mit kalkweißem Gesicht auf und starrte ihre Mutter an. "Du hast nie an jemanden anders gedacht, als an dich, stimmt es nicht? Du wolltest genau das erreichen! Vater hat gar nicht..." Sie stand mit ihrem leuchtend blonden Haar unbestritten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Hanna betrat den Raum, grummelnd und leise über die unverschämte Jugend schimpfend, als sie der ungewöhnlichen Stimmung im Zimmer gewahr wurde und ebenfalls verstummte.
Konstantina stammelte fast, als sie ihrer blassen Mutter hysterisch vorwarf: "In Wirklichkeit war alles ganz anders und deswegen gibt es keine Beweise gegen ihn... schließlich warst du in der Nacht auch außer Haus!"
Ophelia schnappte erschrocken nach Luft und sah schnell zwischen den Anwesenden hin und her.
Die Schwarze Witwe lehnte sich mit glitzerndem Blick in den gepolsterten Sitz zurück und betrachtete nachdenklich ihre Freundin.
Dieser stand der Trotz ebenso in den Augen, wie die Tränen: "Es war ein Unfall!" Ihre Augen weiteten sich, sie schluckte. "Ich... ich wollte es nicht... sie hat geschimpft und mir Vorwürfe gemacht, dass ich nichts unternommen hätte, indem ich ihn mit euch verlassen hätte. Sie wollte sich eine eigene Wohnung suchen und eine Arbeit – irgendwo... und... und sie hat die ganze Zeit nur über meinen missbilligenden Blick auf die Weinflasche gelacht... ich sei schon ebenso angepasst und tot wie alle andern... sie spottete und ging zu dieser Mauer... sie forderte mich auf, mal dort herauf zu klettern um wieder etwas anderes zu fühlen... um das Leben in meinen Adern pulsieren zu fühlen, wenn denn noch welches über wäre! Und dann..." Ellis Tiara wurde plötzlich ruhig, fast gelassen, als sie die Erinnerungen passieren ließ. Ihr glasiger Blick verfolgte das Geschehen noch einmal. "Sie stolperte. Über einen kleinen Stein. Sie ist einfach gefallen und nicht mehr aufgestanden. Sie hat geblutet, am Kopf. Ich sah das viele Blut an der Mauer und dem Boden. Und ihren Blick. Er war immer noch so unglaublich vorwurfsvoll! Sie ist nicht aufgestanden, hat sich nicht mehr gerührt. Ich habe auf sie herunter gesehen und gewartet. Aber sie hat mich nur noch angestarrt... dann... bin ich nach Hause gegangen." Die Tränen versiegten unvergossen und die Frau auf dem Sofa starrte an den anderen vorbei ins Leere.

Lady Marakesch legte sich sehr nachdenklich eine Hand vor den Mund und betrachtete Ellis.
Konstantina war dem Weinen nahe: "Wie konntest du sie einfach dort liegen lassen? Und dann nichts sagen, keinem von uns? Und Vater..." Sie holte schluchzend Luft. "...ich dachte die ganze Zeit... warum hast du nichts zu seiner Verteidigung gesagt?" Sie wartete vergebens auf ein Wort oder eine Geste der Entschuldigung. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte aufschluchzend in den Flur.
Hanna begann warnend zu protestieren, doch Lady Marakesch kam ihr zuvor: "Ophelia... geh ihr nach und rede ihr gut zu, soweit du es vermagst. Sie kann jetzt nicht auf die Straße, das ist zu gefährlich. Wir können nur gemeinsam gehen."
Ophelia sprang auf und folgte der Anweisung, wobei sie sich fröstelnd eingestand, dass sie eine selbst erdachte Geschichte vielleicht nicht so weit zu treiben gewagt hätte. Und als sie das blonde Mädchen an der Tür einholte, um deren bebende Hände von den Ketten zu lösen, kam ihr der zweite unwillkommene Gedanke: dass es heute noch später als sonst werden würde, bis ihre eigene Mutter sie wieder daheim begrüßen und einsperren könnte.

Wache Kröselstraße


Ophelia rieb sich unauffällig über die müden Augen. Als sie sie wieder öffnete besserte sich ihr verschwommener Blick nur graduell.
Vielleicht lag es ja auch daran, dass sie dem Schichtplan gerade einfach keinerlei Logik zusprechen konnte?
Innerlich zuckte sie mit den Schultern.
Konnte ihr im Grunde egal sein.
Sie zog umständlich ihr Notizbuch aus der Gürteltasche und suchte dann nach dem dazugehörigen Stift.
Sie sollte die Ereignisse der letzten Tage aufschreiben... Um sie nicht zu vergessen?
Fast hätte sie humorlos aufgelacht.
Und um aus ihnen eine Geschichte zu machen, würde sie die Geschehnisse erst recht nicht aufschreiben!
Sie kramte etwas tiefer in der Tasche, wobei ihr das Heft aus der anderen Hand rutschte. Seufzend bückte sie sich. Heute war nicht ihr Tag, so viel stand fest. Als sie das Buch aufhob, blickte eine geknickte Ecke ein Stück weit heraus. Sie zog vorsichtig an der Papierseite und drehte den Zettel dann in Gedanken versunken in der Hand.
Jack und seine Freunde!
Sollte sie sich darum bemühen, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen?
Um ihnen was zu erklären? Tschuldigung, ihr habt euch geirrt – es war wirklich nur ein Unfall, also ist alles in Ordnung?
Sie beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen, steckte den Zettel in die Tasche, fand den Stift und schrieb sich schnell den Plan ab. Sie würde heute Nachmittag noch Konstantina besuchen gehen, das hatte sie Lady Marakesch versprochen.
Ach!... Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Das hatte sie ihrer Mutter gar nicht mehr sagen können. Gestern, beziehungsweise heute, war sie erst so spät zurückgekommen, dass alle schon längst schliefen. Und als sie die Wohnung vor wenigen Stunden verließ, war ihre Mutter noch beim Ankleiden gewesen. Also würde es heute wieder spät werden und der Haussegen neuerlich schief hängen. Nun denn... Sie konnte es wirklich nicht mehr allen recht machen und der Besuch bei Konstantina war wichtig.
Wie es wohl weitergehen würde?
Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass Ellis Tiara nicht wieder zu ihrem Mann zurückkehren würde. Vermutlich würden sie bald offiziell die Trennung bekannt geben, der Skandal wäre erheblich, die Gerüchte würden kurzzeitig in Wildwuchs sprießen und die Familie schnell von der gesellschaftlichen Bildfläche verschwinden. Und Konstantina? Lady Marakesch hatte sich noch nicht dazu geäußert aber...
"Rekrutin Fiegenberger?"
Ophelia blinzelte. "Oh, Mam, tut mir leid, ich war gerade in Gedanken..." Sie knickste im Reflex.
Ihre Vorgesetzte schien heimlich darüber nachzudenken, ob es sich vielleicht doch eher um einen Defekt an den Ohren handelte und sie einfach ein neues Paar bräuchte. Andererseits hatte Rogi diese Symptome in den Monaten ihrer Versetzung viel zu häufig beobachtet, um sie noch ernst nehmen zu können. "Daf war fu fehen."
Ophelia wich dem irritierenden Blick der verschiedenfarbigen Augen aus. "Hatten Sie etwas gesagt, was ich überhört haben könnte?"
Die Igorina nickte. "Ich wollte dich an dein morgigef Gefpräch mit Oberleutnant Lanfear erinnern."
Der Groschen schien bei der Rekrutin noch nicht zu fallen, wie Rogi Feinstich wegen des leeren Blickes vermutete. Sie fügte hinzu: "Der Termin fu deiner Abteilungfwahl."
Die junge Wächterin erinnerte sich schlagartig an das vorangegangene Gespräch und begann eifrig zu nicken. "Natürlich, ja, jetzt wo Sie es sagen, danke Mam! Ich werde daran denken."
Ophelia blickte der Igorina kurz nach.
Und war in Gedanken schon wieder ganz woanders.

Zu Hause


Die Beine taten ihr weh und ihr Herz war vom verstörenden Besuch bei Konstantina ganz schwer. Den ganzen Tag war sie unterwegs gewesen, nur um sich ihre Grenzen eingestehen zu müssen. Mochte Lady Marakesch auch noch so sehr betonen, Wunden müssten langsam heilen und Wut zu allererst hell brennen – es war frustrierend. Als wenn sie gegen eine Wand oder mit einem Stein reden würde! Die schweren Wächterstiefel hingen wie Bleiklumpen an ihren Beinen. Ophelia biss die Zähne zusammen und verlagerte vorsichtig das Gewicht auf die vorderen Ballen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Es wurde wirklich Zeit für einen Abteilungswechsel; sie konnte diese Kleidung nicht mehr lange ertragen! Immerhin lag dieser Tag fast hinter ihr und sie konnte gleich ins Bett fallen, um noch einige Stunden Schlaf aufzuholen.
Vorsichtig öffnete sie die Wohnungstür.
Sie putzte ihre Schuhsohlen auf der großen Matte ab, was ihre Augen etwas mehr glitzern ließ. Eben hatte sie sich dazu gebückt, die Schnüre zu öffnen, als sich vor ihr etwas regte. Ihre Mutter.
Kathrine bedachte sie mit einem eindringlichen, prüfenden Blick. Und drehte sich wortlos um. Sie ging in die Küche, wo kurz darauf leises Klappern erklang und das Klacken und anschließende Zischen des Drachen. Ihre Mutter setzte Teewasser auf.
Ophelia verharrte noch immer etwas durcheinander in der gleichen unbequemen Position, bis das Ziehen in den Waden sie zu sich brachte. Schnell stellte sie die Stiefel neben den Eingang. Vorsichtig blickte sie um den Rahmen der Küchentür.
Ihre Mutter saß mit aufgestellten Ellenbogen am Küchentisch und stützte ihr Kinn in die Hände. Ihr Blick war voller Emotionen, doch welche genau das sein mochten, war schwer zu sagen.
"Stimmt irgendetwas nicht?"
Kathrine Ziegenberger war noch immer gekleidet, wie zu einer Teegesellschaft. Das rote Haar, das dem ihrer Tochter so sehr glich, war zu einem strengen Dutt hochgesteckt, die kleinen Edelsteine in den Ohrringen und dem Collier schimmerten im ruhigen Licht der Petroleumlampen. Bei der unsicheren Frage ihrer Tochter schloss sie kurz die Augen und atmete tief durch. Als sie sie wieder öffnete rang sie sich ein unbeholfenes Lächeln ab. "Ellis Tiara hat heute verlauten lassen, dass sie ihrem Mann ihr volles Vertrauen ausspricht und den bösartigen Gerüchten um den Tod ihrer älteren Tochter jeglichen Nährboden entziehen möchte." Als Ophelia nichts darauf antwortete, fuhr sie fort. "Gleichzeitig war dennoch die Rede davon, dass sie sich vom gesellschaftlichen Leben und von ihrem Mann zurückziehen werde." Die Frau am Küchentisch legte den Kopf leicht schräg, als sie fragend ausführte: "Du warst mit uns auf der Beerdigung. Und du hast Fragen gestellt, als Amalgam zu Besuch war. Ja, da!
s habe ich bemerkt." Sie ließ die Hände auf die Tischplatte sinken. "Du warst aber auch mit Lady Marakesch zusammen. Diese Frau ist dafür bekannt... Unruhe zu stiften. Und am nächsten Tag schon solche Neuigkeiten!"
Ophelia befürchtete, dass dieser Aussage Vorwürfe folgen würden. "Es ist nicht so wie du denkst..." Sie wollte sich rechtfertigen, alles erklären. Doch wie viel von all dem war für fremde Ohren bestimmt? Das alles war schlimm genug, ohne dass ihre Mutter etwas daran ändern können würde. Doch ihre Mutter unterbrach sie: "Es ist also wahr. Du hattest die ganze Zeit über damit zu tun." Wieder hob sie abwinkend die schmale Hand. "Nein, du musst dich nicht verteidigen. Ich vermute, dass das alles mit deiner... Arbeit zu tun hat und..." Kathrine atmete nochmals durch, als wolle sie sich für das Folgende stählen: "...ich respektiere das."
Ophelia war sprachlos. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
Ihre Mutter erhob sich schnell von dem ungewohnten Platz und vervollständigte Ophelias Verblüffung, als sie sie mit einem Wink dazu aufforderte, sich zu setzen und dann stumm den Tisch deckte. Ein kräftig duftender, warm dampfender Eintopf erschien vor ihr, zusammen mit einem klobigen Teepott, den sie noch nie zuvor gesehen hatte und einer dicken Brotscheibe.
Kathrine deutete freundlich auf das untypische Gedeck. "Iss nur! Es ist ein altes Rezept deiner Großmutter väterlicherseits, Julia." Sie blickte etwas verlegen. "Ronald hat es als Kind wohl immer gerne gegessen, so dass ich es in der ersten Zeit nach unserer Hochzeit häufiger zubereitet habe. Es ist... etwas deftiger. Vielleicht das richtige nach einem... anstrengenden Tag?"
Ophelia wusste nicht, was sie erwidern sollte – und nahm stattdessen den großen Silberlöffel auf.

Wache Pseudopolisplatz


Sie stand vor der richtigen Tür und musste nur noch anklopfen. Oder sollte sie hier warten, bis sie hereingerufen würde? Vielleicht würde das aber den Eindruck vermitteln, sie wäre noch nicht erschienen und saumselig mit der Zeit anderer?
Ophelia klopfte nervös an.
Irina Lanfears Stimme ertönte gedämpft von drinnen: "Herein!"
Sie betrat das kleine Büro der R.U.M.-Abteilungsleiterin. "Rekrutin Ophelia Ziegenberger. Ich sollte mich vorstellen."
Leutnant Lanfear sah ihr erwartungsvoll entgegen: "Ah, Rekrutin Ziegenberger. Hast du nicht etwas vergessen?" Sie zog eine Augenbraue hoch.
Die junge Frau vor dem Schreibtisch wurde noch etwas nervöser. Konnte sie schon jetzt einen Fehler begangen haben, in den ersten zwei Minuten des Bewerbungsgesprächs? "Entschuldigen Sie bitte, ich weiß leider nicht, was Sie meinen?"
Die Abteilungsleiterin seufzte leicht. "Hat man euch bei GRUND das Salutieren nicht beigebracht?"
Ophelia erschrak und holte das Vergessene sofort nach. Wie peinlich! Hoffentlich dachte die Frau hinter dem Schreibtisch nun nicht schlecht über die Igorina und deren Lehrmethoden.
"Besser. Setz dich doch, Gefreite!"
Irina Lanfear blickte nur kurz auf eine dünne, vor ihr aufgeschlagene, Akte, bevor sie die Rekrutin wieder mit ihrer vollen Aufmerksamkeit bedachte. "Dein Vater ist Mit-Herausgeber des Almanachs. Denkst du, dass dein Familienname dadurch einiges an Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte? Ich meine, würdest du sagen, du und deine Eltern sind in gewissen Kreisen bekannt?"
Ophelia hatte darüber noch gar nicht so sehr nachgedacht. Die Frage war natürlich im Zusammenhang mit ihrem Stellengesuch zur Verdeckten Ermittlerin zu sehen. Sie nickte zögerlich. "Ich denke schon. Aber man stellt sich doch nicht den Informanten vor. Also... ich habe das so verstanden, dass man im Hintergrund bleibt, nicht wahr?"
Ein abwägender Blick studierte ihr Gesicht. "Sicherlich, das ist schon klar. Aber stell dir einmal vor, ich wäre verdeckte Ermittlerin. In einigen Kreisen bin ich so bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Da könnte ich mich noch so gut verkleiden, man würde mich erkennen, einfach weil man mich oft im Zusammenhang mit meiner Familie sieht. Deshalb möchte ich wissen, ob das auch auf dich zutrifft."
Die Rekrutin wand sich etwas bei der Frage. "Was verstehen Sie unter "gewissen Kreisen", Mam?"
"Nun ja, bei mir ist es sozusagen der gesamte Hochadel der Stadt und einiges, das sich für adelig hält. Also eigentlich jeder, der etwas auf sich hält. Besuchst du mit deiner Familie des Öfteren offizielle Anlässe wie Bälle, etc.?"
Ophelia schüttelte den Kopf. "Nein, Mam. Wir besuchen zwar manchmal Teegesellschaften und Abendgesellschaften aber auf einem Ball war ich bisher noch nicht."
"Das ist ja schon mal eine gute Nachricht." Nach einem weiteren langen Blick schloss sie: "Ich würde sagen, wir probieren es einfach einmal mit dir. Du, beziehungsweise wir, werden schnell feststellen, ob du bei verdeckten Operationen auffliegst. Wenn dem so ist, müssen wir ein neues Aufgabengebiet für dich finden."
Ophelia konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. "Danke, Mam." Sollte es das tatsächlich schon gewesen sein? Dieses kurze Gespräch?
Die Abteilungsleiterin beugte sich vor und lächelte kurz. "Für Fragen bezüglich deiner Ausbildung wird dir Tricia McMillan zur Seite stehen. Außerdem findest du in unseren Bücherregalen auch noch einen Leitfaden für verdeckte Ermittler, der dir sicher auch nützliche Informationen liefern kann."
Die rothaarige Rekrutin dachte in diesem Moment daran, wie intensiv sie diesen Leitfaden schon gelesen hatte. Dann fiel ihr wieder der Moment ein, in dem sie mit hochrotem Kopf vor die Tür Lady Marakeschs Stadtresidenz verwiesen worden war. Sie hatte noch viel zu lernen.
Sie wandte sich an der Tür noch ein letztes Mal zu ihrer neuen Vorgesetzten um, die jedoch schon wieder mit Eintragungen in den Unterlagen vor sich beschäftigt war.
Ophelia hatte sich umgehört: Irina Lanfear hatte das geschafft, was sie selber anstrebte – ein ungewöhnliches Maß an Unabhängigkeit für eine Frau ihres Standes! Ophelia würde die Abteilungsleiterin beobachten und so von deren Selbstbewusstsein lernen. Sie würde sich darin üben, besser mit dem schwierigen Spagat zwischen Familienverpflichtungen, gesellschaftlichen Forderungen und ihren eigenen Wünschen umzugehen. Niemand sollte sie soweit bringen können, dass sie ihr Leben von anderen bestimmen ließe oder die Menschen in ihrer nächsten Umgebung zu verachten begänne.

Friedhof


Ein Junge stand einsam vor einem schmalen Grab, das von welken Blumen begraben war. Er blickte sich kurz um und schob alle Blumen fort. Dann legte er eine einzelne Rose auf die frische Erde. Einen Augenblick noch blieb er in der Hocke. Dann flüsterte er zum Grabstein hin: "Wir kriegen ihn, keine Sorge. Ich weiß, dass er es war, ich weiß es! Der Dreckskerl wird sein Fett wegbekommen!"
Bei dem Wort 'Dreckskerl' spukte der Junge beiseite, auf einen besonders großen Kranz mit Schärpe, auf dem der Schriftzug prangte: "Vom liebenden Vater".
[1] Nicht sich selbst. Der Rauch deutete auch nicht auf Vampire hin, die sich mit der Sonnenintensität verschätzt hätten [3], sondern auf gekonnt in Schwung gehaltene Feuerstellen für kleine Brutzelbrocken.

[2] Natürlich schön voneinander getrennt. Die dünne Grasnarbe der Trennung bildete die Rechtfertigung für das Wörtchen "fast"

[3] Wenn man sich genauer umsah konnte man sogar feststellen, dass so gut wie gar keine Vampire bei dieser Lustbarkeit vertreten zu sein schienen.

Kritik erwünscht



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Tussnelda von Grantick

20.09.2005 11:46

Ein Zeitfehler war drin. Frän Fromm wird dort schon als voll ausgebildete gehandelt, ich schätze aber nicht, dass sie das schon war, als Ophelia noch Rekrutin war.
Dann der Absatz: "nur aufgrund einer lächerlichen Mutprobe ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben" heißt es, nachdem vorher auf die Undurchsichtigkeit der Todesursache gepocht wurde. Da wurde ein Sachverhalt ins Licht gerückt, der hätte IMHO erarbeitet werden müssen. Ich hätte das gestrichen, vor allem angesichts des folgenden Gesprächs zwischen Konstantina und ihrem Vater. Hätte mir auf jeden Fall so besser gefallen*gg*.

Alles sehr schön formuliert, viele bildhafte Darstellungen, die sehr lebhaft wirken.
Ein sehr schöne Szene war die Theoriestunde. Das Wechselspiel zwischen dem Vortrag und Ophelias Gedankenwelt war klasse.
Schön auch das Gespräch mit dem Golem Kurbel!
Fazit: Eine sehr gute Mission, ich weiß nicht ob ich das so gut könnte.

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung