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von Hauptgefreite Magane (FROG)
Online seit 20. 05. 2005
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Außerdem kommen vor: Araghast Breguyar – Romulus von Grauhaar – Irina Lanfear
Vorbemerkung: Dieses Verbrechen wird nicht aktenkundig. Es ist kein Fall, an dessen Ende die Täter in den Kerker geworfen werden. Es gibt keine Anklage, keinen Richter. Weil ich es nicht übers Herz brachte, die Mörder noch mehr zu bestrafen, habe ich ihnen doch meine Mordgelüste eingeflößt.
Jegliche Ähnlichkeiten mit tatsächlich existenten Personen sind zwar beabsichtigt, aber nicht böse gemeint.
Im Dunkeln flüsterten die Akten. Kein magisches Glühen umgab den Ort, es war ja noch nicht mal eine richtige Bibliothek... es war das Archiv der Wache, oder genauer gesagt der Abteilungen RUM, SUSI, SEALS und FROG. Wahrscheinlich hätte sich auch IA hier befunden, wenn die Aufzeichnungen zu Dienstvergehen nicht etwas diskreter behandelt worden wären (GRUND und DOG hatten eigene Archive). Hier befanden sich hauptsächlich Berichte, Analysen, püschologische Gutachten, weitere Berichte, wichtige Memos, dekodierte Hinweise, andere Berichte und Zeugenaussagen.
Aber genau wie bei Büchern war auch immer etwas vom Autor in ihnen zurück geblieben, so dass die Ermittlungsakten ein klein Wenig mit den ermittelnden Wächtern gemein hatten - zumeist handelte es sich hierbei um grauenhafte Zeichensetzung und Rechtschreibung, aber hin und wieder verirrte sich auch mal ein bissiger Kommentar an den Rand. Sie hatten Persönlichkeiten, die den normalen Lesern allerdings vollkommen verborgen blieben. Ihnen fehlte die Magie um Menschen zu beeinflussen, doch wenn sie allein waren, dann flüsterten sie, gaben voreinander an, zogen ihre eigenen Schlussfolgerungen, wenn es ihnen auch nie gelang, diese irgend jemandem zu erklären.
Meistens waren die Akten allein, schlecht archivierte Erinnerungen an lange Verstorbene. Doch in der letzten Zeit war es unter ihnen unruhig geworden. Jemand stapelte sie anders, las in ihnen und verschüttete sogar Tee über sie!
Magane hatte ihre Strafe hinter sich gebracht. Pünktlich zum Schneevaterfest war sie zur Hauptgefreiten befördert worden – warum auch immer – und alles war bestens, so dass einem friedlichen Jahreswechsel nichts mehr im Wege stand. Das Huhn war schon gefüllt, der Pudding, das Gemüse und die Klöße waren nur noch wenig Arbeit. Alles war vorbereitet, Ktrask war übers Fest bei seiner Familie in Quirm, Mag hatte Bereitschaft, das war nicht weiter übel... alles in Allem: Alles bestens!
Allerdings keimte in ihr leichtes Unbehagen auf, als sie am Morgen einen Zettel an ihrer Tür fand: der Schäff wollte sie sprechen. Ob das was mit der Strafe zu tun hatte oder mit schlechter Laune von Seiten des Feldwebels?
Sie hatte sich Zeit gelassen, denn auf dem Zettel stand nichts von 'besonders dringend'. Offenbar brannte es nicht.
Wenigstens war sie allein, Laiza war seit der Beförderung zur Hauptgefreiten noch weitaus ätzender geworden, als sie es sowieso schon gewesen war. Ein laizafreies Büro strahlte eine gewisse Harmonie aus [1]. Ihr Schreibtisch sah aus wie ein Schlachtfeld - was daran lag, dass sie seit einigen Wochen Schlachten aus dem Buch Strategie für Anfänger - erklärt an Beispielen aus der Geschichte nachstellte und die Rolle der Schützen analysierte. Mit einer strategisch klugen Handbewegung wischte sie Napalöwes Heer zur Seite und kürzte damit die Schlacht bei den Lauen Wassern (auch ein Ort in der Nähe von Schnitte) etwas ab. Eigentlich schade... grade hatte sie festgestellt, dass sie Napalöwes Mannen zu einem Sieg hätte führen können. Von oben sah alles so einfach aus. Aber zum Spielen... ähm... Nachstellen und Analysieren war jetzt keine Zeit, schließlich wollte der Feldwebel sie sprechen und sie sollte nicht riskieren, dass er wütend würde. Er gehörte nun wirklich zu den unangenehmeren Leuten in der Wache.
Leise vor sich hin murmelnd verließ die junge Frau ihr Büro. In der einen Hand hielt sie eine Tasse ehemals heißen, beinahe unberührten, Kräutertees und in der anderen den Zettel. Sie nippte an ihrem Tee, Kaffee schadete dem Kind, hatte ihre Oma gesagt und die musste es wissen, schließlich hatte sie etwa die Hälfte des Dorfes auf die Welt geholt, kannte die Mütter und wusste wie die Kinder sich entwickelt hatten. Also Tee - seit vier Monaten Tee! Fast waren es fünf, schließlich war ihr schon bevor sie von der Schwangerschaft gewusst hatte beim Geruch von Kaffee schlecht geworden.
Inzwischen war das alles kein Geheimnis mehr. Zwar hatte noch niemand offiziell gesagt, dass sie die kommenden Monate einen schönen warmen Platz an einem Schreibtisch zugeteilt hätte, aber der Dienstplan sprach Bände. Und die Tatsache, dass sie beim letzten Einsatz, trotz Bereitschaftsdienstes, nicht dabei gewesen war, war auch sehr deutlich gewesen. Sie setzten sie nicht mehr ein. Wahrscheinlich war es nur noch eine Frage der Zeit bis man aus ihr einen "Triffinsziel im Innendienst" machen würde. Ein Widerspruch in sich. Sie sollte eine Dartscheibe beantragen, um sich nicht so lächerlich zu fühlen.
Sie knüllte den Zettel zusammen und warf ihn durch ihre offene Bürotür auf den überlaufenden Mülleimer, von wo er herunterkullerte, um unter dem ramponierten Stuhl liegen zu bleiben. Dann trank sie den Tee aus und überlegte einen Moment lang die Tasse hinterher zu werfen, entschied sich aber anders und stellte sie sie auf den Tresen – irgend jemand würde sie schon wegräumen, wenn sie im Weg wäre – und ging noch mal zurück, um die Tür zu schließen.
Dann machte sie sich langsam auf den Weg zum Büro des Feldwebels. Sie fragte sich inzwischen immer öfter, warum sie sich damals für FROG entschieden hatte. Es gab so schöne Spezialisierungen in den anderen Abteilungen und nur weil es während ihrer Grundausbildung so aussah, als könne sie nichts anderes als schießen, hatte sie doch nicht gleich zu FROG gehen müssen.
Warum musste sie sich nun mit diesem Abteilungsleiter herumschlagen?
Gespräche mit dem Feldwebel gestalteten sich immer etwas schwierig. Zumindest wenn er einen nicht mochte (und dieses Gefühl zudem auf Gegenseitigkeit beruhte). Er zeigte einem deutlich, dass er schon Dingen in dunklen Felsspalten begegnet war, mit denen er lieber sprach.
"Es geht um deinen momentanen Zustand.", kam er nach dem unerlässlichen Vorgeplänkel - die Begrüßung machte der Obergefreiten schnell klar, dass sie erstens ungelegen kam und zweitens nichts zu wollen hatte – doch recht schnell zur Sache.
"Ja?" Kurz überlegte sie auf unschuldig zu plädieren, kam aber dann zu dem Schluss, dass das wohl niemanden mehr überzeugen konnte.
"Also, um es kurz zu machen: Da du und Ktrask, oder wer auch immer, bewiesen habt, in einer kritischen Situation keine Ahnung vom richtigen Gebrauch eines Keinesorges zu haben, sehe ich mich gezwungen, dich bis auf Weiteres aus dem aktiven Dienst zurückzuziehen."
"Damit hab ich... gerechnet." Sie holte tief Luft und vertrieb damit die Visionen, über sie lachender Schatten. Zumindest gelang es ihr, sich das einzureden, bevor sie zögernd fragte: "Und was soll ich in den kommenden Monaten genau tun?"
"Nun, wir können es uns nicht erlauben, dass du untätig herumsitzt. Deshalb wirst du während dieser Zeit gewisse Ersatzdienste innerhalb des Wachhauses verrichten.", Araghast Breguyar verkniff sich ein hinterhältiges Lächeln. Sie würde ordnen, wo noch kein Mensch zuvor geordnet hatte. Es gab nur wenige Dinge auf der Welt die langweiliger waren – und nervenaufreibender.
"Ersatzdienste?"
Der Feldwebel ließ sie noch einen Moment schmoren und antwortete erst dann: "Leutnant Irina Lanfear hat mir gesagt, dass sie dringend jemanden braucht, der mal die Aktenberge in ihrem Büro abträgt und sortiert.", Magane zog ein angewidertes Gesicht. Damit hatte sie nicht gerechnet. RUM war eine sehr aktive Abteilung, sicherlich war der Begriff Aktenberge nicht übertrieben. Grade, als sie zum Widerspruch ansetzen wollte, fügte der Abteilungsleiter hinzu: "Doch, das wirst du tun ohne zu knurren, Hauptgefreite Schneyderin! Und wenn du schon mal dabei bist", ein dämonisches Funkeln blitzte in seinem Auge auf, "kannst du auch gleich etwas Ordnung ins Archiv bringen."
"Okay, Sör... klar... Hab ja eh' keine andere Wahl."
Araghast hatte mehr Widerstand erwartet.
"Oberleutnant Lanfear wird mir jede Woche einen Bericht über den Verhalten zukommen lassen. Nur damit du nicht auf dumme Gedanken kommst."
"Sehr schön... und das soll ihr die Arbeit erleichtern? Was sollte ich denn schon anstellen?"
"Sie sagte, sie ersticke in Papierkram. Und jemand, der das Ganze ordnet, wäre ihr eine große Hilfe. Dann tust du wenigstens etwas Anständiges, anstatt für Herumsitzen und den dicken Bauch streicheln Sold zu beziehen."
Magane sah ihn grimmig an, Ja, Sör, ich hasse dich auch...
Feldwebel Breguyar erwiderte den grimmigen Blick und dachte darüber nach, womit ausgerechnet er die Wächter verdient hatte, die nur in die Abteilung kamen, weil sie als kühl galt und absolut nichts mit Arbeit am Hut hatte. Sich für eine Abteilung bewerben und dann gleich erstmal schwanger zu werden, ja, genau so mochte er seine Untergebenen.
"Du hast mich verstanden. Am nächsten Montag fängst du aushilfsweise bei RUM an und jetzt werd bloß nicht frech, Obergefreite Schneyderin."
Nein. frech würde sie bestimmt nicht werden. Aber so konnte das auch nicht im Raum stehen bleiben.
"Sör, auch wenn Sie sich das vielleicht nicht vorstellen können, aber ich hab's mir nicht ausgesucht."
Araghast Breguyar lachte höhnisch auf, "Ist die Benutzung eines Keinesorges so schwer? Heutzutage muss keine Frau mehr Kinder bekommen, wenn sie nicht will. Oder widerspricht das irgendwelchen obskuren religiösen Grundsätzen?"
"War das alles, Sör? Kann ich gehen?" Magane wusste, dass er sie innerlich wegen des Glaubens ihres Ehemannes und ihres Verhaltens dazu verspottete. Aber was wusste der schon von Ehre und Ansehen der Familie.
"Meinetwegen kannst du wegtreten." Und dort bleiben wo der Pfeffer wächst, ergänzte sein Blick, der für die Obergefreite vollkommen ausreichte, um sich getreten zu fühlen. Ein Hund hätte wahrscheinlich gewinselt aber die junge Wächterin war dazu mit Sicherheit viel zu stolz. Deswegen beschränkte sie sich darauf zu salutieren und zu gehen.
Wie jeden Morgen klopfte Magane an die Tür des Büros von Oberleutnant Irina Lanfear. Es hatten sich tatsächliche wahre Papierberge im Laufe der Zeit angesammelt. Anscheinend hatte die gesamte Abteilung das Büro ihrer Abteilungsleiterin als Archiv genutzt.
Sie wurde herein gebeten, salutierte und murmelte: "Guten Morgen". Hier roch es meist nach Kaffee. Die RUMs wirkten zum großen Teil dauermüde. Dabei hatten sie doch ganz normale Arbeitszeiten.
Die Hauptgefreite versuchte möglichst nicht aufzufallen, während sie einen Stapel Akten zusammensuchte und Rina und Romulus Abteilugsleitersachen machten und vorgaben, sie nicht zu bemerken.
Die Papierberge des Oberleutnants abarbeiten, sortieren und sinnvoll einzuordnen war keine besonders schöne Aufgabe aber auf diese Art war sie dem direkten Einfluss Oberfeldwebels Breguyar entzogen, der erstens immer ätzend und zweitens momentan besonders unerträglich war. Rina ließ sie einfach ruhig vor sich hinarbeiten. Solange sich etwas bewegte, würde sie die Hauptgefreite nicht mit zusätzlichen Anforderungen belasten. Sie wusste, dass sich das Büro schon eine Woche, nachdem sie mit dem Aufräumen aufgehört haben würde, wieder in seinen alten Zustand zurückverwandeln würde. Nichts änderte sich nur, weil jemand 5 Monate lang Papier stapelte und wegräumte. RUM war eine Abteilung, in der es weit ruhiger ablief, als bei den FROGs. Hier herrschte gut eingearbeitete Routine, hier wurde tatsächlich gearbeitet, aktiv ermittelt. Wahrscheinlich kannten sie hier das Wort Übungseinsatz gar nicht. Irgendwie erschien es Magane seltsam, dass Ermittlungsarbeit Ruhe in eine Abteilung bringen konnte.
Mag hatte das unbedingte Gefühl, allen nur zur Last zu fallen. Bregs war sicher froh, sie los zu sein. Aber sie zweifelte daran, dass sie Rina tatsächlich Arbeit abnahm. Ktrask hatte kaum noch Zeit für sie, was natürlich vollkommen klar war. Schließlich musste er einen großen Teil ihrer Arbeit mit erledigen. Eigentlich musste er alle Arbeit machen. Eine Zeitlang waren sie zu dritt gewesen und hatten sich bei den häufigen Übungen und den seltenen Einsätzen gegenseitig auf den Füßen gestanden, doch nun war sie in den Innendienst verbannt und Zad war wieder verschwunden, während Ktrask allein das Ziel von Bregs Wahnsinnsanfällen darstellte. Dem Abteilungsleiter der Freiwilligen Retter Ohne Gnade schien es neuerdings zu gefallen, seine Leute durch höllische Übungseinsätze zu quälen. Von dem lockeren Klima, das früher einmal bei FROG geherrscht haben sollte, war nichts mehr übrig geblieben.
Noch vor wenigen Monaten hatte sie eine Strafversetzung gefürchtet, doch jetzt erschienen ihr die anderen Abteilungen so... friedlich.
Die beiden RUM-Schäffs unterhielten sich leise über die neuen Abteilungsmitglieder. Magane war hier noch immer - auch nach nunmehr drei Monaten - ein Eindringling, gekennzeichnet durch die grünschwarze Uniform und den Frosch auf der Brust. Ein Frosch unter Drachen.
Die Hauptgefreite riss sich zusammen und griff nach dem inzwischen doch recht großen Stapel aus ungehefteten Berichten und unordentlichen Akten, um mit diesem das Büro zu verlassen.
Eine Gruppe Schüler folgte einem alternden Priester durch die Bibliothek. Dies kam einmal wöchentlich vor. Er führte sie zu einem - seiner Meinung nach - besonders interessanten Buch, aus dem er ihnen einen Text diktierte, den sie dann übersetzen sollten. Sie alle waren einzig bewaffnet mit einem Bleistift und zwei großen schweren Büchern. Das eine war der CISDUR [2], das kleine Schul- und Handwörterbuch Altephebianisch, ein in dunkelgrünes Leder gebundener Band, benannt nach Karl-Willhelm Cisdur, einem der wenigen Forscher auf dem Gebiet des Altephebianischen. Das andere Buch war der kleine WASTOSSER - Latatianisches Schulwörterbuch [3], benannt nach einem Studienkollegen Cisdurs namens Joseph Maria Wastosser, eine Kapazität im Latatianischen. Die beiden Männer hatten vor über hundert Jahren gemeinsam an ihrem Lebenswerk geforscht und geschrieben und damit Generationen von Schülern ins Unglück gestürzt. Sie hatten ihr Leben den beiden berüchtigtsten untoten Sprachen [4] der Scheibe gewidmet: latatianisch und altephebianisch.
Die Schüler waren zum großen Teil angehende Priester diverser Glaubensrichtungen die diese Sprachen zum Studium ihrer heiligen Schriften brauchten. Oh ja, sie brauchten sie wie Zahnschmerzen in den Sommerferien, wie ein Tauber Musik, wie ein Zauberer einen Diätratgeber. Nur, weil irgendwelche längst verstorbenen Männer vor Jahrhunderten Briefe an befreundete Gemeinden geschrieben hatten und dabei zufällig Altephebianisch oder Latatianisch schrieben, mussten sie alle nun diese Sprachen erlernen und dabei wertvolle Jahre ihrer Jugend vergeuden.
Aber heute Abend würde sich alles ändern.
Sie waren sich einig.
Er wusste nicht, warum er seine Ausbilderin ausgerechnet im Archiv treffen sollte. Was machte ein Triffinsziel im Keller? Sicher, er hatte schon von ihr gehört aber in der letzten Zeit schien es stiller um diese Hauptgefreite geworden zu sein. Und offenbar hielt sie sich seit Monaten im Keller auf. Und genau dorthin war Halbtag Baumfellerson, das neueste Mitglied der Freiwilligen Retter Ohne Gnade, unterwegs. Wahrscheinlich wusste seine Ausbilderin noch nichts von ihrem Glück, wahrscheinlich hatte sie noch nicht einmal mitbekommen, dass es ihn gab. Halbtag hatte sich entschieden, Triffinsziel zu werden, weil er wirklich gut schießen konnte und weil er nicht ganz zu Unrecht glaubte, dass ihn das für diesen Dschob qualifizierte. Eigentlich hatte er geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass seine erste Prüfung ein dunkler Keller sein sollte.
Der Gefreite klopfte an die Tür und bekam keine Antwort. Nach einigen Minuten des Wartens öffnete er die Tür und ging - obwohl es ihm beinahe schwindelig wurde vor Platzangst – hinein.
"Ha... hallo? Ist hier jemand?" Nur gähnende Stille antwortete. Sie schien nicht hier zu sein, also setzte er sich und wartete.
Langsam schloss sich der Kreis um den alten Priester.
Sie hatten ihn in die Enge getrieben, immer tiefer in die Bibliothek hinein, beziehungsweise aus ihr heraus. Einer von den Kleineren, Unscheinbareren, hatte mit Kreide den Weg markiert. Sie alle hatten von den Gefahren des B-Raums gehört und keiner wollte den Rest seines Lebens in dessen unerforschten Tiefen verbringen. Den eigentlich geplanten Weg hatten sie vor über einer Stunde verlassen aber sie waren sich sicher, dass das nicht weiter wichtig war. Hauptsache sie hatten die Tempelbibliothek verlassen und waren an einem Ort, an dem niemand die Leiche so schnell finden würde.
Tatsächlich war der Ort sogar vollkommen egal und niemand unter ihnen hätte zugegeben, nicht zu wissen, wo er sich befand. Oder wann.
Der Lehrer stand umzingelt von seinen Schülern in einem Raum, den er nicht kannte.
Offenbar wussten sie dagegen sehr wohl, wo sie waren. Aber das war momentan eines seiner geringeren Probleme. Die jungen Männer, von denen er bisher geglaubt hatte, sie seien allesamt nette, wenn auch etwas faule Zu-Belehrende, sahen gar nicht mehr nett aus. Ganz im Gegenteil. Er brauchte einige Minuten bis er erkannt hatte, was sie vorhätten, doch als sich die Erkenntnis durch das alte und vom süßen ephebianischen Wein zermürbte Gehirn gekämpft hatte, da löste sie ein gewisses Grauen aus. Er wollte noch nicht sterben.
"Aber meine Herren, das bringt doch nichts, ich bin doch nicht der einzige Lehrer, sie können uns doch nicht alle töten!" Vielleicht hätte er sie überzeugen können, vielleicht hätten sie das alles eingesehen, doch er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Einer der Tempelschüler flüsterte die ersten Worte des verabredeten Startsignals: "Ho de Anaphobestos", seine Stimme wurde kräftiger, was sollte ihnen schon passieren, niemand würde die Leiche finden, "hümon protos ep' auton baleto Biblion!" [5]
Das erste Buch ließ nicht lange auf sich warten und schnell folgte ein zweites. Und dann ein drittes, dann viele. Einige waren gut gezielt geworfen worden. Bald schon lag der Lehrer am Boden. Die Schüler dachten nicht daran aufzuhören, bis zum Tode hatten sie sich geschworen.
Magane hatte sich große Mühe gegeben, ihren jungen Auszubildenden gebührend fertig zu machen. Nicht, dass sie persönlich etwas gegen ihn gehabt hätte, nein, er war nur im falschen Leben in der falschen Stadt. Aggression brauchte nun mal ein Ventil und ein Zwerg, an dem man sich austoben konnte, weil er einem gehorchen musste, ohne dass man vom Rang her hätte Befehle geben dürfen, schien genau der Richtige dafür zu sein.
Heute Nacht würde er lernen, was es hieß, die Stadt zu kennen.
Das, was sie vorhatte, wäre niemals von den Schäffs genehmigt worden. Deswegen war es ein Alleingang. Seit sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte, hatte man sie wie ein empfindliches Pflänzchen behandelt. Keine Anstrengungen, keine direkte Sonneneinstrahlung, nicht zu viel Wasser. Aber damit war es jetzt vorbei. Zumindest für diese eine Nacht war sie wieder auf den Dächern der Stadt zuhause. Heute Nacht erwartete Halbtag eine Schnitzeljagd. Er sollte sie über die Dächer jagen. Er hatte keine Armbrust, Mag wollte nicht, dass man auf sie schoss, auch nicht mit Übungsmunition, aber bewaffnet war er doch und zwar mit kleinen, mit Farbe gefüllten, Kugeln. Ein direkter Treffer und die Jagd wäre beendet.
Aber Magane hatte nicht vor, fair zu spielen. Dies war ihre Stadt, es waren ihre Dächer. Sie hatte Jahre damit verbracht zu lernen, wie man sich auf ihnen bewegte. Dieser Zwerg würde das nicht in wenigen Wochen lernen. Das Konzept dieser Übung hatte sie vom Oberfeldwebel geklaut, der einzige Unterschied bestand darin, dass Halbtag wusste, dass es sich um eine Übung handelte.
THOMAS HOPPERFUHN?
"Ähm... ja?" Der Geist des Lehrers sah sich um. Er befand sich nun nicht mehr in dem muffigen Raum in dem er den unangenehmen Zusammenstoß mit den Büchern seiner Schüler gehabt hatte, sondern an einem großen breiten Fluss, der gewisse Ähnlichkeit mit dem Ankh aufwies. Nun, er roch weniger unangenehm, aber rein optisch wirkte er wie der Ankh im Morgengraun. Unmittelbar vor ihm schwamm eine Barke auf dem Fluss, auf ihr stand ein Fährmann in einem langen schwarzen Kapuzenmantel und machte eine ungeduldige Geste.
WÜRDEST DU BITTE EINSTEIGEN, ICH HABE NICHT DIE GANZE NACHT FÜR DICH ZEIT! Tod mochte diesen Auftritt nicht. Irgendwie wirkte alles, was nicht mit Sense oder Schwert zusammenhing, falsch aber manche Leute hatten einfach eine so konkrete Vorstellung vom Übergang aus dem Reich der Lebenden in das der Toten, dass sie sogar seinen Auftritt beeinflussten.
"Bist du Charon?" [6]
ICH HABE VIELE NAMEN, CHARON IST EINER DAVON, die Ungeduld des Sensenmannes ohne Sense wuchs. Die Seele mit einer Barke über den Fluss des Todes zu schiffen! Was dachten sich die Leute nur dabei?
"Aber dann muss ich bei dir bleiben."
BITTE, WAS? DAS KANN NICHT SEIN.
Thomas Hopperfuhns Geist schob den Unterkiefer vor und stemmte die Hände in die Seiten. Er hatte ausreichend Zeit mit dem Glauben der alten Ephebianer verbracht um zu wissen, dass er nicht in die Unterwelt durfte.
"Ich mag unter Büchern liegen, aber noch bin ich nicht begraben. Für die Unterwelt muss man tot und begraben sein, sonst kann die Seele den Fluss nicht überqueren und muss beim Fährmann bleiben."
NIEMAND BLEIBT BEI MIR. ICH ZEIGE DEN SEELEN NUR DEN WEG. DU KANNST IN DEIN JENSEITS HINÜBER GEHEN ODER ALS GEIST ZURÜCK ZU DEN LEBENDEN ABER ICH HABE KEINE ZEIT, UM MICH UM DICH ZU KÜMMERN.
"Dann bleibt mir nur das Dasein als Geist."
Eine tolle Übung. Wenn nur nicht dieser Muskelkater wäre! Magane war über die Monate doch etwas aus dem Training gekommen. Um genau zu sein hatte sie seit dem Trainingslager in Überwald nichts mehr getan. Aber sie hatte sich auch nicht überfordert mit der Übung in der vergangenen Nacht. Der Kleine war richtig gut. Er hatte sogar einmal einen Assassinen mit einer seiner Farbkugeln getroffen und der hatte so richtig blöd geschaut, als er auf einmal rote Farbe an seiner eleganten schwarzen Arbeitskleidung bemerkte.
Sie hatte nicht geschlafen. Halbtag war zwar gut aber erwischt hatte er sie nicht. Sie hatte Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken, als sie wie jeden Morgen einen Stapel Akten aus dem Büro der RUM-Abteilungsleiterin holte. Die nächsten Tage würde der Rasenschmuck wieder Straßenkarten auswendig lernen. Der Aktenstapel fiel heute etwas kleiner aus. Sie würde eh' nicht viel schaffen, wenn sie zwischendurch einschlief, und getragen werden musste das viele Papier ja auch. Die Muskeln in ihren Armen brannten wie Feuer. Jetzt ein heißes Bad!
Irgendetwas war über Nacht geschehen. Irgendwie hatte sich der Raum verändert. Es dauerte einige Augenblicke bis Mag erkannte, dass im hinteren Bereich etwas eingestürzt war. Sie ließ die Akten gezielt fallen und ging in den betreffenden Teil des Raumes.
Das Archiv der Stadtwache endete an einer Mauer. Beziehungsweise sollte an einer Mauer enden. Tatsächlich schien man hier am Baumaterial gespart zu haben. Die hintere Wand war schlicht nicht existent. An ihrer Stelle ragte nur noch ein Regal auf und in diesem Regal klaffte ein großes Loch. Ein alterschwaches Brett darin war zusammen gebrochen und dann noch eines... eine Kettenreaktion hatte anderthalb Meter Regal in einen Schrotthaufen verwandelt. Vorsichtig kletterte sie über den Schuttberg, um die andere Seite zu erforschen.
Je tiefer Magane in diesen Bereich vordrang, desto mehr beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Hier hinten wirkte alles anders, fremd, dunkel, wild... ja wild.
Die Regale hatten sich verändert. Sie waren hier aus stabilerem, hochwertigerem Holz, als müssten sie größere Lasten tragen als nur Papier. Mussten sie tatsächlich irgendetwas anderem standhalten?
Etwas schien im Dunklen zu lauern.
Die junge Wächterin überlegte kurz, ob sie umkehren sollte. Umkehren schien eine gute Idee zu sein. Bloß keine Gefahr eingehen. Andererseits war sie noch immer eine FROG. Frösche liefen nicht weg - Gefahr und Langeweile gehörten nun mal dazu.
Es war sehr dunkel in diesen Gängen und für einen Moment verfluchte sie sich, nicht an eine Lampe oder eine Kerze gedacht zu haben. Aber dazu war es jetzt zu spät. Wenn sie zurück ginge, käme sie sicherlich nicht wieder. Die Bücher murmelten und raschelten leise. Gerne hätte sie gewusst, wo und wann sie sich befand, doch leider wusste sie vom B-Raum ausschließlich, dass er existierte. Sie war immer davon ausgegangen, dass Bücher erst dann gefährlich wurden, wenn man zuviel in ihnen las und für ein Mädchen vom Land, das von seiner Tante nur selten zur Schule geschickt worden war, war es schon erstaunlich, dass sie überhaupt lesen und schreiben konnte. Als Magane vor anderthalb Jahren zur Wache kam, kannte sie hunderte Wege als Dieb zu überleben, aber sie hätte sie nicht aufschreiben können. Sie gehörte damals zu den vielen Bewohnern Ankh-Morporks, die bei langen Worten Hilfe brauchten. Heute war das anders. Sie war fast stolz auf das Erreichte. In Gedanken versunken achtete sie nicht mehr auf ihre Füße und stolperte über ein Buch.
Vage konnte sie einen flachen Haufen Bücher erkennen, der in einem angrenzenden Regalgang lag. Das war seltsam. Zu seltsam. Sie bückte sich zu den Büchern, die etwas bedeckten...
Sie bedeckten eine Leiche.
Irgendein FROG hatte vor nicht allzu langer Zeit mal gesagt: "Wenn du dich nicht zu Tode langweilen willst, musst du zwei Dinge wissen: 1. Wer ist für den Fall zuständig auf den ich grad gestoßen bin? Und 2. Wie halte ich diese Person von MEINEM Fall fern?"
Dieser Tote hier befand sich in IHREM Archiv, war aber leider keines natürlichen Todes gestorben, sondern - wenn man so wollte - an einer Überdosis Wissen, die gewaltsam von Außen in das Innere seines Schädels gewollt hatte.
RUM war zuständig.
Ein Ermittler...
Andererseits war dies IHR Zuständigkeitsbereich, denn der Mord war quasi vor ihrer Nase geschehen. Hier kam sonst nie jemand herunter und die Leiche hätte Jahre hier liegen können bevor sie jemand gefunden hätte. Zwischen den dunkelgrünen Büchern lugte an einer Stelle eine blutverkrustete, silbergraue Strähne hervor. Vielleicht sollte sie den Toten erst mal freilegen.
Die Hauptgefreite begann damit, die Bücher systematisch aufzuheben und zu stapeln. Zu Beginn sah sie dabei noch auf die Titel der Bücher, doch schon bald erkannte sie, dass das unnötig war. Es handelte sich immer um die selben Titel. Zwar waren die Bücher unterschiedlich abgenutzt und auch unterschiedlich gut behandelt worden, aber es waren eindeutig die gleichen. Wörterbücher zweier alter Sprachen - sie machte sich eine gedankliche Notiz, dass sie unbedingt herausfinden musste, wo und warum man diese Sprachen lernte.
Unter den Büchern kam nicht etwa eine saftig-frische Leiche zum Vorschein, sondern etwas, was vor vielen Jahren mal frisch gewesen sein musste. Und wahrscheinlich lag diese Zeit auch schon viele Jahre vor ihrem Tod.
Die Leiche war keine Leiche in dem Sinne, mehr eine Mumie... eine von der toten Sorte... aber ganz ohne Bandagen und auch sonst nicht wirklich wie eine Mumie zurecht gemacht. Keine Steine anstelle der Augen, kein zugenähter Mund und keine gefalteten Hände. Die Leiche hatte Jahre hier gelegen ohne gefunden zu werden. Aber wie konnte das sein? Irgendwer war doch sicher zwischendurch mal hier gewesen... oder lag die Erklärung vielleicht ganz woanders?
Wie halte ich die ANDEREN von MEINEM Fall fern?
Die Todesursache war ziemlich deutlich zu erkennen. Auch wenn sich so etwas eigentlich immer ein Leichenschnibbler anschauen sollte, wollte Magane in diesem speziellen Fall zu Gunsten der Geheimhaltung darauf verzichten. Hier unten im Archiv konnte die Leiche auch nicht bleiben, da ihre Einsamkeit viel zu ungewiss war. Es verirrte sich immer mal wieder ein Wächter hier herunter und das Letzte, was sie gebrauchen könnte, würde ein neugieriger LK Kolumbini mit der Pfeife im Mundwinkel und hocherhobenem rechten Zeigefinger sein, wie er noch eine letzte, alles entscheidende Frage stellte.
Ein Ermittler... Ermittler musste der absolute Traumjob sein, sie räuchern ihre Büros voll, bekommen immer die spannenden Fälle, stellen doofe Fragen und brauchen keine Waffen (wenn man davon absieht, dass sie zumeist selber Waffe genug sind, manche mehr, manche weniger... und einige halt nur auf geistiger Ebene) - bis auf das Rauchen der perfekte Beruf...
Aber darum ging es ja nun nicht. Diese Leiche gehörte einzig und allein ihr. Da würde keiner von RUM seine Nase reinstecken.
Also, wohin mit der Leiche? Sie könnte den Alten einfach begraben lassen. Aber wer war er? Hatte er Familie? Woran glaubte er? Zerstörte sie damit die einzige Chance den (oder die) Mörder zu finden? Es stellten sich einfach zu viele Fragen, um ihn einfach zu verscharren. Bis zum Ende der Ermittlungen musste er unbegraben aber gut versteckt bleiben. Nur so konnte sie sichergehen, dass sie nichts übersah und nichts falsch machte.
Wenigstens verweste er nicht. Mumie war ein relativ stabiler Zustand. Solange man diese trocken hielt, würde sie sich nicht weiter verändern. Also brauchte sie nur einen trockenen Ort in der Nähe, damit sie den Körper, der zwar sicherlich sehr leicht, aber doch recht auffällig war, verstauen würde können.
Eine Gruppe Schüler wartete nervös vor der Bibliothek. Es hatte keinen Aushang gegeben, nirgends hatte gestanden, dass die Übung ausfiele oder von jemand anderem gegeben würde. Dabei wussten sie genau, dass Professor Hopperfuhn nicht mehr wiederkommen würde. Er würde ganz gewiss niemals wieder altephebianische Witze erzählen [7].
Was würde nun geschehen?
Leise öffnete sich die Tür. Eine implizite Aufforderung in die Bibliothek einzutreten. Doch ein Lehrer war noch immer nicht zu sehen. Normalerweise gingen sie nicht allein dort hinein, doch diesmal war es anders. Sie waren allein wieder heraus gekommen und irgendetwas sagte ihnen, dass sie hier draußen auf niemanden warten mussten.
Einer der Mutigeren schob die Türe ganz auf. Gespenstische Stille erwartete sie im Inneren. Langsam und zögerlich traten sie alle in die Bibliothek, als wären sie zum ersten Mal in diesen Hallen. Der Letzte machte wie immer die Tür zu und wurde für das laute Geräusch böse angeschaut.
"Ah, meine Herren, da sind sie ja endlich. Können wir nun beginnen... wo sind ihre Bücher?"
Maganes Blick schweifte über die endlosen Regale, irgendwo hier musste es das ideale Versteck geben, für den alten Knochen... irgendwo hier...
Plötzlich erinnerte sie sich an ein Märchen, das ihr als Kind mal erzählt worden war. Irgendwie ging es da um einen Mann, der im Keller eingemauert worden war. Vielleicht war das die Lösung? Sie musste ihn nur in die Ecke stellen, hinter das letzte Regal, und einen Vorhang oder etwas Ähnliches dort anbringen und er wäre perfekt versteckt?
Aber was würde sie dann machen? Die Wache hätte eine Leiche im Keller. Undenkbar was geschähe, wenn diese Sache ans Licht käme. Es stände in der Times und weiß Om wo sonst noch, der Ruf der Wache würde noch schlechter werden.
Nein, sie musste diesen Fall einfach schnell lösen.
Nur leider wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte. Wie gingen Ermittler vor? Sie sammelten Fakten und befragten Zeugen. Taten sie sonst noch etwas? Magane wünschte sich nichts mehr, als jetzt einen von ihnen dazu zu holen, damit er sie an die Hand nehmen und ihr zeigen könne, wie man einen Mord aufklärte. Aber das würde keiner von ihnen tun. Sie würden sie wieder an die Akten setzen und den Fall selber lösen.
Nicht mit ihr.
Da musste sie jetzt durch.
Der Geist des alten Lehrers schlug sich mit der durchscheinenden Hand gegen die blassgraue Stirn, "Ich vergaß. Ihre Bücher haben sie ja verlegt. Dann muss es halt ohne Bücher gehen, wenn sie sich so sicher sind, was ihren Wortschatz angeht."
Vollkommen unbeeindruckt von Türen, Tischen und Regalen schwebte er voraus, seine Schüler zu lehren, was er einst gelernt hatte. Genau wie früher. Allerdings waren die netten Zeiten nun vorbei. Wie hatten sie die Bücher so misshandeln können!
Angekommen in der Studienecke für alte Sprachen, begann er den Text zu diktieren. Schneller als zuvor, undeutlicher und auch der Text an sich war viel schwerer. Seine Schüler sollten ihn kennen lernen.
Schnell bereuten die jungen Männer ihre gemeinschaftliche Tat, auch wenn sie sich zu Beginn noch fragten, warum der alte Mann sich so an das Leben in dieser Welt klammerte.
In einem hell erleuchteten Raum saß eine Gruppe junger Männer und wartete auf die Urteilsverkündung. In wenigen Minuten würden sie erfahren, ob sie die Abschlussklausur, bei der sie Blut und Wasser geschwitzt hatten, bestanden hatten. Waren sie den Geist nun los oder mussten sie ihn noch einmal ein Jahr ertragen? Nervös blickten sie sich immer wieder um. Er konnte jeden Augenblick hinter ihnen auftauchen. Sie sprachen nicht miteinander, sie hatten alles gesagt, niemand scherzte, sie hatten hier seit Monaten nicht mehr gescherzt, das Lachen war ihnen lange vergangen.
Sie hatten viel gelernt, wahrscheinlich viel mehr, als sie bei dem noch lebenden Thomas Hopperfuhn jemals gelernt hätten, doch zu was für einen Preis! Er hatte sie tausendfach für seinen Tod leiden lassen, sich immer neue Schikanen ausgedacht und die besonders schweren Texte der ephebianischen Philosophen noch weiter verkompliziert. Unter normalen Umständen hätten sich die Schüler beschwert aber dann wäre die ganze Sache aufgeflogen. Die angehenden Priester konnten sich sowieso nicht erklären, warum der alte Lehrer nicht einfach erzählt hatte, was geschehen war. Sicher, Mord wurde schwer bestraft aber vielleicht wäre das gnädiger gegenüber der Alternative des wütenden Lehrers gewesen, der keine Ruhe brauchte, nie die Augen schloss, der plötzlich hinter einem erschien und sich vollkommen lautlos bewegte.
Die jungen Männer hatten ihre Lektion gelernt.
Dann kam der durchsichtig-graue Lehrer durch die Tafel geschwebt und sah sich streng im Raum um. Auf jedem seiner Mörder ruhte sein strenger Blick eine Weile - den Schülern schien es eine Ewigkeit anzudauern. Er wusste nicht recht, was er ihnen sagen sollte. Zwar war die Rede, die er ihnen halten wollte, lange schon fertig und er konnte sie auch auswendig aber jetzt plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er Recht hatte. Diese jungen Männer waren zu Mördern geworden, doch vielleicht traf ja doch ihn die Schuld, vielleicht konnte er sie gar nicht verurteilen? Schließlich hatte auch er seine Lehrer manchmal qualvoll getötet, wenn auch nur in Gedanken. Was war das Leben schon mehr als ein Gedanke? Und war nicht der Plan der erste Schritt zur Tat?
"Meine Herren", der Geist straffte seine Gestalt und legte etwas Milde in Blick und Stimme, "sie alle haben die Abschlussprüfung mit Glanz bestanden. Sie werden sich möglicherweise über die Noten wundern aber sie können sich sicher sein, mir ist dort kein Fehler unterlaufen. Sie haben bekommen, was sie verdient haben. Sie können sich jetzt ihre Zeugnisse hier vorne am Pult abholen."
Tatsächlich staunten die Schüler nicht schlecht als sie sahen, dass sie Bestnoten erreicht hatten. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Fortan fielen ihre Prüfungen alle so aus. Doch nur drei von ihnen wurden Priester. Hopperfuhn hatte ihnen die Augen geöffnet und sie auf die richtige Bahn gestoßen. Einige wurden Lehrer für alte Sprachen, andere machten anderes, alle begannen mit dem Mord eine steile Karriere im Dienste des Guten. Sie blieben in Kontakt, über all die Jahre hinweg schrieben sie sich Briefe und trafen sich, verbunden durch die gemeinschaftliche Tat und enge Freundschaft.
Hätte Magane jemals einen Krimi gelesen, dann hätte sie gewusst, dass nach einem Verbrechen ein Zeitfenster von 48 Stunden besteht. Danach wurden die Spuren kalt und verliefen sich, Zeugen überdachten das Gesehene, Fußabdrücke verschwanden, die Leute vergaßen. Davon hatte die Wächterin allerdings keine Ahnung. Der Tatort war unspektakulär, sehr staubig und voller Spinnweben, außer ihren eigenen waren keine Spuren im Staub. Die Mumie hatte sie einigermaßen sicher verstaut und so vor den Blicken neugieriger Kollegen geschützt, die Bücher hatte sie ans Licht getragen und sorgfältig gestapelt. Jetzt hoffte sie, in diesen Wörterbüchern Hinweise auf den - oder wahrscheinlicher die - Täter zu finden.
karis, idos, hä (vgl. karkinos) - ein kleiner Seekrebs, Garnele
Ziellos blätterte sie die Bücher durch. Anständige Mörder hinterließen doch wenigstens einen Namen auf der Mordwaffe. Hier gab es jede Menge handschriftliche Notizen und jedes Buch hatte Register, die das schnelle Suchen von Worten erleichtern sollten aber das waren keine Hinweise sondern nur Gebrauchsspuren. Die Täter - Magane war sich sicher, dass es sich um mehrere handelte - hatten mit diesen Wörterbüchern gearbeitet. Die Handschriften und die Abnutzung verrieten, dass sie dies über einen längeren Zeitraum getan hatten, aber hier fand sich nichts, was auf die Identität der Täter hinwies.
pelma, atos, to (pella II.) - sp. Fußsohle
"Hallo, ist hier jemand?"
Oh nein... bitte nicht. Wer ist das denn jetzt?
Etwas unsicher, doch von einer unverkennbaren Aura der Neugierde umgeben, schaute eine junge Gefreite um die Ecke. RUM, eine von den Neuen, noch nicht lange dabei - der Feind, schoss es Magane durch den Kopf, wenn sie eines nicht gebrauchen konnte, dann war das ein junger Wächter, den sie nicht kannte. Aber wegschicken wäre zu auffällig gewesen.
"Ja, ich bin hier. Aber du hast mich ja schon gefunden. Wie kann ich dir helfen?"
"Ich... wollte mich nur mal hier unten umschauen, etwas in den alten Fällen schmökern." Die Gefreite machte einen unschuldigen, arbeitswütigen Eindruck und provozierte damit quasi, dass Magane sie für ihre Zwecke einsetzen würde. Hier unten war sie die Schäffin. Innerlich begann sie breit zu grinsen.
"Wo du schon mal hier bist, du kannst mir helfen. Wer bist du eigentlich?"
"Ophelia Ziegenberger. Verdeckte Ermittlerin in Ausbildung. Ich bin bei der Abteilung RUM. Und, wenn ich fragen darf, wer sind Sie?"
"Magane. FROG-Triffinsziel im Innendienst. Momentan bin ich dafür zuständig, den Staub hier unten gleichmäßig zu verteilen." Sie nahm sich einen Moment Zeit um einige Staubflocken böse anzuschaun und hustete dann theatralisch. Monatelang hatte sie vollkommen einsam hier unten gearbeitet und niemand hatte sich blicken lassen aber jetzt, wo sie Gesellschaft so gar nicht brauchen konnte, da musste diese junge Gefreite auftauchen und rumschnüffeln.
"Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Ich suche grade nach Hinweisen auf die Besitzer dieser Bücher." Sie deutete in einem weiten Bogen auf die Stapel. "Alles kann hilfreich sein, Kritzeleien, Randnotizen, Namen - einfach alles. Bitte setz dich doch, nimm dir einen Zettel und einen Stift und fang an."
Drei von ihnen wurden Priester.
Donner grollte und beständiger Regen prasselte auf Ankh-Morpork hernieder. Es war erstaunlich warm für eine Aprilnacht. Ein Blitz erleuchtete für einen kurzen Moment die gespenstische Szene, die sich vor dem Portal des Tempels der geringen Götter abspielte.
"Zwanzig Jahre sind vergangen.", sagte eine vermummte Gestalt.
"Zwanzig Jahre fern von hier.", erwiderte die Zweite.
"Wir schrieben uns. Jedes Jahr.", erinnerte die Dritte.
"Doch dieses Jahr war es anders.", fügte die Erste hinzu.
Die Drei sahen sich an und schlugen dann die Kapuzen zurück. Sicherlich waren sie gealtert, strenge Askese zeichnete die hageren Gesichter und die Anstrengungen der Reise waren deutlich an den Augenringen abzulesen. Sie hatten nicht geschlafen seit die Briefe angekommen waren.
Jeder von ihnen hatte den gleichen Brief erhalten:
Briefe in SEINER Handschrift, die sie niemals hatten vergessen können, darunter fanden sie, wie zum Beweis, das Kürzel mit dem er alle Hausarbeiten abgezeichnet hatte.
"Sie sind echt, oder?"
"Das haben wir doch schon über Semaphor besprochen.", antwortete derjenige, der wahrscheinlich von allen Schülern Hopperfuhns die meiste Zeit mit diesem Lehrer verbracht hatte. Er hatte sein Studium finanziert, indem er anfänglich für den alten Mann und später für den Geist gearbeitet hatte. Heute Nacht würde er den Ton angeben. Er räusperte sich: "Gehen wir! Die Nacht wird lang."
Nach stundenlanger harter Arbeit hatten die beiden Wächterinnen genau nichts gefunden. Es gab Indizien, dass die Bücher mindestens zwanzig Jahre alt waren, doch keine Hinweise auf die Besitzer, die allerdings zweifelsohne männlich gewesen waren [7a] aber sonst keine beschreibenden Hinweise in den Büchern hinterlassen hatten.
Die beiden jungen Frauen hatten nicht viel miteinander gesprochen, sie schienen nicht viel gemeinsam zu haben. Was Magane anging, konnte ihr die andere gestohlen bleiben. Sie war offensichtlich aus besserem Hause und hatte jede Menge feine Erziehung. Damit konnte die Hauptgefreite nicht mithalten. Sie war eine Diebin und hatte die letzten Jahre auf der Straße verbracht. Jetzt waren sie beide Wächterinnen, für die eine ein gesellschaftlicher Abstieg, für die andere weit mehr als ein Aufstieg. Trotzdem würde die unterschiedliche Herkunft zwischen ihnen stehen. Sie hatten keine Gesprächsthemen. Magane konnte keinen Smaltalk und über den Fall konnten sie nicht reden, weil sie dann hätte zugeben müssen, dass es einen gab.
Aber es gab ja auch nichts zu bereden. Die Bücher waren die einzige Spur und die hatte sie in eine Sackgasse geführt. Eine staubige Sackgasse. Magane war ratlos. Wie sollte sie weiter vorgehen ohne Hinweise? Wenn es Spuren gegeben hatte, so waren diese seit zwanzig Jahren kalt. Ophelia war irgendwann gegangen. Magane war wieder allein mit den flüsternden Akten und dem Staub.
Die drei Priester öffneten vorsichtig die, wie immer unverschlossene, Tür der Bibliothek und sahen sich im Dunkel dahinter um.
"Ah, meine Herren, ich habe schon auf sie gewartet. Wir alle wissen, was in dieser Nacht vor zwanzig Jahren geschehen ist und ich habe keinen der Namen und keines der Gesichter vergessen. Und dennoch habe ich nur sie drei her bestellt."
"Warum grade uns?", fragte der Anführer.
"Ich will, dass ihr mich begrabt, mit allen Weihen in richtiger Friedhofserde."
Die Priester verstanden. Sie mussten es also zu Ende bringen nach all den Jahren, seine Leiche wieder finden und auf einem Friedhof feierlich verscharren. Die gewiss ungewöhnlichste Beerdigung, die sie je durchführen würden.
"Ja, wir schulden Ihnen ein Begräbnis."
Ruhiger und gleichmäßiger Atem war das einzige Geräusch neben dem Flüstern des Papiers. Niemand konnte ewig wach bleiben. Außerdem musste sie schließlich für zwei schlafen! Im Schlaf weiß man zudem nichts von den Nackenschmerzen des nächsten Morgen. Und meistens weiß man am Morgen nichts mehr von den Träumen der Nacht. In diesem Fall sicherlich besser. Wer wollte sich schon daran erinnern, dass er gegen Worte aus zwei fremden Sprachen gekämpft hatte und dabei von den Kollegen ausgelacht wurde?
"Er muss doch hier irgendwo liegen."
"Vielleicht irren wir uns auch und es war noch weiter."
"Seht ihr das Loch da vorn?"
"Ja. Was wohl dahinter ist?"
"Schauen wir nach..."
Magane wurde durch ein Krachen wach. War da jemand in ihrem Archiv? Sie stand so leise wie eben möglich auf und schlich nach Hinten, dort fluchte jemand leise. Nicht umsonst brauchte ein guter Einbrecher viel Training.
Hier hinten war es dunkel. Natürlich war es dunkel und damit war Magane im Vorteil. Sie hatte gelernt, die Augen, wenn Geräusche da waren, durch die Ohren zu ersetzen. Drei Männer mittleren Alters. Einer hatte sich verletzt, als er durch das Loch im Regal steigen wollte.
"Guten Morgen meine Herren, ich hoffe Sie sind sich bewusst, dass sie in das Wachhaus am Pseudopolis Platz eingestiegen sind? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, bevor ich meine Kollegen rufe und sie zu den Zellen bringen lasse?"
Wie sie es geschafft hatten, war ihnen im Nachhinein nicht ganz klar aber sie hatten eine Wächterin dazu gebracht, beide Augen zuzudrücken und die Leiche herauszugeben. Außerdem würde sie noch dafür sorgen, dass die Bücher zum Tempel der geringen Götter gebracht würden. Und sie würde schweigen.
Die drei Priester standen um das Loch im aufgeweichten Boden des Friedhofs herum, das sie gegraben hatten. Wahrscheinlich war es nicht tief genug und erfüllte auch sonst nicht die gesetzlichen Anforderungen. Aber sie wussten, dass das nicht zählte. Sie sprachen Gebete. Wenn die Sonne aufging, würde alles vorbei sein. Der alte Lehrer könnte endlich ins Jenseits übertreten und auch seine Mörder würden Ruhe finden. Mit dem Mord an ihm hatten sie sich selbst bestraft. Die Zeremonie war leise und schlicht. Es fehlte Nichts aber es war auch Nichts zuviel. Am Ende schaufelten sie in aller Stille das Grab zu und glätteten die nasse Erde.
BIST DU NUN BEREIT, THOMAS HOPPERFUHN?
"Ja Charon, bring mich in die Unterwelt", mit festem Schritt trat der Geist des Lehrers auf die Barke zu. Nun würde er den Fluss überqueren können. Der Fährmann in dem langen schwarzen Kapuzenmantel strich unbemerkt über die Sense auf die er diesmal nicht verzichtet hatte und lächelte.
Still und unwissend ging die Sonne über der Zwillingsstadt auf und tauchte das frische Grab in goldenes Licht.
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