Die Lehren des Quim Pai

Bisher hat keiner bewertet.

von Korporal Valdimier van Varwald (FROG)
Online seit 09. 05. 2005
PDF-Version

Eigentlich wollte Valdimier nur ein paar Tage Urlaub haben, um auf andere Gedanken zu kommen und ein Achater Kampfmeister sorgt dafür, dass dies auch geschieht. Allerdings auf eine Art, die doch ziemlich ungewöhnlich ist.

Dafür vergebene Note: 13

Die Weisheiten des mächtigen Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak

Lektion 1


Die wahre Kunst des Kampfes ist es, das Gleichgewicht zwischen Geist und Körper zu halten. Ohne den Geist ist der Körper schwach und leicht zu besiegen.


Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak rät deswegen:

Ein Kämpfer übertreibt es nie mit dem Reisschnaps.



Dichter Nebel umgab Valdimier. Auch wenn ihm die Umgebung reichlich fremd vorkam, so wusste er doch genau, wo er war. Doch egal, wie sehr er versuchte, dagegen anzukämpfen, es machte keinen Unterschied. Er würde wieder sehen, was er damals getan hatte. Ob er wollte oder nicht. So setzte sich sein Körper auch schon in Bewegung, als das Wimmern in seine Ohren drang. Als er die ersten Schritte vollführt hatte, lichtete sich der Nebel langsam und gab den Blick auf ein kleines Haus frei. Valdimier wusste, dass dieses Gebäude zu einem Dorf in Überwald gehörte. Als er langsam näher trat, sah er die Personen, die sich in der Nähe einer Hauswand befanden. Fünf waren es insgesamt, so wusste Valdimier, ohne zählen zu müssen. Er war damals einer von ihnen gewesen. Zwei von ihnen knieten vor den anderen auf dem Boden. Sie waren es auch, deren Wimmern er hörte. Es war das Wimmern um Gnade.
"Bitte nicht", sprach eine der Personen mit schwacher Stimme.
Die Stimme gehörte einem Mann. Es war der Mann, der zusammen mit seiner Frau in diesem Haus wohnte. Und sie war die zweite Person, die neben ihm kniete.
"Bitte habt Gnade mit uns", versuchte der Mann sein drohendes Schicksal abzuwenden. Doch Valdimier war klar, dass es unausweichlich sein würde. Denn er war es, der ihn mit seinem Schwert erschlagen würde.
"Tu es, Varwald", donnerte die Person, die neben seinem zweiten Ich stand. "Sie haben uns betrogen und nun müssen sie dafür büßen."
Valdimier sah, wie sein zweites Ich langsam sein Schwert erhob und lief los. Doch es sollte nichts bringen. Er würde sich niemals rechtzeitig erreichen.
"Tu es!!" schallte die tiefe Stimme, und kurz darauf sauste das Schwert auf den wehrlosen Mann hinab.

Mit einem lauten Keuchen wachte Valdimier auf und fluchte leise. War es doch wieder mal soweit gewesen! Sein Gewissen wollte ihn wieder an die Vergangenheit erinnern. Innerlich hatte er gehofft, dass es nun endlich vorbei war, doch gelegentlich riss ihn dieser Alptraum wieder aus dem Schlaf. Mit einer Hand hob der Vampir den Sargdeckel an und schaute durch den entstehenden Schlitz nach draußen. Wie spät es wohl war? Schwaches Mondlicht schien durch das kleine Fenster und füllte so den Raum mit einem schwachen bläulichen Leuchten. Valdimier seufzte leise. Es war also noch mitten in der Nacht. Mit einem leises Knarren schloss sich der Sarg wieder und der Vampir starrte an die Decke. Eigentlich hätte er ja wenigstens etwas erleichtert sein müssen. Immerhin konnte er wieder mit geschlossenem Sargdeckel schlafen. Die ersten Nächte, nachdem er die letzten übrig gebliebenen Besitztümer seiner Familie erhalten hatte [1] und ihn dieser A!
lptraum heimsuchte, war er immer laut schreiend aufgewacht und mit dem Gesicht gegen den Deckel geprallt. Doch das hatte sich nach wenigen Wochen wieder gelegt. Wahrscheinlich hatte sein Gewissen die Lust daran verloren, ihn körperlich zu schädigen. Valdimier konnte nicht sagen, wie lange er noch einfach wach da lag, doch irgendwann schlief er wieder ein.

***


Am nächsten Tag am Wachhaus am Pseudopolisplatz

PLOCK
"Ein ausgezeichneter Schuss, Skilla."
"Danke, Sidney."
Valdimier verdrehte genervt die Augen. So ging es jetzt schon das ganze Training über. Eigentlich fehlte nur noch, dass sie sich irgendwelche Kosenamen geben. Es war ein großer Fehler gewesen, sich zwischen die beiden zu stellen. Die vergangene Nacht hatte ihn nicht gerade gut gelaunt in den Tag starrten lassen und die beiden Turteltauben trugen nicht gerade dazu bei, dass es ihm besser ging.
"Hör mal, Sidney." Der Vampir senkte seine Waffe und wandte sich seinem Kollegen zu. "Hättest da etwas dagegen, wenn wir die Plätze tauschen würden?"
"Warum denn?", fragte der Wehrwolf zurück.
Der Vampir überlegte kurz. Warum lange um den heißen Brei herum reden.
"Ich habe so das Gefühl, dass ich hier nicht hin gehöre. Ich finde, dein Platz ist hier. Neben der Frau, die du liebst." Er versuchte, seine Stimme so dramatisch wie möglich klingen zu lassen. "Für die du alles tun würdest. Selbst wenn du dich dafür in die Flugbahn eines Silberbolzen werfen müsstest."
Die Mine des Werwolfs blieb für einen Augenblick unverändert. Valdimier dachte schon, dass er gleich zuschlagen würde, doch es bildete sich ein Grinsen auf dem Gesicht seines Gegenübers. Auch hörte er Skilla leise hinter sich kichern.
"Wenn es dich glücklich macht, Val."
Valdimier lächelte schwach zurück.
"Sehr sogar."

Nachdem sie ihre Positionen gewechselt hatten, führten die Armbrustschützen ihr Training fort.
"Wie wäre es mit einer Wette?", fragte Valdimier nach einer kurzen Zeit die anderen. "Wer zuletzt 50 Punkte erreicht, gibt eine Runde im Eimer aus."
"Abgemacht", antworteten beide, ohne groß zu überlegen. "Wer fängt an?"

***


Zirka 20 Minuten später

Als sich Valdimier an seinen Schreibtisch setzte, konnte er mit Gewissheit sagen, dass sich der Tag nicht gerade zu seinen Gunsten zu entwickeln schien. Im Kopf überflog er kurz, wie viel Geld er noch bis zu seinem nächsten Solderhalt zur Verfügung hatte. Dummerweise lief die kleine Wette nicht wie geplant, und so war er es, der nun Skilla und Sidney einen ausgeben durfte. Umso ärgerlicher war für ihn die Art, wie er verloren hatte. Sie alle drei lagen gleichauf, nur noch vier Punkte von einem Sieg entfernt, und er war als nächstes an der Reihe gewesen. Doch was eigentlich ein total einfacher Schuss gewesen wäre, entwickelte sich zu einer Blamage. Valdimier wusste selbst nicht, woran es gelegen hatte, doch genau in dem Moment, in dem er abdrückte, verrutschte ihm die Waffe in der Hand und so bohrte sich der Bolzen nur in den zweiten Außenring. Und da seine Kollegen darauf verzichteten, aus Solidarität gänzlich daneben zu schießen, sicherten sie sich Platz eins und zwei. Zue!
rst hatte er gedacht, dass etwas mit seiner Armbrust nicht stimmte, doch mit der Waffe war alles in Ordnung gewesen. So musste er sich mit der Erkenntnis zufrieden geben, dass es seine Unaufmerksamkeit war, die ihm zum Verhängnis geworden war. Der Vampire schüttelte sich. Er wollte gar nicht daran denken, dass ihm so etwas während eines richtigen Einsatzes hätte passieren können. Wenn er etwas während seiner Zeit als FROG gelernt hatte, dann war es die Einsicht, dass ein Armbrustbolzen sehr unschöne Dinge bewirken konnte. Doch was konnte er machen, dass so etwas nie wieder passieren würde?

Es dauert nicht lange, bis ihm eine-in seinen Augen-gute Idee kam.

***


"Das wichtigste Mittel, um in einer Führungsposition zu bestehen, ist Autorität. Ohne Autorität wird es ihren Untergebenen an Respekt fehlen. Sollten sie die Führungsposition eines Staatsoberhauptes gewählt haben, wie z.B. Kaiser, König, Präsident, Patrizier etc., kann dieser fehlende Respekt schnell zu einem Messer im Rücken führen.

Merken sie sich deswegen unbedingt: Strahlen sie Autorität aus!"


Araghast Breguyar, neuer Abteilungsleiter der FROG's, ahnte, warum diese Broschüre eine kostenlose Auslage in dem Buchladen war. Doch sie war das Beste, was er gefunden hatte. Seine Suche nach einem geeigneten Ratgeber für seine neue Aufgabe in der Wache war sonst von keinem weiteren Erfolg gekrönt. Das Buch "Wie zwinge ich anderen meinen Willen auf?" schien nicht genau das zu sein, was er suchte. Jedenfalls schienen ihnen ihm die dort vorgeschlagenen Möglichkeiten, wie zum Beispiel Folter und Verstümmelung, nicht der geeignete Weg, um eine Abteilung zu leiten.

Gerade als er weiter lesen wollte, klopfte es an der Tür.
"Herein", rief der Abteilungsleiter und verstaute die Broschüre schnell in einer Schublade.
Die Tür öffnete sich und Valdimier van Varwald kam herein.
"Moin Bregs, hast du mal eine Minute?"
"Sicher, worum geht's?", fragte Araghast.
Der ausgebildete Püschologe merkte, dass sein Freund keinen sehr glücklichen Eindruck machte.
"Ich bräuchte mal ein paar Tage Urlaub", antwortete der Vampir.
Araghast überlegte kurz. Eigentlich sollte das kein großes Problem sein. Außer Valdimier hätte sonst keiner frei und niemand konnte wegen Krankheit nicht zum Dienst erscheinen. Doch so ohne weiteres wollte er Teile seiner Mannschaft auch nicht beurlauben. Es würde sicher nicht lange dauern, bis der Nächste käme und auch frei haben wollte.
"Urlaub? Was hast du denn vor?", fragte er schließlich. Dabei versuchte er, seiner Stimme einen Hauch von Autorität zu verpassen.
Der Armbrustschütze zuckte mit den Schultern.
"Ich glaube, ich brauch' ein paar Tage Ruhe, um auf andere Gedanken zu kommen."
Bregs musterte den Vampir.
"Gibt es irgendetwas, das ich als dein Vorgesetzter wissen müsste?"
Doch Valdimier schüttelte den Kopf.
"Was? Nein, es hat nichts mit der Wache zu tun. Ich bräuchte nur etwas Ruhe. Jeder hat halt mal solche Tage, wo er nicht besonders gut drauf ist."
Araghast nickte leicht. Er wusste genau, wovon sein Freund sprach.
"Na gut. Ein paar Tage sind sicher verschmerzbar."
Valdimiers Gesicht erhellte sich leicht.
"Doch falls ein Notfall eintreten sollte, ist der Urlaub mit sofortiger Wirkung gestrichen", fuhr der Abteilungsleiter im strengen Ton fort. "Halte dich also auf Abruf bereit."
Valdimier winkte ab.
"Keine Sorge, ich hatte nicht vor, einen Kurzurlaub in Überwald zu machen. Ich denke, ich werde mir bei Olivander erst eine Flasche Bl... Bier besorgen und dann schauen wir mal." Valdimier hatte das leichte Zucken in Bregs Gesicht gesehen, als er beinahe das B-Wort in der Gegenwart des Halbvampirs erwähnt hatte. Er konnte immer noch nicht verstehen, was ihn dazu gebracht hatte, einen solch schweren Entzug durchzumachen. Ihm war zwar klar, dass er es letztendlich wegen Lea tat, aber es wäre doch viel einfacher, wenn er einfach nicht in ihrer Gegenwart trinken würde.
"Ich wusste gar nicht, dass Olivander jetzt auch Bier führt", murrte Bregs grimmig.
"Ähm, doch", antwortete Valdimier schnell. "Original Bums-Pilsener. Keine Ahnung, wo das genau herkommt."
Eigentlich hätte ihn Bregs nach dieser Ausrede am liebsten aus dem Büro geworfen, doch der Vampir kam ihm zuvor. Anscheinend hatte er gemerkt, dass ein taktischer Rückzug nun das Beste wäre, wenn er seinen Urlaub behalten wollte.
"Aber ich will dich jetzt nicht weiter damit aufhalten. Wenn ihr mich braucht, schickt mir einfach eine Taube und ich bin sofort wieder da. Bis dann."
Mit diesen Worten verließ der Vampir recht zügig das Büro.
Bregs starrte noch für einen kurzen Moment auf die Bürotür, als sie sich hinter dem Armbrustschützen geschlossen hatte. Dann öffnete er eine seiner Schreibtischschubladen und schaute hinein. Darin lag ein Zettel, auf den etwas mit großen Buchstaben geschrieben stand.

NICHT EINEN TROPPFEN!!


Es vergingen einige Sekunden, bevor er die Schublade wieder schloss und dafür eine andere dafür öffnete. Aus ihr fischte er einen Eddie Wollas Roman heraus. Nun war er es, der etwas Ruhe und Abwechslung brauchte.

***


Später in Olivanders Igordrom

"Ahh, guten Tag, Herr Wächter", begrüßte Olivander Valdimier, als dieser den Laden betrat. "Heute etwa nicht im Dienst?"
"Nein, Herr Olivander. Heute mal nicht", erwiderte der Vampir.
Es war keine Kunst, zu erkennen, dass sich Valdimier zurzeit nicht im Dienst zu befinden schien. Bevor er den Laden für Direktimporte aller Art aus Überwald aufgesucht hatte, war er in seiner Wohnung vorbei gegangen, um dort seine Uniform gegen einen Anzug zu tauschen. Wenn man schon frei hatte, sollte man es auch ausnutzen.
"Jaja, etwas Freizeit tu jedem gut. Was kann ich denn für Sie tun, Herr Wächter?" Der Ladenbesitzer, der ebenfalls Vampir war, schaute Valdimier neugierig an. "Wieder das Übliche? Ein Glas Jungfrau Spezial?"
"Ja, bitte", antwortete Valdimier. "Und noch eine kleine Flasche zum Mitnehmen."
Ein verschwörerisches Lächeln erschien auf Herrn Olivanders Gesicht.
"Ah, heute wohl etwas mehr. Gibt es etwas zu feiern?"
Valdimier schüttelte den Kopf.
"Nein, die ist nur für den privaten Gebrauch zuhause."
Herr Olivander nickte verständnisvoll.
"Soso, ich verstehe. Für den kleinen Schluck zwischendurch."
"So kann man es wohl nennen."
"Dann bitte ich um einen kleinen Moment Geduld. Ich gehe nur schnell nach hinten und hole eine neue Flasche."
Mit diesen Worten verschwand der Ladenbesitzer durch eine kleine Tür hinter der Theke, die, wie Valdimier vermutete, wohl in sein Lager führte.
Gibt es etwas zu feiern, überlegte er, während er sich an die Theke lehnte und eine Ausgabe der Ankh-Morpork-Times auffaltete, die er auf dem Weg gekauft hatte. Die meisten seiner Kollegen würden es sicher sehr überraschend finden, wenn er plötzlich eine Runde Blut ausgeben würde.
Einige Augenblicke später kam Herr Olivander mit einem kleinen Glas und einer Flasche an die Theke zurück.
"So, das wäre dann einmal eine kleine Flasche Jungfrau Spezial und ein Glas des gleichen."
Er stellte Flasche und Glas vor Valdimier auf die Theke. Der Wächter leckte sich gierig über die Lippen, als er sah, wie Herr Olivander das Glas mit dem Roten Lebenssaft füllte. Natürlich nahm er dafür eine angebrochene Flasche, die er unter der Theke hervorholte.
"Das macht dann einen Dollar und zwanzig Cent bitte."
Valdimier kramte das Geld aus einer seiner Anzugstaschen und gab es dem Ladenbesitzer, der es sofort in einer kleinen Holzgeldkassette unter der Theke einschloss.
"Danke sehr. Ich wünsche noch einen guten Appetit."
Herrn Olivanders Stimme hatte diesen typisch freundlichen Tonfall, den man hatte, wenn man mit etwas sehr zufrieden war. Er war sich sehr sicher, dass dies nicht das letzte Glas war, das der Vampir noch zu sich nehmen würde. Er beobachtete, wie der Wächter das Glas an seine Lippen setzte und einen kleinen Schluck daraus nahm, während er nebenbei in der Zeitung las.
"Sagen Sie, Herr Wächter. Was ist eigentlich aus ihrem einäugigen Kollegen geworden?", fragte Herr Olivander plötzlich in einem besorgten Tonfall. "Ich habe ihn schon lange nicht mehr hier gesehen."
Valdimier dachte kurz darüber nach, ob er ihm von dem Entschluss seines Freundes, kein Blut mehr zu trinken, erzählen sollte. Es war ja normal, dass sich ein Wirt um das Wohl seiner Kunden kümmerte, aber eigentlich ging es ihn ja nichts an. Andererseits war er esgewesen, der Bregs dazu gebracht hatte überhaupt mit dem Blut trinken anzufangen.
"Wissen Sie, er macht zur Zeit eine etwas schwerere Phase durch", antwortete er, ohne seinen Blick von der Zeitung zu nehmen. "Er hat sich entschlossen, vorerst kein Blut mehr zu trinken."
"Was??" Herr Olivander war sichtlich überrascht. "Was trieb ihn nur zu einer solch harten Entscheidung?"
"Eine Frau, die er bald heiraten wird."
"Ahh, verstehe." Das Gesicht des Ladenbesitzers wurde verständnisvoll. "Lassen sie mich raten. Sie ist ein normaler Mensch."
Valdimier nickte bestätigend, während er die Artikel der Times überflog. Was allzu Interessantes stand nicht drin.
"Jaja, für das andere Geschlecht haben schon viele die schwersten Opfer gebracht. Ist leider nicht sehr gut fürs Geschäft", meinte Herr Olivander resigniert.
Valdimier schaute auf.
"Wie meinen sie das?"
Der andere Vampir zuckte mit den Schultern.
"Ist das nicht offensichtlich? Ihr Kollege ist nicht der Erste, der das Blut trinken für eine Frau aufgibt. Ich hab schon von vielen Vampiren gehört, die dasselbe durchgemacht haben."
"Meinen Sie das im Ernst?", fragte Valdimier.
"Aber natürlich. Und nicht nur das. Es gibt Werwölfe, die essen extra kein Fleisch mehr, um der Angebeteten zu gefallen. Ein Igor ging sogar so weit, seine Sammlung an Körperteilen zu verkaufen, weil seine Freundin sie ekelhaft fand."
Für einen Moment schaute Valdimier Herr Olivander nur regungslos an. Doch dann schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder der Zeitung zu.
"Ich kann verstehen, was Sie damit meinen, dass es schlecht für ihr Geschäft ist. Sie müssen ja regelrecht hoffen, dass sich nicht zu viele Untote in Ankh-Morpork verlieben."
"Ich hoffe nur, dass Sie sich nicht in normale Menschen verlieben", lachte Herr Olivander. "Zwei Vampire werden sicher nicht füreinander das Blut trinken aufgeben."
"Mag sein", stimmte Valdimier leise zu und nippte erneut an seinem Glas.
So vergingen einige Minuten, in denen Valdimier langsam sein Glas leerte und weiter in der Zeitung las. Nebenbei fragte er sich, was er eigentlich jetzt mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Er hatte zwar vor, über diese Zeit die neue Flasche zu leeren, aber das konnte ja nicht alles sein.

Niemand konnte sagen, ob es Zufall war, der zu diesem Zeitpunk einen Dreierpasch warf, oder ob es wieder einer von Schicksals komischen Spielzügen war. Jedenfalls fiel Valdimier genau in diesem Moment eine kleine Anzeige in der Times Valdimier ins Auge. Ein mit achatenen Schriftzeichen verzierter Text füllte ein kleines Quadrat aus, dessen Seiten etwas nach innen gebogen waren.

Entdecken Sie das Geheimnis des Achaten Kampfes und lernen sie die Techniken, wie sie einst der mächtigen Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak angewandt hatte.

Probekurs möglich

Kampfmeister Me Sik
Untergasse 24


Valdimier brauchte gar nicht lange drüber nachzudenken. Auch wenn er vorher noch nie etwas von einem Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak gehört hatte.
"Ich muss wieder los, Herr Olivander", erklärte er dem anderen Vampir, während er die Zeitung zusammenfaltete. "Hätten Sie vielleicht noch eine Papiertüte für die Flasche? Es muss ja nicht jeder sofort sehen, was da drin ist."

***


Nachdem er schnell die "Jungfrau Spezial" in seiner Wohnung deponiert hatte, machte sich der Vampir auf den Weg in die Untergasse. Dieser Kurs würde ihm vielleicht dabei helfen, auf andere Gedanken zu kommen. Er hatte schon viel über den Achaten Kampf gelesen. John Boo setzte ihn öfters ein, um seinen Helden aus brenzlichen Situationen zu retten. Ku-Fung-Fett wurde zum Beispiel einmal von einer Gruppe Triadenmitglieder eingekesselt und hatte zu allem Übel seine zwei Pistolenarmbrüste nicht dabei. Doch auch so hatten die Gegner keine Chance gegen ihn. Sie wussten nichts von seiner langen und schweren Ausbildung, die er bei einem Kampfmeister, der alleine auf einem der höchsten Berge des Achaten Reiches lebte, absolviert hatte. Einer nach den anderen unterlag Ku-Fung's präzisen Schlägen und Tritten. Natürlich war sich Valdimier bewusst, dass es sich hierbei nur um eine Geschichte handelte. Doch nun hatte er die Möglichkeit, es auch einmal mit eigenen Augen zu sehen.

Erste leichte Ernüchterung machte sich in dem Vampir breit, als er Haus Nummer 24 in der Untergasse betrachtete. Er wusste zwar nicht, wie das Haus eines Achaten Kampfmeisters eigentlich auszusehen hatte, allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass es so normal aussah. Hatten sich die Leute der Times vielleicht beim Druck vertan und die falsche Hausnummer aufs Papier gebracht? Diese Theorie konnte der Vampir ausschließen, als er sich die Tür näher betrachtete. Ein kleines Holzschild verkündete:

Me Sik

Meister des Achaten Kampfes

"Vor Eintritt bitte anklopfen"


Vorsichtig klopfte Valdimier an, doch niemand öffnete ihm. Nachdem er einen Moment gewartet hatte, klopfte er erneut. Auch diesmal reagierte niemand. Auch beim dritten Mal schien sich nichts im Hausinneren zu rühren.
Entweder hat es sich der Meister mit dem kostenlosen Probekurs anders überlegt, oder er ist gerade nicht da, überlegte Valdimier und drückte eher beiläufig auf die Türklinke.
Umso überraschter war er, als sich selbige nach unten drücken ließ und die Tür aufging. Was sollte das nun? Niemand würde seine Haustür nicht abschließen, wenn er das Haus verließ. Aber warum hatte man ihm dann nicht die Tür geöffnet, als er geklopft hatte? Valdimier seufzte leise. Eigentlich hatte er sich frei genommen, um über derartige Sachverhalte nicht nachdenken zu müssen. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Sofort drang eine nach süßen Hölzern duftende Rauchwolke in seine Nase. Anscheinend hielt sich Me Sik sehr an die achatene Tradition, so viele Räucherstäbchen wie möglich in einem Haus unterzubringen.
"Hallo?", rief Valdimier, als er ein paar Schritte weiterging. "Ist hier jemand?"
Niemand reagierte auf sein Rufen. Es herrschte eine gerade zu gespenstische Stille. Leichte Rauchwolken lagen in der Luft und ließen die Umgebung so aussehen, als würde sie aus einem schlechten Klicker stammen. Dies war dann meistens der Moment, wo plötzlich der Mörder hinter einem Schrank oder ähnlichem hervorsprang, um sein Opfer zu töten.
"Sind Sie da, Meister Me Sik?", rief er erneut. "Ich komme wegen ihrer Anzeige in der Times."
Wieder war es nur die Stille, die auf sein Rufen reagierte.[2]
Scheint wohl wirklich keiner da zu sein, dachte sich der Vampir. Vielleicht hat er wirklich nur vergessen, die Tür abzuschließen.
Valdimier wollte das Haus wieder verlassen, doch als er sich umdrehte, stand ihm plötzlich jemand gegenüber.
"Sooo, du willst also die geheime Kunst des Achaten Kampfes erlernen, wie?", fragte ihn die Person mit einer grummelnden Stimme.
Erschrocken stolperte Valdimier zurück. Beinahe hätte er sogar noch einen kurzen Angstschrei ausgestoßen, doch er konnte gerade noch verhindern, dass eine derartige Peinlichkeit seiner Kehle entwich.
"Du scheinst mir dafür allerdings etwas zu schreckhaft zu sein", kommentierte der Unbekannte seine Reaktion.
"Meister Me Sik?", fragte Valdimier ungläubig.
"Der bin ich", antwortete Me Sik mit einem Kopfnicken.
Das Erste, was Valdimier an dem Achaten auffiel, war der Bart an dessen Kinn. Er bestand aus feinem weißen Haar und hing bis etwa auf eine Höhe seines Brustkorbes, wo er spitz zusammenlief. Das Haar auf seinem Kopf hatte der Kampfmeister zu einem großen Knäuel verknotet, durch das er eine riesige Haarnadel gesteckt hatte.
"Entschuldigen Sie Herr Me Sik, aber ich...", begann Valdimier.
"Meister Me Sik", unterbrach ihn der Achatene mit strenger Stimme.
Valdimier zögerte kurz. John Boo hatte einmal in einem Buch über die Eitelkeit der Kampfmeister berichtet. Manche gingen angeblich so weit und rissen denjenigen, die sie nicht mit dem nötigen Respekt behandelten mit einem schnellen Griff die Zunge heraus. Damals hatte er noch laut darüber gelacht und es als totalen Blödsinn abgetan. Doch etwas in dem entschlossenen Blick von Meister Me Sik ließ ihn befürchten, dass dieser Mann wirklich derartige Methoden der Problemlösung einsetzte.
"Entschuldigen Sie bitte, Meister Me Sik, aber sie haben mich doch etwas überrascht."
"Wer den Achatenen Kampf beherrschen will, muss immer auf alles und jeden vorbereitet sein", erwiderte Me Sik trocken. "Aber da du schon die ersten zwei Prüfungen erfolgreich bestanden hast, werde ich dir noch eine Chance geben."
"Welche Prüfungen?", fragte Valdimier verwirrt.
Me Sik machte eine schwingende Handbewegung in Richtung Haustür.
"Das Schild an der Tür stellte sie dir. Es waren die Prüfungen der Folgsamkeit und des Scharfsinnes."
Für einen Moment starrte Valdimier den Achaten an und versuchte, seinem Gedankengang zu folgen.
"Auf dem Schild stand nichts davon, dass die Tür von jemandem geöffnet wird, wenn man anklopft", half ihm Me Sik auf die Sprünge.
"Ähm, was passierte mit den Leuten, die die Tür nicht von selbst geöffnet haben?", war die erste Frage, die Valdimier darauf einfiel.
"Die waren der achaten Kampfkunst nicht würdig und sind wieder gegangen."
"Und die, die ohne Klopfen einfach die Tür öffneten?"
Die Mine des Kampfmeisters wurde grimmig.
"Diese waren ebenfalls unwürdig. Sie wurden von mir wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen, wieder zu gehen."
"Und wie viele waren das bis jetzt?", wollte Valdimier wissen.
Langsam fragte er sich, wo er hier gelandet war. Er hatte zwar mit vielem gerechnet, aber dies ging doch in eine ganz andere Richtung.
"Ich habe schon lange aufgehört zu zählen." Der Achate seufzte leise. "In dieser Stadt scheint es nicht viele Einwohner zu geben, die folgsam und scharfsinnig zugleich sind."
Die meisten haben halt genug Anstand und gehen nicht einfach in fremde Häuser hinein, dachte sich Valdimier. Außer sie gingen irgendwelchen illegalen Aktivitäten nach.
Me Siks Stimme holte ihn aus seinen Gedanken zurück.
"Aber nun, ich bin froh, endlich wieder einen Schüler zu haben. Folge mir."
Erst als er an Valdimier vorbeiging, realisierte der Vampir, dass er selbst gut einen Kopf größer als der Achate war.
"Bin ich etwa der einzige?", fragte Valdimier, als er ihm hinterher ging.
"Ja, das bist du. Viele vor dir sind schon an der ersten Hürde gescheitert. Aber das soll nicht deine Sorge sein. Bis jetzt habe ich jeden meiner Schüler erfolgreich die geheime Kampfkunst gelehrt. Du sollst da keine Ausnahme sein."
"Ähm, ich würde gerne doch erst einmal den Probekurs versuchen", widersprach der Vampir.
Als er die Worte hörte, blieb Me Sik plötzlich stehen. Ruhig drehte er sein Gesicht zu Valdimier, seine Augen zu dünnen Schlitzen verengt.
"Lass dir eins gesagt sein. Nur Feiglinge brechen ihre Ausbildung frühzeitig ab. Es ist eine große Ehre, in die geheimen Lehren des mächtigen Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak eingeführt zu werden."
Valdimier versuchte, den ersten Teil des Satzes zu ignorieren. Als Wächter wurde man öfters als Feigling oder ähnliches bezeichnet. Störend war daran allerdings die Tatsache, dass dies nicht die Verbrecher, sondern eher die Zivilisten taten. Für sie war man schnell ein Feigling, wenn man zum Beispiel nicht blindlings in ein Haus stürmte, in dem sich zirka 20 schwerbewaffnete Trolle befanden.
"Wer ist eigentlich dieser Quim Pai Sim..."
Weiter hatte sich er sich den Namen nicht merken können, und sein Gefühl sagte ihm, dass er lieber nicht versuchen sollte, zu improvisieren.
"Der mächtige Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak war der Erfinder des Achaten Kampfes. Er brauchte Jahrzehnte, um die Techniken zu entwickeln. Dazu absolvierte er das schwerste Training, das man sich vorstellen kann, und als Kampfinspiration dienten ihm die unzugänglichsten Orte der Scheibenwelt, an denen er trainierte."
"Aha", murmelte Valdimier vage.
"Aber das wirst du noch früh genug erfahren", fuhr der Achate fort und blieb vor einer Tür stehen. "Doch jetzt zeige ich dir erst einmal den Übungsraum."
Schwungvoll öffnete er die Tür und trat zur Seite. Langsam, als würde auf der anderen Seite das unvorstellbare Grauen auf ihn warten, betrat Valdimier das Zimmer.
Er hätte viele Wörter benutzen können, um den Raum zu beschreiben. Doch das erste, was ihm in den Sinn kam, war Sehr atmosphärisch. Der Raum wurde von einem schummrigen Licht durchflutet, welches von den vielen Kerzen stammte, die das Hauptmobiliar des Zimmers darstellten. Vier von ihnen befanden sich auf besonders großen Ständern, von denen jeweils einer in jeder Ecke des Raumes stand. Das schwache Licht, welches durch die mit dünnen Vorhängen verdeckten Fenster drang, schaffte es nicht, den Raum wesentlich zu erhellen. Ein Gemälde an der gegenüberliegenden Wand erweckte Valdimiers Aufmerksamkeit. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würden zwei Kaulquappen mit riesigen Köpfen und nur jeweils einem Auge einen Kreis bilden. Eine war komplett weiß, während die andere vollkommen schwarz war. Nur das Auge, welches nicht mehr als ein ausgefüllter Kreis war, hatte jeweils die Farbe des anderen Körpers.
"Dies ist das Zeichen des Gleichgewichtes", erklärte Meister Me Sik, der neben dem Vampir stand. "Es zeigt, dass es für alles immer ein Gegenstück gibt und dass das eine nicht ohne das andere sein kann."
"Wie meinen sie das?", fragte Valdimier und betrachtete das Bild genauer. Jemand hatte es direkt auf das Mauerwerk gemalt und hatte sich anscheinend viel Mühe dabei gegeben, den Kreis so perfekt wie möglich zu machen.
"Würde es ohne das Böse überhaupt das Gute geben?", fragte ihn der Lehrmeister. "Würde es ohne den Himmel überhaupt eine Hölle geben oder umgekehrt? Würde das Bild immer noch einen Kreis darstellen, wenn ein Teil davon fehlte?"
Valdimier schüttelte den Kopf. Er hatte jetzt nicht mit einer Nachhilfestunde in Philosophie gerechnet.
"Das ist das Erste, was du lernen musst, wenn du das Training erfolgreich bestehen willst", sprach Me Sik in einem ernsteren Ton weiter. "Wer die Achate Kampfkunst lernen möchte, muss immer das Gleichgewicht zwischen Geist und Körper in Einklang halten. Ohne das eine ist das andere nutzlos. All deine Stärke bringt dir nichts, wenn du sie nicht richtig einsetzen kannst."
Der Achate ging langsam um den Vampir herum.
"Wenn du das verstehst, bis du auf dem richtigen Weg."
Zögerlich nickte Valdimier. Er wusste zwar nicht, wie er seinen Geist und Körper in Einklang bringen sollte, aber das würde man ihm sicher noch zeigen.
"Also gut, junger Schüler." Trotz der ruhigen Stimme, mit der der Achate sprach, strahlte sie plötzlich ernorme Autorität aus und ließ Valdimier innerlich zusammenzucken. "Folge mir."
Er führte Valdimier in die Mitte des Raumes, der mit einer großen Reismatte ausgelegt war. An ihrem Rand blieb er kurz stehen und entledigte sich seiner Schuhe. Da er eine Art von Sandalen trug, die Valdimier noch nie zuvor gesehen hatte, dauert diese gerade mal eine Sekunde. Dann begab er sich auf die Reismatte und setzte sich in ihrer Mitte im Schneidersitz vor Valdimier auf den Boden. Mit einer Handbewegung forderte er den Vampir dazu auf, sich ihm gegenüber zu setzen.
"Bevor du mit deinem Training beginnst, solltest du dir über folgendes im klaren sein", sprach Me Sik, als sich Valdimier gesetzt hatte. "Vor dir liegt ein schwerer Weg, den schon viele gehen wollten und dabei gescheitert sind. Das Erlernen der Achaten Kunst verlangt von jedem permanente Konzentration und körperliche Beherrschung."
Valdimier nickte. Er war sich sicher, dass dies kein großes Problem für ihn sein sollte. Seine Aufgaben bei FROG forderten jedes Mal seine volle Aufmerksamkeit. Also dürfte es hier nicht allzu schwer sein.
"Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak forderte von seinen Schülern sogar, alle ihre Gedanken auf die Ausbildung zu sammeln, und keinen an die seiner Ansicht nach verwerflichen Dinge des Lebens zu verschwenden."
"Und die wären?", fragte Valdimier vorsichtig.
"Das übliche halt. Alkohol, Tabak, Glücksspiel und Frauen."
Den plötzlich aufgetretenen entgeisterten Gesichtsausdruck des Vampirs quittierte er mit einem kurzen verächtlichen Lachen.
"Ha, so reagieren alle, wenn man ihnen davon erzählt. Doch mach dir keine Sorgen, junger Schüler. Es gibt nur noch sehr wenige Meister, die das Training strikt nach der alten Tradition weiterführen und ich bin keiner von ihnen."
Da bin ich ja beruhigt, dachte Valdimier erleichtert. Mit Tabak und Glückspiel hatte er zwar nichts am Hut, doch ab und zu ging er ja schon mal mit ein paar Mitwächtern einen trinken. Und was die Frauen anging... Vielleicht ergab sich ja doch mal etwas.
"In deinem Fall hätte Quim Pai sicherlich noch versucht, den Blutdurst zu verbieten", erwähnte sein Gegenüber plötzlich.
Valdimier zuckte zusammen.
"Was ist los?", fragte ihn Me Sik. "Hattest du etwa geglaubt, dass ich nicht weiß, was du bist?"
"Natürlich nicht", log der Vampir. "Es kam nur etwas überraschend."
Der Achate musterte ihn eindringlich. Ein ungutes Gefühl überkam Valdimier. Sollte sich Me Sik als einer dieser Menschen entpuppen, die ihn und die restlichen seiner Art am liebsten aus der Stadt geworfen hätten.
"Ich will ehrlich zu dir sein." Die Ernsthaftigkeit, die in der Stimme des Meisters lag, ließ Valdimier das Schlimmste befürchten. "Anfangs hatte ich noch meine Bedenken, ob ich einen deiner Art aufnehmen soll. Doch du scheinst mir keiner dieser Vampire zu sein, die nachts in offene Schlafzimmerfenster fliegen und die Tochter des Hausbesitzers aussaugen."
Valdimier wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Auf der einen Seite fand er es sehr befriedigend, dass er nur so wenig Zeit gebraucht hatte, um Me Sik von seiner guten Seite zu überzeugen. Auf der anderen Seite gefiel es ihm überhaupt nicht, dass der Achate ihn anfangs in die Klischeeschublade gesteckt hatte. Auch wenn es viele Bürger in Ankh-Morpork gab, die ebenfalls diese Einstellung gegenüber ihm und den anderen Untoten in der Stadt hatten, so hatte er nicht geglaubt, dass einer Meister mit philosophischer Grundausbildung, zu ihnen gehörte.
"Nun verrate mir noch deinen Namen, junger Schüler. Du hast ihn mir gegenüber noch nicht erwähnt."
"Valdimier", antwortete der Vampir. "Valdimier van Varwald."
Der Kampfmeister nickte ruhig.
"Also gut, Valdimier van Varwald. Bist du bereit, das Training aufzunehmen und die Achate Kampfkunst zu erlernen?"
"Ja, Meister Me Sik."
Eigentlich hätte sich Valdimier gerne der sich entwickelnden Dramatik diese Szene überlassen, doch der nächste Satz von Me Sik erstickte das Gefühl im Keim, ehe es sich richtig entfalten konnte.
"Gut. Nach der Probestunde berechne ich zwei Dollar und fünfzig Cent für jede weitere."

***


Während Valdimier im Inneren des Dojos die ersten Minuten seiner Kostenlose Probestunde absolvierte, spielte sich draußen ein für Ankh-Morpork Verhältnisse ganz normaler Tag ab. Da es langsam auf die Mittagszeit zuging, herrschte reges Treiben auf der Strasse, was sich der ein oder andere Dieb, mit oder ohne Lizenz, zunutze machte. Einige Händler hatten ihre Verkaufstände am Straßenrand aufgebaut und versuchten, mit lauten, möglichst motiviert klingenden Rufen, ihre Waren an den Mann zu bringen. Natürlich war jeder von ihnen der festen Überzeugung, dass seine Waren von viel besserer Qualität waren als die des Konkurrenten nebenan. Ein aufmerksamer Zuhörer hätte aus dem Lärm, der notgedrungen immer auf einer solch besuchten Strasse herrschte, die verschiedensten Gesprächsfetzen heraushören können. Mal war es das sehr ehrgeizige Feilschen um einen Preis oder es wurde der neuste Tratsch aus der Nachbarschaft unter das Volk gebracht. Gelegentlich konnte man auch die Entsetzensla!
ute, wenn eine Geldbörse abhanden gekommen war, vernehmen.

Es war also ein ganz normaler Tag in Ankh-Morpork.

So fiel auch niemandem die junge Frau auf, die mit einer Zeitung in ihrer Hand vor dem Haus Nummer 24 stand und an die Tür klopfte.

***


"Vergiss nicht. Die Augen können einen täuschen", hörte Valdimier die Stimme des Meisters, während er sich in totaler Dunkelheit befand. "Verlass dich auf deinen Instinkt."
Valdimier verließ sich lieber auf seine Ohren. Blitzschnell wirbelte er herum und schwang seine Faust an die Stelle, an der er den Achaten vermutete. Doch sein Schlag ging ins Leere. Überrascht stolperte er einen Schritt nach vorne und blieb stehen.
Diese verdammte Augenbinde, fluchte er in Gedanken.
Es hatte ihn sehr verwundert, als Me Sik ihm plötzlich die Augenbinde gegeben und ihn aufgefordert hatte sie überzuziehen.
"Sie dient zur Festigung der Konzentration", erklärte der Achate. "Wenn einer der Sinne geraubt wird, festigt der Geist die restlichen."
Nun stand er hier. Keine Ahnung mehr, in welche Richtung er überhaupt blickte und sollte versuchen, seinen Meister mit einem Faustschlag zu treffen. Zuerst hatte er noch Angst gehabt, dass er ihn dabei irgendwie verletzen würde. Doch diese Sorgen hatten sich schon längst in Luft aufgelöst.
"Dein Schlag ist unkontrolliert und ohne jegliche Kraft", erklang Me Siks Stimme plötzlich hinter ihm. "Konzentrier' dich."
Valdimier riss einen Arm nach oben und drehte sich. Doch plötzlich spürte er, wie sich blitzschnell eine Hand um sein Handgelenk schloss und seinen Schlag stoppte.
"Wie ich sagte. Kein Kraft."
Der Vampir versuchte sich aus dem Griff zu befreien und schlug mit der anderen Hand in Richtung seines Gegners. Doch Me Sik ahnte wohl, dass er dies versuchen würde und ergriff auch den anderen Arm.
"Du reagierst zu hektisch. Nur wer die innere Ruhe findet, wird im Kampf erfolgreich sein."
Mit diesen Worten versetzte er Valdimier einen Stoß. Der Vampir stolperte zwei Schritte nach vorne und stürzte. Doch er rollte sich ab und sprang auf. Der Achate hatte ihn nun genug zum Narren gehalten. Er würde ihm zeigen, mit wem er es zu tun hatte.
"Pass auf, es steht...", mahnte ihn Me Sik, doch Valdimier schlug zu.
Er traf auch etwas. Doch er spürte sofort, dass es nicht sein Lehrmeister war, dafür war das Getroffene auch viel zu hart. Ein lautes Krachen erklang und er fühlte, wie die Knochen in seinen Fingern brachen. Schmerzen blieben einem Vampir bis auf ein paar Ausnahmen zum Glück erspart, doch er konnte sich vorstellen, wie es sich für einen Normalsterblichen anfühlen musste.
"Verdammt!!", fluchte Valdimier und riss sich die Augenbinde vom Kopf. "Was zum..."
Verwundert blickte er auf den Holzbalken, der vor ihm stand. Eine kleine Delle befand sich an der Stelle, wo seine Faust getroffen hatte.
"Bemerkenswert", erklang Me Siks Stimme neben ihm. "Jeder normale Mensch hätte vor Schmerzen sicher geschrieen."
Valdimier schaute sich um, um die Orientierung wieder zu gewinnen. Die Augenbinde hatte ihm sein gesamtes Raumgefühl gestohlen. Bei seinem Abrollen musste er sich wohl, ohne es gemerkt zu haben, in eine Richtung gedreht haben. Jedenfalls stand er jetzt mit dem Gesicht zu einer der Zimmerwände und der Balken schien eine der Deckenstützen zu sein.
"Wie geht es deiner Hand?", fragte Me Sik. In seiner Stimme lag nicht eine Spur von Besorgnis.
"Der geht es den Umständen entsprechend", antwortet Valdimier und betrachtete sie.
Zeige- und Ringfinger waren auf sehr unappetitliche Weise verkrümmt. Immerhin war es kein offener Bruch. Es würde wieder ohne größere Sauerei verheilen.
"Das wird nur ein paar Minuten dauern, bis es wieder..."
Doch eine plötzlich erklingende Frauenstimme unterbrach ihn.
"Ähm, entschuldigung?"
Eine junge dunkelhaarige Frau stand in der Tür zum Trainingsraum und bedachte die beiden Anwesenden mit einem fragenden Blick. In einer Hand hielt sie eine Ausgabe der Times, die an einer bestimmten Stelle aufgeschlagen war.
"Ich komme wegen der Anzeige in der Times", erklärte sie mit ruhiger Stimme und schaute zu Me Sik. "Sie sind sicher Meister Me Sik."
"Das bin ich", antwortet der Achate mit ernster Stimme. "Doch hast du nicht das Schild an der Tür gelesen?"
Die junge Frau schien für einen kurzen Moment verwirrt.
"Ähm, natürlich. Doch auf mein Klopfen reagierte niemand."
"Aha, verstehe." Der Kampfmeister beäugte die Frau nachdenklich. Valdimiers Hand schien ihn nicht mehr weiter zu interessieren. "Du willst also die geheime Kunst des Achaten Kampfes erlernen."
Die Frau nickte zögernd.
"Zuerst möchte ich doch die kostenlose Probestunde versuchen."
"So soll es sein", erwiderte Me Sik. "Da du durch Bewältigen der ersten beiden Prüfungen bewiesen hast, dass du würdig bist, den Achaten Kampf zu erlernen, werde ich dich als meine Schülerin aufnehmen."
"Welche Prüfungen?", fragte die Frau verwundert.
Als der Achate den Sinn des Schildes an der Haustür und die damit verbundenen Prüfungen erklärte, hatte Valdimier eigentlich damit gerechnet, dass die Frau entweder laut loslachen oder genauso verwundert dreinschauen würde wie er. Doch sie zuckte nur mit den Schultern.
"Sehr schön", antwortet sie mit entschlossener Stimme und schaute zu Valdimier.
"Und Sie sind einer seiner Schüler?"
"Erst seit heute", antwortet der beurlaubte Wächter knapp.
"Und Sie sind ein Vampir?"
Eine gewisse Vorsicht lag in ihrer Stimme, als sie diese Frage stellte.
"Ja."
Den Blick, mit dem sie ihn betrachtete, kannte Valdimier nur zu gut. Es war der typische Blick, den er immer zu sehen bekam, wenn jemand nicht sehr begeistert von seiner Existenz war. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie auf der Stelle kehrt gemacht und das Dojo verlassen hätte. Doch sie überraschte ihn wieder.
"Sehr interessant", antwortete sie und ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Valdimier fragte sich, was das zu bedeuten hatte. War es für sie jetzt doch kein so großes Problem, dass er ein Vampir war, oder wollte sie ihm einfach nur trotzen und dachte sich Mich wirst du nicht einschüchtern, du Blutsauger. Normalerweise machte sich Valdimier keine Gedanken darüber, was man über seine Art dachte. Entweder man akzeptierte ihn, oder man akzeptierte ihn nicht. Doch Etwas in seinem Inneren hoffte, dass es bei ihr ersteres war.
"Nun denn", ergriff Me Sik wieder das Wort. "Wie ist dein Name, junge Schülerin?"
"Von Ankhbach. Lilith von Ankhbach"
"So sei es, Lilith", der Lehrmeister blickte zu Valdimier. "Bevor wir mit deinem Training beginnen, werde ich dir noch etwas über die Kampfkunst und das bevorstehende Training erzählen."
Er warf einen Blick zu Valdimier.
"Wie lange dauert das eigentlich mit deiner Hand?"
"Ich denke mal, so zirka 10 Minuten", antwortete der Vampir schulterzuckend.
"Nun denn", der Achate strich sich durch seinen Bart. "Setz dich und versuche, deinen Körper in Einklang mit deinem Geist zu bekommen."
Ohne eine Antwort zu geben, setzte sich Valdimier wieder im Schneidersitz hin. Hätte Me Sik ihm wenigstens schon erklärt, wie das mit dem Einklang zwischen Körper und Geist funktionierte, so hätte er es jetzt wenigstens versuchen können. Stattdessen schaute er zu, wie sich Lilith von Ankhbach, nachdem Me Sik sie dazu aufgefordert hatte, ihre Lederschuhe auszog und gegenüber des Achaten auf der Reismatte Platz nahm. Valdimier überlegte, ob der Name der jungen Frau auf einen gehobenen Familienstand schließen lies. Auch wenn sie sicher nicht zu den unteren Gesellschaftsschichten von Ankh-Morpork gehörte, für eine Dame aus feinem Hause war ihre Kleidung einfach zu einfach gehalten. Sie trug einen langen schwarzen Rock, der, als sie sich hinsetzte, ihre Beine vollkommen verdeckte. Das Oberteil, mit einem dezenten Ausschnitt, war ebenfalls in schwarz gehalten. Er zuckte zusammen, als er ein kleines Ankh-Kreuz sah, das die junge Frau an einer Halskette trug. Ein leichtes Prickeln b!
ildete sich auf seiner Haut. Zum Glück war es nur ein relativ kleines Symbol, sonst wäre es für ihn sehr unangenehm geworden. Er beobachtete sie, als sie den Erzählungen von Me Sik zuhörte. Der Achate erzählte ihr von dem Erfinder der Kampfkunst, dessen Namen Valdimier schon wieder zur Hälfte vergessen hatte. Die Geschichte über das harte Training, das dieser Quim Pai sowieso absolviert hatte, hob er besonders hervor und erklärte ihr, dass ihr dasselbe bevorstehen würde, wenn sie das Training beginnen sollte. Gelegentlich warf sie einen kurzen Blick, der eine Mischung aus Frage und Ungläubigkeit war, zu Valdimier. Auch sie schien sich die Frage zu stellen, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, hierher zu kommen. Der Vampir zuckte darauf immer nur mit den Schultern.
"Nun denn, junge Schülerin", beendete Me Sik seinen Vortrag. "Bist du bereit, die geheimen Lehren des Achaten Kampfes zu erlernen?"
Wenn er so weiter macht, sind die Lehren bald nicht mehr sehr geheim, dachte sich Valdimier, als er einen Blick auf Lilith von Ankhbach warf, die über ihre Antwort nachdachte.
Es dauerte nicht lange, bis sie eine gefunden hatte.
"Ja."
Ihre Stimme hatte wieder die Entschlossenheit in sich, mit der sie seine ersten Fragen beantwortet hatte.
"So sei es." Der Achate erhob sich und warf einen Blick auf Valdimier. "Was macht deine Hand?"
"Wird gleich wieder gehen."
Das Verheilen seiner Fingerknochen wurde von einem unangenehmen Kribbeln begleitet. Auch wenn ein Vampir den Vorteil der schnellen Heilung genoss, das Gefühl dabei trieb ihn beinahe in den Wahnsinn.
"Gut." Me Sik nickte bestätigend. "Also dann, meine Schüler. Da ihr nun zu zweit seid, werde ich das Training etwas anders gestalten. Stellt euch bitte nebeneinander."
Valdimier befolgte die Aufforderung seines Lehrers und stellte sich neben Lilith auf die Reismatte. Die Frau warf ihm dabei einen kurzen Blick zu, den der Vampir erwiderte.
"Guten Tag ,Frau von Ankhbach. Mein Name ist Valdimier van Varwald. Sehr erfreut, Sie kennen zulernen."
"Guten Tag, Herr van Varwald", erwiderte die junge Frau, und wandte ihren Blick wieder ihrem Kampfmeister zu.
Was zur Hölle sollte das jetzt?, fluchte Valdimier innerlich.
Er wusste nicht, was ihn dazu bewegt hatte, sie so anzusprechen. Er hätte sie auch gleich mit "Guten Tag, könnte ich bitte an Ihrem Hals saugen?" begrüßen können. Doch seine Mitschülerin schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Entweder machte er sich darüber umsonst Gedanken, oder sie war eine Person, die ihre Gefühle sehr gut verstecken konnte.
Valdimier versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken und seinem Lehrer zuzuhören, der vor ihnen stand.
"Also, meine Schüler. Wer den Achaten Kampf erlernen will, muss in der Lage sein, den nächsten Zug seines Gegners vorauszusehen." Er stellte sich vor Valdimier. "Versuch mich zu treffen, junger Schüler. Ohne Augenbinde wird es dir sicher leichter fallen."
Wütend über die Provokation seines Lehrers, hob Valdimier seine Arme. Seine Augen fixierten seinen Lehrer, der interessiert ihn anschaute. Anscheinend wartete er nur auf die Reaktion des Vampirs.
Er schlug in einem Moment zu, von dem er sich erhoffte, dass er den Achaten überraschen würde, doch eher seine Faust sein Gegenüber erreichte, riss dieser blitzschnell einen Arm hoch und blockte mit Leichtigkeit den Schlag des Vampirs.
"Noch mal!", forderte er ihn auf.
Valdimier ließ seinen Arm sinken, doch im selben Moment schoss sein anderer hervor, mit dem Ziel, den Achaten zu treffen. Doch auch diesmal war es für Me Sik kein Problem, die entgegenkommende Gefahr zu blocken.
"Deine Wut macht Dich vorhersehbar, junger Schüler. Lerne sie zu kontrollieren."
Mit diesen Worten senkte er seine Arme und ging weiter zu Lilith, die das Geschehen aufmerksam beobachtet hatte. Als er ihr gegenüber stand, hob die junge Frau kampfbereit die Arme.
Me Sik lächelte. Valdimier hatte das Gefühl, dass der Achate die Bemühungen der Frau ziemlich amüsierend fand. Sie bemerkte die Belustigung des Lehrers natürlich ebenfalls, was ihren Blick allerdings nur entschlossener wirken ließ.
"Auch du hast das gleiche Ziel, meine Schülerin. Versuche mich z.. UFZ"
Erschrocken riss Valdimier die Augen auf. Er sah, wie Me Sik ein paar Schritte zurück stolperte und dann auf die Knie fiel. Der Vampir konnte nicht glauben, was er eben gesehen hatte. Noch während der Achate Lilith von Ankhbach dazu aufgefordert hatte, ihn anzugreifen, riss diese ohne Vorwarnung ihr Knie hoch und traf den Lehrmeister an einer für Männer sehr empfindlichen Stelle. Es wunderte ihn, dass der Achate keinen Laut von sich gegeben hatte. Schmerzen waren ihm wohl nicht fremd. Egal, wie stark sie waren.
"Oh nein!" Lilith lief schnellen Schrittes auf den knienden Lehrmeister zu. "Entschuldigen Sie, Meister."
Sie wollte ihm aufhelfen, doch der Lehrer lehnte ihre Hilfe entschlossen ab.
"Macht Euch keine Vorwürfe, junge Schülerin." Man hörte, daß der Achate unter sehr großer Anstrengung sprach. "Ich war unachtsam und habe nun den Preis dafür bezahlt. Gebt mir noch einen Moment um mich zu erholen."
"Können wir etwas für Sie tun", fragte Valdimier.
Doch ihr Lehrer schüttelte energisch den Kopf.
"Nein, wartet nur einen kleinen Augenblick. Es wird gleich wieder gehen."
Der Vampir warf Lilith einen fragenden Blick zu. Ihr Angriff mit dem Knie war zu schnell und präzise erfolgt, als das es nur ein Glückstreffer gewesen sein konnte. Doch diesmal zuckte sie nur besorgt mit den Schultern und schaute schuldbewußt zu dem angeschlagenen Achaten. Sie schien sich der verheerenden Folgen ihres Kniestoßes bewusst zu sein.
"Es sei dir Eines gesagt, junge Schülerin", erklärte Me Sik, als er sich nach einer kurzen Ruhepause wieder aufgerappelt hatte. Seine Stimme war ruhig und bestimmt zugleich. Es war klar, Widerworte würde er nicht tollerierren. "Der mächtige Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak hat immer gesagt, dass jede Art von Angriff in der geheimen Kampfkunst erlaubt sei. Dies ist auch der Grund, warum ich dich dein Training fortführen lasse."
Lilith nickte stumm. Es schien, als wolle sie etwas antworten, entschied sich dann aber doch, es lieber zu unterlassen.
"Also gut." Me Sik setzte sich wieder im Schneidersitz auf den Boden. "Ihr habt großes Potential, doch euch fehlt das Wissen, es richtig zu nutzen."
Mit einer Handbewegung deutete er seinen Schülern, sich ebenfalls zu setzen.
"Eure Schwäche ist die Emotion, die euch dazu verleitet, hektisch und unüberlegt zu handeln."
Was aber trotzdem dazu geführt hat, dass Deine Chancen auf Nachwuchs ziemlich dezimiert wurden, schoss es Valdimier durch den Kopf. Es war dem Achaten immer noch anzusehen, dass er sich anstrengen musste, ruhig zu sprechen. Der Schmerz schien sich nur langsam zu verziehen.
"Darum müsst ihr lernen, eure Emotionen zu beherrschen. Nur dann könnt ihr das Wissen, das ich euch beibringen werde, richtig nutzen."

***


Später

Gierig atmete Lilith von Ankhbach die frische Luft ein, soweit man in Ankh-Morpork von frisch reden konnte, als sie nach draußen trat. Auch wenn stickige Luft für sie ein tägliches Problem war, an das sie sich schon längst gewöhnt hatte, so war doch der übermäßige Einsatz von Räucherstäbchen in dem Dojo eine harte Belastung für ihre Lungen gewesen. Erschwerend war noch die Meditationsübung hinzugekommen, die der Lehrer mit ihr und dem Vampir abgehalten hatte. Ruhiges und tiefes Atmen war in diesem süßlich riechenden Dunst nicht sehr einfach gewesen. Um diesen Punkt konnte man den Vampir beneiden, der neben ihr stand. Seine Lunge war wohl schon vor langer Zeit das letzte Mal mit Luft gefüllt worden. Sein sich nicht bewegender Brustkorb faszinierte und verunsicherte sie zugleich.
"Alles in Ordnung, Frau von Ankhbach?", fragte der Vampir mit besorgter Stimme, als schien er ihre tiefen Atemzüge bemerkt zu haben.
Sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie ihm antwortete.
"Mir geht es gut. Die Luft da drinnen war nur etwas stickig."
"Das stimmt", erwiderte der Vampir und nickte mit dem Kopf. "Der Geruch kitzelt immer noch in der Nase."
Lilith verzog das Gesicht.
"Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Herr van Varwald?"
Ohne auf eine Antwort zu warten, schaute sie den Vampir an, worauf dieser fast unmerklich zusammenzuckte.
"Was hat Sie dazu bewogen, hier teilzunehmen?"
"Ich, äh.."
Der Vampir zögerte kurz, als würde er sich eine passende Antwort zurechtbauen.
"Ich dachte mir, dass es in meinem Beruf vielleicht von Vorteil wäre, mehr zu wissen als meine Gegner."
Sie schaute ihn überrascht an. Seine Gegner?
"Ich bin Wächter", beantwortete der Vampir ihre ungestellte Frage mit einem gewissen Stolz in seiner Stimme. "Und in einer Stadt wie Ankh-Morpork kann man sich nie genug schützen."
"Verstehe", erwiderte Lilith.
"Und warum sind Sie hier, Frau von Ankhbach?", fragte der Vampir sie zurück. "Wenn Sie mir die Frage erlauben?"
Lilith musterte ihr Gegenüber. Sie entschied sich, ihn nicht darauf hinzuweisen, dass Fräulein die richtige Ansprache wäre. Auch wenn sie einiges über Vampire und ihren komischen Umsozialisierungs-Club wusste, so wollte sie ihn nicht unbedingt darauf hinweisen, dass sie keinen Ehemann hatte.
Möglichst gelassen zuckte sie mit den Schultern.
"Eigentlich könnte ich das gleiche antworten wie sie."
Nun war es der Vampir, der sie fragend anschaute.
"Sagen wir es mal so. Wenn man in einer Taverne angestellt ist, trifft man auf so allerhand merkwürdige Menschen, auf deren Bekanntschaft man gerne verzichten könnte."
Der Wächter nickte bestätigend.
"Hmm, man könnte fast sagen, dass wir beide einen sehr gefährlichen Beruf haben."
"Das könnte man so sagen." Sie zeigte ihr Exemplar der Times. "Und die Anzeige hier drin klang sehr viel versprechend."
Sie warf einen Blick auf die Haustür von Me Siks Dojo.
"Auch wenn ich mir das alles etwas anders vorgestellt habe."
Sie seufzte leise. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sie nicht viel über die Achate Kultur wusste. Außer ein paar Touristen, die wenn man von ihrem Aussehen ausging, wohl aus diesem Land kommen mussten und in der Taverne, in der sie arbeitete, ein paar Bier tranken, hatte sie noch nie großen Kontakt mit dieser Kultur gehabt. Sie konnte sich aber noch gut an die Ikonographen erinnern, von denen jeder der Besucher einen umhängen gehabt hatte und mit denen sie alles und jeden möglichst oft ablichteten.
"Wem sagen sie das", erwiderte Valdimier van Varwald und riss sie so aus ihren Gedanken. "Aber ich denke, dass er ein guter Lehrer ist."
Das dachte Lilith auch. Sonst hätte sie sicher nicht zugesagt, morgen erneut am Training teilzunehmen.
Ihr Blick ging kurz gen Himmel und schaute nach der Sonne. In dem Dojo hatte sie jedes Zeitgefühl verloren und sie merkte erst jetzt, dass man sie eigentlich schon längst in der Taverne zurück erwartete. Sie hatte nicht gedacht, dass dieser Probekurs so lange dauerte.
"Wenn sie mich nun bitte entschuldigen würden, Herr van Varwald. Man erwartet von mir, dass ich mich eigentlich schon längst wieder an meinem Arbeitsplatz befinde."
"Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten", antwortete der Vampir und streckte ihr zögernd die Hand entgegen.
Auch sie zögerte einen Moment, bevor sie sie ergriff und nach einem kurzen Augenblick wieder losließ. Sie war überrascht darüber, dass die Haut des Untoten nicht so eisigkalt war, wie man immer erzählte.
"Ähm, dann bis morgen", sagte sie zum Abschied und drehte sich um, um zu gehen.
Als sie ein paar Schritte gegangen war, erklang plötzlich die Stimme des Vampirs.
"Entschuldigen sie bitte, Frau von Ankhbach?"
Lilith drehte sich um. Der Vampir stand noch immer an der Stelle, an der sie ihm den Rücken zugedreht hatte.
"Ja?"
"Verraten sie mir, in welcher Taverne sie arbeiten?"

***


Valdimier fragte sich, ob es vielleicht falsch gewesen war, sie jetzt schon danach zu fragen. Doch seine Zweifel schienen unberechtigt zu sein. Lilith von Ankhbach zuckte gelassen mit den Schultern und gab ihm die gewünschte Antwort.
"Sie heißt "Zum glücklichen Eber" und befindet sich in der Spendergasse."
Dann drehte sie sich wieder um und verschwand in dem auf der Strasse herrschenden Gedränge. Kurz darauf machte auch er sich auf den Rückweg.

Es war ihm klar, dass sie ihm den Namen wahrscheinlich nur gesagt hatte, weil ihr bewußt war, dass sie die nächste Zeit zusammen trainieren würden. Doch das war Valdimier in diesem Moment erstmal egal. Immerhin hatte sie ihm eine Antwort gegeben, was ihm doch Hoffnung gab, dass sie sich keine so großen Sorgen machte, weil er Vampir war. Zwar waren ihm ihre gelegentlichen skeptischen Blicke nicht entgangen, aber er hatte schon viel Schlimmeres erlebt. Der Gedanke daran, dass er sie morgen wieder sehen würde, fügte sein Übriges zu der guten Laune des Vampirs hinzu. Er würde lügen, wenn er sich nicht gestand, dass er sich in sie verguckt hatte. Es war ihm schwer gefallen, sie nicht die ganze Zeit anzustarren. Ihr Gesicht mit den braunen Augen und dem schulternlangen schwarzen Haar hatte sich in seinen Gedanken festgesetzt und würde sich von dort sicher nicht so schnell vertreiben lassen.
Kleine Zweifel regten sich ihm und versuchten, seine gute Stimmung zu trüben. Gab es vielleicht schon jemanden in ihrem Leben? Valdimier schüttelte den Gedanken wieder von sich ab. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, wenn er mehr über sie erfahren wollte. Ein überstürztes Vorgehen würde ihn nur ins Aus manövrieren.

Während er sich seinen Weg durch die Menschenmenge bahnte, dachte Valdimier über die letzten Stunde des Kurses nach. Nach dem empfindlichen Knietritt hatte sich Me Sik dazu entschlossen, das weitere Training etwas ruhiger anzugehen und ihnen die ersten Schritte der Meditation beizubringen. Wahrscheinlich schmerzte der Tritt doch ziemlich nach. Sie setzten sich wieder im Schneidersitz hin und Me Sik erklärte ihnen, was sie als nächsten tun würden.
"Die Meditation ist die beste Möglichkeit, seinen Körper, aber vor allem seinen Geist zu beruhigen. Das ist auch der Grund, warum sie ein großer Teil eurer Ausbildung sein wird."
Dann hatte der Achate die Augen geschlossen und sprach mit ruhiger, schon fast schläfriger Stimme weiter.
"Wer die Kunst der Meditation in Perfektion beherrscht, würde es nicht einmal spüren, wenn man ihm einen Ziegelstein auf dem Kopf zertrümmern würde. Entspannt euch und versucht, alle Gedanken von euch zu streifen."
"Und wie lange machen wir das?", hatte Valdimier kurz darauf gefragt.
Doch sein Lehrer gab ihm keine Antwort. Es schien so, als hätte er ihn nicht einmal gehört. Valdimier warf Lilith einen kurzen Blick zu, den sie nur mit einem kurzen Schulterzucken beantwortete. Dann schloss auch er die Augen und versuchte, die Anweisung Me Siks in die Tat umzusetzen. Doch so recht hatte es ihm nicht gelingen wollen. Wenn man gesagt bekommt "denke an nichts", dann denkt man automatisch an alles Mögliche, nur nicht an nichts. In seinem Kopf erschienen verschiedene Bilder, aus seinem Leben. Manche Erinnerungen waren nur wenige Tage alt, andere lagen schon viele Jahre zurück. Neben ihm hörte er Liliths ruhigen Atem, der von einem gelegentlichen kurzen Husten unterbrochen wurde. Er konnte nicht sagen, wie lange sie dort gesessen hatten, aber es war ihm wie einen halbe Ewigkeit vorgekommen. Umso erleichterter war er gewesen, als er wieder die Stimme des Achaten hörte.
"So, meine Schüler. Das reicht fürs erste."
Als er die Augen wieder öffnete, sah er als erstes, das unzufriedene Gesicht seines Lehrers. Der Achate musste ihm angesehen haben, dass die Übung nicht den gewünschten Erfolg mit sich gebracht hatte. Aber auch bei Lilith schien es nicht anders zu sein. Die junge Frau machte einen müden und erschöpften Eindruck.
"Macht euch keine Sorgen, meine Schüler." Me Siks Stimme war ruhig und voller Zuversicht. "Mit der Zeit werdet ihr es lernen."

Nach der etwas missglückten ersten Meditationsstunde neigte sich der kostenlose Probekurs langsam dem Ende zu. Me Sik demonstrierte ihnen noch die normale Kampfhaltung, die man möglichst schnell einnehmen sollte, wenn eine kämpferische Auseinandersetzung unausweichlich erschien.
"So könnt Ihr schnell reagieren und Euch sofort verteidigen. Und sie ist die Anfangshaltung für so ziemlich jede Übung, die ihr absolvieren werdet."
Mit kritischem Blick kontrollierte er, ob seine Schüler die Position richtig eingenommen hatten. Dazu musste man sich so hinstellen, dass man dem Gegner die eigene Körperseite etwas zuwandte, die Füße dabei so positionierte, dass man von den Zehenspitzen des vorderen Fußes bis zur Ferse des hinteren eine völlig gerade Linie ziehen konnte. Die Knie wurden leicht eingeknickt und die Arme abwehrbereit vor die Brust gehalten. Valdimier war sich sicher gewesen, dass sie bei den ersten Versuchen sehr lächerlich ausgesehen haben mussten. Das letzte, was ihnen ihr Kampflehrer im Anschluss zeigte, war eine einfache Schlagübung gewesen. Bei dem Achaten sah es sehr spektakulär aus. Er bewegte sich so schnell, dass man nur mit Mühe seine hervorschnellende Faust erkennen konnte. Nach mehreren Übungsschlägen, die der Meister mit Worten wie: Schneller, Genauer oder Konzentriert euch kommentierte, beendete er für diesen Tag das Training. Sie saßen sich wieder gegenüber !
und Me Sik hatte sie eingehend gemustert.
"So, meine Schüler. Da wäre alles, was ich euch an eurem ersten Tag beibringe. Ab morgen werden wir euer Training dreimal wöchentlich fortsetzen."
"So oft?", fragte Lilith überrascht.
"Es sagte niemand, dass das Erlernen der Achaten Kampfkunst einfach wäre, meine Schülerin." Me Sik warf ihr einen scharfen Blick zu. "Wenn du dein Training abbrechen willst, dann sage es jetzt."
"Nein", antwortete sie mit ehrgeiziger Stimme.
Ein kurzes Lächeln bildete sich auf dem Gesicht des Achaten.
"So sei es. Natürlich gebe ich euch die Möglichkeit, euch die Uhrzeit auszusuchen. Allerdings werdet ihr euch auf eine Zeit einigen müssen."

Nach einer kurzen Besprechung hatten sie sich dann darauf geeinigt, dass sie das Training immer um sieben Uhr abends abhalten würden. Zwar kam dies Valdimier sehr gelegen, da er abends weniger Dienst hatte, aber er sah schon die eine oder andere Überschneidung mit seinem Dienstplan oder einem dringenden Soforteinsatz auf sich zukommen und wenn man die aktuelle Laune seines Abteilungsleiters in Betracht zog, konnte das noch manchen Ärger geben.

***


Später am Abend

"Soso, und wie war die erste Trainingsstunde so?", fragte Kanndra leicht amüsiert.
Bevor er antwortete, nahm Valdimier einen kurzen Schluck aus seinem Wasserglas. Mit solch einer Reaktion seitens der Späherin und den anderen Wächtern, die mit ihnen am Tisch saßen, hatte er ja gerechnet, nachdem er ihnen von dem Kurs erzählt hatte. Er wäre sogar sehr enttäuscht von ihnen gewesen, wenn sie anders reagiert hätten.
"Nun, sie war sehr lehrreich. Und deswegen werde ich morgen auch wieder dabei sein."
"Und hat dir dein neuer Meister auch schon etwas beigebracht?"
"Nur die grundlegenden Haltungen und solche Sachen. Die richtigen Übungen kommen erst später."
Während er antwortete, kratzte sich Valdimier vorsichtig an seiner vor kurzem verheilten Hand. Diesen unangenehmen Zwischenfall behielt er lieber für sich.
"Wird er dir auch beibringen, wie man über zehn Meter in die Luft springt und dabei wie wild mit den Beinen strampelt, als würden man versuchen, dadurch oben zu bleiben?", erklang Bregs Stimme vom anderen Ende des Tisches. "Ich habe gehört, die Achaten können so etwas."
Eigentlich wäre an der Frage des Halbvampirs nichts Besonderes gewesen. Es war keine Seltenheit, dass sie sich untereinander aufzogen. Doch der Stimme des Abteilungsleiters fehlte jeder Anflug von Humor.
"Hmm, keine Ahnung. Vielleicht hat er ja noch einen Kurs für Profis, wo man so etwas lernen kann", antwortete Valdimier gelassen und schaute zu Bregs.
Er saß, etwas abseits von den anderen, vor seinem Glas, in dem noch ein Rest Untervektor-Rum vorhanden war und musterte den Vampir eindringlich.
"Ich hoffe nur, dass du deine Pflichten gegenüber der Wache nicht vergisst. Dein Urlaub begrenzt sich nur auf ein paar Tage."
Valdimier seufzte leise.
"Natürlich werde ich das nicht."
"Dann ist es ja gut", antwortete sein Chef, trank sein Glas in wenigen Zügen aus und bestellte sogleich bei Herrn Käse ein neues.
Möglichst unauffällig beugte sich Valdimier zu Kanndra hinüber und flüsterte ihr zu: "Sein wievieltes war das eben?"
"Ich glaub', sein drittes", flüsterte der Chief-Korporal zurück.
Der Vampir nickt nur stumm und warf wieder einen Blick auf seinen schon leicht angetrunkenen Freund. In letzter Zeit hatte er das Gefühl, dass Bregs seinen Blutverzicht mit einer erhöhten Menge an Alkohol auszugleichen versuchte. Es war nicht so, dass er schon mal betrunken zum Dienst erschienen wäre, aber bei ihren letzten Treffen im Eimer, bei denen sie den hinter ihnen liegenden Tag ausklingen ließen, war ihm aufgefallen, dass Bregs mehr als früher trank. In Kombination mit seiner schlechten Stimmung, konnte er so ziemlich schnell zu einem Spaßtöter werden. Doch Valdimier wollte sich seine gute Laune nicht verderben lassen.
"Gibt es auch noch andere Schüler in dem Kurs?", fragte Ktrask, neuer Triffinsziel der FROG's interessiert.
"Ähm, ja, gibt es."
"Und wie sind sie so?", fragte der Mensch weiter.
"Nett", antwortet der Vampir und wollte das Thema wechseln, doch Bregs kam ihm zuvor.
"Nett?", fragte der ausgebildete Püschologe.
"Nett halt", antwortete Valdimier. "Aber sehr viele sind es nicht."
Die Richtung, die das Gespräch eingeschlagen hatte, gefiel dem Vampir gar nicht. Auch wenn er schon einige Drinks intus hatte, waren Araghasts püschologische Fähigkeiten noch sehr gefährlich für ihn.
Er erzählte ihnen von der ersten Prüfung an der Tür, wurde sich aber schnell bewusst, dass es keine gute Idee gewesen war.
"Komischer Kauz", kommentierte Bregs die Geschichte.
Die anderen Wächter stimmten ihm zu.
"Schon eine seltsame Art, um seine Schüler auszuwählen", murmelte Kanndra.
"Was das angeht, muss ich euch Recht geben. Er ist etwas seltsam", erwiderte Valdimier.
"Aber das kann nicht darüber hinweg täuschen, dass er sein Handwerk versteht."
Den letzten Satz murmelte er allerdings nur in sich hinein.
"Und wie viele haben diese Prüfung noch bestanden?"
Es war Kanndra, die die Frage stellte. Eigentlich hatte Valdimier damit gerechnet, dass sie von Bregs kommen würde, doch der Abteilungsleiter saß still an seinem Platz und beobachtete, man konnte schon fast sagen belauerte, ihn.
"Nur einer", erwiderte der Armbrustschütze und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Seine einzige Chance, sich jetzt nicht zu blamieren, war, sich möglichst normal zu verhalten. Zuversicht stieg in ihm auf. Sollten sie doch ihre Fragen stellen. Sie würden nur das erfahren, was sie auch etwas anging.
"Hmm, das ist aber Schade", antwortet Kanndra. "Dann hast du ja nur einen Partner mit dem du.. alles in Ordnung?"
Die Späherin schaute verwundert zu dem Vampir, der sich gerade an seinem Wasser verschluckt hatte und sich hustend gegen die Brust klopfte.
"Ja, es geht schon wieder", versuchte er zu erklären, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. "Es fühlt sich nur sehr merkwürdig an, wenn sich Wasser in deinen Lungenflügeln befindet."
"Ihm gefällt es wohl nicht, dass wir über sie reden", erklang Araghasts Stimme vom Tischende.
"Woher willst du denn wissen, dass sie eine sie ist?", fauchte Valdimier zurück, ohne nachzudenken. "Oh, Mist!"
Er spürte wie er den Boden unter den Füßen verlor.
"Sag ich doch", erwiderte der Püschologe trocken. "Und so wie du dich verhältst, könnte man meinen, dass du Gefallen an ihr gefunden hast."
Valdimier hielt es für besser, darauf lieber nicht zu antworten, um Schlimmeres zu verhindern. Doch es war zu spät. Ein leises Kichern breitete sich über den Tisch aus. Wieder war es Kanndra, die dafür sorgte, dass Valdimier immer weiter in die Verlegenheit hineinrutschte.
"Oh, das wurde aber auch langsam mal Zeit. Wie heißt sie? Ist sie hübsch?"
"Ja, nein äh.. ich meine natürlich Ja, ich..."
Valdimier verstummte. Früher oder später hätten sie es eh' herausgefunden. Es wäre ihm aber lieber gewesen, wenn es sehr viel später gewesen wäre.
"Ja, sie ist hübsch", antwortet er und warf Bregs, der ihn seiner Meinung nach in diese Situation gebracht hatte, einen finsteren Blick zu.
Der Abteilungsleiter hatte sich mit einem breiten Lächeln auf seinem Gesicht zurückgelehnt und beobachtete das Schauspiel.
Wahrscheinlich ist er auch noch stolz auf sich, dachte Valdimier. Sicher macht er sich einen neuen Strich auf der "Erfolgreich püschisch ausgetrickst" Liste
In Gedanken versunken hörte er Kanndra nicht richtig zu, als sie neugierig ihre nächste Frage stellte. Doch er wusste eh, was sie wissen wollte.
"Lilith"
"Oh, ein schöner Name. Und weißt du auch schon ihren Nachnamen?"
"Ja, von Ankhbach."
"Hmm, klingt fast so, als wäre sie eine Nummer zu groß für dich", brummte Bregs und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. "Sie scheint wohl aus einer adeligen Familie zu kommen."
Valdimier schüttelte den Kopf.
"Nein, außer Adelige arbeiten neuerdings als Bedienung in einer Taverne."
"Gut für dich", erwiderte Kanndra augenzwinkernd. "In welcher Taverne arbeitet sie denn?"
"Keine Ahnung", antwortete der Vampir. "Das hab' ich sie noch nicht gefragt."
Er hoffte, dass seine kleine Notlüge niemandem auffiel. Ihn bedrückte die Befürchtung, daß wenn er ihnen die Wahrheit sagen sollte, die Taverne morgen ein erhöhtes Wächteraufkommen aufweisen würde.
"Und kommt sie morgen auch zu dem Kurs?", bohrte Kanndra weiter.
"Ja, tut sie." Valdimier musterte die Späherin misstrauisch. "Komm ja nicht auf die Idee, uns aufzulauern."
"Wer? Ich?" Kanndra verzog empört das Gesicht. "Was denkst du nur von mir?"
"Ich will nur auf Nummer sicher gehen. Das ist alles."
Valdimier war klar, dass er übertrieb, aber solange er Lilith nicht näher kannte, wollte er kein Risiko eingehen. Außerdem würde die Schmach, wenn sie kein Interesse an ihm hätte, nicht zu groß ausfallen.

***


Am nächsten Tag

Hastig flog Valdimier in Richtung Me Sik's Dojo. Wenn er sich beeilte, würde er es noch rechtzeitig schaffen. Er wusste nicht, wie sein Lehrer auf Verspätungen reagieren würde, und herausfinden wollte er es lieber nicht. Es war keine sehr gute Idee gewesen, zuhause vor dem Training noch einmal die Meditationsübung zu versuchen. Kurz nachdem er die Augen geschlossen hatte, musste er wohl eingenickt sein. Wann genau, konnte er nicht sagen, aber als er wieder wach geworden war, merkte er schnell, dass er ziemlich spät dran war. In Gedanken daran, was Me Sik wohl sagen würde, beschleunigte er sein Flugtempo. Jedenfalls würde ihm so kein neugieriger Wächter folgen können.

Als er an dem Dojo angekommen war, flog er in eine kleine Seitengasse und verwandelte sich mit einem leisen *PLOP* wieder in seine menschliche Gestalt zurück. Er wollte keine Probleme mit nervösen Stadtbewohnern bekommen, die das plötzliche Auftauchen von Vampiren für höchst bedrohlich hielten. Schnellen Schrittes begab er sich zur Eingangstür und betrat das Dojo. Als er den Trainingsraum erreichte, schienen Me Sik und Lilith schon auf ihn zu warten. Sie saßen sich im vertrauten Schneidersitz auf der Reismatte gegenüber und schauten zu ihm herüber, als sie ihn zu bemerken schienen.
"Ah, pünktlich auf die Minute", sprach der Achate mit ruhiger Stimme. "Und ich dachte schon, du würdest deine Ausbildung vorzeitig beenden."
"Natürlich nicht, Meister Me Sik", antwortete Valdimier, während er sich von seinen Schuhen trennte und neben Lilith von Ankhbach auf der Reismatte Platz nahm.
Er begrüße die Frau mit einem leichten Kopfnicken, welches sie freundlich erwiderte. Valdimier konnte ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken, ermahnte sich aber schnell wieder zur Vernunft.
Falsche Zeit und falscher Ort, wies ihn sein Verstand zurecht.
"Also, meine Schüler", begann Me Sik, nachdem sich Valdimier gesetzt hatte. "Wie ich sehe, habt ihr euch dazu entschlossen, eure Ausbildung fortzuführen."
Lilith und Valdimier nickten stumm.
"Doch bevor wir weitermachen, werde ich euch etwas geben. Wartet hier."
Der Achate erhob sich und schritt durch eine Tür aus dem Raum heraus. Als Valdimier ihm nachschaute, wurde ihm jetzt erst wirklich bewusst, dass Me Sik, der immer seine Hände in die gegenüberliegenden Ärmel seines Kimonos steckte, den Eindruck erweckte, er hätte keine Arme. Doch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, kam sein Lehrer in den Raum zurück. In seinen Händen trug er zwei Stapel fein zusammengelegter Kleidungsstücke. Er legte je einen Stapel vor ihm und Lilith auf den Boden und nahm dann wieder ihnen gegenüber Platz.
"Das, meine Schüler, wird von nun an eure Kleidung sein, die ihr bei eurer Ausbildung tragen werdet."

***


Es gab bis jetzt nur wenige Augenblicke in Valdimiers untotem Dasein, in denen er sich über etwas wirklich zu 100 Prozent sicher war, und gerade jetzt war so ein Augenblick. Egal, was passieren sollte, auch wenn das Dojo plötzlich anfangen sollte zu brennen, dieser Trainingsanzug würde niemals das Dojo verlassen, solange er an Valdimiers Körper hing.
Die weißen, weiten Stoffhosen und die gleichfarbige Stoffjacke lösten bei dem Vampir eine Unbehaglichkeit aus, die er sonst nur sehr selten spürte. Bedrückt schaute er auf seinen Umhang, der zusammen mit seinem Abendanzug säuberlich zusammengelegt am Mattenrand lag.
Wenn dieser Stoff wenigstens nicht so kratzig wäre, fluchte Valdimier innerlich und zupfte zum wiederholten Mal an einem Hosenbein herum, in der verzweifelten Hoffnung, dass es dadurch vielleicht nicht mehr an seiner Haut aufliegen würde. Und schwarz wäre auch besser gewesen
Ein leises Lachen ließ ihn aufschauen.
"Sie scheinen nicht sehr an diese Art von Kleidung gewöhnt zu sein, Herr van Varwald."
Lilith von Ankhbach stand in der Tür zu dem Raum, in dem sie sich, natürlich nacheinander, umgezogen hatten.
"Nun ja, sie trifft nicht gerade meinen Geschmack", antwortete der Wächter und lächelte peinlich berührt. "Ich kann mir jedenfalls gemütlichere Kleidung vorstellen."
Die junge Frau kicherte.
"Ja, ich hab' schon viel über die Kleidungswahl von Vampiren gehört."
Valdimier zuckte innerlich zusammen. Sie wusste über die Gewohnheiten von Vampiren Bescheid? Woher nur?
Möglichst gelassen zuckte er mit den Schultern und versuchte, seine langsam aufsteigende Nervosität zu verbergen.
"Unser Ruf eilt uns halt voraus."
Gedanklich schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn. Eine noch dümmere Antwort hätte ihm jetzt nicht einfallen können. Die Gewohnheiten bei der Anzugswahl waren sicher nicht das einzige, was sie schon so über Vampire gehört hatte.
"Kann man so sagen", erwiderte seine Mitschülerin und er bemerkte ein leichtes Grinsen auf ihrem Gesicht. Anscheinend fand sie sein Aussehen sehr amüsierend.
Doch bevor er einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, rief ihr Lehrmeister beide zu sich.
"So, meine Schüler. Da ihr nun richtig eingekleidet seid, können wir nun mit eurer Ausbildung fortfahren."

***


Es wird immer behauptet, dass Zeit verschieden schnell vergeht, je nachdem, was einem gerade widerfährt. Die wichtige Abschlussprüfung, für die man nicht lernen konnte, weil man die letzten Tage nur betrunken auf irgendwelchen Partys verbracht hat, kommt einem so vor, als würde sie Jahre dauern, obwohl sie nur 15 Minuten dauert. Bei der letzten Party war es genau andersherum gewesen. Obwohl sie die ganze Nacht über ging, hatte man das Gefühl, dass sie höchstens halb so lang gewesen war und nur an die Hälfte davon konnte man sich noch erinnern.[3]

Und so erging es auch Valdimier.[4]


***


Zwei Wochen später

Gemütlichen Schrittes bahnte sich Valdimier einen Weg durch die dicht begangene Strasse Richtung Untergasse. Zum Glück gab es diesmal keinen Wahnsinnigen der, kurz vor Dienstschluss, Geiseln in einer Bäckerei genommen hatte, und sie erst gehen lassen wollte, wenn ihm der Bäcker 50 Cent zurückgab, die er ihm am Vortag angeblich zuviel abkassiert hatte. Valdimier fragte sich allerdings, wer verrückter war. Entweder der Täter, der wegen 50 Cent solch ein Theater machte, oder der Bäcker, der lieber sterben wollte, als 50 Cent, die seiner Meinung nach ihm gehörten, zurückzugeben. Doch bevor es soweit kommen konnte, hatten die FROGS sicherheitshalber den Laden erstürmt und den Täter dingfest gemacht. [5]
Und wegen so etwas hab ich die Stunde verpasst, dachte sich Valdimier, während er an den Einsatz zurückdachte. Wenn es wenigstens etwas Ernstes gewesen wäre
Da er natürlich als leichter Armbrustschütze an diesem Einsatz beteiligt gewesen war, hatte das Training ohne ihn begonnen. Als er endlich in Me Siks Dojo angekommen war, war die Trainingsstunde schon fast vorbei gewesen. Gedanklich hatte er sich auf einen großen Vortrag von Me Sik eingestellt, in dem es hauptsächlich um die Wichtigkeit der Pünktlichkeit ging. Doch sein Lehrer hatte nach Valdimiers Erklärung, nur verständnisvoll mit dem Kopf genickt und ihn dann am Rest des Trainings teilnehmen lassen. Valdimier hoffte, dass so etwas in absehbarer Zeit nicht wieder passieren würde. Natürlich hatte sein Tschob Vorrang, aber er wollte nicht riskieren, dass Me Sik ihn vielleicht noch aus dem Kurs warf. Dafür war ihm die Sache viel zu wichtig. Was eigentlich als kleiner Spaß begonnen hatte, entwickelte sich langsam zu einer ernsthaften Angelegenheit. In den zurückliegenden Stunden hatte der Achate ihm und Lilith von Ankhbach schon einiges über den Achaten Kampf beibringen können!
. Neben einfachen Schlag- und Trittkombinationen zeigte er ihnen, wie sie mit erstaunlich wenig Kraftaufwand einen angreifenden Gegner zu Boden werfen konnten. Das Geheimnis lag ihn der richtigen Drehung des Körpers und der Ausnutzung der Hebelwirkung, die man mit seinen eigenen Armen erwirken konnte. Dummerweise war es bis jetzt immer Valdimier, den er sich als Gegner aussuchte, wenn es um die Demonstration solcher Techniken ging.
"Bei dir scheint es nicht weiter schlimm zu sein, wenn ich dich aus Versehen verletzen sollte", hatte er gesagt.
Valdimier hatte aufgehört zu zählen, wie oft er jetzt schon auf nicht sehr angenehme Weise, Bekanntschaft mit der Reismatte schließen musste. Es war schon verblüffend. Auch wenn Me Sik einen ganzen Kopf kleiner als er war, stellte es für den Achaten kein Problem dar, Valdimier zu packen, und ihn schwungvoll zu Boden zu schleudern. Für Valdimier waren diese Übungen immer etwas frustrierend. Ihm war klar, dass Me Sik ein Meister seines Faches war, aber seinem Stolz schien dies egal zu sein. Er ließ sich nun mal nicht gerne vorführen. Die Tatsache, dass Lilith sie dabei natürlich aufmerksam beobachtete, machte es nicht besser. Doch er versuchte seinen Stolz so weit wie möglich zu verdrängen. Gerade jetzt wäre es sehr ungünstig für ihn, wenn er sich gegenüber ihr zu vampirisch Verhalten würde.
Ein leichtes Lächeln bildete sich auf dem Gesicht des Vampirs, als er an sie denken musste. Er hatte sich vorgenommen, sie heute Abend nach dem Training zu fragen, ob er sie nicht einmal auf ein kleines Glas Wein einladen dürfte. Er hoffte, dass er mit Wein ihren Geschmack treffen würde. Bier schien ihm als Getränk, wenn man eine Frau einladen wollte, als nicht sehr angebracht und wenn er sie zu einem Drink einladen würde, könnte sie denken, dass er von einer ganz besonderen Sorte Drink redete. Nein, Wein schien ihm eine gute Wahl.

Wenige Meter von Me Siks Dojo entfernt, überkamen leichte Zweifel den Vampir. Was wäre, wenn sie seine Einladung ablehnen würde? Könnte er dann überhaupt noch den Kurs besuchen, wo er sie dann immer sehen würde? Andererseits könnte er verstehen, wenn sie nein sagen würde. Er war ein Vampir und Vampire wurden überall noch mit einem kritischen Auge betrachtet. Natürlich hatte man auch allen Grund dazu, doch Valdimier gehörte nicht mehr zu der Sorte Vampir, die nachts durch offene Schlafzimmerfenster flog, um ihren Blutdurst zu stillen. Es war nur nicht so einfach, es anderen zu zeigen. Frühere Erlebnisse hatten ihn gelehrt, dass ein wütender Mob dazu neigt, erst zu lynchen und dann Fragen zu stellen. Doch er glaubte nicht, dass sie dieser Personengruppe angehörte. In den letzten zwei Wochen waren sie natürlich öfters ins Gespräch gekommen. Am interessantesten war es für Valdimier, als er ihr von ein paar Fällen berichtete, mit denen er es in seiner Zeit, als Wächter, zu!
tun gehabt hatte. Lilith hatte aufmerksam zugehört und erkundigte sich sogar das nach dem einen oder anderen Detail und es schien ihm nicht, als würde sie ihr Interesse nur vortäuschen. Als er ihr von den Ereignissen bei dem ersten Konzert der Untoten Socken und HIRN [6] berichtete, starrte sie ihn verwundert an.
"Ich kenne ja viele Leute, die am liebsten alle Untoten aus der Stadt vertreiben würden, aber das sie sogar so weit gehen würden?"
Valdimier nickte bestätigend. Damals hatten sie Glück gehabt, dass sie die vielen Kästen mit Pulver Nummer 1 gefunden hatten, mit denen HIRN die Bühne in die Luft sprengen wollte. Als er ihr von dem Konzert erzählte, welches die Gruppe dann gegeben hatte, lachte sie kurz.
"Klingt ganz gut, aber Musik mit Steinen drin ist nicht wirklich mein Geschmack."
Sie erzählte ihm, dass sie ruhige Musik vorziehe und auch regelmäßig die Oper besuchte, wenn es ihr Lohn zuließ. Sie geriet ins Schwärmen, als sie von Marko Stracciatella erzählte.
"Immer, wenn er nach Ankh-Morpork kommt, kann man mich im Opernhaus finden."
Marko Stracciatella war ein brindisianischer Sänger, dessen Stimme sie, nach eigenen Angaben, jedes mal in Verzückung versetzen würde.
Naja, es kann nicht jeder dieselbe Musik mögen, dachte sich Valdimier, als er vor der Eingangstür von Me Siks Dojo stand und an das Gespräch zurückdachte.
Er konnte sich damals nur mit Mühe ein Lachen verkneifen, als er zum ersten Mal den Namen des Sängers gehört hatte. Doch der unterschiedliche Musikgeschmack würde ihn nicht davon abhalten, sie heute zu fragen. Es gab noch etwas anderes, was sie ihm von sich erzählt hatte, dass ihn in diesem Entschluss unterstützte.
"Warten Sie, Herr van Varwald!"
Gerade als er die Tür öffnen wollte, erklang Lilith von Ankhbachs Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und sah die junge Frau auf sich zukommen.
"Guten Tag, Fräulein von Ankhbach", begrüßte er sie, als sie neben ihm stand.

***



"Was uns unser Meister wohl heute zeigt?", fragte sich Lilith, als sie zusammen den Flur in Richtung Übungsraum entlanggingen.
Hoffentlich etwas, wo ich nicht wieder als Versuchkaninchen auf der Matte lande, dachte sich Valdimier, der sich hinter ihr befand.
In Gedanken war er gerade dabei gewesen, seine Einladung zu formulieren, in der Hoffnung, die richtige Wortwahl zu finden, ohne zu aufdringlich zu wirken. So kam es, dass er sie beinahe umlief, als sie plötzlich in der Tür zum Trainingsraum stehen blieb.
"Oh nein...", hauchte Lilith.
"Was ist l...", als er aufschaute, sah Valdimier was los war. "Meister Me Sik!"
Der Achate lag vor ihnen in der Mitte des Raumes. Valdimier konnte sofort den Armbrustbolzen erkennen, der im Rücken seines Lehrers steckte. Lilith wollte zu ihm eilen, doch Valdimier hielt sie mit einer Hand fest. Wer immer das getan hatte, könnte noch in ihrer Nähe sein. Instinktiv griff er mit der anderen an seinen Gürtel, wo sich sonst immer seine Armbrust befand und fluchte leise, als ihm klar wurde, dass er sie natürlich nicht dabei hatte.
"Wir müssen zu ihm", sprach Lilith hastig und versuchte sich aus dem Griff des Vampirs zu lösen. "Wir müssen schauen, ob er noch lebt."
"Ich weiß", versuchte er sie zu beruhigen. "Aber wir müssen vorsichtig sein."
Langsam gingen sie auf den leblosen Körper ihres Lehrers zu. Valdimiers Augen suchten nach jeder Möglichkeit, wo sich der Täter verstecken könnte, wenn er noch hier war. Seine Gedanken rasten. Was war hier passiert? Wer hatte das getan? Warum hatte man es getan? Die wichtigste Frage war aber, ob Me Sik noch lebte.
Zumindest diese Frage konnten sie beantworten, als sie ihn erreichten.
"Er atmet noch!" Lilith kniete sich neben ihn. "Meister Me Sik, können sie mich hören?"
Langsam und unter großer Anstrengung öffnete der Lehrer seine Augen. Valdimier ging neben Lilith in die Hocke und versuchte, den Kopf des Achaten zu gut wie möglich zu stützen. Sein Atem war schwach und kaum spürbar. Die Reismatte unter dem Achaten hatte sich blutrot gefärbt. Doch Valdimier versuchte nicht darauf zu achten.
"Wer hat das getan Meister?", fragte er mit aufgeregter Stimme.
Die trüben Augen des Achaten fixierten ihn und er griff mit einer Hand nach ihm.
"Nein, sie dürfen sich nicht bewegen." Ein Zittern lag in Liliths Stimme. "Bleiben sie ruhig liegen."
Doch Me Sik hörte nicht auf sie. Schwach hielt er sich an Valdimiers Schulter fest. Die Erkenntnis, dass sein Meister nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte, brach über den Vampir herein.
"Ah, meine Schüler", flüsterte der Achate mit kaum hörbarer Stimme. "Ihr müsst meinen Tod rächen."
Es sollten die letzten Worte sein, die Me Sik, Meister der Achaten Kampfkunst, in seinem Leben sprach. Ein letztes aufbäumendes Keuchen entwich seiner Kehle und sein Körper erschlaffte. Valdimier spürte, wie sich der Griff um seine Schulter löste und die Hand an seinem Arm herunter glitt. Die Augenlieder des Achaten waren zugefallen. Es sah fast so aus, als würde er nur schlafen. Neben sich hörte Valdimier das leise Schluchzen von Lilith. Me Sik war tot. Jemand hatte ihn mit einem Schuss in den Rücken umgebracht.

***


Der astrale Körper Me Siks schaute auf die vor ihm liegende Leiche hinab. Es störte ihn nicht sehr, dass er tot war. Sein ganzen Leben hatte er mit seinem Geist im Einklang verbracht und hatte sich lange auf diesen Moment vorbereitet. Nur das Wie störte ihn etwas. Von einem Bolzen in den Rücken getroffen. Nicht gerade sehr ehrwürdig. Aber er konnte seine Mörder auch verstehen. Hätten sie es auf faire Weise versucht, hätten sie keine Chance gehabt.
"Hach, ich hätte es wissen müssen. Es war offensichtlich, dass die Zwei etwas ausgebrütet hatten."
Er sprach zu der neben ihm stehenden hageren Gestalt. Sie trug eine pechschwarze Kutte und das einzige, das Me Sik von ihrem Gesicht erkennen konnte, waren die Umrisse eines blanken Menschenschädels. In einer seiner Hände hielt er eine große Sense, bei deren Anblick es jedes Kornfeld sofort mit der Angst zu tun bekommen würde.
"Und ich wusste, dass mir die Tiefe der Meditation irgendwann einmal zum Verhängnis werden würde."
"ES HEISST, HINTERHER SEI MAN IMMER SCHLAUER", sprach Tod und drehte seinen Kopf zu dem Achaten.
Me Sik erwiderte den Blick und schaute in zwei leere Augenhöhlen, aus denen ihn zwei helle blaue Lichtpunkte anstarrten.
"Man kann sagen, dass ich mich in meiner schlimmsten Vermutung bestätigt fühle", antwortete er dem Sensenmann.
Sein Blick fiel auf seine Schüler, die langsam den Raum verließen. Der Vampir drehte sich öfters kurz um und seine Augen schienen die Umgebung nach etwas abzusuchen. Besorgt schaute er ihnen nach, bis sie aus dem Zimmer verschwunden waren.
"So wie ich die Zwei kenne, werden sie es auch auf die beiden absehen."
"ES OBLIEGT MIR NICHT, DARAUF ZU ANTWORTEN", erwiderte Tod.
Me Sik zuckte mit den Schultern. Etwas anderes hatte er nicht erwartet.
"Sie wären sicher besser als ihre Vorgänger geworden."
Als sich seine Umgebung langsam aufzulösen begann und sein Geist sich ausschickte, diese Welt zu verlassen, gab er einen astralen Seufzer von sich.
"So wie es aussieht, werde ich diesmal nicht mehr lange genug hier sein, um hinterher schlauer zu sein."

***



Die Weisheiten des mächtigen Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak

Lektion 2


Nur wer mit einem echten Gegner trainiert, wird den Achaten Kampf perfekt meistern können. Wer versucht, seine Kampfkünste nur an Reissäcken oder ähnlichem zu verfeinern, vergisst folgendes:

Reissäcke treten niemals zurück.



Romulus von Grauhaar, seines Zeichens RUM Ermittler und Werwolf, stand im Türrahmen zum Tatort und betrachtete von weitem die Leiche, die dort auf dem Boden lag. Es würde noch einen Moment dauern, bis Alice und Olga-Maria Inös mit der Spurensuche fertig waren und er endlich einen näheren Blick auf den Ermordeten werfen konnte. Erneut korrigierte er den Sitz seines Halstuches über seiner Nase. Doch viel Erfolg hatte er damit nicht. Sein Geruchssin hatte dem Moment, wo er das Haus betrat, seinen Geist aufgegeben. Der extreme Geruch dieser in Massen aufgestellten Räucherstäbchen war einfach zu viel für die empfindliche Nase des Werwolfes. Einen letzten Blick auf die Leiche werfend drehte er sich um und verließ den Tatort. Er konnte auch draußen and der frischen Luft darauf warten, daß die Tatortwächter ihre Arbeit beendeten. Er wollte gar nicht wissen, wie viele Packungen Räucherstäbchen am Tag das Opfer so verbraucht hatte.

Draußen angekommen nahm Romulus zuerst das Halstuch von seiner Nase und zog einen tiefen Zug Ankh-Morpork Luft durch sein Riechorgan. Sie war um einiges angenehmer als die Luft im Inneren des Hauses. Er betrachtete die behelfsmäßige Absperrung, die die SUSI Wächter aufgestellt hatten, um die Schaulustigen aufzuhalten. Es hatte nicht lange gedauert, bis den Bewohnern der Strasse die große Präsenz an Wächtern aufgefallen war und es hatte sich schnell die übliche Gruppe an Gaffern gebildet. Charlie Holm hatte alle Mühe, die Leute dazu zu bewegen, die Absperrung nicht niederzureißen. Romulus war sich sicher, dass sein Kollege jetzt viel lieber den Tatort untersuchen wollte, als sich hier draußen mit der Meute abzumühen, doch seitdem SUSI die zwei Berufe des Tatortsicherers und des Spurensuchers zusammengefasst hatte, musste sich jeder mal mit dem typischen Verhalten Ankh-Moporkianer auseinandersetzen.
"Ich hab' gehört, dass da drinnen mindestens fünf Leichen liegen sollen", hörte der Ermittler jemanden aufgeregt aus der Menschenmenge erzählen. "Alle auf bestialische Weise zerstückelt."
"Angeblich sollen es sogar zehn sein", erwiderte darauf eine andere Stimme.
Romulus schüttelte den Kopf. Es konnte nicht mehr lange dauern, und man würde über den größten Massenmord in der Geschichte der Stadt reden.
Schnellen Schrittes ging er auf Valdimier van Varwald zu, der zusammen mit einer Romulus unbekannten Frau bei Araghast Breguyar stand und sich unterhielt.

"Danke, dass du schnell gekommen bist."
Bregs nickte bestätigend.
"Keine Ursache."
Der Rekrut hatte also ganze Arbeit geleistet, dachte sich Valdimier. Nachdem er und Lilith den Tatort verlassen hatten, waren ihm nach kurzem Suchen zwei Rekruten, die sich gerade auf Streife befanden, regelrecht in die Arme gelaufen. Er hatte sich einen von ihnen geschnappt und ihm befohlen, auf schnellsten Wege zum Wachhaus zu laufen, um dort einen unlizensierten Mord zu melden. Zuerst hatten sie ihm nicht geglaubt, doch nachdem Valdimier sie mit Nachdruck doch davon überzeugen konnte, dass er selbst zur Wache gehörte, war einer von ihnen losgelaufen. Allerdings hatte er ihm vorher noch befohlen, dass er auch Bregs hiervon berichten sollte, und bitten sollte, auf Val's Wunsch selbst am Tatort zu erscheinen.
"Also, was kann ich für dich tun?", fragte der Püschologe und FROG Abteilungsleiter. "Bis jetzt ist es noch Aufgabe von RUM."
Valdimier warf einen kurzen Blick auf Lilith. Der jungen Frau stand der Schrecken noch immer ins Gesicht geschrieben. Me Siks Tod hatte seine Spuren bei ihr hinterlassen. Wahrscheinlich war es das erste Mal gewesen, dass sie einen Menschen hatte sterben sehen.
"Hör zu, wenn ich das richtig sehe, dann ist Romulus für den Fall zuständig."
Araghast nickte langsam.
"Ich weiß, dass ich nicht die entsprechende Ausbildung habe, aber ich will in die Ermittlungen mit einbezogen werden", erklärte Valdimier weiter.
Valdimier musste an die letzten Worte seines Meisters denken. "Ihr müsst meinen Tod rächen", hatte er gesagt. Er hielt es für besser, Bregs davon nichts zu erzählen. Natürlich wollte er im Moment nichts sehnlicher, als den Mörder zur zu Strecke zubringen und er konnte nicht einfach im Wachhaus herumsitzen und darauf warten, bis Romulus den Täter gefasst hatte. Nicht, dass er es dem Ermittler nicht zutraute; er hatte schon von Romulus Erfolgsquote gehört, aber es erschien ihm einfach nicht richtig. Er war es Me Sik schuldig, dass er sich selbst darum kümmerte. Um die Rache konnte er sich dann später Gedanken machen.
"Ich habe mir schon gedacht, dass so etwas kommt", antwortete der Abteilungsleiter. "Meinst du, Romulus wird davon begeistert sein?"
"Genau deswegen wollte ich, dass du hierher kommst. Du bist Feldwebel und kannst ihm so sicher etwas Wind aus den Segeln nehmen. Außerdem kannst du ja ein gutes Wort für mich bei Rina einlegen, wenn es Ärger geben sollte."
Bevor Araghast antworten konnte, kam Romulus von Grauhaar zu ihnen.
"Hallo", grüßte er knapp und musterte die kleine Gruppe kurz.
Dann wandte er seinen Blick zu Valdimier.
"Wenn ich richtig verstanden habe, hast du die Leiche als Erster gefunden?"
Als sie die Worte hörte, zuckte Lilith zusammen. Valdimier machte sich bereit, sie zu stützen, wenn es nötig sein sollte.
"Ja", antwortete der Vampir und wandte sich Lilith zu.
"Alles in Ordnung, Fräulein von Ankhbach?", fragte er mir besorgter Stimme. "Möchten sie sich irgendwo hinsetzen?"
"Nein, es geht schon", erwiderte sie mit dünner Stimme. "Der Schock sitzt mir noch etwas in den Knochen. Das ist alles."
Der Vampir hielt seinen Blick zur Sicherheit noch einen Moment auf die Frau gerichtet, schaute aber dann zu Bregs. Er wollte eine Antwort.

Romulus sah, wie Valdimier seinen Abteilungsleiter erwartungsvoll anschaute, als würde er auf etwas von ihm warten. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, wandte sich Araghast zu ihm.
"Romulus, ich möchte, dass dich Valdimier bei deinen Ermittlungen unterstützt."
"Was?"
Der Ermittler glaubte, sich verhört zu haben.
"Ich möchte, dass dich Valdimier bei deinen Ermittlungen unterstützt", wiederholte der Püschologe in ruhigem Ton.
Romulus warf einen Blick auf Valdimier, der ihn mit leicht zugekniffenen Augen anschaute. Er konnte einfach nicht glauben, was er da hörte. Ein FROG, dessen Aufgabe es hauptsächlich war, sich in die Schusslinie von irgendwelchen Bolzen zu werfen, sollte ihm bei seinen Untersuchungen helfen?
"Bei allem Respekt, aber ich halte es für keine gute Idee", versuchte er möglichst diplomatisch zu erklären. "Ich denke, Valdimier fehlt es an der nötigen Ausbildung, um den Tschob eines Ermittlers zu übernehmen."
"Ich denke nicht, dass das ein großes Problem darstellt. Er übernimmt auch nicht deinen Tschob, sondern hilft dir nur etwas dabei, und ich traue meinen Leuten genug zu, dass sie dabei nicht versagen werden", erwiderte Araghast. "Außerdem denke ich, dass Rina nichts dagegen haben wird. Aber wir können sie gerne fragen, wenn du möchtest."
Der letzte Satz hatte gesessen. Romulus wusste, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. Es lief wohl wirklich darauf hinaus, dass er diesen Armbrustschützen, der von der Materie überhaupt keine Ahnung hatte, hinter sich herschleifen musste. Er wollte einen letzten Versuch starrten, dieses Schicksal abzuwenden, doch Valdimier kam ihm zuvor.
"Ich denke, wir beide sollten uns mal kurz alleine unterhalten", forderte er ihn mit einem scharfen Unterton auf.
Der Vampir schaute noch einmal kurz zu der neben ihn stehenden Lilith und beugte sich darauf zu Araghast hinüber. Er sagte etwas zu dem Püschologen; allerdings war er so leise, dass Romulus nicht verstand, was es war. Er wollte wohl nicht, dass die Frau hörte, worum es ging. Der Püschologe nickte bestätigend und Valdimier wandte sich wieder Lilith zu.
"Entschuldigen sie mich bitte kurz, Fräulein von Ankhbach", sagte er förmlich zu ihr und drehte sich zu Romulus herum.
Der Werwolf folgte dem Vampir missmutig, bis sie sich weit genug von dem Rest der Gruppe entfernt hatten.
"Hör zu, ich kann verstehen, dass du nicht sehr begeistert bist", begann Valdimier. "Ich würde genauso reagieren, wenn jemand von eurer Gruppe bei einer Hauserstürmung mitmachen wollte."
Romulus erwiderte nichts.
"Aber ich sage dir eins", fuhr der Armbrustschütze in einem schärferen Ton fort. "Ich werde mitmachen, ob es dir nun passt oder nicht."
Er blickte wieder in Richtung der jungen Frau, die sich nun mit Bregs zu unterhalten schien.
"Ich weiß nicht, wie weit man dich unterrichtet hat, aber das Opfer war unser Lehrer", erklärte er dem Werwolf, ohne die Blicke von Lilith zu nehmen. "Deswegen will ich dir dabei helfen."
Er schaute wieder zu Romulus.
"Ich weiß, dass du ein guter Ermittler bist, aber ich denke, zu zweit kann man noch besser ermitteln."
Ein Lächeln bildetet sich auf dem Gesicht des Vampirs.
"Eins möchte ich wissen", erwiderte Romulus, nachdem er kurz überlegt hatte. "Was passiert, wenn wir den Täter stellen?"
Das Lächeln auf Valdimiers Gesicht verflüchtigte sich. Er schien zu wissen, was der Ermittler mit dieser Frage meinte.
"Wir werden ihn verhaften und dann einsperren", antwortete er finster.
"Dann ist ja gut."
"Erwarte aber nicht, dass ich ihn mit Samthandschuhen anfassen werde, wenn er sich einer Verhaftung widersetzen sollte."
Romulus seufzte gedanklich. Blieb ihm eine andere Wahl? Valdimier schien von seinem Vorhaben nicht abzubringen zu sein und er rechnete damit, dass er sicher Schwierigkeiten machen würde, wenn sie den Täter gefasst hatten.
"Also gut", gab er letztendlich klein bei. "Aber ich bin der Hauptermittler in der Sache. Das bedeutet: keine Alleingänge für dich."
Der Vampir nickte.
"Natürlich. Aber denk nicht, dass du mich großartig herumkommandieren kannst."
Der Werwolf verdrehte die Augen.
Das kann ja noch was werden, dachte er sich resigniert und zückte einen kleinen Notizblock samt Bleistift.
"Also gut, fangen wir gleich mit der Arbeit an." Er schaute Valdimier an. "Du hast also die Leiche als Erster gefunden?"
"Ja, zusammen mit ihr", antwortete Valdimier und deutete kurz auf Fräulein von Ankhbach. "Allerdings war er noch nicht tot, als wir ihn fanden."
Romulus schaute auf.
"War er bei Bewusstsein?"
"Ja, aber er lag in den letzten Atemzügen. Er starb, kurz nachdem wir eingetroffen waren."
"Hmhm", machte der Werwolf und schrieb etwas in sein Notizbuch. "Hat er noch irgendetwas gesagt?"
Sein Gegenüber zögerte einen kurzen Moment, als würde er sich die Szenerie zurück ins Gedächtnis rufen.
"Nein, nichts. Es schien, als wollte er uns noch etwas mitteilen, aber er kam nicht mehr dazu."
"Hat er sonst irgendwie versucht, euch einen Hinweis auf seinen Mörder zu geben?", hakte Romulus nach.
Valdimier schüttelte den Kopf.
"Nein, jedenfalls nichts, was mir aufgefallen wäre. Wie gesagt, er war schon sehr schwach und starb wenige Sekunden, nachdem wir ihn gefunden hatten."
Romulus nickte bestätigend und schrieb noch eine kleine Notiz in seinen Block.
"Ok, den Rest können wir später besprechen." Mit einer kurzen Kopfbewegung deutete er auf die Dame, von der er wusste, dass sie mit Nachnamen von Ankhbach hieß. "Und was hatte sie mit dem Opfer zu tun."
Valdimier warf der jungen Frau einen kurzen Blick zu und sprach plötzlich mit etwas leiserer Stimme, als wollte er nicht, dass jeder ihn hörte.
"Ihr Name ist Lilith von Ankhbach. Sie ist... war seine Schülerin. Wir beide hatten zur gleichen Zeit mit dem Kurs begonnen."
Erneut schrieb der Werwolf seine gewonnenen Informationen in sein Notizbuch.
"Aha, und sie war also bei dir, als du das Opfer gefunden hast?"
"Ja."
"War sie schon vorher im..."
"In diese Richtung brauchst du gar nicht zu ermitteln", fiel ihm der Vampir scharf ins Wort.
"Welche Richtung?", fragte Romulus verärgert. Er mochte es gar nicht, wenn man ihm mitten im Satz das Wort abschnitt.
"Sie hat mit der Sache nichts zu tun", erwiderte Valdimier.
Romulus funkelte ihn böse an. Es hatte nicht lange gedauert, bis sich seine Befürchtung, daß er mit dem FROG nur Probleme haben würde, bewahrheitet hatte.
"Wie kannst du dir da so sicher sein?"
"Ich habe ihre Reaktion gesehen, als sie Me Sik gefunden hat. Glaub mir, sie hat mit dieser Sache absolut nichts zu tun. Sie war genauso überrascht wie ich." Er warf der jungen Frau, die sich noch immer mit Araghast zu unterhalten schien, erneut einen Blick zu. "Schau sie dir doch an. Sieht so jemand aus, der gerade jemanden umgebracht hat? Ich glaube nicht."
Der Ermittler nahm sich zum ersten mal die Zeit, um die junge Frau eingehend zu mustern und er musste Valdimier in gewisser Weise sogar Recht geben. Er hatte schon sehr oft mit Zeugen gesprochen, die vor kurzem eine Leiche gefunden hatten, und wenn es sich dabei nicht gerade um den Mörder persönlich oder um jemanden handelte, der entweder privat oder beruflich mit Leichen zu tun hatte, dann wiesen sie immer die gleichen Symptome auf . Leicht blasse Haut, eine schwache Körperhaltung und eine geistige Abwesenheit, die es nicht einfach machte, sich mit ihnen zu unterhalten. Und die meisten Symptome schien das Fräulein aufzuweisen. Sie hatte also wirklich nichts mit dem Mord zu tun, oder sie war eine verdammt gute Schauspielerin.
"Also gut", seufzte er und hoffte, dass er keinen großen Fehler begehen würde. "Kümmern wir uns zuerst um den Tatort. Aber ich werde mir natürlich ihre Adresse notieren, falls ich noch Fragen am sie haben sollte."
"Natürlich", antwortete Valdimier sofort.
"Weist du, wo sie wohnt?"
"Nein."
"Gut, dann fragen wir sie."
Ohne daß der Vampir ihm widersprach, gingen sie zu Araghast und Lilith von Ankhbach zurück.

***


Valdimier dachte darüber nach, dass es nicht gerade die feine Art war, so die Adresse von Lilith zu bekommen. Eigentlich sollte er sich voll und ganz auf den Mord an seinem Lehrer konzentrieren, aber da Romulus sie sowieso danach fragen würde, sah er keinen Grund, nicht mithören. Als er mit Romulus die anderen erreichte, war Araghast gerade dabei, sich zu verabschieden.
"Und wenn sie doch einmal mit einem Püschologen sprechen möchten, können sie gerne bei mir vorbeikommen", sprach er zu ihr und hielt ihr seine Hand hin.
Lilith ergriff sie und schüttelte sie kurz.
"Vielen Dank, Herr, äh..."
"Breguyar", half ihr der Püschologe.
"Äh, ja. Vielen Dank, Herr Breguyar, aber ich denke, ich werde es schon schaffen."
Zwar schien es ihr schon wieder etwas besser zu gehen, aber Valdimier bemerkte, dass sie noch ziemlich mitgenommen war. Ihrer Stimme fehlte es an der Entschlossenheit, die sie sonst immer während des Trainings an den Tag gelegt hatte.
"Hören sie, Fräulein von Ankhbach", sagte er zu ihr, als er wieder neben ihr stand. "Mein Kollege und ich werden uns darum kümmern, dass derjenige, der dafür verantwortlich ist, hinter Schloss und Riegel kommt."
"Und wir wissen, dass sie ziemlich viel durchmachen mussten", fuhr Romulus fort. "Deswegen möchten wir sie auch nicht weiter aufhalten."
Valdimier war erleichtert. Konnte er ihn doch davon überzeugen, sie nicht sofort zu vernehmen.
"Allerdings müsste ich wissen, wo sie wohnen, falls wir noch irgendwelche Fragen an sie haben sollten."
"Gerne, es ist die Ankh-Weier-Gasse 8. Meine Wohnung ist im zweiten Stock des Hauses. Fragen sie notfalls den Concierge, wenn sie es nicht finden sollten."
"Vielen Dank", antwortet Romulus, seine Nase wieder in sein Notizbuch gesteckt.
"Wenn sie dann erlauben, Herr Wächter, ich würde nun doch gerne nach Hause gehen. Der Tag war für heute schon anstrengend genug und ich denke, ich brauche etwas Ruhe."
Die junge Frau schaute die Wächter erwartungsvoll an.
"Aber natürlich", antwortete Valdimier hastig. "Ich helfe ihnen noch an der Absperrung und den ganzen Schaulustigen vorbei."
Dankend nahm Lilith das Angebot an und so führte Valdimier sie zwischen zwei aneinanderstehenden Blockaden hindurch und bahnte sich mit ihr einen Weg durch die etwas dünner gewordene Menge an Gaffern. Da wohl nur noch wenige damit zu rechnen schienen, dass hier noch etwas Aufregendes passieren würde, waren viele wieder ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgegangen.
"Wenn sie möchten, begleite ich sie noch bis zu ihrer Wohnung", bot ihr Valdimier an, als sie die Gruppe hinter sich gelassen hatten. "Nur für dann Fall, dass irgendetwas sein sollte."
[7]
Doch Lilith lehnte ab.
"Nein danke, ich möchte sie nicht weiter aufhalten."
"Natürlich."
Erneut ertappte er sich dabei, wie er die junge Frau betrachtete.
Nur nicht zu aufdringlich sein, ermahnte er sich.
"Ich verspreche ihnen: Wir werden denjenigen finden, der das getan hat."
Die junge Frau nickte.
"Das hoffe ich."
Valdimier nickte ebenfalls und wollte sich schon verabschieden. Doch Lilith wollte noch etwas von ihm.
"Kann ich sie um einen Gefallen bitten, Herr van Varwald?"
"Natürlich."
"Würden sie, natürlich nur wenn sie die Möglichkeit dazu haben, mir von Zeit zu Zeit erzählen, wie der Stand der Dinge ist?"
"Selbstverständlich", antwortete Valdimier und deutete eine kleine Verbeugung an.
"Danke." Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Sie wissen ja, wo ich arbeite und meine Adresse haben sie ja jetzt auch."
Valdimier nickte stumm. Für ihn würde es kein Problem sein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie wichtige Informationen weitergeben würde und sie hatte ein Recht, zu erfahren, wo sie zurzeit standen.
"Also dann." Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. "Ich wünsche ihnen viel Glück bei der Suche."
Der Vampir erwiderte die Geste und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. In ihren Augen lag noch immer der Schreck über das kürzlich Passierte. Sie verstärkten sein Verlangen, den Mörder zu fassen. Er würde ihn ausfindig machen und ihm dann seine gerechte Strafe zukommen lassen.
Als Lilith den Griff wieder gelöst und sich von ihm verabschiedet hatte, schaute Valdimier ihr noch einen Augenblick lang nach. Ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, sie alleine gehen zu lassen? Sie hatte noch immer einen ziemlich aufgelösten Eindruck auf ihn gemacht und ihre Hand hatte immer noch ein leichtes Zittern fühlen lassen. Auf der anderen Seite war er sich sicher, dass Bregs etwas gesagt hätte, wenn es ihr wirklich schlecht gegangen wäre.
Nachdem sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, ging er zurück zu den anderen. Es war an der Zeit, zu handeln.

"Könnte ich dich mal kurz sprechen?"
Araghast winkte Valdimier zu sich, als dieser wieder auf der inneren Seite der Absperrung aufgetaucht war.
"Mit dir wollte ich eh noch reden", erwiderte der Vampir, als er bei ihm war.
"Romulus, könntest du uns bitte für einen kurzen Moment entschuldigen?" Der Abteilungsleiter der FROGs schaute den neben sich stehenden Ermittler an. "Es gibt noch ein paar Kleinigkeiten, die ich mit Valdimier gerne alleine besprechen würde."
Romulus nickte widerstrebend.
"Dann werde ich mich mal etwas umhören, ob hier irgendjemand etwas Verdächtiges gesehen hat."
Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in Me Siks Dojo. Vorher zog er sich allerdings noch sein Halstuch über die Nase.
Bregs schaute sich um, ob auch niemand in ihrer Nähe war, der irgendwie zuhören konnte. Bei dem Gespräch mit Lilith von Ankhbach hatte er etwas in Erfahrung gebracht, das er unbedingt noch mit Valdimier klären musste.
Als er sich versichert hatte, dass sie niemand belauschte, warf er seinem Freund einen verschwörerischen Blick zu.
"Soso, das ist also deine heimliche Flamme? Nicht übel."
"Jaja, sag mir lieber, ob es ihr soweit gut geht", antwortete Valdimier motzig.
Ihn hat's ja wirklich schwer erwischt, dachte sich Araghast und ein mentales Grinsen bildete sich in seinem Kopf. Er war sicher, dass sich die Gesichtsfarbe des Vampirs in ein dezentes Rot verwandelt hätte, wenn es bei ihm möglich gewesen wäre.
"Sie kommt drüber hinweg", versuchte er Valdimier zu beruhigen. "Es ist normal, dass man nach so etwas ziemlich durch den Wind ist. Aber das legt sich schnell wieder."
Valdimier nickte zufrieden. Die Erleichterung stand ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben.
"Aber es gibt noch etwas anderes, worüber ich mit dir sprechen will." Das Gesicht des Abteilungsleiters verfinsterte sich. "Lilith hat mir von den letzten Worten eures Meisters erzählt. Ich nehme mal stark an, das Romulus davon nichts weiß."
Die Augen des ihm gegenüberstehenden Vampirs verengten sich.
"Nein, weiß er nicht."
"Gibt es etwas, was du dazu sagen möchtest?"
"Was sollte ich dazu sagen?"
"Nimm mich nicht auf den Arm. Du weißt genau, was ich damit meine. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein FROG, der Rot sieht."
"Du bist ja noch schlimmer als Romulus. Wenn wir den Mörder finden, werden wir ihm ganz normal verhaften. Du musst dir keine Sorgen machen. Du kennst mich doch."
"Gerade deswegen mach ich mir Sorgen."
"Wie kannst du nur so von mir denken?", fragte der Vampir mit gespielter Empörung, als würde er versuchen, den Ernst der Situation herunterzuspielen.
"Ich möchte dich nur an die Aktion im Waffenladen von Herrn Blutsberg erinnern."
"Da blieb mir ja auch keine andere Wahl", verteidigte sich Valdimier. "Bregs, natürlich geht mir der Tod von Meister Me Sik nahe, aber ich werde sicher nicht jeden Verdächtigen sofort mit der Armbrust bedrohen."
"Das will ich auch hoffen", antwortete Bregs ruhig.
Hoffentlich machte er keinen Fehler.

***


Es dauerte noch einen Augenblick, bis Alice und Olga-Maria die Untersuchung des Tatortes abgeschlossen hatten. Viel Erfolg hatten sie bei ihrer Suche allerdings nicht gehabt.
"Nur sicherheitshalber", begann Romulus. "Eine Quittung der Assassinengilde habt ihr nicht gefunden?"
Alice schüttelte den Kopf.
"Nein, dass hier war sicher ein richtiger Mord, und der oder die Täter waren dabei sehr geschickt vorgegangen", erklärte sie Romulus und Valdimier. "Wir konnten keine verwertbaren Spuren finden. Von Fingerabdrücken oder ähnlichem ganz zu schweigen."
"Was meint ihr, wie der Mörder in das Haus gekommen ist?", fragte Romulus.
"Wir nehmen an, ganz normal durch die Haustür. Wir sind das Haus abgegangen und die wenigen Fenster, die es hat, scheinen unbeschädigt zu sein."
"Me Sik hat seine Tür nie abgeschlossen", warf Valdimier ein.
"Ziemlich leichtsinnig", erwiderte Romulus, wieder in sein Notizbuch schreibend.
Valdimier konnte ihm nicht widersprechen. Es war eine von Me Siks Gewohnheiten gewesen. Als er ihn einmal darauf angesprochen hatte, antwortete sein Meister nur: "Wer mit bösen Absichten mein Haus betritt, wird nicht dazu kommen, sie umzusetzen."
Aber nun war es jemandem gelungen und Valdimier wusste noch nicht einmal, warum sein Lehrer ermordet worden war.
"Habt ihr den Eindruck, dass irgendetwas mitgenommen wurde?"
"Nein, es wurde nichts durchwühlt oder geplündert. Wir haben auch in einem Zimmer ein paar kleine Statuen gefunden, die nicht gerade sehr billig zu sein scheinen."
"Also können wir Raubmord wahrscheinlich ausschließen." Erneutes Schreiben in den Notizblock. "Sonst noch etwas?"
Die Tatortwächter schüttelten den Kopf.
"Nein. Jack ist gerade drinnen und macht eine erste Begutachtung der Leiche."
Der Werwolf und der Vampir bedankten sich bei den zwei Tatortwächtern und betraten das Dojo. Valdimier konnte sich gerade noch ein Lachen verkneifen, als er sah, wie sich Romulus wieder sein Halstuch vor die Nase schob.
"Übst du für einen Nebentschob bei der Diebesgilde?"
"Sehr witzig.", murrte der Werwolf. "Ich mach mich auch nicht über deine ziemlich ausgebreitete Sonnenallergie lustig."
Doch Valdimiers Laune sank wieder gegen den Nullpunkt, als sie den Übungsraum betraten. Me Siks leblosen Körper hatte man schon auf eine hölzerne Trage gehievt und ihn mit einem weißen Tuch abgedeckt. Daneben stand Jack Narrator, Gerichtsmediziner von SUSI und begutachtete einen Armbrustbolzen, den er zwischen zwei Fingern hielt.
"Also, ich würde sagen, dass es sich bei der Tatwaffe um eine mittelgroße Pistolenarmbrust handelt. Eine der Sorte, die man noch ohne große Probleme unter einem Mantel oder ähnlichem verstecken kann."
"Sind dir sonst noch irgendwelche Verletzungen aufgefallen?", fragte Romulus.
"Nein, allein der Armbrustbolzen ist für den Tod verantwortlich, wenn du das meinst. Der Bolzen steckt bedrohlich nah am Rückrat des Mannes. Ich denke, dass er sich nicht mehr viel bewegen konnte."
Wut flammte in Valdimier auf, als er den Worten des Gerichtsmediziners lauschte. Man hatte seinen Meister hinterrücks erschossen, ohne ihm eine Chance der Gegenwehr zu geben. Im Stillen betete er, dass er alleine sein würde, wenn er den Täter gefunden hatte. Später konnte man immer noch behaupten, dass man sich ziemlich sicher war, eine Waffe in den Händen des Täters gesehen zu haben.
"Was meinst du, wie lange es dauerte, bis der Tod eintrat?"
Jack kratzte sich nachdenklich am Kinn.
"Hmm, ich vermute, nicht länger als eine halbe Stunde. Hätte der Bolzen noch etwas weiter links getroffen, wäre er sofort tot gewesen."
Was auch sicher die Absicht des Mörder war, dachte Valdimier verbittert. Eine halbe Stunde also maximal. Ich hätte den Mörder hier sogar noch antreffen können.
"Sonst noch etwas?", fragte Romulus.
"Vorerst nicht. Ich gebe euch Bescheid, wenn ich noch etwas herausfinden sollte."
"Danke, Jack."
"Keine Ursache. Wir sind dann gleich weg."
Der Gerichtsmediziner hustete kurz.
"Lange halte ich es hier drinnen auch nicht mehr aus."

Nachdem Jack zusammen mit einem anderen SUSI Wächter Me Siks Leiche auf den vor dem Dojo stehenden Wachekarren geladen hatte um ihn in das Wachhaus zu weiteren Untersuchungen zu bringen, waren Valdimier und Romulus die einzigen Wächter, die sich noch im Haus befanden. Die herrschende Stille sorgte in dem Vampir für ein großes Unbehagen, welches sich fast ins Unerträgliche steigerte, als er den Blutfleck sah, der sich mitten auf der Reismatte befand. Noch vor ein paar Tagen hatte er hier mit seinem Lehrer trainiert und nun hatte man ihn umgebracht. Noch dazu auf eine solch hinterhältige weise.
Ihr müsst meinen Tod rächen, hallte die Stimme seines Lehrers in seinem Kopf.
Valdimier hatte es zwar noch niemandem gesagt, aber es war nicht das erste mal, dass er diese Worte von einem sterbenden Achaten Kampfkunstmeister gehört hatte. Allerdings war das erste Mal nur eine Textzeile in einem Buch gewesen. Es war John Boo's Roman Eine Faust zieht Randwärts gewesen, in denen Ku-Fung's Meister ermordet wurde. Auch hier forderte er seinen Schüler mit seinen letzten Worten auf, seine Ermordung zu rächen. Ku-Fung zog daraufhin los und begann einen blutigen Rachefeldzug, bis er endlich den Mörder stellen und töten konnte.[7a] Damals hatte Valdimier es einfach nur als ein möglichst dramatisches Ereignis, das der Geschichte den nötigen Schwung geben sollte, abgetan.!
Doch jetzt fragte er sich ernsthaft, ob nicht doch mehr dahinter stecken konnte.
Das ist doch Schwachsinn, sagte ihm sein Verstand. Das ist nur Zufall
Doch warum hatte Me Sik sie dazu aufgefordert? Er wusste, dass Valdimier bei der Stadtwache war und ganz sicher den Mörder suchen würde. Warum hatte er also seinen letzten Atemzug für solch einen nutzlosen Satz verbraucht? Warum hatte er ihm nicht gesagt, wer ihn umgebracht hatte? Lag es etwa in der Tradition des Achaten Kampfes, dass ein Schüler seinen Meister rächen musste, wenn dieser getötet wurde? Ohne es verhindern zu können, flogen seine Gedanken zu Lilith von Ankhbach und ihm kam plötzlich der Gedanke, dass sie vielleicht auf eigene Faust mehr über den Tod ihres Lehrers herausfinden wollte.

***


Doch Valdimiers Befürchtungen sollten unbestätigt bleiben. Müde öffnete Lilith von Ankhbach die Tür des Hauses, in dem sich ihre Wohnung befand. Die Aufregung war der Erschöpfung gewichen und ihr Körper sehnte sich nach ein wenig Ruhe.
"Nanu, so früh schon zurück?", begrüßte sie eine vertraute Stimme.
David Fisch, Concierge des Hauses, hatte seine momentane Arbeit, die aus dem Durchkehren Flures bestand, unterbrochen und schaute auf.
"Ich hatte eigentlich erst viel später mit ihnen gerechnet."
"Es ist etwas dazwischen gekommen", antwortete Lilith matt.
"Ist alles in Ordnung, Fräulein von Ankhbach?", fragte Herr Fisch besorgt und musterte sie mit einem mitleidigen Blick.
"Ja, ich bin nur ziemlich müde", antwortete sie und ging an ihm vorbei. "Aber Danke der Nachfrage."
"Keine Ursache, Fräulein."
Früher hätte Lilith schwören können, dass Herr Fisch ein Auge auf sie geworfen hatte. Die Tatsache, dass er auf die 50 zuging und somit fast doppelt so alt wie sie war, schien keinen Unterschied gemacht zu haben. Damals hatte sie ihn nur für einen alten Lustmolch gehalten, bis sie eines Tages erfahren hatte, dass sich Herr Fisch nicht zu dem weiblichen Geschlecht hingezogen fühlte. Sie war ziemlich peinlich berührt gewesen, als sie ihn zusammen mit einem Freund im Flur überrascht hatte.[9] Wie es schien, war er einfach nur um das Wohl seiner Mitbewohner besorgt gewesen. Und das war er auch heute noch.
Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss und Lilith stand alleine in ihrer Wohnung. Eigentlich wollte sie nur noch ins Bett, doch sie bezweifelte, dass sie jetzt so einfach schlafen konnte. Noch immer blitzte das Bild ihres ermordeten Lehrers in ihren Gedanken auf. Sie spürte, wie sich wieder ein leichtes Zittern in ihr breit machte. Nein, sie brauchte jetzt erst einmal etwas anderes. Sie ging in einen kleinen Bereich der Wohnung, den man als Küche bezeichnen konnte und öffnete einen Schrank. Von einem leicht klirrenden Geräusch begleitet griff sie nach einer Flasche Rotwein und einem Weinglas. Ihr war klar, dass der Wein eigentlich nicht das geeignete Getränk war, wenn man seine Nerven beruhigen wollte, aber etwas anderes hatte sie gerade nicht greifbar. Mit leicht zittriger Hand stellte sie das Glas auf ihren Esstisch und füllte es mit dem gegorenen Traubensaft. Als die ersten beiden Schlucke ihre Kehle hinunterrannen, lehnte sie sich zurück und versuchte sich zu !
entspannen.
Ihr müsst meinen Tod rächen, hörte sie Me Sik in ihren Gedanken sprechen, ohne daß sie etwas dagegen tun konnte. Zügig lehrte sie das Glas, in der Hoffnung, so auf andere Gedanken zu kommen. Sie musste an Herrn van Varwald und die Entschlossenheit in seinen Augen denken, als sie sich von ihm verabschiedet hatte. Er würde sicher alles daran setzen, den Mörder zu finden. Aber was war dann? Würde er die Forderung ihres Lehrers in die Tat umsetzen, wenn er die Gelegenheit dazu finden würde? Lilith zweifelte daran. In den letzten Tagen hatte sie nicht den Eindruck von ihm bekommen, dass er zu so etwas fähig wäre. Sie würde sogar so weit gehen und ihn nett nennen. Auch wenn sie bei ihm nicht dieses schwarze Band gesehen hatte, das die Mitglieder in diesem Wir verzichten auf Blut, Klub hatten so schien er nicht zu der Sorte Vampir zu gehören, über die man sich die ganzen Schauermärchen erzählte.
Und das, obwohl du ihm zu gefallen scheinst, meldete sich eine gedankliche Stimme.
Ihr waren seine gelegentlichen Blicke nicht entgangen, mit denen er sie angeschaut hatte und seine leicht unbeholfen auftretende Art, immer wenn sie in der Nähe war, war nur schwer zu übersehen. Ein leises, vom Alkohol beflügeltes Kichern entwich ihrer Kehle bei dem Gedanken und sie füllte sich das Glas zum zweiten Mal auf.
Hässlich war er ja nicht.

***


Valdimier schreckte aus seinen Gedanken hoch.
"Entschuldige, was hatest du gesagt?", fragte er Romulus.
Der Werwolf begutachtete gerade den Tatort und wiederholte seine Frage, ohne den Vampir anzuschauen.
"Ich fragte, ob Me Sik irgendwelche Feinde hatte?"
"Nicht, daß ich wüsste."
"Wüsstest du sonst jemanden, der ihm den Tod wünschte?"
"Nein, bis auf ihn und Lilith von Ankhbach hab ich noch nie jemand anderes hier in dem Dojo gesehen. Ich weiß noch nicht mal, ob er überhaupt Freunde hatte."
Eigentlich wusste Valdimier so gut wie gar nichts über seinen Lehrer. Immer, wenn Lilith und er ihn hier getroffen hatten, war das einzige Gesprächsthema der Achate Kampf und seine Erlernung gewesen. Und nach Beendigung der Übungsstunde hatte er sie immer höflich, aber bestimmt verabschiedet. Nie hatten sie die Gelegenheit gehabt, mehr über ihn zu erfahren. Valdimier fragte sich, ob Me Sik Verwandte hier in Ankh-Morpork hatte. Doch etwas sagte ihm, dass er sich darüber keine Gedanken machen musste. Me Sik schien ein Mensch gewesen zu sein, der die Ruhe in der Abgeschiedenheit liebte. Es war schon verrückt. Auf ihn trafen so ziemlich alle Merkmale eines Achaten Meister zu, die Valdimier aus den Büchern kannte. Der einzige Unterschied war nur, dass er nicht auf einem Berg oder in einem großen Tempel gelebt hatte. Doch nun war er tot. Zum wiederholten Male blickte Valdimier auf den Blutfleck auf der Reismatte.
"Ich geh mich mal etwas umschauen", erklärte er Romulus, der noch immer nachdenklich das Zimmer durchschritt.
"Mach das", antwortet der Ermittler. "Aber ruf mich, wenn du etwas finden solltest."
Ohne zu antworten verließ Valdimier das Zimmer. Er musste mehr über seinen Meister herausfinden.

***


Grübelnd ging Romulus durch das Zimmer. Es gab nicht viele Möglichkeiten eines Tatherganges. Me Sik musste seinen Mörder gekannt haben. Hier in dem Zimmer hatte der Täter keine Möglichkeit, sein Opfer zu überraschen. Und das der Achate woanders ermordet und dann hierher geschleppt wurde, konnte auch nicht sein. Dafür fehlte es einfach an Spuren. Noch einmal zur Sicherung seiner Theorie warf der Ermittler einen Rundumblick durch den Raum. Es deutete nichts auf einen möglichen Kampf hin. Nein, Me Sik wurde hier ermordet. Von einer Person die er gekannt hatte und der er ohne einen Verdacht zu schöpfen den Rücken zugewandt hatte. Jetzt mussten sie nur noch herausfinden, wer diese Person gewesen war. Sie mussten mehr...
Ein kurzer spitzer Schrei, gefolgt von einem krachenden Getöse riss ihn aus seinen Gedanken.
"Valdimier?", rief er.
Keine Reaktion. So plötzlich wie der Schrei erklungen war, so aprubt herrschte auch wieder Stille. Der Ermittler eilte in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war.
Was zur Hölle war das?, schoss es ihn durch den Kopf. War der Mörder vielleicht doch noch hier gewesen und hatte seinen Kollegen überfallen?
"Valdimier!", rief er erneut.
"Ich bin hier", hörte er die Stimme des Vampirs aus einem Nebenzimmer. Sie klang nicht sehr erfreut.
Als Romulus das kleine Zimmer betrat, wartete eine relativ seltsame Szenerie auf ihn. Von Valdimier waren nur der Kopf und beide Arme zu sehen. Der Rest seines Körpers war von Unmengen kleiner Pappkartons bedeckt, von denen er sich gerade mühsam zu befreien versuchte.
"Was ist passiert?", fragte Romulus aufgeregt.
"Nunja, ich wollte wissen, was hinter dieser Tür da ist." Valdimier deutete auf eine ihm gegenüberliegende Tür, die zu einer Abstellkammer zu führen schien. "Und als ich sie öffnete, brach diese Lawine über mich herein."
Romulus warf einen vorsichtigen Blick in die Kammer. Sie war bis unter die Decke mit diesen Kartons gefüllt.
"Was ist das?", fragte er und griff nach einer der Schachteln.
Wie alle anderen auch, war sie komplett schwarz angemalt, ohne einen Hinweis auf ihren Inhalt zu geben. Auch Valdimier hielt eine in den Händen und öffnete sie. Als er erkannte, was sich im Inneren befand, legte er sie beiseite.
"Ich hätte es wissen müssen."
"Was?"
Ein schiefes Lächeln bildete sich auf dem Gesicht des leichten Armbrustschützen.
"Räucherstäbchen. Meister Me Sik muss wohl sehr weit im Voraus geplant haben."

***


Es wird Monate dauern, bis ich diesen Geruch wieder aus meinem Anzug bekomme, dachte Valdimier säuerlich.
Seine Nase störte es nicht sonderlich. Er konnte selbst entscheiden, wann er sie benutzen wollte und wann nicht. Aber er konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, auf längere Zeit wie ein übergroßes Räucherstäbchen zu duften. Was wohl die Leute um ihn herum nur denken würden.
Darüber kannst du dir nachher Gedanken machen, ermahnte er sich. Konzentrier' dich auf deine Arbeit
Bis jetzt war die Untersuchung von Me Siks Dojo noch ohne Erfolg verlaufen. Nur in einem war sich Valdimier hundertprozentig sicher. Man konnte Me Sik eindeutig als Einzelgänger bezeichnen. Sie hatten bis jetzt keinen Hinweis gefunden, dass der Achate überhaupt schon einmal Besuch gehabt hatte, der nichts mit seinem Trainingsangebot im Achaten Kampf zu tun gehabt hatte. In der kleinen Küche, die sich im Haus befand, hatten sie nur zwei Sets Geschirr gefunden, sowie Essensvorräte, die höchsten für ein paar Tage reichen würden, wenn man alleine ass. Valdimier fragte sich, was sein Lehrer mit dem ganzen Geld gemachte hatte, das er für seine Trainingsstunden verlangte. Sein Haus war zu spartanisch ausgestattet, als daß er es für Einrichtungsgegenstände verwendet hätte und wenn er es irgendwo versteckt hatte, dann sehr erfolgreich. Bis jetzt hatten er und Romulus noch nichts entdeckt.
Vielleicht hier, dachte sich Valdimier und betrat das letzte Zimmer, das ihm noch übrig blieb.
Auf den ersten Blick schien es ein normales Arbeitszimmer zu sein. Ein Schreibtisch stand an der gegenüberliegenden Wand, darüber hing ein kleines Regal, in dem sich ein paar Bücher befanden. Valdimier ließ seinen Blick über die Bücherrücken streifen. Sie alle waren mit aufwendig gezeichneten Achaten Schriftzeichen versehen. Neugierig nahm er eines und schlug es auf. Er blätterte ein paar Seiten um und klappte er es wieder zu. Auch im Inneren befanden sich nur für ihn unleserliche Zeichen. Vorsichtig stellte er das Buch zurück und öffnete eine der Schreibtischschubladen. Sie war leer. Er öffnete die nächste und ein kleines Büchlein kam zum Vorschein. Es hatte die Größe eines Notizblockes, nur daß es einen gebundenen Einband hatte. Auf dem Buchdeckel war eines dieser Felder, in das der Besitzer schreiben konnte, welchen Inhalt das Buch hatte. Doch in diesem stand nichts.
Vorsichtig schlug er es auf. Er war überrascht, dass ihm keine Achaten Schriftzeichen entgegen sprangen, sondern der Text in ganz normaler leserlicher Schrift verfasst war. Interessiert blätterte Valdimier bis zu der letzten beschriebenen Seite und fing an zu lesen.

Schülerin Lilith von Ankhbach

Sie könnte meine erste Schülerin werden, die erfolgreich die Achate Kampfkunst erlernt. Sie ist mit Eifer dabei und zeigt enormes Lernpotential.


Valdimier überlegte kurz. Me Sik schien in diesem Buch seine persönlichen Eindrücke über seine Schüler niedergeschrieben zu haben.
Das würde bedeuten, dass...
Hastig blätterte er eine Seite zurück und sah seinen Namen.

Schüler Valdimier van Varwald

Er tendiert schnell zum unüberlegten und impulsiven Handeln. Dadurch macht er sich häufig zu einem leichten Angriffsziel. Seine Ausbildung könnte noch schwierig werden.


Valdimier klappte das Buch zu. Das also hatte sein Meister von ihm gedacht. Er musste an die sehr unangenehme Bekanntschaft mit dem Holzbalken bei seinem ersten Training denken. So ganz Unrecht hatte Me Sik nicht. Trotzdem bestürzte es ihn, so etwas über sich lesen zu müssen. Wenn er nur unüberlegt handeln würde, dann wäre er schon längst von einem FROG Einsatz nicht zurückgekommen.
Me Sik kannte dich einfach noch nicht gut genug, redete er sich ein. Du wärst noch ein sehr guter Schüler geworden
"Hast du etwas gefunden?", erklang plötzlich Romulus Stimme hinter ihm.
Valdimier drehte sich um. Der Werwolf stand im Türrahmen und schaute in interessiert an.
"Ja, aber nichts Wichtiges", erklärte er. "Sind nur seine persönlichen Eindrücke von seinen bisherigen Schülern."
"Das soll nicht wichtig sein!", rief der Ermittler leicht erzürnt. "Gib mal her."
Mit diesen Worten entriss er Valdimier das Buch und blätterte darin herum.
"Wenn das wirklich so ist, wie du sagst, dann haben wir hier eine Liste mit Personen, die mit Me Sik zu tun gehabt haben. Das ist unser erster Anhaltspunkt."
Ärger über sich selbst stieg in Valdimier auf. Auf die Idee hätte er selbst kommen können.
Neugierig durchblätterte Romulus das Buch. Plötzlich bildete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht, mit dem er Valdimier verschwörerisch anschaute.
"Unüberlegtes und impulsives Handeln?"
"Wenn du mir erklären kannst, wie das uns bei der Suche nach Me Siks Mörder weiterhilft, gebe ich dir eine Antwort drauf."
"Gar nicht. Ich fande es nur witzig."
"Haha, ich lach' mich tot", erwiderte Valdimier genervt und wandte sich wieder dem Schreibtisch zu.
Er öffnete die letzte Schublade und schaute verdutzt auf einen Haufen Zettel, die sich bei näherem Betrachten als Quittungen herausstellten.
"Noch was gefunden?", fragte Romulus hinter ihm.
"Ich äh..., denke schon."
"Was ist es?"
Mit spitzen Fingern fischte Valdimier einen der Zettel aus der Schublade und starrte ihn an. Er konnte nicht glauben, was er sah.
"Quittungen über Näherinnendienste", las er leise vor. "Das darf doch nicht wahr sein."
"Alles in Ordnung?", fragte Romulus.
Noch immer auf den Zettel starrend, nickte Valdimier.
"Ja, es ist nur... Es überrascht mich doch sehr, dass Me Sik Näherinnen zu besuchen schien. Und außerdem..." Erneut schaute er in die Schublade hinab. Sie war bis obenhin mit Quittungszetteln gefüllt. "...sogar recht häufig, wie es scheint."
Romulus zuckte mit den Schultern.
"Na und? Jeder hat seine Bedürfnisse."
"Mag sein", erwiderte Valdimier geistesabwesend.
Warum bist du so entsetzt?, fragte er sich. Romulus hat Recht. Wieso sollte dein Lehrer nicht auch mal eine Näherin besuchen wollen?
Bei dem Gedanken lief es dem Vampir kalt den Rücken hinunter. Der Betrag, den die Quittung auswies, war nicht gerade von schlechten Eltern. Me Sik schien wohl in einem sehr exklusiven Etablissement verkehrt zu haben. Wenn die restlichen Quittungen über einen ähnlichen Betrag lauteten, würde eine beachtliche Summe zusammenkommen.
Vielleicht hat Me Sik über seine Verhältnisse genäht und konnte seine Schulden nicht mehr bezahlen, schoss es Valdimier durch den Kopf. Vielleicht hat man ihn dafür umgebracht.
Doch er verwarf den Gedanken wieder. Me Sik schien die Dienste immer sofort bezahlt zu haben. Sonst hätte man ihm ja keine Quittung dafür ausgestellt. Außerdem war das Ausstellungsdatum der Quittung die er gerade in der Hand hielt, nur wenige Tage alt.
"Von wem ist denn die Quittung?", fragte Romulus, der wieder sein Notizbuch gezückt hatte.
"Ähm.." Valdimier drehte den Quittungsschein um und las den Stempelabdruck auf der Rückseite. "Besuchen sie den Scharlachroten Lotus und entdecken sie die exotischen Geheimnisse aus verführ..." Ein Räuspern unterbrach seinen Lesefluss. "...verführerischen fernen Ländern. Sie finden uns in der Falscher-Weg-Strasse. Hausnummer 9."
Für einen kurzen Moment las er im Stillen den Rest. Dann blickte er zu Romulus.
"In Klammern steht noch darunter, dass sie lieber in dem Haus mit der Nummer sechs wären, aber dessen Bewohner nicht ausziehen wollen."
"Würde sicher gute Werbung abgeben. Sind alle Quittungen von diesem Scharlachroten Lotus?"
Valdimier wühlte in der Schublade herum. Alle Zettel hatten den gleichen Stempel auf der Rückseite.
"Ja."
"Gut, dann werden wir morgen früh gleich Mal als erstes diesen Laden besuchen."
"Ähm, du meinst den Scharlachroten Lotus?", fragte Valdimier vorsichtig. Romulus Vorschlag gefiel ihm überhaupt nicht.
"Natürlich, was denn sonst?"
"Ähm, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Aber es wäre gut, wenn du da morgen alleine hingegen würdest."
"Wieso?", fragte der Ermittler verwundert. "Ich dachte, du willst unbedingt in die Ermittlungen mit einbezogen werden."
Valdimier wusste nicht, wie er es dem Werwolf erklären sollte, ohne sich vollends zu blamieren.
"Hör zu, ich kann einfach nicht dahin, ok? Ich mein..., du kennst doch sicher die ein oder andere Macke, die Vampire so haben, oder?"
"Natürlich", Romulus überlegte kurz. "B-Wort, das Bestreben nach einem perfekten Aussehen und Jungfr..." Romulus brach abrupt ab und schaute Valdimier verdutzt an. "Liegt es etwa daran?"
Beschämt schaute Valdimier zu Boden.
"Mir ist klar, dass wir dort keine Jungfrauen mehr finden werden, aber ich hab' halt so meine Probleme mit Näherinnen."
Dieses Problems richtig bewusst geworden war er sich nach einem Besuch in einem ähnlichen Betrieb, wie es der Scharlachrote Lotus zu sein schien, der im Laufe einer Ermittlungsarbeit nach gestohlenen Weinfässern stattgefunden hatte. Er konnte sich nicht erklären, woher es kam, aber er fühlte sich in der Nähe der Näherinnen, einfach nicht wohl.
Romulus konnte ein kurzes Lachen nicht unterdrücken, fand aber schnell seine Beherrschung wieder.
"Also gut. Ich werde morgen alleine dorthin gehen."
Valdimier wollte noch etwas sagen, doch er kam ihm zuvor.
"Und das Gespräch hier wird unter uns bleiben."

***


Später im Wachhaus

Romulus saß wieder in seinem Büro und studierte Me Siks Schülerbuch, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Neben dem Scharlachroten Lotus war dies der einzige hilfreiche Hinweis gewesen, den sie in Me Siks Dojo gefunden hatten. Draußen war es schon dunkel geworden und das Licht der Öllampe, die neben ihm auf dem Tisch stand, erfüllte sein Büro mit einem schwachen orangen Leuchten.
Ein leises Klopfen an seiner Tür ließ ihn aufschauen.
"Herein?"
Die Tür öffnete sich und Valdimier kam in sein Büro. In jeder Hand hielt er eine Tasse, die mit dampfendem Kaffee gefüllt war. Vorsichtig stellte er die Gefäße auf dem Schreibtisch ab und setzte sich dem Werwolf gegenüber auf einen Stuhl.
"Ich war gerade noch mal bei Jack", erzählte der Vampir. "Wie er schon vermutet hatte, ist Me Sik nur durch den Bolzen gestorben. Keine anderen Verletzungen innerlicher oder äußerlicher Art."
"Hmm, verstehe", murmelte Romulus als Antwort und griff nach seiner Kaffee Tasse.
"Du, sag mal", sprach er nach einem Schluck von der schwarzen, zähen Flüssigkeit. "Diese von Ankhbach und Du wart die einzigen Schüler, die Me Sik zu dieser Zeit hatte, oder?"
Valdimier nickte.
"Ja das stimmt."
"Und er hat auch nie mit euch über seine vorherigen Schüler gesprochen?"
"Nein, was das anging, war er sehr verschwiegen."
"Dann sagen dir die Namen Bernhard und Siggi Hartstein sicher nichts, oder?"
"Nein." Valdimier Interesse war geweckt. "Wer ist das?"
"Nun", Romulus schob das kleine Buch aufgeschlagen zu Valdimier hinüber. "Da Me Sik seine Schüler höchst wahrscheinlich immer der Reihe nach eingetragen hat, dürften sie die letzten Schüler vor euch gewesen sein. Und schau dir mal an, was er über sie geschrieben hat."
Valdimier drehte sich das Buch zurecht und fing an zu lesen.

Die Schüler Bernhard und Siggi Hartstein

In den Brüdern steckt viel Potential. Sie sind wissbegierig und nehmen voller Elan an den Übungen teil. Ich denke, ich habe in ihnen meine bis jetzt besten Schüler gefunden.


Nachdem er die Zeilen gelesen hatte, fielen Valdimiers Blicke auf den unteren Teil der Seite. Me Sik schien etwas nachträglich eingetragen zu haben.

Ich weigere mich, solche zu unterrichten, die die Achate Kampfkunst für respektlose Machenschaften missbrauchen.

Schweigend starrte Valdimier auf die Notizen. Ihm war klar, dass Romulus seine ersten Verdächtigen gefunden hatte.
"Ich behaupte jetzt einfach mal, dass er die beiden aus dem Kurs geworfen hat", bestätigte Romulus seine Gedanken. "Und dass das einem von ihnen, oder sogar beiden, nichts sehr gefallen hat."
"Ja", erwiderte Valdimier bestätigend und las erneut.
"Für respektlose Machenschaften..." Er schaute Romulus an. "Weißt du, für Me Sik lag ein gewisser tieferer Sinn in der ganzen Sache." Er erinnerte sich an das Gespräch, das sie beide vor dem Gemälde an der Wand im Dojo hatten. "Ich denke, die beiden haben ihr Training dazu missbraucht, um..." Er suchte nach einem richtigen Ausdruck. "... richtig auf den Putz hauen zu können."
Romulus nickte. Sie hatten ein mögliches Motiv mit Täter gefunden. Jetzt mussten sie nur noch erkunden, wo sie die Verdächtigen finden konnten. Sie wussten zwar ihre Namen, aber wo sie sich aufhielten, war ihnen nicht bekannt.
Als hätte Valdimier seine Gedanken gelesen, stand der Vampir auf und ging zur Tür.
"Ich schau mal in der Kartei nach. Vielleicht haben wir ja Glück, und einer von beiden hat schon Mal mit uns zu tun gehabt."
"Tu das."
Romulus lehnte sich, nachdem Valdimier aus dem Büro verschwunden war, in seinem Stuhl zurück. Vielleicht tat die Lady ihnen ja einen Gefallen und die Brüder Hartstein waren schon wegen der ein oder anderen Schlägerei in die Kartei aufgenommen worden.

Doch die Lady hatte wohl besseres zu tun. Nach kurzer Zeit kam Valdimier wieder in das Büro zurück, und seine leicht hängenden Schultern deuteten schon darauf hin, dass er keinen Erfolg gehabt hatte.
"Nichts", gab er kurz von sich, als er sich wieder setzte.
Er griff nach seiner Kaffeetasse, stellte sie aber wieder zurück, nachdem er schnell festgestellt hatte, dass der Kaffee den Status "Gutschmeckend" schon hinter sich gelassen hatte.
"Und was machen wir jetzt?"
Romulus schaute aus dem Fenster und blickte hinaus in die Nacht.
"Heute können wir nicht mehr viel machen. Den Scharlachroten Lotus besuche ich morgen früh und dann werden wir uns noch etwas in der Untergasse umhören. Vielleicht erfahren wir ja da noch etwas Hilfreiches."
"Also war es das für heute?", fragte Valdimier.
"Ja", antwortet Romulus. "Ich denke, in der Untergasse wird man uns gegenüber nicht sehr hilfsbereit sein, wenn wir die Leute zu Befragungszwecken aus dem Bett werfen."

***


Wenig später saß Valdimier in dem allgemeinen Badezuber der Pension und versuchte, den Geruch der Räucherstäbchen loszuwerden. Immerhin schien ihn vor ihm kein Werwolf benutzt zu haben, oder er war sehr ordentlich gewesen. Es wäre nicht das erste mal gewesen, daß der Zuber voller Hundehaare wäre. Mit einer großen Bürste schrubbte er sich den Rücken, während er noch einmal einen Blick auf das Etikett der Seifenflasche warf.

Gönnen sie ihrem Körper die nötige Entspannung mit Seifenpaules Schaumseife. Mit den feinen Lavendelextrakten

Valdimier hätte zwar gerne auf die Lavendelextrakte verzichtet, doch etwas anderes hatte er leider nicht gefunden und das Hundeshampoo, welches sich in dem Regal des Badezimmers befand, probierte er sicherheitshalber erst gar nicht aus. Außerdem roch die Seife bei weitem nicht so penetrant wie der überwältigende Geruch von Me Siks Räucherstäbchen.

Nachdem er der Meinung war, dass er seine Haut genug mit der harten Bürste malträtiert hatte, lehnte sich Valdimier in dem Zuber zurück und schloss die Augen. Die verschiedensten Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum. Würden sie Me Siks Mörder finden? War es einer dieser Brüder gewesen, und wenn ja, hatte er wirklich aus Rache gehandelt? Wie sollten er und Romulus herausfinden, wo sich die Hartsteins gerade befanden?
Doch eine Frage drängte sich besonders in den Vordergrund:
Wann würde er die nächste Gelegenheit erhalten, Lilith auf ein Glas Wein einzuladen?
Er hatte beschlossen, sie morgen früh zu besuchen und ihr von den neuen Erkenntnissen zu erzählen. Er war sich aber noch nicht ganz sicher, ob er ihr von dem Scharlachroten Lotus erzählen sollte. Während er darüber nachdachte, griff er nach dem Glas, das auf einem kleinen Tisch stand, der sich neben dem Zuber befand. Eine Flasche, die noch zur Hälfte mit "Jungfrau Spezial" gefüllt war, stand daneben. Instinktiv griff Valdimier nach der Flasche, doch seine Hand verharrte wenige Zentimeter davor.
Was erhoffst du dir davon, wenn sie ja sagen sollte?, schallte es in seinem Kopf. Was ist, wenn es wirklich was werden sollte?
Seine Blicke klebten an der Flasche wie ein störrischer Kaugummi an einer Schuhsohle.
Meinst du, es würde ihr gefallen, wenn du davon trinkst?
Langsam zog sich seine Hand zurück und ergriff eine daneben stehende Wasserflasche.
"Verdammt, Bregs", murmelte er, als er das Glas mit der klaren Flüssigkeit füllte. "Wer hätte das gedacht."
Die Erkenntnis, dass er sich nicht viel anders als sein Freund verhielt, erschlug ihn regelrecht. Und was der Entzug bei ihm bewirkte, konnte man nur schwer übersehen.
Wäre sie das wirklich wert? Was meinst du, wird aus dir, wenn du anfängst, darauf zu verzichten?
Valdimier lehnte sich wieder in dem Zuber zurück und versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Es machte keinen Sinn, solange er nicht wusste, ob er bei ihr eine Chance hatte. Sein Blick wanderte noch einmal kurz zu der Flasche.

Aufheben würde er sie aber. Für alle Fälle.

***


Die Weisheiten des mächtigen Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak

Lektion 3


Auch ein Meister der Achaten Kampfkunst kann in eine Situation geraten, in denen es sinnlos ist zu kämpfen. Ein Kämpfer wird sich niemals in eine aussichtslose Schlacht werfen.

Quim Pai Sim Ta Kum Si Jak rät deswegen:

Wenn alles nichts bringt, wähle die Flucht,
denn sonst trifft dich Feindes Faust mit voller Wucht.



Das erste, was Valdimier in den Sinn kam, als er das Schild der Taverne Zum glücklichen Eber sah, war, dass die Eber, die hier landeten, wohl nicht mehr so glücklich waren. Mit Romulus hatte er ausgemacht, dass er sich mit ihm in einer Stunde vor Me Siks Dojo treffen würde. Der Ermittler würde vorher noch im Scharlachroten Lotus versuchen, mehr über den Achaten herauszubekommen, was ihnen bei ihrer Suche nach seinem Mörder helfen könnte. Valdimier hatte vor, in dieser Zeit Lilith zu fragen, ob sie vielleicht schon Mal etwas von den Hartsteins gehört hatte und vielleicht auch noch etwas anderes.

Nur wenige Gäste, hatten an diesem Morgen schon ihren Weg in die Taverne gefunden. Valdimier fragte sich, ob so mancher von ihnen noch von letzter Nacht hier war und nur drauf wartete, dass er wieder einigermaßen geradeaus laufen konnte. Der typische rauchige Tavernengeruch, mit einem Hauch von gebratenem Schweinefleisch, strömte dem Vampir in die Nase. Er war sehr verlockend, doch leider hatte er schon gegessen und außerdem fehlte ihm die Zeit, jetzt noch eine großzügige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Er schaute sich nach Lilith um, konnte sie aber nirgends entdecken. Zwar sah er eine weibliche Bedienung, die einem Herrn gerade das Essen brachte, doch es war nicht die gesuchte. Er ging an den Tresen, hinter dem ein etwas dicklicher Mann stand und gerade dabei war, ein paar Gläser zu putzen.[10]
"Guten Tag", begrüßte Valdimier ihn.
"Guten Tag", erwiderte der Wirt mit brummiger Stimme. "Was kann ich für sie tun, Herr Wächter?"
Da Valdimier diesmal seine Uniform trug, war es seinem Gegenüber nicht sehr schwer gefallen, ihn als Vertreter des Gesetzes zu identifizieren.
"Ähm, ich würde gerne mit Lilith von Ankhbach sprechen. Man sagte mir, dass ich sie hier finden könnte?"
Der dickliche Mann musterte ihn für einen Augenblick.
"Wieso? Steckt sie ihn Schwierigkeiten?"
Sein Tonfall enthüllte die übliche Neugierde, die Valdimier von den meisten Bewohnern Ankh-Morporks erwartete. Aber er hatte auch das Gefühl, dass es ihm nicht sehr gefiel, dass eine seiner Mitarbeiterinnen mit der Wache zu tun hatte. Sicherlich war es "Schlecht fürs Geschäft".
"Neinnein, ganz im Gegenteil", versuchte Valdimier den Wirt zu beschwichtigen. "Sie kann uns bei einem kleineren Fall helfen. Ich müsste ihr nur ein paar Fragen stellen."
Erneut verging ein kurzer Moment, den der Wirt dazu nutzte, um Valdimier mit einem bedächtigen Blick anzuschauen.
"Wenn's so ist", sagte er schließlich und zuckte mit den Schultern. "Sie müsste eigentlich jeden Moment aus der Küche kommen."
Kaum hatte der Wirt seinen Satz beendet, schwang auch schon eine Tür neben der Theke auf und Lilith trat heraus. Auf jeder ihrer Hände balancierte sie einen großen Teller, der reichlich mit Essen bedeckt war. Überraschung bildete sich in ihrem Gesicht, als sie Valdimier bemerkte.
"Oh, guten Tag Herr van Varwald", begrüßte sie ihn.
"Guten Tag, Fräulein von Ankhbach."
"Der werte Wächter will zu dir, Lilith", erklärte der Wirt.
"Das habe ich mir fast gedacht", erwiderte Lilith und lächelte Valdimier an. "Ich bring nur noch die zwei Teller zum Tisch."
Valdimier schaute ihr nach, wie sie an einen Tisch ging und den anwesenden Personen, einem Mann und einer Frau, das Essen brachte. Die Ereignisse des letzten Tages schienen sie nicht mehr sehr zu belasten. Jedenfalls ließ sie es sich nicht anmerken.
Nachdem sie die zwei Teller serviert hatte, wandte sie sich an die andere Bedienung.
"Kannst du bitte kurz für mich übernehmen, Katrin?"
Die junge Frau warf einen kurzen Blick auf Valdimier und dann wieder auf Lilith.
"Wenn's sein muss. Ich hoffe, es dauert nicht lange."
Ihr Tonfall hätte nicht widerstrebender sein können.
"Wird es sicher nicht", erwiderte Lilith und drehte sich von ihr weg.
Als sie Katrin den Rücken zugewandt hatte, sah Valdimier, wie sie die Augen verdrehte. Diese Katrin war wohl öfters nicht bei guter Laune.
"Ich frage mich andauernd, warum Klaus diese blöde Schnepfe hier noch arbeiten lässt", hörte Valdimier sie leise fluchen, als sie auf ihn zukam.
"Probleme mit der Kollegin?", fragte Valdimier mit gedämpfter Stimme.
"Sagen wir einfach, dass wir beide wohl nie beste Freundinnen werden", erwiderte Lilith, nachdem sie einen kurzen Moment gebraucht hatte, um ihre aufsteigende Wut zu beherrschen.
Doch kurz darauf bildete sich wieder das vertraute Lächeln auf ihrem Gesicht.
"Aber genug davon. Was verschafft mir die Ehre, Herr van Varwald?"
Ehe Valdimier antworten konnte, erklang eine Stimme von der Seite.
"Entschuldigen Sie, Fräulein, ich würde gerne zahlen."
Auch wenn er nicht angesprochen war, schaute Valdimier zur Seite. An dem Tisch neben ihnen saß ein männlicher Gast, der mit einer Hand in seiner Jackentasche herumwühlte. Als er bemerkte, dass auch Valdimier ihn anschaute, nickte er ihm freundlich zu. Lilith ließ ihre Blicke durch die Taverne wandern, wohl in der Absicht, Katrin mit dieser Aufgabe zu betrauen. Doch von ihrer Kollegin fehlte jede Spur. Sie entschuldigte sich kurz bei Valdimier und wandte sich dem Gast zu. Nachdem sie sein Geld dankend entgegengenommen hatte, verließ der Herr auch zügig die Taverne.
"Setzen wir uns doch", bot sie Valdimier an, als sie wieder vor ihm stand.
Dankend nahm Valdimier das Angebot an und sie setzten sich an einen freien Tisch.
"Wie geht’s ihnen?", fragte Valdimier, als sie ihm gegenüber Platz nahm.
"Ganz gut", antwortete sie. "Die Arbeit hilft mir, auf andere Gedanken zu kommen."
Valdimier versuchte zu lächeln, ohne seine spitzen Eckzähne zu zeigen.
"Freut mich zu hören."
"Danke", erwiderte sie und zeigt ihm ebenfalls ein Lächeln, welches ein Kribbeln auf Valdimiers Haut verursachte.
Vergiss die Fragen über die Hartsteins und frag sie sofort, ob du sie mal auf ein Glas Wein einladen darfst, meldete sich seine innere Stimme, doch Valdimier ignorierte sie.
"Ähm, wir haben in dem Dojo von Meister Me Sik einige Hinweise gefunden, zu denen ich sie gerne etwas fragen würde."
Er erzählte ihnen von dem Buch, dass sie gefunden hatten und den Namen, die darin verzeichnet waren.
"Bernhard und Siggi Hartstein?", fragte Lilith nach.
"Ja, hat Me Sik ihnen gegenüber mal diese Namen einmal erwähnt?"
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
"Nein, mir hatte er nie mehr erzählt als Ihnen."
"Hmm, verstehe."
Valdimier war nicht allzu überrascht.
"Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden?", fragte Lilith hoffnungsvoll.
Valdimier zögerte einen Moment.
"Ja, wir haben etwas entdeckt, dass uns doch sehr überrascht hat", sprach er vorsichtig und berichtete ihr von den vielen Quittungen vom Scharlachroten Lotus, die sie in Me Siks Schreibtischschublade entdeckt hatten. Er musste ihr nicht erklären, was es damit auf sich hatte. Die Überraschung auf ihrem Gesicht war nicht zu übersehen.
"Oh, das ist wirklich sehr..." Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen. "...außergewöhnlich."
Valdimier nickte bestätigend.
"Mein Kollege ist gerade in diesem Etablissement und versucht dort mehr über unseren Lehrer herauszubekommen."
"Und sie begleiten ihn nicht dorthin?", fragte Lilith neugierig.
Unsicher darüber, was sie mit dieser Frage bezwecken wollte, schüttelte Valdimier den Kopf.
"Wir haben uns die Arbeit aufgeteilt", versuchte er möglichst glaubhaft zu erklären. "Er befragt die... Angestellten dort, und ich Sie."
"Verstehe", antwortet Lilith augenzwinkernd.
"Außerdem wollte ich nur sicher gehen, dass es Ihnen gut geht."
"Sehr nett von Ihnen."
Für einen Augenblick saßen sie sich beide schweigend gegenüber. In Gedanken versuchte sich Valdimier seinen nächsten Satz zurechtzulegen.
"Und es gibt noch etwas, was ich Sie fragen wollte", sprach er mit etwas leiserer Stimme.
"Ja?" Lilith schaute ihn erwartungsvoll an.
"Ich wollte Sie fragen, ob... " Er zögerte kurz. "Ob Sie nicht vielleicht..."
Ehe er seine Frage zu Ende stellen konnte, tauchte plötzlich der Wirt neben ihnen am Tisch auf.
"Lilith, wir brauchen dich sofort in der Küche", erklärte er hektisch. "Anton hat das Spanferkel verkohlen lassen. Während er sich um ein neues kümmert, müssen du und Katrin drinnen aushelfen."
"Ich komme gleich."
Als der Wirt wieder in der Küchentür verschwunden war, verdrehte sie die Augen und murmelte: "Das darf doch nicht wahr sein. Genau das fehlte mir heute noch."
Während sie aufstand, schaute sie wieder zu Valdimier.
"Was wollten sie mich denn fragen?"
"Ich..ähm..", er wusste nicht, was er sagen sollte. "Ach, ist nicht so wichtig."
Er stand auf.
"Ich will sie nicht weiter von der Arbeit abhalten. Nicht, daß sie noch Ärger mit ihrem Chef bekommen."
"Oh!" Die junge Frau schien etwas enttäuscht. "Ok."
"Sobald wir etwas Neues in Erfahrung bringen sollten, sage ich ihnen Bescheid."
"Danke. Viel Glück bei der Suche."
Valdimier deutete eine leichte Verbeugung an, als aus der Küche ein gedämpftes Rufen nach draußen drang.
"Lilith!!"
Sie schaute kurz zur Küchentür und dann wieder zu Valdimier. Man konnte ihr ansehen, dass sie ziemlich angenervt war.
"Tut mir leid, aber ich muss los."
"Natürlich."
"Machen Sie es gut."
Mit diesen Worten drehte sie sich um und eilte durch die Küchentür.

***


Etwa gleiche Zeit, aber ganz anderer Ort

Der Scharlachrote Lotus sah äußerlich genau aus wie die meisten Betriebe, in denen man Näherinnen antreffen konnte. In den Fenstern waren rote Samtvorhänge zugezogen und das eine oder andere Schild mit einem verführerischen Werbespruch war an die Hauswand genagelt. Auf einem großen Holzschild, das über der Tür hing, stand der Name des Etablissements in roter Farbe und einer merkwürdig verschnörkelten Schrift geschrieben. Neben der Schrift hatte man auf jede Seite zwei Achate Schriftzeichen gepinselt. Romulus wusste nicht, was sie bedeuteten, hatte aber auch nicht vor, es genauer herauszufinden.
Die Empfangshalle des Betriebes war prunkvoll ausgestattet. Die Wände waren mit hochwertigem, rot gestrichenen Holz bedeckt und das Licht, das von den in den Ecken hängenden roten Lampions ausging, verstärkte den Farbton noch um einiges. Romulus war sich sicher, dass so auch die Näherinnen-Etablissements im Achaten Reich aussehen mussten. Aus irgendeiner Richtung hörte er leise die Arbeitsgeräusche der Angestellten. Auch außerhalb der abendlichen Stoßzeit schien das Haus gut besucht zu sein.
Es dauerte auch nicht lange, bis jemand zu seiner Begrüßung kam. Ein kleiner Mann kam aus einer Schwingtür herbeigeeilt und verbeugte sich vor dem Werwolf.
"Ah, willkommen ehlenweltel Gast. Seien sie beglüßt in unselem bescheidenen Hause. Sie suchen entspannte Elholung bei einel unselen schönen Flauen? Bei uns finden sie sichel etwas, was ihlen pelsönlichen Geschmack entspli..."
"Ich bin nicht deswegen hier", unterbrach Romulus den begeisterten Redefluss des Mannes und zeigte ihm seine Dienstmarke. "Sind Sie hier der Chef?"
"Ja, ich bin del Besitzel dieses schönen Hauses. Ich beglüße unsele Gäste immel pelsönlich. Ist gut füls Geschäft."
"Und wie ist ihr Name?", fragte der Werwolf.
"Mein Name ist Fong Ting, weltel Hell." Der Achate verbeugte sich erneut vor ihm. "Doch was kann ich fül die Wache tun? Unsel Haus ist in dem Legistel der Nähelinnengilde eingetlagen. Hiel findet nichts Illegales statt."
"Ich bin hier, weil ich ein paar Fragen über einen ihrer Kunden habe", erklärte der Werwolf. Das schleimige Verhalten seines Gesprächspartners gefiel ihm überhaupt nicht.
Fong Ting schaute ihn misstrauisch an.
"In unselem Haus achten wil ziemlich auf die Plivatsphäle unselel Kunden. Es läge nicht in delem Intelesse, dass wil infolmationen übel sie pleisgeben."
"Glauben Sie mir. In diesem Fall können Sie eine Ausnahme machen." Er sah, dass sein Gegenüber etwas sagen wollte, und fuhr schnell weiter fort. "Bei Ihnen verkehrte öfters ein Gast mit dem Namen Me Sik?"
Der misstrauische Blick des Achaten verstärkte sich.
"Walum wollen Sie das wissen?"
Romulus seufzte leise. Wieso kann niemand diese Frage mit einem einfach ja beantworten, und sich nicht alle Informationen aus der Nase ziehen lassen?
"Herr Me Sik ist gestern abend ermordet worden."
Die Augen des Inhabers weiteten sich.
"Elmoldet?? Abel wieso?? Wel hat das gemacht?"
"Das versuchen wir ja herauszufinden." Der Ermittler holte seinen Notizblock aus seiner Tasche hervor. "Also, wir wissen, dass Me Sik ein sehr häufiger Gast ihres Hauses war."
"Ja", antwortete Fong Ting bedrückt. "Wenn nicht sogal unsel bestel."
Das erklärt die große Bedrücktheit, ging es Romulus durch den Kopf. Jetzt heißt es: weniger Geld in der Kasse
"Ist Ihnen in den letzten Tagen vielleicht etwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?"
"Nein, es wal eigentlich wie immel. Ich habe ihn beglüßt und ihn dann zu Gigi geblacht."
"Ähm, zu wem?", fragte Romulus nach.
"Zu Gigi Lam", erwiderte der Inhaber. "Sie ist eine unselel Angestellten. Wenn Meistel Me Sik hiel wal, ist el nul zu ihl gegangen. El hat sogal hiel auf sie gewaltet, wenn sie gelade mit einem andelen Kunden beschäftigt wal."
"Hat das einen bestimmten Grund?"
Der Achaten zuckte mit den Schultern.
"Übel Geschmack lässt sich nicht stleiten."
Romulus notierte sich den Namen der Näherin in seinem Notizbuch.
"Ich würde gerne mit ihr reden."
"Jetzt?", fragte Fong Ting.
"Ja, jetzt", erwiderte Romulus.
"Ähm, Gigi ist gelade etwas beschäftigt." Der Achate zwinkerte Romulus zu. "Auch tagsübel sucht del ein odel andele das kölpelliche Velgnügen."
"Man hört es." Romulus verschränkte die Arme vor seiner Brust. "Wie lange wird sie denn noch brauchen?"
"Ich weiß nicht. Hängt ganz von dem Kunden ab."

Da der Kunde wohl nicht viel zum nähen hatte, musste sich Romulus zum Glück nicht lange gedulden, bis er mit Gigi Lam sprechen konnte. Wie der Name ihn schon vermuten ließ, kam sie ebenfalls aus dem Achaten Reich. Für eine Achatin war sie allerdings sehr groß gewachsen. Die freizügige Kleidung, die sie trug, hob gewisse Stellen ihres schlanken Körpers besonders hervor. Da sie Romulus anfänglich für ihren nächsten Kunden hielt, lag sie in aufreizender Pose in ihrem Bett. Doch nachdem sie erfahren hatte, dass er Wächter war und warum er sie aufsuchte, war ihre Pose nicht mehr ganz so aufreizend. Traurig saß sie neben Romulus am Bettrand und schnäuzte in ein Taschentuch.
"Ich kann nicht glauben, dass el tot ist", jammerte sie. "Wel hat das getan."
"Das versuchen wir ja herauszufinden, Fräulein", antwortet Romulus und reichte ihr ein neues Taschentuch.
"Ich habe mich schon gewundelt, walum el gesteln nicht volbeigekommen ist. Wissen Sie, ich habe mich immel gefleut, wenn Me hiel wal. El wal immel so zältlich und so ausdauelnd und..."
"Ich unterbreche sie nur ungern in ihrer Trauer", beendete Romulus die aufkeimende Schwärmerei der Näherin. "Aber ich habe leider nicht sehr viel Zeit."
Erneut nahm er seinen Notizblock in die Hand.
"Was möchten Sie wissen?", fragte Gigi in einem leicht beleidigt klingendem Tonfall.
Die unterkühlte Direktheit des Ermittlers schien ihr sehr zu missfallen.
"Sie wissen ja vielleicht, dass Herr Me Sik die Achate Kampfkunst unterrichtet hat."
Gigi nickte aufgeregt.
"Natüllich. Me hat mil immel viel von seinel Albeit und seinen Schüleln elzählt."
Romulus schaute auf.
"Ach, wirklich? Das ist aber sehr ungewöhnlich. Selbst mit seinen Schülern hat er nur, wenn es notwendig war, gesprochen."
Die Näherin verzog geschmeichelt das Gesicht.
"Sie wissen doch, was man sagt. Wil Nähelinnen können unselen Kunden das ein odel andele Geheimnis entlocken. Außeldem hat el immel zu mil gesagt, dass ich jemandem sehl ähnlich sehe, den el in seinel Heimat einmal geliebt hat. Vielleicht ist el deswegen immel zu mil gekommen."
"Interessant", murmelte Romulus und schrieb etwas in sein Notizbuch. "Was erzählt er Ihnen denn zum Beispiel alles?"
"Och, ziemlich viel. Seine beiden letzten Schülel, sollen ganz gut gewesen sein. Eine Flau und ein Vampil. Del Vampil sei nul etwas übelmütig."
Ein plötzliches Zittern ergriff die Näherin, als würde sie sich vor etwas fürchten.
"Ich finde ja Vampile unheimlich. Vielleicht hat el ja auch Me umgeblacht, um sein Blut zu tlinken."
"Dieser Sache sind wir schon nachgegangen. Hat er Ihnen gegenüber mal den Namen Hartstein erwähnt?"
Die Frau dachte einen kurzen Moment nach, schüttelte dann aber den Kopf.
"Nein, tut mil leid. Hab ich noch nie gehölt."
"Verstehe. Hat er Ihnen von zwei Brüdern erzählt, die er vielleicht aus seinem Kurs geworfen hatte?"
"Ja, das weiß ich noch", kam es wie aus der Armbrust geschossen. "Dalan kann ich mich noch gut elinneln. Me wal an diesem Abend sehl sauel gewesen."
"Können Sie mir sagen, wann das war und hat er Ihnen vielleicht erzählt, was passiert war?"
"Natüllich, das wal..." Es schien, als würde Gigi in Gedanken die Tage zählen. "...genau zweieinhalb Wochen hel."
"Und was war passiert?", hakte Romulus nach.
Er spürte, dass er auf der richtigen Fährte war. Der Zeitraum zwischen den Ereignissen war zu kurz, um ein bloßer Zufall zu sein.
"Ja, die zwei hatten auf offenel Stlasse einen Stleit angefangen und haben sich mit ein paal andelen Menschen geblügelt. Me hat das mitbekommen und hat sie deswegen aus dem Kuls gewolfen. El wollte nicht, dass seine Lehle fül solche niedeltlächtigen Sinne eingesetzt wild." Gigi schwieg für einen kurzen Moment. Ein neuer Ansturm von Trauer drohte sie zu übermannen.
Romulus reichte ihr zur Sicherheit ein neues Taschentuch.
"Danke." Sie schnäuzte hingebungsvoll hinein. "Das schlimmste wal alleldings seine Enttäuschung. El hatte gloße Hoffnungen in die Blüdel gesetzt."
"Und wie haben die zwei darauf reagiert?", wollte der Ermittler wissen.
"Sie sollen ganz schön wütend gewolden sein", erzählte Gigi weiter. "Mehl hat el dazu abel nicht gesagt."
"Verstehe", erwiderte Romulus und vermerkte die neu gewonnenen Informationen in seinem Buch. "Hat er Ihnen vielleicht gesagt, wo sich seine Schüler geprügelt haben?"
"Nicht dilekt", antwortet Gigi. "Ich denke abel, es wal zwischen hiel und seinem Haus. El sagte, dass el gelade auf dem Weg zu mil wal, als el seine Schülel bei del Plügelei endeckt hat."
"Mehr hatte er nicht dazu gesagt?"
"Nein, leidel nicht." Die Näherin ließ den Kopf hängen. "Ich kann einfach nicht glauben, dass el elmoldet wulde."
Romulus entschloss sich, die Befragung hier enden zu lassen. Er hatte genug erfahren.
"Sie werden schon einen Weg finden, um ihre Trauer zu überwinden", versuchte er sie zu trösten. Auf einen aufmunternden Schulterklopfer verzichtete er aber lieber. "Vielleicht treffen sie ja wieder jemanden, der genauso wie Herr Me Sik ist."
"Ja, das hoffe ich auch", erwiderte Gigi. "El konnte wilklich gut im nähen."

***


Wenig später

"Und das war vor zweieinhalb Wochen?", fragte Valdimier.
Die Frustration über das hinter ihm liegende Gespräch ließ sich nur mit Mühe zurückhalten. Hätte er sich nicht so blöd angestellt und die Frage nicht so lange hinausgezögert, hätte er eine Antwort bekommen.
Es wäre aber auch ein wirklich unpassender Zeitpunkt gewesen, versuchte er sich einzureden, um die Sache nicht ganz so schlimm auf sich wirken zu lassen.
"Das sagt sie zumindest", antwortet Romulus.
Die beiden Wächter hatten sich an dem vereinbarten Treffpunkt zusammengefunden und tauschten ihre neu gewonnen Informationen aus.
"Das wäre ja kurz bevor Lili.. Fräulein Ankhbach und ich mit dem Kurs begonnen haben."
"Das stimmt. Hat die Befragung von Fräulein Ankhbach eigentlich etwas gebracht?"
"Nein", brummte Valdimier frustriert. Die Art, wie Romulus ihren Namen betonte, gefiel ihm überhaupt nicht. "Me Sik hat ihr gegenüber nie die Hartsteins erwähnt."
"Wie ich vermutet hatte", erwiderte Romulus. "Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass einer von den beiden der Täter ist. Es würde mich sogar nicht überraschen, wenn beide mit dem Mord zu tun hätten."
Valdimier nickte.
"Sie hätten beide das gleiche Motiv."
"Exakt. Unser Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wo die Brüder wohnen." Romulus schaute die Strasse entlang. "Wir wissen aber, dass sie sich irgendwo zwischen hier und dem Scharlachroten Lotus mit jemandem geprügelt haben."
Valdimier musste nicht lange überlegen, um festzustellen, was sein Kollege vorhatte.
"Du nimmst die linke und ich die rechte Straßenseite."

Valdimier sollte nun erfahren, was Ermittlungsarbeit wirklich bedeutete. Mühsam arbeiteten sie sich die Strasse entlang und versuchten, so viele Passanten wie möglich zu befragen. Am meisten erhofften sie sich aber von den Inhabern der kleinen Verkaufsstände, die wohl so gut wie jeden Tag da zu sein schienen. Doch viel Erfolg hatten sie dabei nicht. Viele Bürger erzählten ihnen irgendetwas, das in keinster Weise mit dem Fall zu tun hatte, während andere sie einfach nur wütend anstarrten und ihnen zu verstehen gaben, dass sie nichts mit der Wache zu tun haben wollten. Die Frustration in Valdimier wuchs immer weiter an. Erst die verpatzte Frage bei Lilith und nun musste er sich mit einem Haufen ahnungsloser Bürger herumschlagen, die seine Frage, ob sie vielleicht in den letzten Tagen eine Schlägerei auf der Strasse beobachtet hatten, bei der wahrscheinlich auch ein kleiner Achate anwesend war. Er hatte schon aufgehört zu zählen, wie viele auf diese Frage stolz erzählten, wie s!
ie selbst schon mal in eine Prügelei verwickelt waren und diese natürlich siegreich verlassen hatten. Wahrscheinlich versuchten damit die meisten Männer die Begegnung mit dem Nudelholz ihrer Ehefrau zu verarbeiten. Gute anderthalb Stunden später standen er und Romulus an einem kleinen Imbisstand, um eine kurze Pause zu machen.
"Wie weit ist es noch bis zum Scharlachroten Lotus?", fragte Valdimier.
"Die Hälfte haben wir hinter uns gebracht", antwortete Romulus, der gerade misstrauisch sein Sojawürstchen im Brötchen betrachtete. "Sind Sie sicher, dass hier kein Fleisch drinnen ist?"
Diese Frage galt dem Imbissbesitzer, der sich wieder seinem Grill zugewandt hatte, nachdem er den Wächtern jeweils ein Würstchen im Brötchen gegeben hatte. Valdimier hatte allerdings die nicht vegetarische Variante bevorzugt.
"Natürlich", antwortet dieser, sichtbar in seiner Kochehre verletzt. "Ich bin doch nicht Schnapper."
"Daf will if auf offen", antwortet Valdimier und schluckte seinen Bissen hinunter.
Es war allgemein bekannt, dass Schnapper eine sehr weit dehnbare Definition hatte, was die Eigenschaften von Fleisch anging. Doch dieses Würstchen schmeckte sogar ausgesprochen gut. Leicht belustigt schaute er zu, wie Romulus vorsichtig an seinem Imbiss roch.
"Wenn du so weiter machst, wird es noch kalt. Außerdem hat er dir doch jetzt noch extra versichert, dass da kein Fleisch drin ist."
"Ich bin eben vorsichtig, was das angeht. Du glaubst nicht, was dir alles als angeblich fleischfrei angedreht wird."
Doch die Geruchsprobe schien den Werwolf überzeugt zu haben, dass es sich diesmal um kein gefährliches Würstchen zu handeln schien. Wenn auch leicht zögernd, biss er hinein.
"Hmm, scheint gut zu sein", erklärte er, nachdem er den Bissen hintergeschluckt hatte.
"Sag ich ja", erwiderte der Imbissbesitzer in einem vorwurfsvollen Ton. "Daß ihr Wächter euch auch so anstellen müsst."
Romulus ignorierte die Bemerkung und verspeiste den Rest seines kleinen Imbisses.
"Was machen wir, wenn unsere Befragung zu keinem Ergebnis führt?", fragte Valdimier, als er mit seinem Essen fertig war. "Ich meine, was ist, wenn diese Prügelei ganz woanders stattgefunden hat?"
Da er gerade nicht sprechen konnte, zuckte Romulus stumm mit den Schultern und kramte mit seiner freien Hand sein Notizbuch aus einer seiner Jackentaschen.
"Dann gehen uns langsam die Spuren aus." Er reichte Valdimier sein Würstchen. "Hier, halt mal bitte kurz."
Nachdem er beide Hände wieder zur Verfügung hatte, blätterte er kurz in seinem Buch und überflog seine Notizen, als wolle er sichergehen, dass er nichts vergessen hatte.
"Wenn wir nicht herausfinden, wo sich mindestens einer von diesen Hartsteins aufhält, dann haben wir ein Problem."
Valdimier nickte stumm. Romulus hatte Recht. Diese Harsteins waren die einzige Spur, die viel versprechend aussah, wenn nicht sogar ihre einzige überhaupt. Doch er wollte nicht glauben, dass sie wirklich Gefahr liefen, den Fall nicht zu lösen. Er würde den Mörder finden, egal was er dafür anstellen musste.
"Kann ich bitte meine Wurst wieder haben?", riss ihn Romulus aus seinen Gedanken. Sein Notizbuch hatte er beiseite gelegt.
Wortlos übergab er dem Werwolf sein Essen wieder und wartete, bis er es verspeist hatte. "So", verkündete er, während er versuchte, seine Finger mit einer dünnen Papierserviette zu säubern, was allerdings nicht von sehr großem Erfolg gekrönt war. "Weiter geht's."
Von neuem Mut angespornt, verließen die Wächter den Imbisstand und gingen ein paar Schritte die Strasse entlang. Gerade, als sie sich wieder für die Befragung trennen wollten, blieb Romulus plötzlich stehen. Valdimier konnte sehen, wie er mit seinen Händen suchend an seinen Jackentaschen herumtastete.
"Oh, verdammt", stieß er aus und drehte sich um.
Schnellen Schrittes ging er wieder auf den Imbiss zu.
"Was ist los?", rief Valdimier und folgte ihm.
"Ich muss mein Buch liegen gelassen haben", antwortet der Werwolf.
"Na klasse", murmelte Valdimier und verlangsamte sein Schritttempo. "Auch das noch."

Erleichtert fand Romulus sein kleines Notizbuch noch an der Stelle vor, an der er es aus Versehen liegen gelassen hatte. Auf der kleinen Ablage des Imbisstandes. Er musste es wohl dorthin gelegt haben, als ihm Valdimier seinen vegetarischen Snack wieder gegeben hatte. Als er es zufrieden einsteckte, warf er noch einen kurzen Blick auf den Besitzer des Standes.
Zum Glück hat er nicht viel Kundschaft, dachte er sich. Sonst wäre es jetzt weg gewesen.
Er drehte sich um und ging auf Valdimier zu. Der Vampir stand wenige Meter von ihm entfernt.

Scheint ja noch mal gut gegangen zu sein
Valdimier sah, wie sein Kollege wieder auf ihm zukam. Seiner Gesichtsmimik nach zu urteilen hatte er sein Notizbuch wieder gefunden. Umso verwunderte war er, als Romulus erneut wie vom Blitz getroffen stehen blieb.

Der Werwolf schloss die Augen. Einer seiner Geruchsnerven hatte ihm auf einmal für einen Bruchteil einer Sekunde eine Information gegeben, die ihn zu diesem plötzlichen Halt bewogen hatte. Es war die Silhouette eines Geruchs gewesen, der ihm sehr vertraut vorkam. Ein Mensch hätte ihn niemals wahrgenommen und auch Romulus hätte ihn sicher nicht registriert, wenn er nicht gestern sehr intensiv damit konfrontiert worden wäre. Er versuchte sich zu konzentrieren. Hatte ihm seine Nase vielleicht auch nur einen Streich gespielt? War es vielleicht eine kurze Reaktion, die auf gestern zurückzuführen war? Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete Romulus die Augen und ging entschlossen auf Valdimier zu, der ihn fragend anschaute. Es gab nur einen Weg, um auf Nummer sicher zu gehen.

"Was ist los?", fragte Valdimier verwundert.
Romulus hatte ihn an einem seiner Uniformärmel gepackt und zog ihn hinter sich her.
"Komm mit", war die knappe Antwort des Ermittlers.
Zielstrebig steuerte der Werwolf auf eine kleine Seitengasse zu. Er brauchte einen Ort, an dem sie ungestört waren.
"Kannst du mir vielleicht mal sagen was los ist?", verlangte Valdimier. "Wo willst du hin?"
Ohne ihm eine Antwort zu geben, gingen sie in die Seitengasse. Die großen Dächer der Häuser, zwischen denen sie sich befanden, sorgten dafür, dass nur wenig Licht in die Gasse gelangte, und so ein Großteil davon in einem dunklen Schatten lag. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie alleine waren, wandte sich Romulus wieder zu Valdimier, der ungeduldig auf eine Antwort wartete.
"Hör zu", sprach er hastig. "Ich muss etwas nachprüfen, aber dafür muss ich mich verwandeln."
"Was? Wie?", stammelte der Vampir. "Was willst du?"
"Ich brauch' meine bessere Nase", erklärte der Werwolf, während er sich in die Hocke begab, um die Schnürsenkel seiner Stiefel zu öffnen.
Valdimier brauchte noch einen Moment, ehe er begriff.
"Würdest du dich bitte umdrehen?"
Valdimier kam der Bitte seines Kollegen nach. Er wusste natürlich, dass Werwölfe sich nicht freiwillig vor den Augen anderer verwandelten.
"Was hast du gerochen?", fragte er.
Er hörte, wie sich hinter ihm sein Kollege seiner Kleidung entledigte.
Hoffentlich sieht uns keiner, hoffte er inständig. Das wäre sehr schwer zu erklären.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich eben den Duft von Me Siks Räucherstäbchen gerochen habe."
"Was??" Beinahe hätte sich der Vampir doch umgedreht, beherrschte sich aber noch rechtzeitig. "Wie kann das sein?"
"Weiß ich auch nicht. Ich will nur wissen, ob es wirklich dieser Geruch war, oder ob ich mich getäuscht habe."
"Vielleicht bin ich es ja noch?", fragte Valdimier etwas peinlich berührt. "Der Geruch von den Dingern ist nur schwer zu beseitigen."
"Nein, du hast eine leichte Duftnote, die nach Lavendel riecht", antwortet Romulus.
Ich brauch' dringend eine andere Seife, schoss es Valdimier durch den Kopf, als er die Antwort gehört hatte.
Doch diesem Gedanken folgten schnell viele neue. Was wäre, wenn sich Romulus nicht geirrt hatte und es wirklich der Geruch von Me Siks Räucherstäbchen war? Aber woher wollten sie dann wissen, ob es wirklich genau die Stäbchen des Achaten waren? Er würde ja schließlich nicht der einzige Bürger in Ankh-Morpork gewesen sein, der diese Sorte verwendete.
"So, ich wäre soweit", erklang die Stimme des Ermittlers wieder hinter ihm. "Folge mir gleich und vergiss bitte nicht, meine Sachen mitzunehmen."
Ehe Valdimier etwas sagen konnte, hörte er plötzlich ein Geräusch, welches man am besten mit dem Wort "organisch" beschreiben konnte und wenige Augenblicke später trat ein nicht gerade kleiner Wolf an seine Seite. Romulus hob seinen Kopf, blickte zu Valdimier und bewegte seine Schnauze dann zu seinen am Boden liegenden Kleidungsstücken.
"Jaja, ich vergesse sie schon nicht." Valdimier würde sich nie daran gewöhnen, mit einem Werwolf zu reden, wenn sich dieser gerade in seiner tierischen Gestalt befand. Irgendwie konnten da immer kleine Missverständnisse in der Kommunikation auftreten.
Hastig raffte er die Uniform seines Kollegen zusammen und folgte ihm, als er wieder auf die Strasse trat.

Eine wahre Flut von Gerüchen brach über Romulus herein und drohte ihn zu übermannen. Die ersten Sekunden nach der Verwandlung waren für die meisten Werwölfe immer sehr schwierig. Gerüche, von denen die menschliche Nase die meisten schon längst nicht mehr wahrnehmen konnte, erschienen in den verschiedensten Farben vor seinen Augen. Es war nicht einfach, die Fülle an Informationen auseinander zu halten. Jede Person um ihn herum brachte seinen persönlichen Geruch mit sich und auch die Umgebung selbst hatte ihre eigene Duftnote. Am stärksten war der Geruch nach verbranntem Fett und Fleisch des kleinen Imbisses, an dem er und Valdimier vorher was gegessen hatten. Mühsam bahnte er sich seinen Weg durch die Menschenmenge, immer auf seine Nase konzentriert. Die Personen um ihn herum schenkten ihm nicht viel Beachtung. Wahrscheinlich war er für sie nur einer der vielen streunenden Hunde, die sich in Ankh-Morpork herumtrieben. Konzentriert suchte er nach der Duftsilhouette, die er vor!
hin wahrgenommen hatte. Und tatsächlich, kurze Zeit später fand er sie. Auch wenn sie nun stärker war, blieb sie immer noch sehr schwach. Doch sie war da. Er konnte sie ganz genau sehen. Wie ein feiner goldener Rauch lag sie zwischen den restlichen Gerüchen und deutete ihm den Weg, den er nehmen musste, um zu dem Ursprung des Geruches zu gelangen. Er drehte seinen Kopf und schaute zu Valdimier hoch. Der Wächter stand direkt neben ihm und beobachtete ihn. Romulus knurrte kurz und stellte kurze Zeit später zufrieden fest, dass sein Kollege es richtig gedeutet hatte. Sein Blick ging nach vorne und wanderte suchend durch die Menschenmenge. Langsam schritt Romulus weiter. Immer der Fährte nach, die stetig stärker wurde. Sie näherten sich ihrem Ziel. Es konnte nicht mehr weit von ihnen entfernt sein. Plötzlich erklang neben ihm ein lauter Schrei.
"STADTWACHE ANKH-MORPORK!! SOFORT STEHEN BLEIBEN!!"
Neben ihm rannte Valdimier los und stieß zwei Passanten beiseite, die ihm im Weg standen. Als sich die Sicht vor Romulus freigab, konnte er sehen, wem der Vampir folgte. Ungefähr fünf Meter vor ihnen schien ein Mensch wegzulaufen. Und die Nase des Werwolfes verriet ihm, dass er es war, von dem der Geruch aus Me Siks Dojo ausging. Sein Ziel deutlich vor Augen, hastete er los und nahm ebenfalls die Verfolgung auf.

"Aus dem Weg", rief Valdimier und versuchte, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Ohne Rücksicht zu nehmen stieß er Personen beiseite, die seiner Aufforderung nicht schnell genug nachkommen konnten. Die meisten reagierten darauf mit einem wütenden und Verwünschungen ausstoßenden Brüllen. Doch Valdimier achtete nicht auf sie. Für ihn war nur die Person vor ihm wichtig. Er konnte mit Sicherheit sagen, dass es sich dabei um einen Mann handelte. Als er ihn entdeckt und sich auf ihn zubewegt hatte, drehte sich dieser plötzlich um und ergriff die Flucht. Die Art, wie er ihn angesehen hatte, hatte den Wächter auf ihn aufmerksam gemacht. Als sich ihre Blicke trafen, wandte er schnell seinen Blick von ihm, nur um ihn kurze Zeit später wieder auf Valdimier zu richten. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum er dem Wächter ins Auge gefallen war. Etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass er den Verdächtigen schon einmal irgendwo gesehen hatte. Doch ihm wollte nicht einfallen wo.
Da vorne rennt der Mörder deines Lehrers, schoss es ihm durch den Kopf. Warum sollte er sonst die Flucht ergreifen?
Ein großer Schatten huschte plötzlich an ihm vorbei und schien ebenfalls hinter dem potentiellen Täter herzulaufen.
Gut, Romulus ist ihm auch auf den Fersen
Doch er konnte nicht mit ihm mithalten. Zum einem fehlte ihm dafür ein zusätzliches Paar Beine und zum zweiten war er bemüht, Romulus Uniform nicht Stück für Stück zu verlieren.

Der Abstand zwischen Romulus und dem Verfolgten verringerte sich immer weiter. Zwar gab er es nicht gerne zu, doch ihn ihm war der Jagdinstinkt erwacht. Dass es sich bei seinem Ziel um einen Menschen handelte, sorgte bei dem Werwolf aber auch für großes Unbehagen. Zwar wurde es von seinen Wolfinstinkten geschwächt, aber er nahm es deutlich wahr. Was sollte er tun, wenn er sein Ziel erreicht hatte? Beißen kam nicht in Frage. Er konnte nur versuchen, den Mann niederzureißen und dann so lange in Schach zu halten, bis Valdimier bei ihnen war.
Doch dazu sollte es nicht kommen.
Geschickt wich er einzelnen Passanten aus, die ihm im Weg standen und dem Verfolgten überrascht hinterher schauten. Plötzlich schlug der Unbekannte einen Haken und verschwand in einer Seitengasse. Romulus folgte ihm. Der Mann rannte weiter, doch eine Mauer, die sich einige Meter vor ihm erstreckte, machte ein Weiterkommen schier unmöglich. Zwar versuchte er, mit einem Sprung, die Oberkante zu erreichen, doch er schaffte es nicht und fiel zu Boden. Mühsam rappelte er sich wieder auf und starrte auf Romulus, der sich ihm langsam näherte. Er wich zurück und stieß mit dem Rücken an die Mauer. Seine Augen suchten panisch nach einer Fluchtmöglichkeit, di es jedoch nicht gab. Er hatte sich selbst in die Falle getrieben. Der Werwolf setzte zu einem tiefen Knurren an. Sein Gegenüber konnte ja nicht wissen, dass er Vegetarier war.

Einige Sekunden später erreichte auch Valdimier die Seitengasse und blieb überrascht stehen. Ein tiefes Gefühl der Genugtuung breitete sich in ihm aus, als er den Flüchtigen mit dem Rücken zur Wand stehen sah. Starr vor Angst blickte er auf Romulus, der knurrend vor ihm stand. Der Werwolf konnte anscheinend sehr überzeugend sein. Als er sich den potentiellen Täter genauer anschaute, erwachte wieder das Gefühl in Valdimier, dass er ihn nicht das erste Mal sah. Sein Gegenüber war ungefähr genauso groß wie er. Seinem schweißnassen Gesicht fehlte es an Farbe, was auf die Angst zurückzuführen war. Das kurze dunkelrote Haar ließ es sogar noch etwas bleicher aussehen.
"Sag ihm, dass er weg gehen soll", stammelte der Unbekannte ängstlich. "Ich habe nichts gemacht."
Als er die Stimme hörte, fiel bei Valdimier der Groschen. Er wusste wieder, wo er den Unbekannten schon einmal getroffen hatte. Und es gefiel ihm überhaupt nicht. Hätte der Vampir einen Puls gehabt, so wäre dieser schlagartig in die Höhe geschnellt.
"Du warst heute im Glücklichen Eber."
Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen.
"Was?", fragte sein Gegenüber verwirrt.
"Die Taverne, in der du heute warst", wiederholte Valdimier lauter. "Das war der glückliche Eber."
Wie in Trance warf der Armbrustschütze Romulus Uniform beiseite und zog seine Armbrust. Unter den ängstlichen Blicken des Verdächtigen legte er einen Bolzen ein und spannte die Waffe. Seine Gedanken rasten. Es konnte einfach kein Zufall sein, dass der potentielle Mörder seines Lehrers sich erst in der Taverne aufgehalten hatte, in der Lilith arbeitete und ihnen nun anscheinend hinterherspionierte.
"Du bist einer der Hartstein-Brüder, oder?", fragte er den Unbekannten, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
"Woher weißt du das?"
"Ein Einfaches ja hätte gereicht." Mit einem leisen Klicken rastete der Spannhahn der Pistolenarmbrust ein. "Welcher der beiden bist du? Siggi oder Bernhard?"
Er stellte sich neben Romulus, der noch immer bedrohlich vor dem Verdächtigen stand. Der Werwolf schaute kurz zu ihm hinauf und verzog das Schnauze. Doch Valdimier achtete nicht auf ihn. Er starrte weiter auf sein Ziel, die Armbrust fest umklammert. Er musste wissen, was dieser Kerl von ihnen wollte. Es konnte einfach kein Zufall sein.
"Si-Siggi", stotterte sein Gegenüber.
"Ok, Siggi." Valdimier wechselte die Armbrust von der einen in die andere Hand. "Ich frage dich direkt. Was hast du heute in der Taverne zu suchen gehabt? Und erzähl' mir jetzt ja nicht, dass du einfach nur einen trinken wolltest."
"Ich.. ich.. ich.." Siggi starrte panisch auf die Armbrust in den Händen des Wächters. Als rechnete er damit, dass eine Antwort sein Ableben bedeuten würde.
"Wird' s bald?", fauchte Valdimier ihn an.
Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, hob er die Armbrust und zielte auf ihn. Er wusste, dass ihn das in große Schwierigkeiten bringen konnte, doch es war ihm egal.
Siggis Augen weiteten sich.
"Was.. was hast du vor, Mann?", schrie er panisch auf und starrte auf die Bolzenspitze, die auf ihn zeigte.
"Beantworte meine Frage", erwiderte Valdimier mit lauterer Stimme. "Was hast du dort zu suchen gehabt?"
"Ich.. ich sollte sie be-beobachten."
"Wen?", wollte Valdimier wissen, obwohl er sich sicher war, die Antwort bereits zu kennen. Doch es war ein verzweifelter Funke Hoffnung, dass er sich vielleicht doch irrte. Aber die Antwort, die er hören sollte, machten diesen zunichte.
"Die Schülerin von Me Sik."
"Also hast du ihn umgebracht!", rief Valdimier wütend. "Du hast meinen Lehrer getötet!"
Instinktiv spannte sich Valdimiers Finger um den Abzug der Waffe.
Erneut mußte er an die letzten Worte des Achaten denken.
Ihr müsst meinen Tod rächen.
Doch der Impuls reichte nicht aus, um den tödlichen Bolzen abzufeuern.
"Ich hab' es nicht getan!", schrie Siggi voller Panik.
Der Gesichtsausdruck des Vampirs war ihm nicht entgangen.
"Wer war es dann??" Valdimier schrie ihm die Frage entgegen. "Und was wollt ihr von Lilith?"
"Be-be-be.." Siggi schluckte ängstlich. "Bernhard. Bernhard hat es getan."
"Dein Bruder?"
"Ja." Flehende Augen starrten Valdimier an. "Er hat Me Sik getötet, nicht ich. Ich schwöre es."
Die Position der Armbrust veränderte sich nicht. Noch immer zielte der Wächter auf das Herz seines Gegenübers. Obwohl seine Stimme etwas leiser wurde, hallte sie schrill durch die Gasse.
"Und wo ist er jetzt?"
"Im Glücklichen Eber."
Valdimiers Magen verkrampfte sich. Der Mörder seines Meisters hielt sich in der Nähe von Fräulein von Ankhbach auf. Als würde ihn eine innere Kraft kontrollieren, stürmte er auf den ängstlichen Siggi zu und packte ihm am Kragen. Der Mensch jaulte kurz auf, als er die Bolzenspitze spürte, die ihm gegen den Bauch gedrückt wurde.
"Warum verfolgt ihr uns?", zischte Valdimier, obwohl er die Antwort schon zu wissen glaubte. Doch er wollte es von Siggi selbst hören. Seine Blicke durchbohrten das angstverzerrte Gesicht seines Gegenübers. Der junge Mann war nicht in der Lage zu antworten. Japsend rang er nach Luft und starrte in die Augen des Vampirs.
"Ich warne dich. Machs Maul auf oder ich..."
"Das reicht jetzt, Valdimier."
Romulus trat in Menschengestalt hinter den Vampir. Er musste einen geeigneten Platz gefunden haben, an dem er sich wieder zurückverwandeln und dann schnell seine Uniform anlegen konnte. Beruhigend legte er seine Hand auf die Schulter des Vampirs.
"Gib mir die Armbrust", sprach er auf seinen Kollegen ein.
"Vergiss es", erwiderte Valdimier, ohne seinen Blick von Siggi zu nehmen. "Erst will ich eine Antwort von ihm haben."
"Dann steck' die Armbrust weg", erwiderte Romulus. Der Tonfall seiner Stimme hatte sich verschärft. "Ehe noch etwas passiert."
Doch Valdimier reagierte nicht auf die Worte des Ermittlers. Er hielt Siggi Im Genick gepackt und starrte weiter auf ihn ein. Etwas in seinem Kopf forderte ihn auf, abzudrücken. Dieser Mann war für den Tod von Me Sik verantwortlich und nun waren er und sein Bruder auch hinter Lilith her.
"Tot bringt er uns überhaupt nichts", erklang die Stimme des Ermittlers hinter ihm.
Valdimier schloss die Augen. Ein kurzer Augenblick der Stille verging, nur von den hastigen Atemzügen Siggis übertönt. Plötzlich ließ er den Kragen des Mannes los und wandte sich von ihm ab. Ein kurzer undefinierbarer Laut entwich seiner Kehle. Er stolperte ein paar Schritte nach vorne und blieb stehen. Benommen schaute er auf die Armbrust in seiner Hand und ihm wurde klar, was beinahe passiert wäre. Mit zittrigen Fingern nahm er den Bolzen aus der Waffe und betätigte den Abzug. Mit einem leisen Knall sprangen die Sehnen wieder in ihre normale Stellung zurück.
"Alles in Ordnung?", fragte Romulus.
"Frag ihn, was Bernhard in der Taverne will", antwortet der Armbrustschütze leise, ihm den Rücken zugewandt. "Was will er von Lilith?"
Angespannt beobachtete der Ermittler seinen Kollegen. Doch der stand einfach nur regungslos da und tat nichts.
"Also, Herr Hartstein", wandte er sich schließlich wieder an Siggi, beobachtete Valdimier aber aus dem Augenwinkel. "Ich würde Sie bitten, die Frage meines Kollegen zu beantworten."
Siggi war mit einem lauten Seufzen auf die Knie gefallen und starrte zu Boden. Seine Beinahebegegnung mit dem Schnitter hatte ihn die letzte Kraft gekostet. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis er wieder die Fassung gewann. Seine leise Stimme klang sehr erschöpft.
"Es ist alles Bernhards Schuld. Er konnte Me Sik einfach nicht verzeihen, dass er uns nicht mehr als seine Schüler haben wollte. Deswegen hat er ihn auch ermordet."
"Das haben Sie uns ja schon erzählt", erwiderte Romulus. "Das erklärt aber immer noch nicht, was das mit meinem Kollegen und Fräulein von Ankhbach zu tun hat."
Siggis Blick war noch immer auf den Boden gerichtet. Seine Stimme klang so, als würde er mehr zu sich selbst als zu den Ermittlern sprechen.
"Wissen Sie, er wollte einfach nicht wahrhaben, dass es vorbei war. Er hat einen unglaublichen Hass auf Me Sik und seine neuen Schüler entwickelt. Es sollte niemanden zukommen, was ihm nicht gewährt wurde."
Romulus bemerkte, wie Valdimier zusammenzuckte, als er diese Worte hörte. Seine eigene Anspannung wuchs. Er musste jeden Augenblick damit rechnen, dass sich der Vampir wieder auf den Verhafteten stürzen würde.
"Wollen Sie mir damit sagen, dass Bernhard auch vorhat, die neuen Schüler von Me Sik zu töten?"
Siggi nickte stumm.
"Wie sieht Dein Bruder aus?", fragte Valdimier, den diese Antwort in seinen Befürchtungen bestätigt hatte.
Ängstlich hob Siggi seinen Kopf und schaute zu Romulus hoch.
"Ich kann doch nicht meinen Bruder verraten!"
"Du solltest lieber damit anfangen", erklang Valdimiers Stimme.
"Hör zu", erwiderte Romulus, ohne auf Valdimiers Kommentar einzugehen. "Wenn der jungen Frau etwas zustößt, wird das auch für dich sehr schwere Konsequenzen haben. Noch kannst du deinen Hals aus der Schlinge ziehen."
"Ich..ich..ich..", stammelte Siggi.
Romulus bemerkte, wie sich Valdimier umdrehte.
"Tut mir leid, Romulus, aber dafür fehlt uns die Zeit", erklärte der Armbrustschütze entschlossen. "Du weißt, wo du mich finden kannst."
Ehe der Ermittler etwas erwidern konnte, hatte sich der Vampir mit einem leisen *PLOP* in eine Fledermaus verwandelt und war davon geflogen.
"Verdammt", knurrte Romulus. "Hoffentlich macht er es nicht noch schlimmer."

***


Du hättest ihn beinahe umgebracht!
Während er mit hoher Geschwindigkeit über die Stadt flog, dachte Valdimier entsetzt an das gerade eben passierte Geschehen zurück. Wäre Romulus nicht plötzlich aufgetaucht, hätte er Siggi erschossen. Er hätte ihm in blanker Wut einfach einen Bolzen zwischen die Augen gejagt, obwohl er geahnt hatte, dass er nicht der Mörder war.
Reiß dich zusammen. Verliere nicht die Nerven, versuchte er, sich zu beruhigen. Es wird ihr nichts passieren.
Der Vampir erhöhte die Geschwindigkeit. Dieser Bernhard musste ein regelrechter Püschopath sein, um solch einer Philosophie zu folgen. Er hoffte aufs Inständigste, dass er nicht zu spät kommen würde. Langsam legte sich der Nebel der Wut in seinem Kopf und ließ ihn zumindest teilweise wieder klar denken. Er musste zu Lilith. Er musste sie in Sicherheit bringen. Doch wie sollte er das machen? Er konnte nicht einfach in die Taverne stürmen und sie dort herausholen. Es würde zu gefährlich für Lilith und die anderen Gäste werden. Was wäre, wenn Bernhard die Beherrschung verlieren würde und einen letzten, verzweifelten Versuch unternahm, um seine Rache durchzuführen?
Die Taverne hat doch sicher eine Hintertür, kam es Valdimier in den Sinn. Du kannst sie da' raus bringen
Doch nach einigem Überlegen, ließ er auch diesen Plan fallen. Bernhard würde sicher Verdacht schöpfen, wenn Lilith plötzlich verschwand. Das Risiko, dass er dann flüchten konnte, war zu groß. Valdimier musste sicher gehen, dass sie ihn schnappten.
Nein, ging es ihm durch den Kopf. Noch weiß er nicht, dass du ihm auf der Spur bist.
Man musste nur das Überraschungsmoment richtig nutzen.
Er versuchte sich zu konzentrieren.
Denk nach, denk nach, denk nah...
Kurze Zeit später traf er eine Entscheidung. Er hoffte, dass es nicht zu spät war.

***


Später

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er alleine in der Seitengasse war, klopfte Valdimier an die Hintertür der Tavernenküche. Sekunden später ertönte eine gedämpfte Stimme auf der anderen Seite der Tür, die dann auch sofort schwungvoll geöffnet wurde.
"Na endlich. Wurde auch Zeit, dass das neue Eberfleisch... Wer sind Sie denn?"
Ein dicklicher Mann stand vor dem Vampir und schaute ihn verwundert an. Eine große Kochmütze, die schief zur Seite hing, befand sich auf seinem Kopf.
"Mein Name ist Valdimier van Varwald und wie Sie sehen können, gehöre ich zur Stadtwache von Ankh-Morpork", erklärte der FROG betont freundlich. "Es ist von außerordentlicher Dringlichkeit, das ich sofort mit Lilith von Ankhbach spreche."
"Wieso gehst Du dann nicht einfach vorne rein?"
"Es ist sehr wichtig, dass man mich nicht zusammen mit ihr sieht", erwiderte der Wächter mit erzwungener Gelassenheit. "Wenn Sie mich bitte' reinlassen würden?"
Widerwillig trat der Koch beiseite.
"Na gut. Aber mach' ja keinen Ärger. In der Küche bin ich der Chef."
"Sicher sind Sie das!", antwortet Valdimier augendrehend.
Der Duft nach Essen drang ihm in die Nase, als er die Küche betrat.
"Bevor Sie sich wieder an die Arbeit machen", wandte er sich an den Koch, der sich gerade an seinen Herd stellen wollte. "Könnten Sie bitte noch Fräulein von Ankhbach für mich rufen? Aber so, dass es nicht ungewöhnlich wirkt. "
"Und warum das?"
"Es zu erklären, würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen."
Valdimiers Geduld ließ langsam nach. Er wusste zwar, dass es Lilith gut ging, doch er wollte keine unnötige Zeit verlieren.
Der Koch brummte etwas von "Ich hab' eh schon keine Zeit" und "verdammte Wache", kam aber dem Wunsch des Wächters nach. Er öffnete die Tür, die in den Tavernenraum führte.
"Lilith, kommst du bitte mal kurz? Es gibt hier noch ein paar Gerichte, die serviert werden müssen."
Nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, schaute er Valdimier erwartungsvoll an.
"Gut so; Herr Wächter?"
"Ja, danke."
Erneut brummte der Koch etwas, was Valdimier diesmal aber nicht verstand und wandte sich wieder seinem großen Herd zu. Einen kurzen Moment später kam Lilith durch die Küchentür gelaufen. Auch wenn er schon gewusst hatte, dass es ihr gut ging, löste ihr Auftauchen doch eine Erleichterung in dem Vampir auf.
"Ich dachte es würde noch dauern, Anton, bis... Oh!" Überrascht bemerkte sie Valdimier. "Herr van V..." Sie brach ab, als sie den Finger sah, den sich Valdimier an die Lippen hielt und ihr so zu verstehen gab, dass sie lieber schweigen sollte. "Stimmt etwas nicht?"
Er trat näher an sie heran und sprach möglichst leise, damit der Koch sie nicht hören konnte.
"Es tut mir leid, Sie so zu überfallen. Aber Sie befinden sich in großer Gefahr."
"Was?" Die Augen der jungen Frau weiteten sich. "Was meinen sie damit?"
Der Wächter erzählte ihr grob, wie er und Romulus Siggi stellen konnten, und was er ihnen über seinen Bruder und dessen Plan erzählt hatte. Das dabei beinahe sein Temperament mit ihm durchgegangen war, ließ er natürlich unerwähnt.
"Oh nein!" Erschrocken hielt sich Lilith die Hand vor dem Mund. "Er will uns beide umbringen?"
"Ja", erwiderte Valdimier, der etwas überrascht war, dass sie nicht er will mich umbringen gefragt hatte. "Aber das wird ihm nicht gelingen."
"Was haben Sie vor?", fragte Lilith. Die Aufregung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
"Ich habe einen Plan, aber dafür bräuchte ich Ihre Hilfe."

***


Wenige Minuten später betrat der leichte Armbrustschütze die Taverne durch die normale Eingangstür. Im Vergleich zu seinem früheren Besuch waren erheblich mehr Gäste anwesend, und es herrschte eine ganze normale Atmosphäre, wie man sie von einer normalen Taverne erwarten würde. Aufgeregt wurde sich an manchen Tischen unterhalten, während man sich woanders einfach nur sein Essen schmecken ließ. Von Lilith fehlte jede Spur. Nur Katrin lief zwischen den Tischen herum und versuchte, den Wünschen der Gäste entgegenzukommen.
Zielstrebig ging Valdimier an den Tresen. Wie immer stand Klaus, der Wirt, dahinter und versuchte, seine Gläser auf Hochglanz zu polieren.
"Kann ich Ihnen helfen, Herr Wächter?", wurde er von Klaus gefragt, als er den Tresen erreichte. Wieder hatte er diesen misstrauischen Blick, den Valdimier schon zuvor bei ihm gesehen hatte. Langsam beschlich ihn das Gefühl, dass er ihn nicht leiden konnte.
"Nein, danke", antwortete Valdimier. "Ich warte nur auf jemanden."
"Aha, und auf wen?"
Valdimier verzichtete darauf, eine Antwort zu geben. Er musste es auch nicht. Sein Blick glitt zur Küchentür, als diese sich öffnete und Lilith heraustrat. Zielstrebig ging sie auf ihn zu. Valdimier gefiel die ganze Sache überhaupt nicht. Es blieb ein gewisses Restrisiko und er hatte sie mehrmals darauf hingewiesen, dass sie nicht mitmachen musste. Doch sie hatte darauf bestanden. Sie wollte nicht zulassen, dass Me Siks Mörder entkommen konnte. Jetzt gab es also kein Zurück mehr.
"Ah, da bist du ja", rief er leise und hielt ihr seinen Arm hin.
"Ja", antwortet Lilith und hakte sich bei ihm ein. "Können wir?"
"Wann immer du willst."
Ein leises Klirren erklang neben ihnen. Klaus hatte sein Glas fallen gelassen, das nun in vielen Scherben verteilt auf dem Tresen lag. Doch Valdimier schenkte dem keine Beachtung. Ein leichter Hauch von Entsetzten war auf Klaus Gesicht zu sehen, als er Lilith und Valdimier anstarrte. Er reagierte auch nicht, als Lilith ihn ansprach.
"Ich mache dann jetzt Pause, Klaus."
Die ausbleibende Reaktion des Wirtes ließ Lilith zu Valdimier schauen und mit den Schultern zucken.
"Klaus?"
"Häh?" Der Wirt schien langsam wieder seine Umgebung wahrzunehmen. "Was ist?"
"Ich mach jetzt meine Pause", wiederholte Lilith. "In einer halben Stunde bin ich wieder da." Sie blickte wieder zu Valdimier. "Gehen wir."
Von Klaus' ungläubigen Blicken verfolgt gingen die beiden zur Tür. Valdimiers Blick sah zu Katrin. Auch sie schien ziemlich überrascht zu sein und ließ beinahe ihr Tablett fallen, als sie die beiden sah.
"Ich glaube, sie müssen nachher etwas Erklärungsarbeit leisten", flüsterte Valdimier leise zu Lilith, als sie die Taverne verließen.
"Ach, die beiden haben einen kleinen Schock verdient", erwiderte sie.
Einen kurzen Augenblick später standen zwei Gäste von ihren Plätzen auf und verließen ebenfalls das Lokal.

Inmitten der ganzen Anspannung fühlte sich Valdimier etwas euphorisch in der Magengegend. Es hatte schon etwas, dass er mit der Frau, auf die er ein Auge geworfen hatte, jetzt Arm in Arm durch die Gegend spazierte, wenn auch nur um sie zu schützen.
"Wir gehen jetzt einfach weiter gerade aus", erklärte er Lilith.
"Ok", antwortete sie. "Glauben Sie, dass er uns verfolgt?"
Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis der Vampir antwortete.
"Ja, das tut er." Er schaute zu ihr. "Aber machen Sie sich keine Sorgen. Gleich ist es vorbei."
Gemeinsam gingen sie weiter, als Valdimier sie plötzlich wieder anredete. Doch sein Blick war nach vorne gerichtet, als würde er nach etwas Ausschau halten.
"Hören Sie mir jetzt gut zu. Ich zähle gleich bis drei. Bei drei möchte ich, dass Sie sich hinter mich stellen. Ok?"
Lilith nickte.
"Ok."
Sie gingen noch ein paar Schritte. Lilith spürte, wie sich der Arm des Vampirs langsam anspannte.
"Passen Sie auf", sagte er plötzlich. "Gleich geht's los."
Lilith löste vorsichtig den Griff um den Arm des Vampirs.
"Eins."
"Zwei."
"Drei!!"
Valdimier wirbelte herum und zog seine Armbrust, die schussbereit unter seinem Umhang hing. Gute vier Meter vor ihm tauchte sein Ziel auf. Bernhard von Hartstein. Ehemaliger Schüler und Mörder von Meister Me Sik. Valdimier zielte auf ihn. Doch es war nur von kurzer Dauer. Denn wie aus dem Nichts waren drei Wächter in grüner Uniform aus einer Seitengasse gestürmt und hatten sich auf den überraschten Verfolger geworfen.
"ARGH, ihr miesen Schweine", brüllte Bernhard. "Lasst mich gefälligst los!!"
"Das hättest du wohl gerne", rief einer der Wächter. Der Stimme nach war es eine Frau. "Du bleibst schön da liegen."
Bernhard versucht sich von den Wächtern loszureißen, doch er schaffte es nicht. Auch wenn ihm Me Sik sicher schon die eine oder andere Technik beigebracht hatte. Gegen die drei Wächter hatte er keine Chance.
"Passen Sie auf", rief Lilith plötzlich, die die Verhaftung gebannt beobachtete. "Da hinten ist jemand mit einer Armbrust."
Sie zeigte auf einen jungen Mann, der von hinten auf die Wächter zueilte. In einer seiner Hände hielt er eine kleine Pistolenarmbrust.
"Keine Sorge, das ist Sidney", beruhigte Valdimier sie. "Er ist einer von uns."
Sidney stürzte sich regelrecht in das Getümmel und half seinen Kollegen, den Täter zu überwältigen.
"Ich mach Euch alle kalt", brüllte Bernhard. "Lasst mich gefälligst los."
"Wenn das so weiter geht, müssen wir ihn noch knebeln", erwiderte Kanndra, die einer der Wächter in Uniform war.
"Braucht ihr Hilfe?", rief Valdimier.
"Neinein", erwiderte Sidney. "Du durftest schon die Frau retten. Lass' uns auch etwas Spaß."
Valdimier lachte kurz. Sein Kollege schien sich wieder ganz in seinem Element zu befinden. Mit der Gewissheit, dass sie die Lage unter Kontrolle hatten, steckte er die Armbrust wieder weg und drehte sich zu Lilith. Die Erleichterung in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen.
"Alles in Ordnung bei Ihnen?", fragte er sicherheitshalber.
Sie schaute zu ihm auf.
"Ja, mir ist nichts passiert."
Zufrieden wandte sich Valdimier wieder seinen Kollegen zu. Bernhard lag bäuchlings vor ihnen auf dem Boden und Sidney war gerade dabei, die Fesseln um die Handgelenke des Täters enger zu ziehen. Bernhard schien die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannt zu haben und wehrte sich nicht mehr. Auch sein Brüllen hatte er eingestellt.
Nachdem man ihn sorgfältig verschnürt hatte, durchsuchte Mindora ihn noch nach versteckten Waffen.
"Ihr beiden habt da drinnen ja eine schöne Vorstellung abgeliefert", kam Sidney, mit einem dicken Grinsen auf seinem Gesicht, auf Valdimier und Lilith zu. "Kaum wart ihr draußen, ist er aufgesprungen und hat fast fluchtartig die Taverne verlassen."
"Sie waren da?", fragte Lilith verwundert.
"Jap." Der Werwolf deutete zu Valdimier. "Als er im Wachhaus angekommen war und uns erzählt hat, was Sache war, bin ich sofort hierher gekommen. Sozusagen, um ein bisschen auf Sie aufzupassen."
"Auch wenn Bernhard ziemlich verrückt zu sein scheint, konnte ich mir nicht vorstellen, dass er versuchen würde, sie direkt in der Taverne anzugreifen", erklärte Valdimier weiter. "Aber wir wollten auf Nummer sicher gehen."
Sidney lachte hämisch.
"Hätte er 'was versucht, hätte ich ihn schon aufgehalten."
"Und danach hätten sie die Taverne renovieren können", erwiderte Valdimier scherzhaft.
Jetzt, wo alles vorbei war, fiel die Anspannung langsam von ihm ab.
"Machen Sie mal Platz da vorne. Stadtwache Ankh-Morpork", erklang plötzlich die Stimme von Araghast Breguyar von irgendwoher.
Erst jetzt realisierte Valdimier die Menschenmenge, die sich um ihn und die Wächter gebildet hatte. Schaulustige schauten interessiert den Wächtern zu, wie sie sich um Bernhard kümmerten und ihn auf den Abtransport vorbereiteten.
"Ich sagte, Platz da vorne", wurde die Stimme des Abteilungsleiters lauter.
"Hey, vorgedrängelt wird nicht", erwiderte eine andere unbekannte Stimme. "Autsch!!"
Kurze Zeit später zwängte sich Bregs in einer Lücke durch die Menge hindurch und schaute wieder zurück.
"Das nächste Mal hören Sie gefälligst auf das, was die Wache sagt!", rief er wütend in die Gruppe. "Dann bleiben auch die Zehen heil."
Ein leises Murren ging durch die Gruppe von Schaulustigen, doch Bregs kümmerte sich nicht weiter darum. Zufrieden betrachtete er das Ergebnis der geglückten Festnahme.
"Er hatte sich etwas weiter vor uns auf der anderen Straßenseite positioniert und mir mit Handzeichen gezeigt, dass Bernhard hinter uns war und wann die Falle zuschnappen würde", erklärte Valdimier Lilith.
"Und es hat alles vorzüglich geklappt", fügte Araghast händereibend hinzu, als er auf die beiden zukam. "Und du hast diesmal niemanden erschossen. Nicht schlecht."
Valdimier verzog das Gesicht und schaute Bregs böse an. Auf diese Propaganda konnte er in Liliths Gegenwart sehr gerne verzichten. Mit einem gezwungen wirkenden Lächeln schaute er zu ihr. Er wollte ihre Reaktion auf Bregs Kommentar sehen. Doch sie schaute nur interessiert zu dem Abteilungsleiter.
Sie wird doch wohl nicht etwa?
"Wie meinen sie dass Herr Breguyar?", fragte sie neugierig.
Valdimier bedachte Bregs mit einem Sag-jetzt-ja-nichts-Falsches Blick, als dieser zu einer Antwort ansetzte.
"Sagen wir es mal so. Seinen letzten Einsatz hat er zwar erfolgreich abgeschlossen, doch die damaligen Bösen weilen nicht mehr unter uns."
"Verstehe", erwiderte Lilith trocken.
"Es blieb mir keine andere Wahl", versuchte sich Valdimier aus der misslichen Lage zu bringen.
"Sie hatten sicher Ihre Gründe", beruhigte ihn Lilith und lachte leise. "Jeder Kriminelle muss damit rechnen, dass es ihn früher oder später einmal erwischt." Ihr Blick fiel wieder auf Bernhard, der gerade von den anderen Wächtern abgeführt wurde und ihr Tonfall erlangte etwas Bitternis. "Der und sein Bruder haben einfach nur Glück gehabt."
"Besonders großes Glück, in Anbetracht der Tatsache, daß Valdimier in der Nähe war", erklärte Araghast grinsend.
Diese Antwort konnte er sich einfach nicht verkneifen.

***


Später am Abend im Wachhaus

Valdimier saß wieder zusammen mit Romulus im Büro des Ermittlers und beide waren gerade dabei, ihre Berichte fertig zu schreiben. Valdimier überflog gerade das Protokoll des Verhörs der Brüder. Besser gesagt war es nur Siggi gewesen, der den Wächtern bereitwillig Rede und Antwort gestanden hatte. Wahrscheinlich hatte er erkannt, dass es für ihn das beste war, mit ihnen zu kooperieren. Anders war es bei Bernhard gewesen. Eisern hatte er geschwiegen, als man ihn über den Tatvorgang befragt hatte. Doch sie brauchten sein Geständnis nicht. Siggis Aussage belastetet ihn schwer. Es war wirklich Bernhard gewesen, der Me Sik ermordet hatte. Siggi gab zwar zu, am Anfang ebenfalls sehr sauer auf Meister Me Sik gewesen zu sein, doch er hätte nie vorgehabt, ihn zu töten. Der Achate hatte sie wirklich wegen einer Schlägerei mit zwei wildfremden Leuten auf offener Strasse aus dem Kurs geworfen. Auf die Frage, warum sie sich geprügelt hatten, antwortete er, dass sie einfach nur ihre erlern!
ten Fähigkeiten ausprobieren wollten. Doch sie hatten schnell gelernt, dass sie noch nicht weit genug waren. Kurz gesagt: Sie haben ziemlich übel eine verpasst bekommen. Umso wütender waren sie, als ihr Meister sie vom Training ausgeschlossen hatte. Nun hatten sie keine Möglichkeit mehr gehabt, es den anderen zu zeigen. Als Me Sik dann auch noch zwei neue Schüler aufgenommen hatte, war Bernhard total ausgerastet. Auf einmal war er von der Idee besessen gewesen, Me Sik zu erledigen. Aus Rache an seinem Verrat. Siggi beteuerte den Wächtern, dass er von Anfang an dagegen war, doch sein Bruder hätte ihn regelrecht dazu gezwungen.
"Warum sind Sie denn nicht zur Wache gegangen?", hatte Romulus ihn bei dem Verhör gefragt.
Siggi gestand, dass er seinen Bruder niemals verraten könnte. Er hätte aber alles versucht, ihn von der Tat abzubringen, doch er hatte keine Chance gehabt.
So kam es, dass sie dann an dem bewußten Tag mit einer Armbrust bewaffnet in das Dojo von Me Sik gegangen waren. Als sie ihn in seinem Trainingsraum fanden, war der Achate gerade in eine seiner Meditationsübungen vertieft gewesen. Siggi hatte noch versucht, mit ihm zu reden, doch der Lehrer reagierte nicht auf ihn. Sie wussten nicht warum aber Bernhard war der felsenfesten Überzeugung gewesen, dass er sie so verhöhnen wollte. Und dann hatte er ihn in den Rücken geschossen.
"Und der Achate hat nichts versucht, um seinen Tod zu verhindern?", hatte Romulus nachgefragt.
"Nein", war Siggis Antwort gewesen. "Nur als der Bolzen ihn traf, sprang er auf, klappte aber sofort wieder zusammen."
Dann hatten sie auf schnellstem Wege das Dojo verlassen.
Valdimier blickte von seinem Bericht auf und schaute zu Romulus.
"Ich sage dir, wenn Me Sik nicht gerade am Meditieren gewesen wäre, hätte er den beiden mächtig den Arsch versohlt."
Romulus nickte verständnisvoll mit dem Kopf.
"Eine Schande, so zu sterben."
Siggi war überrascht gewesen, als er von Valdimier erfahren hatte, dass Me Sik nicht auf der Stelle tot gewesen war. Auf ihn hätte er einen sehr toten Eindruck gemacht, erzählte er ihnen. Er hatte auch gehofft, dass Bernhard nach der Tat endlich zufrieden war. Doch sein Bruder war auf einmal von der Idee besessen gewesen, auch das ganze Wissen Me Siks zu vernichten. Das bedeutete für ihn, dass er auch die Schüler des Achaten töten musste. Eigentlich wollte er es noch in derselben Nacht tun, doch ihnen fehlte es an dem nötigen Werkzeug, um einen Vampir zu töten.
Valdimier griff nach einem bestimmten Dokument. Es war die Liste der Waffen, die man bei Bernhards Verhaftung beschlagnahmt hatte. Neben einer Armbrust die laut Jack ziemlich sicher die Mordwaffe war, hatte er noch einen Holzpflock und ein heiliges Symbol bei sich gehabt.
Wie ein kleiner Möchtegernvampirjäger, dachte sich Valdimier.
Da die beiden Lilith und ihn schon beobachtet hatten, seitdem sie wussten, dass sie die neuen Schüler Me Siks waren, kannten sie natürlich den Ort, wo sie wohnten.
Valdimier fragte sich, wie er sie die ganze Zeit hatte übersehen können.
Eigentlich sollte Siggi auf Lilith aufpassen, während sich Bernhard an Valdimier heftete. Sie hatten sich vorgenommen, Valdimier als ersten zu erledigen und wollten eigentlich nur noch auf einen günstigen Moment warten, in dem sie das tun konnten. Doch als der Vampir plötzlich in der Taverne aufgetaucht war, in der Lilith arbeitete, hatte es Siggi mit der Angst zu tun bekommen und war abgehauen. Da er sich dann aber nicht mehr da drinnen blicken lassen konnte, hatte er mit Bernhard getauscht. Doch dann wurde er entdeckt.
Valdimier lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Auch wenn sie den Fall erfolgreich abgeschlossen hatten, blieb doch ein bitterer Nachgeschmack übrig.
"Weißt du, was mich an der ganzen Sache stört?", fragte er Romulus.
Der Werwolf schaute von seinem Bericht auf.
"Nein, was?"
"Wir haben unglaubliches Glück gehabt", erwiderte der Vampir. "Hättest du nicht plötzlich die Fährte der Räucherstäbchen wahrgenommen, wären wir vielleicht nie auf die Spur der beiden gekommen. Was wäre gewesen, wenn sich die Prügelei doch ganz woanders zugetragen hat?"
Nickend stimmte ihm der Ermittler zu.
"Ja. Doch wir haben sie, und das ist alles, was zählt."
Valdimier erwiderte nichts. Sei Kollege hatte Recht. Die Täter befanden sich nun hinter Gittern und doch fühlte Valdimier eine Leere in sich, die er nur schwer definieren konnte.
"Du hast dich richtig entschieden zurückzukommen, um Verstärkung zu holen", sprach Romulus nach einer kurzen Zeit des Schweigens. "Das war der richtige Weg."
"Ich weiß", antwortet Valdimier geistesabwesend. "Wie auch immer, ich entscheide ich mich 'mal den Heimweg anzutreten."
Mit einem leisen Knarren rückte er seinen Stuhl zurück und stand auf. Schnell raffte er die Unterlagen zusammen und schob sie in den Aktenordner, den er dann Romulus übergab.
"Mein Bericht ist soweit fertig."
"Danke." Der Werwolf verstaute die Akte ihn einer seiner Schreibtischschubladen. "Und, wie hat Dir Dein Einsatz als Ermittler gefallen? War doch mal was anderes."
Doch Valdimier winkte ab.
"Na ja, war mal etwas Abwechslung, aber ich bleib' lieber bei meiner jetzigen Aufgabe. Das liegt mir mehr." Er zwinkerte dem Ermittler zu. "Gute Arbeit übrigens."
Er wandte sich von Romulus ab und ging zur Bürotür. Doch ehe er auf den Flur trat, schaute er noch einmal zu seinem Kollegen.
"Wir sehen uns dann morgen."
"Ja, ich denke, ich werde hier auch nicht mehr lange machen."
"Und danke noch mal."
"Wofür?", fragte Romulus überrascht.
"Ich denke, du weißt, wofür."
Mit diesen Worten verließ Valdimier das Büro. Doch er ging nicht sofort nach hause. Es gab noch etwas, was er zu erledigen hatte.

Wenige Minuten später stand er vor der Zelle von Bernhard Hartstein. Siggi lag auf einer der Pritschen in der Nachbarzelle und schien zu schlafen. Sein Bruder aber ging in seiner Zelle auf und ab. Man hatte sie sicherheitshalber getrennt, da man davon ausgehen konnte, dass Bernhard nach dem Geständnis seinen Bruders nicht mehr sehr gut auf ihn zu sprechen war.
Als er den Wächter bemerkte, blieb er stehen. Sein schon vor Wut rotes Gesicht schien noch dunkler zu werden und ließ ihn wie eine überreife Tomate aussehen.
"Was willst Du denn hier?", keifte er.
Das ewige rumgeschreie bei seiner Verhaftung hatte seinen Tribut geforderte. Die Stimme des Mörders krächzte heiser und ließ ihn unbedrohlicher wirken, als er es sicherlich wollte. Durch die Stimme seines Bruders geweckt, richtet sich Siggi müde auf.
"Hö? Was'n los, Bernhard." Als er den Vampir sah, richtete er sich erschreckt auf. "Oh nein!"
"Keine Sorge", erwiderte Valdimier und schenkte ihm ein unschuldiges Lächeln. "Ich will nur mit deinem Bruder reden."
"Reden?", grollte Bernhard. "Was sollen wir schon mit dir zu bereden haben!"
Möglichst gelassen lehnte sich Valdimier an die Zellentür. Er musste ihn dazu bringen, näher zu kommen.
"Wisst ihr, ich möchte euch danken."
"Was?" Einen kurzen Augenblick war die Verunsicherung auf den Gesichtern der Brüder deutlich zu sehen. Doch Bernhard fing sich schnell wieder. "Willst du uns verarschen?"
Der Wächter schüttelte den Kopf.
"Keineswegs. Ich möchte euch nur danken, dass ihr uns die Ermittlungen so erleichtert habt."
Ehe die Gefangenen etwas sagen konnten, sprach er weiter. "Wisst ihr, ihr wäret mit dem Mord an Meister Me Sik einfach davongekommen. Wir wussten nur eure Namen, sonst nichts. Ihr habt in dem Dojo so gut wie keine Spuren hinterlassen. Ich frag mich zwar, wie ihr das zustande gebracht habt, aber es ist leider so."
Valdimier lachte verächtlich und schaute zu Bernhard.
"Ihr wärt freie Bürger gewesen, wenn du nicht auf diesen schwachsinnigen ich-bring-jeden-um-der-mit-Me-Sik-zu-tun-hatte Plan gekommen wärst. Aber es ist immer das gleiche mit euch Möchtegerngaunern. Am Ende bringt euch immer eure eigene Dummheit in den Knast."
Gebannt wartete Valdimier auf die Reaktion seines Gegenübers. Bernhard schnaubte vor Wut und schaute ihm direkt in die Augen. Langsam ging er auf ihn zu.
"Tu das nicht, Bernhard", stammelte Siggi von seiner Pritsche aus.
Doch sein Bruder hörte nicht auf ihn. Er näherte sich dem Wächter, bis nur noch das Zellengitter sie voneinander trennte. Genau da, wo Valdimier ihn haben wollte.
"Dein verdammter Lehrer war erst der Anfang, du Blutsauger. Wenn ich hier raus bin, dann..."
Ehe er weiter sprechen konnte, schoss plötzlich Valdimiers Hand durch die Gitterstäbe hindurch und umschloss seinen Hals. Ein kurzes Krächzen entglitt seiner Kehle, ehe er mit voller Wucht gegen das Gitter gezogen wurde. Er versuchte sich zu wehren, doch ihm fehlte die Kraft.
"Jetzt hörst du mir ganz genau zu, du kleiner mieser Haufen Dreck", sprach Valdimier leise und schaute ihm tief in die Augen. "Wenn es nach mir gegangen wäre, wären du und dein Bruder jetzt genauso tot wie Me Sik. Ihr könnt von Glück reden, dass wir uns niemals alleine gegenüberstanden."
Bernhard versuchte, etwas zu sagen, doch außer einem Röcheln kam nichts aus seiner Kehle. Einer der Querstäbe der Zellentür drückte auf seinen Hals und schnitt ihm so die Atemluft ab.
"Du und dein Bruder werdet eure restliche Zeit im Kerker des Patrizierpalastes verbringen, zusammen mit dem übrigen Abschaum der Stadt. Wenn du auch nur an Flucht denken solltest, werde ich da sein und deinem Leben ein schnelles Ende bereiten. Solltest du die Zeit im Kerker überleben und irgendwann wieder auf freiem Fuß sein, dann rate ich dir, dich von mir und Fräulein von Ankhbach fernzuhalten. Denn sonst werden dir Dinge passieren, die du dir nicht einmal in deinen schlimmsten Alpträumen vorstellen kannst." Er sah, wie Bernhards Gesicht langsam anfing, blau zu werden. "Merk' dir das gut."
Verächtlich stieß er den Gefangenen von sich weg. Siggi beobachtet entsetzt, wie sein Bruder zu Boden ging und röchelnd liegen blieb. Als er die Blicke des Vampirs auf sich ruhen sah, wich er entsetzt zurück.
"Und dir gebe ich einen guten Rat", zischte der Wächter verächtlich. "Du solltest dich von deinem Bruder fernhalten. Vielleicht hast du dann in deinem späteren Leben eine Chance."
Mit diesen Worten wandte er sich von ihnen ab und verließ den Zellenraum.
Tut mir leid, Meister, dachte er sich. Mehr ging nicht

***


Einige Tage später

Die Sonne war gerade dabei, langsam am Horizont zu verschwinden, als Valdimier den Glücklichen Eber erreichte. Zum letzten Mal strich er die Falten in seinem Anzug glatt und trat ein. Die Taverne schien auf dem ersten Blick gut besucht und er sah Lilith und Katrin mit Tabletts in den Hände durch die Tischreihen eilen. Wie es aussah, hatten sie gerade viel zu tun und Valdimier fragte sich, ob er einen falschen Zeitpunkt gewählt hatte. Er überlegte wieder zu gehen, doch dann bemerkte ihn Lilith und begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. An Rückzug war nun nicht mehr zu denken. Er nickte ihr freundlich zu und ging zum Tresen. Klaus, der Wirt, stand wie immer dahinter und putze ein paar Gläser.
"Na, Herr Wächter, heute nicht im Dienst?", fragte er ihn ruhig, ohne ihn anzuschauen.
"Dienstschluss", antwortete Valdimier knapp. "Ich hätte gerne ein Glas Wasser."
"Kommt sofort."
Wenige Sekunden später hatte Valdimier auch schon sein Getränk. Er nahm einen kurzen Schluck davon und war überrascht, dass es klar und nicht nach Spülwasser schmeckte. Lilith hatte ihm erzählt, dass Klaus nicht sehr begeistert von derTatsache war, dass er damals nicht informiert wurde, dass ein Mörder in seinem Hause zu Gast war und es auf eine seiner Bedienungen abgesehen hatte.
Einige Zeit später kam Lilith auf ihn zu.
"Guten Abend, Herr van Varwald."
"Guten Abend, Fräulein von Ankhbach."
Valdimier hoffte, dass sie sich nicht mehr lange auf diese steife Art begrüßen müssten.
"Ich will Sie auch gar nicht lange aufhalten. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass sich die Hartsteins nun für längere Zeit im Kerker des Patrizierpalastes aufhalten werden."
"Das sind gute Neuigkeiten", antwortete sie erleichtert.
"Ja", pflichtete der Vampir ihr bei. "Siggis Aufenthalt wird aber wesentlich kürzer ausfallen als der seines Bruders. Ich denke, dass er nicht ganz so schlimm ist."
Ihr Blicke trafen sich. Erneut verspürte Valdimier dieses leichte Kribbeln auf seiner Haut.
"Es gibt aber noch etwas, was mich zu Ihnen führt", sprach er vorsichtig weiter.
"Ja?", fragte Lilith.
Valdimier zögerte kurz.
"Könnten wir das vielleicht kurz woanders besprechen?" Er warf einen kurzen Blick auf Klaus, der sie immer noch nicht zu beachten schien.
"Sicher", antwortet Lilith und legte ihr Tablett beiseite.
Zusammen gingen sie ein paar Schritte und blieben neben einem unbesetzten Tisch stehen.
"Wissen Sie", begann Valdimier vorsichtig. "Jetzt, wo die ganze Aufregung vorbei ist, frage ich mich, ob sie nicht vielleicht einmal Lust auf ein Glas Wein oder Ähnliches hätten. Ich würde mich freuen, wenn ich Sie dazu einladen könnte."
Für einen kurzen Moment standen sie sich schweigend gegenüber.
"Natürlich nur, wenn Sie Lust dazu haben", fügte er hinzu.
Lilith lachte leise auf.
"Sehr gerne."
"Wirklich", fragte Valdimier überrascht.
Ganz tolle Reaktion. Stell dich doch noch blöder an
"Ja, wirklich", kicherte Lilith. Die Reaktion des Vampirs schien sie zu amüsieren.
"Nun, äh..." Unbeholfen trat er von einem Fuß auf den anderen. "Wann würde es Ihnen denn am besten passen?"
"Hmm.." Lilith tippte sich nachdenklich ans Kinn. "Ich hab' morgen früher Schluss. Passt es Ihnen um acht?"
Valdimier dachte gar nicht lange nach.
"Ja, denke schon."
"Gut."
"Ich störe die beiden ja recht ungern", erklang plötzlich wider die Stimme des Wirtes. "Aber es wäre schön, wenn du dich wieder um die Gäste kümmern würdest, Lilith."
"Oh..." Lilith blickte zum Tresen. "Natürlich, Klaus. Tut mir leid."
Der Wirt brummte etwas, was die beiden aber nicht verstanden.
"Ich muss dann wieder weitermachen", sagte sie zu Valdimier und reichte ihm die Hand.
"Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten", erwiderte der Vampir freundlich und erwiderte die Geste. "Wir sehen uns dann morgen."
"Ja, ich freue mich drauf."
"Ich auch."
Ihr Hände lösten sich von voneinander und ihm eine letzten Blick zuwerfend verschwand Lilith in der Küche. Hastig trank Valdimier sein Wasserglas aus, bezahlte und verließ die Taverne. Er ging ein paar Strassen entlang, ehe sich seine Faust dem dunklen Abendhimmel entgegen streckte.
"Jaaaaa!!", rief er aus vollem Halse heraus.
Wenige Sekunden später musste er einem Blumentopf ausweichen, der von einem Fenster in seiner Nähe geworfen wurde.
"Hey, du Penner!!", erklang eine aufgebrachte Männerstimme. "Was brüllst du hier am Abend noch so rum?"

ENDE

[1] Siehe Single "Darf's noch eine Axt mehr sein"

[2] Nämlich, indem sie nichts tat

[3] Wobei hier natürlich der Alkohol noch eine wichtige Rolle spielte.

[4] Allerdings ohne die Sache mit dem Gedächtnisverlust

[5] Das dabei allerdings ein Schaden entstand, der weit über 50 Cent lag, soll hier nicht unerwähnt bleiben.

[6] Siehe Single "Ewig währt am längsten"

[7] Wenn ein Mann einer Frau solch ein Angebot macht, so erhofft er sich in den meisten Fällen, dass er, bei der Wohnung angelangt, noch auf einen Kaffee eingeladen wird. Doch bei Valdimier war es die Besorgnis, dass sich Liliths Zustand irgendwie verschlechtern könnte und sie doch Hilfe brauchte. Im Moment gab es nun aber auch wirklich wichtigere Sachen als Kaffee trinken.

[7a] Es sei hier erwähnt, dass es sich dabei um die am häufigsten verwendete Art von Rachegeschichte handelte, in denen vom Helden nie Unschuldige getötet wurden. Es traf nur die, die es auch verdienten. Auch wenn sie nur vor vielen Jahren einen Bonbon aus einem Tante Emma Laden geklaut hatten.

[9] Da dies hier kein billiger Groschenroman ist[11] gab es keine nicht Jugendfreie Szenen

[10] Da es sich bei dem Glücklichen Eber um ein etwas vornehmeres Lokal handelte, wurden die Gläser dadurch sogar sauberer

[11] Zumindest hofft das der Autor

Zählt als Patch-Mission.



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

21.05.2005 14:53

Lob: Die Geschichte lebte von den Figuren und ihren Interaktionen. Dabei machte für mich die Mischung aus Außergewöhnlichem und, entgegen den Klischees, Durchschnittlichem den ganz besonderen Reiz aus. So war der Meister ganz und gar nicht abgeneigt, die Näherin zu konsultieren, wohingegen Fräulein von Ankhbach sich als Tavernenangestellte den Unterhalt verdient - verdienen muss? Es bleiben Geheimnisse, die neugierig stimmen. Dennoch wurde der Fall gelöst. Und natürlich bedeutet diese Bekanntschaft viel für van Varwalds Zukunft.

Kritik: Einige Wörter waren doppelt gesetzt, bzw. es war oft eine grammatikalisch falsche Form gewählt. (Was mich in diesem Fall aber nicht von einer sehr guten Wertung abbringen konnte. :wink: )

Von Romulus von Grauhaar

23.05.2005 15:32

Ich habe einen einzigen Kritikpunkt: Dadurch, dass nur ein einziger Verdacht besteht, der dann auch schlussendlich (wenn auch durch einen Zufall) zum Ziel führt, war die Spannung relativ früh raus.

Ansonsten eine sehr schöne Single, die mir viel Spaß beim Lesen bereitet hat.

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung