Deduktionen: Der da Quirm-Code

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von Hauptgefreiter Charlie Holm (SUSI)
Online seit 03. 05. 2005
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Alte Rätsel, ein Werk eines berühmten Genies, ein mysteriöser Orden und ein Geheimnis, das die Religionen der Scheibenwelt zu erschüttern droht... all das und noch viel mehr begegnet einem Hauptgefreiten, der eigentlich schon lange Feierabend machen wollte.

Dafür vergebene Note: 14

Anmerkung des Autors: Wie die vorige "Deduktionen"-Single ist auch diese zum Mitraten gedacht. In dieser Version der Geschichte stehen die Passagen mit den Lösungen als "Fußnoten" am Ende des Textes, damit man nicht beim Lesen versehentlich darüber stolpert.
Zweite Anmerkung des Autors: Zur Lösung der Rätsel ist nicht nur logisches Denken, sondern häufig auch eine Portion Scheibenkenntnis erforderlich!


Patrizierpalast, 15:05 Uhr: Prolog

Ja, er hatte einen Fehler begangen. Einen großen Fehler.
Immer wieder hatten ihm andere vorgehalten, er sei zu gutgläubig - immer wieder wies man ihn darauf hin, dass man alles als Waffe verwenden konnte, wenn man es nur wollte. Und jetzt...
Leonardo da Quirm stand von seinem Schreibtisch auf und blickte zur Decke seiner Werkstatt, von der die Modelle verschiedener Flugapparate herab hingen. Sollte er den Patrizier um Hilfe bitten?
Nein, entschied er sich. Wenn Vetinari herausfand, dass er einen Weg gefunden hatte, den Palast ungesehen zu verlassen, würde er etwas dagegen unternehmen - und in letzter Zeit hatte Leonardo seine kleinen Spaziergänge schätzen gelernt. Nicht, dass er etwas gegen die Abgeschiedenheit seiner Werkstatt einzuwenden gehabt hätte, aber hin und wieder überkam ihn dennoch der Wunsch nach einem unüberwachten Spaziergang an frischer Luft.
Nein, er würde das alleine in Ordnung bringen.
Erneut fiel sein Blick auf die Times, die vor ihm auf dem Tisch lag. Dieser seltsame rotäugige Priester war ihm wohl gefolgt - eine andere Erklärung gab es nicht. Sie hatten also die Papiere - aber wenn er Glück hatte, hatten sie das Verschlossene-Kästchen-das-man-nur-mit-einem-Passwort-öffnen-kann-und-dessen-Inhalt-sich-sonst-selbst-zerstört nicht gefunden, oder zumindest noch nicht entschlüsseln können. Er musste also schnell handeln.
Der Künstler und Wissenschaftler wandte sich zu seinem geheimen Tresor, zögerte dann jedoch.
Nein, den Schlüssel brauchte er nicht. Wenn sie das Versteck in seiner alten Werkstatt gefunden hatten, dann war der Schlüssel sowieso überflüssig - und wenn nicht, dann reichte es dennoch aus, einfach das Gerät selbst zu zerstören.
Wie ich es schon vor zwanzig Jahren hätte machen sollen, ergänzte er. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.
Und wenn du einem der Priester über den Weg läufst? Wenn dir etwas zustößt?
Leonardo griff nach einem Stift, um eine Nachricht zu hinterlassen. In diesem Fall würde Vetinari ihm schon helfen.
Vorsicht!, warnte seine innere Stimme. Du weißt nicht, was diese Leute für Möglichkeiten haben. Vielleicht wirst du die ganze Zeit von Offler oder seinen Priestern beobachtet - und gegen einen Gott helfen auch Vetinaris Fallen nicht. Wenn du aufschreibst, wo du hingehst, könntest du genau so gut gleich das Gerät vor den Offlertempel legen.
Das Genie zögerte kurz. Dann eben anders. Wie vielen genialen Personen war auch Leonardo eine gewisse Zerstreutheit nicht abzusprechen, und schon seit er zurückdenken konnte, hatte er die Angewohnheit gehabt, sich kryptische Notizen zu machen, um sich selbst an Orte oder Codes zu erinnern. Jetzt musste er nur noch einen Hinweis hinterlassen, um den Patrizier, wenn es denn zum Äußersten kam, auf die Spur eines dieser Zettel zu führen, den er hier in der Werkstatt versteckt hatte. Einen Hinweis, mit dem Priester und mäßig intelligente Götter nichts anfangen konnten - der aber jemanden mit Vetinaris Intelligenz sicher zu seiner geheimen Werkstatt führen würde.

Patrizierpalast, 19:20 Uhr

Hauptgefreiter Charlie Holm lauschte seinen eigenen Schritten und versuchte, die Orientierung zu behalten, aber es war zwecklos. Zu oft war er um seine eigene Achse gedreht worden, und immer wieder lenkte die Hand, die ihn führte, ihn mit festem Griff in eine neue Richtung - mal nach links, mal nach rechts und mal zurück. Die Augenbinde, die er trug, ließ kein Licht hindurch, und nur die Qualität der Luft und das Echo seiner Schritte verrieten ihm, dass er sich inzwischen in einem lang gestreckten Gang befinden musste.
"Einen großen Schritt jetzt bitte", sagte die kultivierte Stimme des Patriziers dicht an seinem Ohr. Der Spurensicherer gehorchte.
Den Treppenstufen nach, die sie unterwegs überwunden hatten, befanden sie sich in einer der oberen Etagen des Palastes, aber selbst das konnte Charlie nicht mit Sicherheit sagen, so gründlich hatte Vetinari ihm seinen Orientierungssinn verwirrt.
Es war eine kurze, aber unmissverständliche Nachricht von Ölzweig, Vetinaris persönlicher hoch intelligenter Brieftaube gewesen, die ihn zum Palast geführt hatte:

SCHICKT GUTEN SPURENSICHERER -IN ZIVIL - LOGIKER BEVORZUGT - SOFORT - V.

Als einer der letzten SUSI-Mitarbeiter, die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Wachhaus aufhielten, hatte Charlie sich gerade auf den Weg in den wohlverdienten Feierabend machen wollen, als Humph MeckDwarf, sein derzeitiger Abteilungsleiter, ihn abfing und ihm den Zettel in die Hand drückte. "Ich glaube, jemand verlangt nach dir, Hauptgefreiter", stellte er fest.
Missmutig hatte Charlie sich auf den Weg gemacht - und jetzt führte Vetinari höchstpersönlich den Spurensicherer durch die verwinkelten Gänge des Palastes, ohne ihm bisher irgendetwas darüber mitgeteilt zu haben, worum es überhaupt ging.
"Ich möchte noch einmal darauf hinweisen", unterbrach Vetinaris Stimme Charlies Gedankengänge, "dass du für diesen Auftrag direkt meinem Kommando unterstehst. Das bedeutet, du wirst niemandem - niemandem etwas darüber erzählen, was du jetzt oder später siehst oder hörst."
Charlie nickte.
"In der Wache ist es inzwischen ein offenes Geheimnis, dass Leonardo da Quirm noch am Leben ist und hier im Palast wohnt", fuhr Vetinari fort, während er den Hauptgefreiten um eine weitere Ecke führte. "Dennoch halte ich es für angebracht, in die aktuellen Ereignisse so wenige Leute wie möglich einzuweihen. - So, hier sind wir."
Vetinari nahm die Hand von Charlies Schulter und der Hauptgefreite hörte, wie eine Tür geöffnet wurde.
"Als ich vor einer knappen Stunde Herrn da Quirm einen abendlichen Besuch abstatten wollte, fand ich seine Werkstatt leer vor", erzählte der Patrizier. "Er hat mir einen recht kryptischen Brief zurückgelassen, und ich bin mir sicher, dass sein Verschwinden einen äußerst ernsten Hintergrund hat. Bitte zwei Schritte nach vorne."
Charlie gehorchte, und hinter ihm fiel die Tür wieder ins Schloss. Dann wurde dem Hauptgefreiten die Augenbinde abgenommen.
Er stand in einem großen, von Licht durchfluteten Raum, der aussah wie eine Mischung aus Werkstatt, Atelier und Schrottplatz. Jede halbwegs horizontale Fläche war mit einem Werkzeug, einer halbfertigen Zeichnung oder einer mechanischen Gerätschaft belegt.
Dutzende Modelle von eigenartigen Flugapparaten hingen von der Decke, die Wände waren mit Ölgemälden und technischen Zeichnungen tapeziert, und Apparate, deren Funktion Charlie ein Rätsel blieb, standen überall auf dem Boden. Eine kleine Wohnecke, komplett mit Bett, Tisch, Garderobenständer, Kleiderschrank und großem Wandspiegel wirkte bei all den Zeichen überschäumender Kreativität in diesem Raum seltsam fehl am Platz und konnte sich kaum gegen den Vormarsch der Erfindungen und Kunstwerke behaupten.
Und was für Kunstwerke es wahren: Das Letzte Abendbrot. Frau mit Frettchen. Die Mona Ogg. Nicht die Versionen, für die heute reiche Sammler Tausende von Dollar zahlten, sondern Bleistiftskizzen - Entwürfe, für die wahrscheinlich manch ein Kunstkenner zumindest seine halbe Seele hergegeben hätte.
Mit offenem Mund starrte Charlie in den Raum, als er eine weibliche Stimme hörte. "Das ist also der Wächter, mein Lord?"
Der Spurensicherer sah sich suchend um, bis er hinter einem überfüllten Schreibtisch ein Gesicht entdeckte. Es gehörte zu einer zierlichen, brünetten Frau von etwa dreißig Jahren, die ihn mit geschürzten Lippen abwägend beobachtete. In der Hand hielt sie ein Stück Papier, über das sie sich bis eben noch konzentriert gebeugt hatte.
"Scharfsinnig beobachtet, Fräulein Oderfünf", stellte Vetinari schmunzelnd fest. "Hauptgefreiter Charlie Holm, Spurensicherer - Sophia Oderfünf, Code-Expertin vom Patrizischen Nachrichtendienst. Fräulein Oderfünf wird Sie in die relevanten Details einweihen. Ich erwarte, dass Sie gut mit ihr kooperieren."
Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr und fuhr dann fort: "Leider erwarten mich dringende Geschäfte. Wenn Sie mich brauchen oder die Werkstatt verlassen wollen, läuten Sie!"
Mit diesen Worten wandte der Patrizier sich ab und verließ den Raum. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und zurück blieben ein verblüffter Hauptgefreiter und eine missmutig dreinblickende Codeknackerin.

Fräulein Oderfünf erhob sich von ihrem Platz und trat auf Charlie zu. "Hauptgefreiter, wie? Etwas Niedrigeres war wohl gerade nicht verfügbar? Na ja, wie auch immer. Aber denk bitte daran, dass dies ein Auftrag des Patriziers und keine Ermittlung der Stadtwache ist. Das heißt, ich habe das Sagen."
Charlie zuckte mit den Achseln. "Solange kein Verbrechen im Spiel ist, ist mir das recht. Aber worum zum Henker geht es hier eigentlich?"
"Wir wissen nur, dass Leonardo verschwunden ist. Zuvor hatte er auf Lord Vetinari einen recht nervösen Eindruck gemacht und etwas von einer alten Erfindung und einem rotäugigen Priester erzählt. Der Patrizier sagt, er sei daraus nicht schlau geworden, und Leonardo habe schnell das Thema gewechselt."
"Vetinari erwähnte einen kryptischen Brief?"
Fräulein Oderfünf reichte Charlie den Zettel, den sie in der Hand gehalten hatte. "Ja, diesen hier. Er enthält eine Botschaft, die relativ leicht zu finden ist - ich habe den Code geknackt, während der Patrizier nach der Wache geschickt hatte." An ihrem Tonfall war zu erkennen, dass sie auf Unterstützung durch die Wache gerne verzichtet hätte. "Er sagte, es wäre sinnvoll, wenn jemand mit Wächterausbildung mir zur Seite stehen würde."
"Und wie lautet die Botschaft?"
Die Codeknackerin zögerte kurz und grinste dann. "Zeig doch mal, was du kannst, Hauptgefreiter!"
Charlie warf einen Blick auf den Zettel und stutzte. "Ist das... Spiegelschrift?"
"Bravo! Messerscharf kombiniert. Ja, Leonardo schreibt gerne in Spiegelschrift. Das ist eine seiner zahllosen Marotten." Sophia machte eine einladende Geste in Richtung des Wandspiegels, der neben dem Garderobenständer hing. "Na los!"
Charlie hielt den Zettel in den Spiegel und las laut:

Lord,
ich muss leider meine Naivität wieder mal verdammen.
Darum trenn das Grobe u. das Feine schnell u. hilf.
Ich rate zu Eile u. hoffe auf Rettung.

L.


"Das ist alles?", fragte er, an Fräulein Oderfünf gewandt.
"Ja. Wie gesagt, die Botschaft ist leicht zu finden, aber leider habe ich bisher keine Ahnung, was sie bedeuten soll.


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Wie lautete die Botschaft, und wie ist sie zu interpretieren?
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[1]

"Was ist es?", fragte Charlie.
Die Codeknackerin ging mit dem Zettel zum Schreibtisch. "Ein Flugblatt", sagte sie.
"Ein Flugblatt?"
"Ja. 'Om ist groß!', steht darauf. Es ist eine Einladung zum Gottesdienst im Tempel Oms. Aber so wie sie aussieht, steckte sie schon seit Jahren dort."
Sie drehte den Zettel um. "Auf der Rückseite steht etwas geschrieben."
Charlie beugte sich über den Zettel und las drei Worte:

MONA+OGG = GNOM


"Mona Ogg...", dachte er laut.
"Ja, das ist eines der Bilder, die hier hängen. Es befindet sich ein Tresor dahinter, den haben wir schon entdeckt, als wir hier nach Spuren gesucht haben."
Charlie ging zur Wand, an der das Bild hing - neben der "Frau mit Frettchen" und direkt unter einem Stillleben, das eine Schale mit Mangos zeigte. Tatsächlich verbarg es eine halb aufgeklappte Tür, hinter der eine Metallwand mit fünf Rädern zu sehen war.
"Leonardo hat die Angewohnheit, sich selbst kleine Hinweise auf Codes und Verstecke zu hinterlassen, für den Fall, dass er sie einmal vergessen sollte. Ich nehme an, der Zettel stellt einen Hinweis die fünfstellige Zahl dar, mit der man den Safe öffnen kann."
Charlie nickte. "Dieses Rätsel sollte recht einfach zu lösen sein."
Die Codeknackerin sah in skeptisch an. "Willst du das nicht besser mir überlassen, Hauptgefreiter? Oder... wie wäre es mit einem Wettkampf?"
"Wettkampf?"
Sophias Augen funkelten schelmisch. "Schauen wir doch mal, wer den Code schneller heraus bekommt. Die Zeit läuft!"


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Welche Zahlenkombination öffnet den Safe?
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[2]

Im Tresor lagen mehrere Bündel alter und offensichtlich privater Briefe, außerdem einige kleine Schmuckstücke wie ein silberner Ring mit einem eingravierten D. Ganz obenauf lag ein großer Schlüssel mit einem ledernen Anhänger. Sophia nahm ihn heraus und wendete ihn in ihrer Hand.
"In die eine Seite sind quadratisch angeordnete Buchstaben eingebrannt", sagte sie. Auf die andere hat Leonardo mit einem Stift "Alte Wohnung" geschrieben."
"Alte Wohnung?"
"Ich habe sein Dossier gelesen." Die Agentin ließ den Schlüssel sinken. "Nachdem er nach Ankh-Morpork gezogen war, lebte er ein knappes Jahr in einer Wohnung in der Straße Schlauer Kunsthandwerker, bevor er vom Patrizier als Dauergast in den Palast geholt wurde."
"Worauf warten wir dann noch?" Charlie griff nach dem Klingelseil, das neben der Tür angebracht war. "Sehen wir uns da mal um - mal sehen, wohin uns dieser Schlüssel führt!

Straße Schlauer Kunsthandwerker, 15:50 Uhr

Geduldig hatte der rotäugige Priester in einer schmalen, an die Straße Schlauer Kunsthandwerker angrenzenden Gasse ausgeharrt, von der aus er das gegenüberliegende Gebäude gut beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Ein paar Stunden ereignisloses Warten war ein kleiner Preis, um Offler zu dem Platz im Pantheon zu verhelfen, der ihm zustand.
Am Vortag war dieser seltsame alte Mann im Tempel aufmarschiert und hatte etwas von einer "Gegendarstellung" gefaselt. Nun waren verrückte alte Männer in Tempeln beileibe keine Seltenheit, aber dieser spezielle Mann - und die Papiere, die er durch die Luft geschwenkt hatte - hatten dennoch die Aufmerksamkeit von einem der Bischöfe erregt - und kurz darauf war auch der Orden hellhörig geworden.
Der Orden - "Offlers Werk", wie er sich nannte - war eine der ältesten Institutionen der Krokodilgottes, und mit Sicherheit die geheimnisumwittertste. Ihr selbst erklärtes Ziel war es, Offler die Vorherrschaft über die anderen Götter der Scheibenwelt zu ermöglichen - wenn es nach dem Orden ginge, hatten all die anderen minderwertigen Gottheiten schon lange keine Daseinsberechtigung mehr. Nicht immer operierte der Orden auf hundertprozentig legalen Pfaden, aber nie hatte ihm die Wache bisher etwas nachweisen können.
Er, der Rotäugige - ein Diakon von Offlers Werk, der auf den Namen "Bruder Braun" hörte - hatte also in einem Geheimgang gestanden, von dem aus man die Büros aller Bischöfe belauschen und überwachen konnte, und hatte der Konversation zwischen dem alten Spinner und dem Bischof interessiert zugehört.
"Ich bin gekommen, um Sie zu bitten, einen Ihrer Glaubenssätze zu korrigieren", hatte der Alte das Gespräch eröffnet.
"Wie bitte?", war alles, was der Bischof hatte antworten können.
Leonardo legte einen Zeitungsausschnitt auf den Tisch. "Heute stand in der Times ein kurzer Artikel, über eine Frau, die hier in der Stadt völlig veramt gestorben ist. Bis vor zwei Jahren war sie wohl sehr wohlhabend gewesen, aber dann hat sie all ihr Geld dem Offlertempel gespendet, um ihren Mann aus der Hölle freizukaufen."
Bruder Braun hatte in seinem Versteck unwillkürlich schmunzeln müssen. Den Ablasshandel hatte der Orden schon vor Jahrhunderten, kurz nach seiner Gründung, in die offizielle Kirchendoktrin eingeschleust. Indem man Offler als jemanden darstellte, der auch im Jenseits noch das Schicksal der Menschen beherrschte, hob man ihn deutlich über die anderen Götter hinaus - und als Nebeneffekt brachte es der Kirche einen nicht unerheblichen finanziellen Vorteil.
"Das ist natürlich eine bedauerliche Geschichte", hatte der Bischof erwidert, "aber wenn jemandem die Erlösung seines Geliebten so viel wert ist, dann..."
"Aber das stimmt doch alles nicht!" Leonardo war aus seinem Stuhl aufgestanden und blickte den Geistlichen aufgeregt an. "Hier, ich habe es schriftlich!"
"Schriftlich? Was?"
"Ich habe vor sehr vielen Jahren eine Erfindung gemacht, die... nun ja, kurz gefasst gibt sie mir die Möglichkeit, Würdentracht abzuhören. Hier ist ein Gespräch zwischen Offler und Patina, das ich damals verfolgt hatte. Eure Kirche irrt sich, wenn sie behauptet, dass Offler über das Jenseits bestimmt. Es besteht also kein Grund..."
Mehr hatte der heimliche Zuhörer nicht mehr mitbekommen. Er war aufgesprungen und so schnell er konnte zum Ausgang des Geheimganges gelaufen. Schnaufend bog er um einige Ecken und lief dann, ohne anzuklopfen, ins Büro des Bischofs hinein.
"Wo ist er?", fragte er atemlos, denn außer dem Bischof selbst war niemand im Raum.
"Er hat seine Papiere genommen und gesagt, dass es wohl ein Fehler gewesen sei, hierher zu kommen", entgegnete dieser achselzuckend. "War nur wieder so ein Spinner."
Der Diakon war sich da nicht so sicher. Lautlos fluchend lief er weiter zum Eingang des Tempels.
Der alte Mann hatte das Gebäude bereits verlassen und schlenderte über den Platz. Um ihn aufzuhalten ohne Aufsehen zu erregen, war es zu spät.
"Entschuldigung? Mein Herr?", rief der Diakon dem sich entfernenden Mann hinterher.
Leonardo blieb stehen und drehte sich um. "Ja, was kann ich für Sie tun?"
"Ich bin Diakon Daniel Braun vom Tempel des Göttlichen Offler. Mein Bischof möchte sich für sein Verhalten entschuldigen. Wir sind sehr daran interessiert, Ihre Texte zu lesen und unsere Dogmen gegebenenfalls entsprechend anzupassen. Wollen Sie nicht wieder herein kommen?"
Leonardo sah ihn kurz an und zögerte. "Nein", sagte er schließlich. "Ich hätte wohl nicht hierher kommen sollen." Mit diesen Worten wandte er sich wieder ab und ging.
Bruder Braun war ihm anschließend unbemerkt zu diesem Haus gefolgt, wo der Alte seine Zettel in ein Versteck im Keller gelegt und dieses verschlossen hatte. Der Diakon hatte es nicht gewagt, Gewalt anzuwenden, dafür waren zu viele Leute in der Nähe. Ein Geräusch hätte Aufmerksamkeit erregt. Stattdessen hatte er sich verborgen gehalten und dann, nachdem der Mann gegangen war, das Versteck geöffnet und die Zettel herausgenommen.
Und was für eine Beute das gewesen war, überlegte Bruder Braun nun von seinem Beobachtungspunkt aus. Sicher, mit einem Omniskop war es Zauberern auch möglich, Würdentracht zu beobachten, aber Zauberer mischten sich nur selten in religiöse Dinge ein, und zudem erforderte die Verwendung dieses Artefakts einiges an Konzentration und ließ sich nur über sehr kurze Zeit aufrecht erhalten. Die Erfindung des alten Mannes hingegen... in den falschen Händen mochte sie katastrophal für die Offlerkirche sein, aber in den Händen des Ordens würde sie diesen seinen Zielen um Jahrhunderte näher bringen. All die kleinen, schmutzigen Geheimnisse, die die Götter hatten, ließen sich sicher irgendwie gegen sie verwenden. Vielleicht ließ sich so sogar endlich der Blinde Io vom Thron stoßen.
Nachdem er den anderen Mitgliedern des Ordens Bericht erstattet hatte, hatten sie den Plan gefasst, den alten Mann aus der Reserve zu locken, um ihm das Versteck seiner Erfindung zu entreißen. Dazu suchten sie sich ein paar Informationen aus den Gesprächsnotizen zusammen - Gerüchte über eine Affäre zwischen Patina, der Göttin der Weisheit, und Rebus, dem Gott der gemeinen Bilderrätsel - und spielten sie der Ankh-Morpork Times zu. Sicher musste das die Aufmerksamkeit des Alten erregen - oder nicht?
Genau in diesem Moment sah er die gebückt gehende Gestalt, die sich dem Eingang des Gebäudes näherte.
Diakon Braun lächelte.
Komm ins Netz, kleine Fliege...

Straße Schlauer Kunsthandwerker, 20:10 Uhr

"Hier ist es." Sophia deutete auf ein zwar altes, aber gut gepflegtes Gebäude, das zwischen den größeren Häusern, die es umgaben, kaum zu sehen war. Über dem Eingang wies ein Schild darauf hin, dass es sich um das "LEONARDO-MUSEUM" handelte - "WO DAS DSCHENIE ZUHAUS WAR! EINTRITT FÜNF CENT!"
"Ein Museum?", fragte Charlie nach.
"Wieso nicht? Hier hat immerhin einmal das größte Genie der Scheibe gewohnt." Wieder grinste die Codeknackerin schelmisch. "Na komm, Hauptgefreiter, etwas Kultur wird dir gut tun. Ich bezahle auch!"

Eine ältere Frau in einem Leonardo-T-Shirt saß gelangweilt hinter einem Tisch und putzte sich die Nägel. Als Charlie und Sophia das Haus betraten, sah sie auf. "Eintrittfünfcentproperson, Führungfünfzigcent", nuschelte sie. "Aberwirmacheninzwanzigminutenzu."
"Äh... zwei Karten bitte, eine Führung brauchen wir nicht", entgegnete Sophie lächelnd und legte ein Zehncentstück auf den Tisch.
Die Frau zuckte mit den Achseln, riss zwei Tickets von einer Rolle ab und drückte sie Sophia in die Hand. Charlie betrachtete unterdessen den Berg von Leonardo-Andenken, der neben der Kasse auf dem Tisch lag. Von billigem, in Klatsch hergestelltem Holzspielzeug wie gummibandbetriebenen Fluggerätmodellen, bis hin zu Kaffeebechern mit Mona-Ogg-Aufdruck, schien es hier alles zu geben. Was wohl Leonardo zu einer derartigen Vermarktung sagen würde?
Einer plötzlichen Idee folgend, wandte er sich an die Frau: "Sagen Sie, Madame, war zufällig vor kurzem ein älterer Mann hier?" Er erinnerte sich an die Ikonographie auf dem Dossier, das Sophia ihm vor ihrem Aufbruch gezeigt hatte. "Klein, grauer Bart, Halbglatze?"
Die Frau sah auf. "Klar, der war hier. Heut nachmittag erst, und gestern sogar zweimal. Muss'n echter Leonardo-Fan sein."
Charlie und Sophia sahen sich an. "Wissen Sie, wo er hinterher hin wollte?"
"Nein, wieso? Was ist mit ihm? Dieser blasse Priester hatte mich gestern auch nach ihm gefragt. Wenn..."
"Blasser Priester?", unterbrach Sophia. "Mit roten Augen?"
"Ja, genau. So'n unheimlicher Kerl, nichts für ungut. Ist gestern kurz nach dem Alten gekommen, und kurz nach ihm wieder gegangen. Aber hör'n Sie, wenn Sie noch was seh'n wollen hier, dann sollten Sie sich beeilen. In 'ner Viertelstunde mach' ich zu."
Sophie packte Charlie am Arm und zog ihn mit sich in Richtung der angrenzenden Räume. "Immerhin sind wir auf dem richtigen Weg", zischte sie. "Wollen wir hoffen, dass wir hier eine Spur finden, bevor es zu spät ist."
Charlie nickte und folge der Agentin an einem Halbwüchsigen vorbei, der zwei Meter von der Kasse entfernt auf einem Klappstuhl saß und mit gelangweilter Mine eine Ecke von ihren Eintrittskarten abriss. Sie standen jetzt in einem Korridor, der weiter ins Haus hinein führte. Mehrere Räume zweigten von diesen ab, an deren geschlossenen Türen Schilder mit der Aufschrift "Privat" hingen. Ein Pfeil mit der Aufschrift "LEONARDO-MUSEUM" deutete durch eine geöffnete Tür hindurch auf eine Kellertreppe.
Charlie blieb vor einer neben der Tür angebrachten Hinweistafel stehen. "In diesem Kellerraum verbrachte LEONARDO im Jahr der Tanzenden Katze die wenigen Monate zwischen seiner Ankunft aus Quirm und seinem mysteriösen Verschwinden. Damals aufgrund seiner Leichtgläubigkeit und mangelhaften Interesse an weltlichen Dingen zumeist mittellos, wohnte er zur Untermiete bei den damaligen Bewohnern dieses Hauses. Erst sein plötzliches Verschwinden weckte das Interesse der Welt an diesem verkannten Genie und trieb den Wert seiner Kunstwerke in die Höhe. Für das LEONARDO-Museum wurde der Raum originalgetreu hergerichtet, um den Besuchern einen Eindruck vom Leben dieses einmaligen Forschers und Künstlers zu geben."
Sophia war schon die Treppe herunter geeilt. "Kommst du, Hauptgefreiter? Viel Zeit bleibt uns hier nicht mehr!"
Charlie wandte sich ab und folgte Sophia die Treppe hinab.

Das Zimmer im Keller war ein vielleicht fünfzig Quadratmeter großer, quadratischer Raum, dessen einzige Öffnung zur Außenwelt die in der Mitte der drehwärtigen Wand gelegene Tür war, durch die Charlie und Sophia ihn betraten. Er besaß weder Fenster noch angrenzende Räume.
Die Wände waren mit ziemlich schlechten Kopien von Leonardos berühmten Gemälden und Zeichnungen beklebt, und ein Bett, ein Schreibtisch und ein Holzstuhl bildeten das Möbiliar. Mehrere Modelle von Geräten, bei denen es sich wohl um Nachbauten von Erfindungen handelte, standen auf dem mit schlichten quadratischen Steinplatten gefliesten Boden, und neben jedem Objekt klebte eine kleine Plakette, auf der Informationen standen.
Die beiden sahen sich um. Nichts von dem, was sich hier befand - weder die Möbel, noch die Bilder und Kunstwerke - schienen Originale zu sein. Selbst der Stuhl war eindeutig jünger als die zwanzig Jahre, vor denen Leonardo hier gewohnt hatte. Wenn das Genie hier etwas zurückgelassen hatte, wie groß war dann die Wahrscheinlichkeit, dass es sich immer noch unentdeckt hier befand?
Mit dem Schlüssel in der Hand schritt Sophia den Raum ab. Eine Holztruhe stand am Rand, von der die zugehörige Plakette behauptete, dass Leonardo hier KLEIDUNGSSTÜCKE UND MALSACHEN drin aufbewahrt hatte, und dass man sie BITTE NICHT BERÜHREN sollte. Der Schlüssel passte nicht.
Charlie betrachtete inzwischen die Plakette neben der Kopie vom "Letzten Abendbrot":
"Deutlich sieht man eine Hand mit einer Gabel, die sich ein Stück Fleisch von Bruthas Teller nehmen zu wollen scheint. Diese Hand ist keinem der Jünger Bruthas auf dem Bild zuzuordnen. Fachleute halten dies für eine Anspielung auf die Gier der omnianischen Kirche, die auch vor ihrem eigenen Propheten nicht Halt macht."
Aber auch das half ihnen kaum weiter...
Er drehte sich zur Codeknackerin um, die sich inzwischen erneut den Schlüsselanhänger ansah. "Etwas gefunden?", fragte er.
"Nichts neues", antwortete sie. 'Alte Wohnung' handschriftlich auf der einen Seite, und Buchstaben auf der anderen. Warte mal..."
Eine Stimme aus dem Erdgeschoss unterbrach sie. "Wir machen jetzt zu, komm' Sie bitte?"
"Zehn Minuten noch bitte, ja?", rief Sophia zurück.
"Nee, das mach' ich nich'. Komm'Sie doch morgen wieder, wenn's Ihnen so gefällt."
Sophia verdrehte die Augen. "Hören Sie, ich gebe Ihnen fünf Dollar, wenn wir noch zehn Minuten bleiben können. Wie klingt das?"
Schritte waren zu hören, und dann erschien die Frau in der Tür, hinter der die Treppe zum Erdgeschoss lag. "Fünf Dollar?", fragte sie hörbar skeptisch.
Die Agentin holte ein paar Münzen aus ihrer Tasche und hielt sie der Frau entgegen. "Sind wir im Geschäft?"
Die Frau zögerte kurz, dann nahm sie das Geld an sich. "Zehn Minuten!", brummte sie noch, dann verschwand sie wieder.
Charlie betrachtete das Buchstabenquadrat auf dem Anhänger:

DRGDRMD
DMRDMRG
RRGRMGG
GMMRRDR
GRGMGRR
GGDMDRM
DGMGGGM



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Wo befindet sich Leonardos Geheimversteck?
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[3]

Sophia sah sich um und griff brach kurz entschlossen eine eiserne Stange aus einer mit BITTE NICHT BERÜHREN beschrifteten, mit Leinwand bespannten Metallkonstruktion, bei der es sich angeblich um Leonardos ersten Entwurf eines Flugapparats handelte. Sie wog die Stange in der Hand und reichte sie an den Hauptgefreiten weiter.
Dieser hatte schnell einen passenden Punkt gefunden, und mit etwas Anstrengung öffnete sich das Geheimversteck.
"Leer?", fragte Sophia ungläubig. Tatsächlich war in dem freigelegten Raum nichts zu sehen.
"Das glaube ich nicht", meinte Charlie. Ihm war ein kleines Loch in einer Ecke des Verstecks aufgefallen. "Gib mir mal den Schlüssel!"
Sophia reichte den Schlüssel an den Spurensicherer weiter, und dieser steckte ihn in das Loch. Er passte! Knirschend schwang eine Platte zurück und offenbarte einen weiteren Hohlraum.
"Ein Versteck im Versteck", merkte Sophia an. "Raffiniert... wenn jemand das erste Versteck findet, wird er kaum vermuten, dass sich dahinter noch ein zweites verbirgt."
Charlie griff in das Versteck hinein und holte einen metallischen Gegenstand heraus, als eine Stimme die beiden herumfahren ließ.
"Was machen Sie denn da?"
Der Wächter und die Agentin drehten sich um. Mit einer Mischung aus Angst und Empörung blickte die alte Frau sie an.
"Sie haben das Fluggerät kaputt gemacht!", keifte sie und deutete auf die Metallstange in Sophias Hand. "Und was haben Sie da gefunden?" Sie drehte sich zur Tür um. "HERBERT!", kreischte sie. "RUF DIE WACHE!"
"Ich bin von der...", setzte Charlie an, aber Sophia packte ihn am Arm. "Nicht!", zischte sie. "Los, wir hauen ab."
Widerwillig lief Charlie hinter der Agentin her, an der verdutzten Frau vorbei.
.
"Wieso sollte ich nicht sagen, dass ich von der Wache bin?", fragte der Hauptgefreite, nachdem er wieder etwas zu Atem gekommen war. Er und Sophia waren einige Straßenblöcke weit gelaufen und lehnten sich jetzt an eine Hauswand, um wieder zu Kräften zu kommen.
"Weil du gerade für mich und Vetinari arbeitest, Hauptgefreiter - nicht für die Wache!" Sophia blickte den Wächter mit gerunzelter Stirn an. "Und weil ich mich mit der Frau nicht auf eine Diskussion einlassen wollte. Sie hätte sicher wissen wollen, was wir da gefunden haben - und der Patrizier hat sich sehr klar ausgedrückt, was die Notwendigkeit der Geheimhaltung von allem, was mit Leonardo zu tun hat, angeht. Und das solltest du niemals vergessen! Übrigens" - von einem Moment zum anderen verschwand der grimmige Ausdruck von ihrem Gesicht, und das leicht spitzbübische Lächeln war wieder da - "was haben wir da eigentlich gefunden?"
Charlie reichte ihr das, was in Leonardos Versteck gelegen hatte. Es war ein Metallkasten von der Größe einer Geld- oder Schmuckkassette. An seinem unteren Rand befanden sich drei Rädchen, und an der Oberseite waren in einem eingravierten Herz neun quadratisch angeordnete Löcher angebracht, hinter denen Buchstaben zu sehen waren. Sophia drehte versuchsweise an einem der Rädchen und stellte fest, dass jedes der Räder die Buchstaben in einer der Spalten um eine Position verschob. Die Buchstaben waren anscheinend an einer Art Kette angebracht, so dass sich die Reihe nach acht Zeichen wiederholte. Die erste Spalte bestand aus der Folge LEPRIMDA, die zweite aus APSOTLMU und die dritte aus NEODGHIM.
"Es muss ein Codewort aus neun Buchstaben sein, das man einstellen muss, um das Kästchen zu öffnen", mutmaßte Charlie.
"Hervorragend kombiniert, Hauptgefreiter. Und welches?"


********
Welches?
********

[4]

Tatsächlich ließ das Kästchen sich problemlos öffnen. Sein Inneres war mit einem Kissen ausgepolstert und enthielt einen zylinderförmigen Gegenstand, etwa von der Größe eines Blumentopfes, sowie ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
Charlie nahm das Objekt heraus und betrachtete es. Es bestand aus fünf Ringen, die sich gegeneinander drehen ließen. In jeden Ring waren die Buchstaben des Alphabets ringsum eingraviert.
"Ich fass' es nicht!", entfuhr es Sophia, als sie den Gegenstand sah.
"Wieso? Was ist das?"
"Ein Kryptex. So nennen wir diese Dinger jedenfalls beim PND. Leonardo nannte sie 'Kästchen-deren-Inhalt-sich-selbst-zerstört-wenn-man-sie-nicht-mit-dem-richtigen-Passwort-öffnet', oder so. Wir setzen sie manchmal zum Transport geheimer Botschaften ein. Im Inneren befindet sich ein auf dünnes Papier geschriebener Text, der um eine mit Säure gefüllte Phiole gewickelt ist. Wenn man versucht, den Zylinder gewaltsam zu öffnen..."
"...bricht die Phiole und zerstört das Papier", ergänzte Charlie. Vorsichtig schüttelte er das Kryptex, und ein leises Gluckern war zu hören. "Raffiniert. Sieht so aus, als wollte Leonardo irgendetwas um jeden Preis geheim halten."
"Was steht auf dem Zettel, der dabei lag?", fragte Sophia. "Gib mal her."
Charlie reichte der Agentin das Blatt Papier. Die Sonne war mittlerweile im Untergehen begriffen, und im langsam abfließenden Licht ihrer Strahlen las die junge Frau vor:

Du sollst mir sagen, welchen Mann ich mein,
Ich ZEIG DIR, was er tat, dann fällt's dir ein.
Wenn ihr es habt, dann denkt nur nach genug,
in hundert Jahren seid ihr, was ich such.


"Hübsch", meinte Charlie. "Ein Vierzeiler aus fünffüßigen Jamben. Leonardo ist also auch ein Dichter?"
"Er hat viele Talente", bestätigte Sophia. "Ich bin sicher, dieses Gedicht enthält das Lösungswort, mit dem man das Kryptex öffnen kann. Hast du eine Idee?"
"Nicht spontan", gab Charlie zu. "Vielleicht sollten wir uns einen Ort suchen, an dem es ein wenig Licht und vielleicht etwas zu trinken gibt, und uns dort in Ruhe den Kopf zerbrechen."
"Einverstanden", nickte die Agentin. "Was schlägst dh vor?"

Straße Schlauer Kunsthandwerker, 16:15 Uhr

Wie schon am Vortag verspürte Leonardo eine seltsame Mischung aus Stolz und Unbehagen, als er das Haus, das vor zwanzig Jahren seine Wohnung gewesen war, verließ.
Ein Museum... damals, als er vor seinen Gläubigern aus Quirm geflohen war, hätte er sich nicht im Traum vorstellen können, dass man einmal ein Museum zu seinen Ehren eröffnen wurde. Als er gestern zum ersten Mal nach all der Zeit seine alte Unterkunft betreten hatte, war ihm dies wie ein absurder Traum vorgekommen. Fast wünschte er sich, er hätte nie etwas davon erfahren.
Streng genommen war die Zeitung Schuld. Vor langer Zeit hatte er seine Erfindung aus gutem Grund an einem sicheren Ort versteckt, nachdem ihm deren Tragweite bewusst geworden war. Das Prinzip war so einfach: Ein wenig grundliegendes Wissen über die Ausbreitung von Schallwellen, drei auf den Zielpunkt ausgerichtete Empfänger, die die Schwingungen auf Wassersäulen übertrugen, und als Herzstück der dampfbetriebene Rechenschieber, der aus den verschiedenen Daten die Geräusche extrahierte, die ihren Ursprung an dem Ort hatten, auf den die Orientierung erfolgt war.
Das ganze war als Möglichkeit zur Kommunikation über große Entfernungen gedacht gewesen, aber nachdem er es fertig gestellt hatte, hatte Leonardo festgestellt, dass der einzige Ort, von dem er ein verständliches Signal bekam, Cori Celesti, das Zentralmassiv der Scheibenwelt war. Ob der Grund dafür die Eigenrotation der Scheibe oder die Höhenlage des Zielpunktes war, hatte er nie herausgefunden.
Nachdem er dem belanglosen Klatsch und Tratsch der Götter eine Weile gelauscht hatte, hatte er es mit der Angst vor den potenziellen Konsequenzen zu tun bekommen und die Erfindung und seine Aufzeichnungen an einem sicheren Ort versteckt. Kurz darauf war Vetinari auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihm seine Gastfreundschaft angedeihen lassen. Während seiner Zeit im Palast hatte Leonardo nie an diese Erfindung zurück gedacht, bis.... ja, bis die Zeitungen erfunden worden waren.
Vorher hatte er in seiner Turmwohnung keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt, und ihn auch nicht vermisst, solange der Patrizier ihn mit genügend Bau- und Zeichenmaterial versorgt hatte. Doch seit Vetinari ihm jeden Tag die Times mitbrachte, hatte das leicht realitätsferne Genie so viel Falsches über Götter und Religionen gelesen - so viel, das nur unnötiges Leid gebracht hatte - dass ihm seine alte Erfindung wieder eingefallen und nicht mehr aus dem Kopf gegangen war.
So hatte er sich am gestrigen Tag, nachdem er den Artikel über die verarmte Frau gelesen hatte, dazu entschlossen, ein paar der Notizen aus seinem alten Versteck zu holen und sie dem Offlertempel zu zeigen, um so ein paar der falschen Glaubensgrundsätze zu revidieren.
Und das war ein Fehler gewesen, überlegte er jetzt, während er zielstrebig durch die Straßen und Gassen der Stadt wanderte, ohne seinen Verfolger zu bemerken. Anscheinend waren Kirchen nicht an der Wahrheit interessiert, wenn sie ihnen keinen Vorteil verschaffte.
Und jetzt... jetzt hatte ihm jemand - und Leonardo war sich ziemlich sicher, dass dieser jemand der seltsame rotäugige Offlerpriester war - die Aufzeichnungen gestohlen. Der Besuch in seiner alten Wohnung hatte ihm die Gewissheit gegeben: Die Zettel waren fort. Aber wenigstens das innere Versteck, in dem er den Weg zu seinem damaligen Geheimlabor hinterlassen hatte, war unentdeckt geblieben. Wenn der Priester etwas gründlicher gewesen wäre....
Erneut fragte Leonardo sich selbst, wieso er damals all diese Sachen nicht mit in den Palast genommen hatte. Die Antwort, die er selbst nicht kannte, war, dass eine leise Stimme irgendwo hinter seinem naiv-kindlichen Gemüt nicht gewollt hatte, dass all diese Dinge Vetinari in die Hände fielen. Zwar war er auch damals - vor der Jahrzehnte langen Isolation im Patrizierpalast - schon ziemlich weltfremd gewesen, aber nicht so sehr, dass er nicht die potenzielle Gefahr in einigen seiner Erfindungen erkannt hätte. Das war auch der Grund für das Geheimlabor gewesen - und dafür, dass er die Dinge lieber in ihrem Versteck hatte ruhen lassen, um zu verhindern, dass sie jemand anderem in die Hände fielen.
Jetzt jedoch erkannte er, dass das keine gute Entscheidung gewesen war.
Durch den nachmittäglichen Trubel auf den Straßen und Plätzen Ankh-Morporks führten ihn seine Schritte zielsicher die Strecke entlang, die er damals so oft zurückgelegt hatte.
Es war ein Fehler gewesen, die Dinge dort einfach so zurückzulassen. Er musste nachsehen, ob noch alles in Ordnung war - und er musste dafür Sorge tragen, dass das, was dort noch lagerte, niemandem in die Hände fiel.

Café Ankh, 21:05 Uhr

Es war ein erstaunliches, aber allgemein anerkanntes Phänomen, dass das Café Ankh zu jeder Tages- und Nachtzeit stets fast halbvoll war. Charlie hatte es bisher weder jemals voll noch ganz leer erlebt - immer war nicht ganz die Hälfte aller Plätze belegt.
Der vampirische Pianist spielte eine dem Hauptgefreiten unbekannte Komposition, während ein diensteifriger Kellner sie zu einem Tisch führte und eine Kerze entzündete. "Was darf ich den Herrschaften bringen?", fragte er.
"Einen trockenen Ankhfelder", bestellte Charlie und sah Sophia fragend an, die sich jedoch schon wieder in das Gedicht vertieft hatte. "Zweimal."
"Sehr wohl." Der Kellner machte einen Schnörkel auf seinem Notizblock und verschwand wieder.
"Und?", wandte sich der Spurensicherer an die Agentin. "Schon etwas herausgefunden?"


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Wie lautet das Lösungswort?
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[5]

Problemlos ließ sich die obere Hälfte des Zylinders jetzt von der unteren abheben. Im Inneren... Sophia lachte laut auf und zog ein weiteres, etwas kleineres Kryptex heraus, das ebenfalls fünf Buchstabenringe aufwies. Um es herum war ein Zettel gewickelt.
"Noch eines?", fragte Charlie ungläubig.
"Tja, Hauptgefreiter, es sieht so aus, als wären wir noch nicht fertig", meinte Sophia grinsend und hob ihr Weinglas. "Aber wir machen immerhin Fortschritte. Zum Wohl!"

Der zweite Zettel enthielt ein Gedicht im gleichen Versmaß wie das vorige.

Den elften Teil von dreizehn nimm heran,
und zweiter Teil den ersten Teil bringt an.
Nimm dir und schüttel, was man sonst nicht tut,
nimm zwei davon - das steht dir sicher gut.



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Wie lautet das Lösungswort?
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[6]

Charlie griff nach dem Kryptex und stellte das Wort ein. Der Zylinder öffnete sich, und der Hauptgefreite holte triumphierend ein kleines, zerbrechlich wirkendes Glasfläschchen heraus, um das wiederum ein Zettel gewickelt war. Vorsichtig nahm er den Zettel ab und warf einen Blick darauf.
"Und?", fragte Sophia.
"Rate mal."
"Etwa noch ein Gedicht?"
"Genau." Charlie las vor:

Die Stadt, sie ist nicht echt an diesem Ort,
Zur Mitte geh, und merke Dir mein Wort:
Hinab du steigst, doch tu dies mit Bedacht,
und suche das Symbol der Zaubermacht.


"Sehr schön", meinte Sophia. "Und wirst du daraus schlau?"
"Aus dem zweiten Teil nicht", entgegnete Charlie, "aber die erste Zeile sagt und schon einmal, wo wir hin müssen."
"Und wohin?"


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Wohin?
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[7]

"Na dann mal los!" Sophia legte ein paar Münzen auf den Tisch und griff nach ihrem Mantel.

Teppichhändler, 16:50 Uhr

Diakon Braun verfolgte den alten Mann durch die Stadt. Sie hatten es geschafft, ihn aus der Reserve zu locken, und jetzt hieß es hoffen, dass er sie zu seiner Erfindung führen würde - der Erfindung, die dem Orden die Möglichkeit geben würde, das gesamte Pantheon zu belauschen.
Zielstrebig marschierte der rüstige Alte in Richtung des Stadtzentrums. Einen Moment bekam der Diakon einen Schreck, als er die Richtung ihres Ziels erkannte: Der Mann würde doch nicht... aber nein, er wandte sich in eine andere Richtung und schritt auf den Laden einen klatschianischen Teppichhändlers - ACHMEDS EHRLICHER TEPPICH- AN- UND VERKAUF - zu. Ein Schild wies auf einen RÄUMUNGSVERKAUF - PREISE BIS ZU 150 PROZENT REDUZIERT hin.
Der Mann schien ehrlich verblüfft über den Anblick zu sein. Einen Augenblick zögerte er, dann betrat er den Laden.
Diakon Braun zog sich die Kapuze seiner Kutte über das Gesicht und schritt auf die vor dem Eingang ausgelegte Ware zu. Während er so tat, als würde er das Angebot begutachten, lauschte er den Stimmen aus dem Geschäft.
"Challo, mein Cherr. Chann ich Ihnen bechilflich sein?"
"Ja, vielleicht. Sagen Sie, guter Mann, hat Ihr Geschäft ein Lager?"
"Aber selbstverständlich, Offendi. Wir chaben das größte Teppichangebot der Stadt. Was wir nicht chaben, chat auch kein anderer. Sehen Sie sich nur um: Chinten durch die Tür, dann die Treppe runter. Wenn Sie Chilfe benötigen..."
Offendi, stellte Diakon Braun unbewegt fest. Ein Rechtgläubiger.
"Danke, ich will mich nur ein wenig... umsehen."
"Nur zu. Ich bin sicher, Sie werden etwas finden, was Ihnen gefällt, und zwar zu einem unschlagbaren Preis."
Schritte entfernten sich, und Stille trat ein. Diakon Braun entschloss sich, zu handeln. Er betrat den Verkaufsraum und legte verschwörerisch einen Finger an die Lippen, als der Händler aufblickte. "Seien Sie ganz still!", zischte er.
Der Händler nickte und blickte den Diakon fragend an. Dieser schloss hinter sich die Tür und drehte das Schild auf "geschlossen", bevor er auf den Klatschianer zu trat.
"Was ist chier los?", flüsterte dieser nervös.
"Sind außer Ihnen noch andere Leute hier im Geschäft?", stellte Diakon Braun in drängendem Tonfall eine Gegenfrage.
"Nein, heute nicht... wieso, was ist denn los, Offendi?"
"Nichts, was Sie beunruhigen müsste", erwiderte Diakon Braun im Flüsterton und rammte seinem Gegenüber das Messer in die Brust, das er stets an seinem Gürtel trug.
Offler würde diesen Mann für sein Opfer belohnen.

Teppichhändler, 21:33 Uhr

"Das muss es sein!" Charlie deutete auf eines der Gebäude, die sich mittwärtig von ihnen dunkel vor dem Mondlicht abhoben.
"Ein Teppichhändler?", fragte Sophia.
"Zu Leonardos Zeit wahrscheinlich noch nicht", mutmaßte Charlie. "Vor zwanzig Jahren gab es hier viele ungenutzte Gebäude."
Die Agentin war an die Tür getreten. "Geschlossen", stellte sie mit einem Blick auf das in der Tür hängende Schild fest.
"Hast du um diese Zeit etwas anderes erwartet?", fragte Charlie.
"Eigentlich nicht." Sophia drehte ohne viel Hoffnung versuchsweise am Türknauf. "He, sie ist offen!"
"Offen? Um diese Zeit? Ohne dass Licht brennt, und trotz 'Geschlossen'-Schild? Da stimmt doch etwas nicht..."
"Genau, Hauptgefreiter - und wir werden nachsehen, was da nicht stimmt. Leise jetzt!"

Die Gefreite Kathiopeja war noch nicht lange bei der Wache, aber sie war sich schon jetzt sicher, dass sie nicht viel für Spätschichten übrig hatte. Mit ihrem Kollegen Søren Eltsam, angehendem Püschologen, war sie gerade von einem Besuch im Leonardo-Museum zurückgekommen, wo nach Aussage der Besitzerin ein Gangsterpärchen unschätzbare Kunstwerke zerstört und eine ebenso unbezahlbare geheimnisvolle Leonardo-Erfindung gestohlen hatte. Sie hatten Phantombilder der beiden Personen angefertigt und der Frau versprochen, ein SUSI-Team zur Spurensicherung vorbei zu schicken, und waren jetzt wieder auf dem Weg ins Wachhaus, als das Mondlicht knapp fünfzig Meter entfernt auf das Gesicht einer Frau fiel, die hinter einer hageren Gestalt in ein offensichtlich geschlossenes Teppichgeschäft huschte.
War das nicht...? "Søren", flüsterte sie. "Schnell, gib mir mal die Bilder!"
In der Dunkelheit waren die Zeichnungen schlecht zu erkennen, aber das Gesicht der Frau und die Statur des Mannes passten zur Beschreibung der Museumsbesitzerin.
"Still!", flüsterte sie Søren zu und schlich zum Gebäude. Durch die Fenster hindurch war nichts zu sehen und nichts zu hören, alles wirkte ruhig und verlassen.
Der Ermittlerin war etwas mulmig zumute, als sie leise die Tür öffnete. Im Verkaufsraum war niemand zu sehen. Sie gab ihrem Kollegen ein Zeichen, draußen zu warten, und betrat den Raum. Jetzt konnte sie von weiter hinten gedämpfte Stimmen hören.
Was nun? Sollte sie rufen, oder..."
In diesem Moment erleuchtete der durch die Fenster scheinende Mond eine Blutspur am Boden. Kathiopeja erblasste und folgte der Spur zu einem Stapel von Teppichen.
Erschrocken starrte die Ermittlerin auf die reglose, bärtige Gestalt. die mit aufgerissenen Augen hinter den Teppichen lag. Dies war ein Fall für FROG.

Charlie und Sophia hatten die Leiche nicht gesehen. Durch den leeren Verkaufsraum waren sie in den hinteren Bereich des Ladens geschlichen, wo eine Treppe nach unten und in einen großen, mit Dutzenden von Teppichrollen und -stapeln gefüllten Lagerraum führte, die in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen waren.
Hinab du steigst, doch tu dies mit Bedacht...
"Was nun?", fragte Charlie flüsternd.
"Mir nach!", entgegnete die Agentin und tastete sich durch die Dunkelheit.
Langsam gewöhnten sich die Augen des Hauptgefreiten an die Lichtverhältnisse. Zwischen zwei Teppichrollen konnte er an der gegenüberliegenden Wand eine geöffnete Metalltür erkennen.
Sophia trat auf die Tür zu und untersuchte sie. Mehrere schwere Riegel sorgten dafür, dass sie sich nur von der Seite des Lagers aus öffnen ließ, aber jemand hatte diese Riegel zurückgeschoben, so dass sie Tür jetzt sperrangelweit offen stand.
Charlie sah durch die Tür und bemerkte einige schmale Stufen, die weiter nach unten führten.
"Meinst du, hier sind wir richtig?", fragte er.
Sophia blickte in die Dunkelheit und hob etwas vom Boden auf. "Eine Fackel", meinte sie und fasste vorsichtig die Spitze an. "Noch nicht ganz kalt. Ja, ich denke, wir sind hier richtig."

Charlie entzündete die Fackel mit einem Streichholz, und schritt hinter Sophia die schmale Treppe herab. Ankh-Morpork ist auf Ankh-Morpork erbaut worden - wer hatte das noch gesagt? Überall in der Stadt gab es Zugänge zu alten Gewölben und Kammern, die früher einmal ihrerseits Erdgeschoss oder Keller alter Häuser gewesen waren. Dies musste einer dieser Zugänge sein.
Am Fuß der Treppe befand sich eine halb eingefallene Mauer, durch die hindurch sie einen größeren, unterirdischen Raum betreten konnten. Ein fauliger Geruch strömte ihnen von der anderen Seite entgegen. Das flackernde Fackellicht fiel auf Holzstücke, die früher vielleicht einmal Möbel gewesen waren, Eine Gruppe von Ratten machte sich quiekend aus dem Staub, und der Raum roch nach Moder und Unrat.
Dies war wohl früher einmal ein Wohnzimmer gewesen, aber die Fenster waren jetzt mit Bretten verriegelt. Mehrere Türen führten in angrenzende, ebenso verwahrloste Räume. Der Rest der Menschheit schien diesen Raum schon lange vergessen zu haben.
"Und hier sollen wir richtig sein?", fragte Charlie erneut.
Sophia sagte nichts, sondern deutete auf eine Wand des Zimmers. Im Schein der Fackeln war dort ein Zeichen zu sehen, das das Licht auf seltsame Art reflektierte. Auf eine schwer in Worte zu fassende Art war es, als würde es mehr Farben widerspiegeln, als es eigentlich gab.
"Ein Oktagramm", meinte Charlie verblüfft. Suche das Symbol der Zaubermacht...
"Eine magische Tür?", mutmaßte Sophia. Sie wirkte ebenso überrascht wie der Hauptgefreite. "Von Zauberei stand nichts in Leonardos Dossier..."
Der Wächter trat auf das Oktagramm zu. "Wenn hier eine Tür ist, muss man sie irgendwie öffnen können", meinte er.


****
Wie?
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[7a]

Mit einem lauten Knirschen schwang ein Teil der Wand beiseite und offenbarte eine weitere Treppe.
"Dort unten muss mal der Keller des Hauses gewesen sein", mutmaßte Charlie.
"Aber ein sehr geheimnisvoller Keller, wenn er mit einer magischen Tür gesichert ist", entgegnete Sophia. "Die Sache wird immer interessanter. Na los, worauf warten wir noch?"

Während Søren vor dem Teppichgeschäft Wache hielt, war Kathiopeja zum Wachhaus gelaufen und hatte den FROG-Einsatztrupp alarmiert. Jetzt bezogen die Korporale Sidney, Kanndra und Valdimier vor dem Gebäude Position.
Ein toter Teppichhändler... zwei Kunstdiebe... bewaffnet und gefährlich.
Das Team bereitete seinen Einsatz vor.

Teppichhändler, 18:45 Uhr

Leonardo verfluchte sich selbst für seine Unachtsamkeit und seine unausgegorenen Ideen. Dieser verdammte Priester - er musste ihm bei seiner alten Wohnung aufgelauert haben und war ihm bis hierher verfolgt. Das Genie hatte kaum die Geheimtür zum Labor geöffnet, als es schon eine Messerspitze in seinem Rücken gespürt hatte.
"Hallo, alter Mann", hatte eine Stimme geraunt. "Es sieht ja ganz so aus, als kämen wir doch noch ins Geschäft."
Und jetzt saß er hier, mitten in seinem alten Labor, mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen, während der Rotäugige zusammen mit einem Kumpan die Bestandteile seiner Erfindung nach oben trug.
Natürlich war dies nicht immer sein Labor gewesen. Früher einmal hatte hier ganz offensichtlich ein Zauberer geheime, und wahrscheinlich gefährliche Experimente veranstaltet, aber das war sicherlich schon hundert Jahre her.
Ein Bekannter von ihm, der ihm einen Gefallen geschuldet hatte, hatte ihm den Zugang zu diesem Raum vor zwanzig Jahren "vererbt", als er selbst aus persönlichen Gründen die Stadt hatte verlassen müssen. Für Leonardo war es genau das richtige gewesen: Er großer, extrem sicherer Raum, der zudem noch mietfrei war. Damals war das Haus, in das jetzt der Teppichhändler eingezogen war, ein leerstehendes Warenhaus gewesen, das die kleineren Gilden gelegentlich für ihre Versammlungen genutzt hatten.
Schritte deuteten darauf hin, dass der Priester und sein Freund wieder einmal zurückkehrten. Sie hatten alles auseinander genommen, was ihnen wichtig erschienen war, und ihn noch dazu gezwungen, ihnen zu helfen.
Zu einem Schrein wollten sie, soviel hatte er ihren Gesprächen entnommen. In der... Rosengasse? Nein, das war es nicht. So ähnlich.
Die beiden Leute betraten erneut den Raum, und der Rotäugige warf ihm kurz einen prüfenden Blick zu, bevor sie sich an eine der letzten Komponenten seiner Erfindung machten und sie gemeinsam anhoben. Der Kumpan des Rotäugigen hatte wohl einen Eselkarren mitgebracht, den sie jetzt mit der Maschine beluden.
Ohne weiter auf ihn zu achten, trugen die beiden den schweren Kasten nach draußen. Leonardos Verstand arbeitete fieberhaft. Wenn irgendjemand seinen Hinweise fand und ihm folgte, und es vielleicht sogar schaffte, das Verschlossene-Kästchen-das-man-nur-mit-einem-Passwort-öffnen-kann-und-dessen-Inhalt-sich-sonst-selbst-zerstört zu öffnen...
Das mit dem Kästchen war auch so eine Schnapsidee von ihm gewesen, resümierte er. Damals hatte er es einfach lustig gefunden, den Weg zu seiner Werkstatt in obskuren Rätseln zu verstecken und in seiner Wohnung zu verstecken. Vielleicht hatte er sich auch gewünscht, dass, wenn ihm ein Unfall oder etwas ähnliches zustoßen würde, dass dann später jemand die Hinweise finden würde und seine Erfindungen so entdeckt und der Vergessenheit entrissen würden. Aber nie hatte er damit gerechnet, dass von diesen Hinweisen vielleicht mal sein Leben abhängen würde.
Aber wenn jemand diese Kammer fand, dann musste er ihnen einen Hinweis hinterlasen, wohin die Priester gefahren waren (und sicher würden sie ihn dorthin mitnehmen, damit er die Maschine dort wieder aufbaute). Und zwar einen Hinweis, den der Rotäugige nicht gleich, wenn er wiederkam, finden und zerstören würde. Ein paar Minuten blieben ihm, bis die Männer wiederkommen würden. Seine Hände und seine Füße waren gefesselt, aber...
Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, neben dem er auf einen Stuhl gesetzt worden war. Ein alter Kohlestift lag dort, daneben eine fast fertige Zeichnung...
Leonardo beugte sich vor und nahm den Stift mit den Lippen auf.
Jetzt fiel ihm auch wieder ein, von welcher Straße die beiden Leute gesprochen hatten.

Teppichhändler, 21:50 Uhr

Der Kellerraum erinnerte Charlie im ersten Moment an Leonardos Werkstatt im Patrizierpalast. Genauso wie diese war auch er vollgestellt mit Gerätschaften, und auf mehreren Tischen verteilt lagen. Der Unterschied war, dass hier eine dicke Staubschicht auf dem Boden lag.
"Hier sind vor kurzem Leute gewesen", stellte der Spurensicherer mit einem Blick auf den Boden fest. "Und sie haben etwas mitgenommen."
"Dies muss Leonardos geheime Werkstatt gewesen sein", mutmaßte Sophia. "Lord Vetinari hat schon lange vermutet, dass er eine hatte."
Charlie sagte nichts, sondern untersuchte den Boden. Zwei Menschen, die mehrmals hin und her gelaufen waren. Nein, drei. Eine der Spuren...
Sein Blick fiel auf einen Kohlestift, der am Boden lag. Er nahm ihn in die Hand und spürte Feuchtigkeit an einem Ende. Wo...
Dann sah er die Zeichnung, die auf einem Tisch am Rande des Raumes lag. Sie war alt und ausgebleicht und zeigte einen quirmianischen Landadeligen. Das war sicher einmal ein wertvolles Leonardo-Original gewesen, aber jemand hatte das Porträt mit ein paar schnellen Kohlestrichen verunstaltet: Der Vandale hatte dem Gesicht ein blaues Auge verpasst und dieses dann mit einem dicken X durchgestrichen. Dort, wo der Mund war, war eine mit ungenauen Strichen gezeichnete, weit aufgerissene Fratze entstanden.
"Was sie auch immer hier mitgenommen haben", sagte Sophia gerade, "wir sind zu spät."
"Nicht unbedingt", widersprach Charlie. "Ich glaube, Leonardo war so freundlich, uns einen Hinweis auf seinen derzeitigen Aufenthaltsort zu hinterlassen."
Die Agentin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann erstarrte sie plötzlich. "Pst! Hörst du das?"

"Erdgeschoss und obere Etagen gesichert!", teilte Sidney Valdimier mit. "Keine Spur von ihnen."
Der Vampir nickte. Also waren sie im Keller. "Kanndra, du behältst den Ausgang im Auge", kommandierte er. "Sid und ich gehen runter."

"Das sind Kollegen!", entfuhr es Charlie. "Sie können uns hel..."
"Auf keinen Fall!", zischte Sophia. Sie löschte die Fackel und zog den Hauptgefreiten hinter sich her die Treppe herauf. "Wer weiß, was hier noch für Sachen herumliegen, die nicht in die falschen Hände geraten sollten. Wenn du jemandem von der Werkstatt hier erzählst, wird Vetinari dich persönlich mit seinen Skorpionen bekannt machen. Und überhaupt - bis wir das hier mit deinen Kollegen alles geregelt hätten, wäre sowieso schon viel zu viel Zeit vergangen."
"Und wie willst du die Tür zubekommen?", fragte Charlie.
"Das werden wir gleich feststellen. Ich tippe mal auf das genaue Gegenteil von der Art, wie man sie öffnet."
Und so war es auch. Nahtlos schloss sich die Mauer, und keine Tür war mehr zu erkennen.
"Sie sind im Teppichlager!", zischte Charlie, der den näher kommenden Schritten lauschte. "Was sollen wir jetzt machen?"

Mit gespannten Armbrüsten und vor sich gehaltenen Laternen betraten Sidney und Valdimier das Lager. Der Werwolf schnupperte. Eine schwache Duftspur aus Schweiß und (Flieder?) zog sich durch die Dunkelheit. Er gab Valdimier ein Zeichen: Weiter!
Zwischen den Rollen und Stapeln klatschianischer Teppiche, deren Besitzer jetzt mit einer tödlichen Messerwunde oben hinter seinen eigenen Produkten lag, arbeiteten sie sich durch den Lagerraum nach vorne vor.
Kurz darauf fiel das Licht ihrer Laternen auf die offene Tür. Warte hier! bedeutete Sidney seinem Kollegen und näherte sich der Treppe. Ein übler Geruch stieg von unten auf. Wenn die beiden Killer sich dort unten befanden, waren sie vor seiner Nase sicher - aber wozu hatte er Augen?
Er blendete seine Laterne ab und schritt leise die Treppe hinunter. Durch die eingefallene Mauer am unteren Ende leuchtete er in das ehemalige Wohnzimmer. Die Stadt unter der Stadt... Wenn es von hier aus einen anderen Weg an die Oberfläche gab, waren die beiden sicher schon längst über alle Berge. Aber wenn nicht...
Er gab Valdimier einen Wink, und dieser folgte ihm nach unten. Charlie, der in einem der angrenzenden Räume ausgeharrt hatte, wartete noch ein paar Sekunden, atmete tief durch und lief dann auf seine Kollegen zu.
"Stadtwache! Keine Bewegung!", rief Sidney, und zwei Armbrüste wurden in die Richtung des Spurensicherers geschwenkt.
Charlie hob die Hände und trat in den Lichtkegel der Laternen.
"Charlie?", fragte Valdimier verblüfft. "Was machst du denn hier?"
"Wir haben ein in einer Seitenstraße einen offenen Kanaldeckel gefunden", behauptete der Hauptgefreite. Er hatte mal gehört, dass Werwölfe Lügen riechen konnten, aber er hoffte, der faulige Geruch in diesem Raum würde das überdecken. "Ich bin dem Gang ihm gefolgt und hier herausgekommen."
Sidney knurrte etwas Unverständliches und ließ seine Armbrust sinken. Valdimier sah den Spurensicherer kritisch an. "Heute in Zivil, Hauptgefreiter?"
"Ja, stell dir vor. Ich hatte doch glatt vorgehabt, Feierabend zu machen und nicht um spät abends noch durch stinkende Tunnel zu wandern - aber nein, Meck musste uns ja hinter euch her hetzen. 'Da ist ein Einsatz direkt neben dem Wachhaus', sagte er. 'Schaut doch mal nach, ob ihr helfen könnt'. Also, wenn ihr mir eine Laterne hier lasst, dann kann ich hier mit der Spurensuche anfangen und ihr könnt oben mit eurer FROG-Arbeit weitermachen, was auch immer das ist. Einverstanden?"
Der Vampir warf ihm noch einen kurzen Blick zu, dann drückte er ihm seine Laterne in die Hand, und die beiden FROGs stiegen wieder die Stufen hinauf ins Teppichlager.
Charlie stellte die Laterne auf den Boden und machte ein Handzeichen in die Richtung, aus der er gekommen war. Sophia kam aus den Schatten herangelaufen, und gemeinsam liefen sie beide, nachdem die Schritte der FROGS den Lagerraum erreicht hatten, leise die Treppe hinauf. .
Oben warteten sie eine Weile, bis Charlies Kollegen im Erdgeschoss des Geschäfts angekommen waren, dann liefen sie hinterher. Am Eingang unterhielten Sid und Valdimier sich mit jemandem, den der Spurensicherer nicht sehen konnte ("...SUSI?", beendete der Vampir gerade eine Frage). Leise huschten die beiden in ein angrenzendes Zimmer und öffneten ein Fenster.

Sidney schnupperte. Wo kam auf einmal der Fliedergeruch her?

In geduckter Haltung folgte Sophia Charlie quer über den Platz. Der Mond hatte sich glücklicherweise inzwischen wieder hinter einer Wolkendecke versteckt und gab ihnen so zusätzliche Deckung.
"Warte hier!", flüsterte der Hauptgefreite der Agentin zu, als sie das Wachhaus erreicht hatten. Sophia nickte stumm und versteckte sich in einem Schatten.
Stimmen waren inzwischen vom Teppichgeschäft her zu hören. Seine Kollegen hatten wohl mittlerweile begriffen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Schnell lief Charlie in den Innenhof und weckte den für den Fuhrpark verantwortlichen Gefreiten.

Aus den Schatten des Wachhauses heraus beobachtete Sophia das Treiben vor dem Teppichladen. Die Wächter hatten inzwischen das offene Fenster gefunden, und einer von ihnen kniete jetzt dort am Boden und schien zu schnüffeln. Dann deutete er in Richtung Wachhaus und sagte etwas zu den anderen.
Wo blieb nur dieser Hauptgefreite?
Sie drehte sich zum Wachhaus um, als sie das Geräusch eines fahrenden Eselkarrens hörte. "Spring auf!", rief Charlie ihr zu, der auf dem Fahrersitz saß.
Die Agentin gehorchte. Vom Teppichgeschäft her waren gerufene Kommandos zu hören, und der Hauptgefreite lenkte den Karren in die entgegengesetzte Richtung davon.
"Sophia, darf ich dir Schusi vorstellen? Der schnellste Esel der Wache. Er steht immer bei uns im Hof bereit für Notfalleinsätze. Allerdings bin ich ihn noch nie gefahren, also halt dich lieber fest!"
Sophia nickte. Charlie ließ die Zügel knallen und schnalzte mit der Zunge. "Hü! Schneller!", rief er versuchsweise.
Schusi schien zu verstehen, was von ihm erwartet wurde, und schaltete einen Gang höher.

"Du sagst, du weißt, wo Leonardo ist?", fragte Sophia schließlich, als sie sicher sein konnten, potenzielle Verfolger fürs erste in den Gassen der Stadt abgehängt zu haben.
"Ja", erwiderte Charlie und erzählte ihr von der verunstalteten Zeichnung. "Er hat uns einen Straßennamen und ein Gebäude mitgeteilt."


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Welche? Hinweis: Der Straßenname ist nicht im "offiziellen" A-M zu finden
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[9]

"Natürlich!", entfuhr es Sophia. "Der PND beobachtet diesen Ort schon seit einer ganzen Weile. Wir vermuten dort den Sitz eines militanten Offler-Ordens."
"Ein militanter Orden... ein unheimlicher rotäugiger Priester... ich würde sagen, wir sind auf der richtigen Spur. Schneller, Schusi!"

Offlerschrein, 22:40 Uhr

Dunkel und einsam lag der kleine, im klatschianischen Stil gebaute Schrein in einer ruhigen Wohngegend der Stadt. Charlie parkte Schusi am Straßenrand und sprang vom Karren.
"Dies soll das Hauptquartier eines Ordens sein?" Skeptisch sah der Spurensicherer auf das Häuschen, das kaum größer als der Aufenthaltsraum der Wache war.
"Nach allem, was wir an Informationen haben, ja", bestätigte Sophia. "Los, sehen wir nach!"
"Sollten wir nicht Verstärkung holen?", widersprach Charlie. "Wenn dort ein ganzer Orden auf uns lauert..."
"Keine Sorge", grinste die Agentin und deutete auf den am Straßenrand stehenden Esel. "Die Verstärkung kommt sicher bald - oder meinst du, eure Werwölfe verlieren unsere Fährte so leicht? Jetzt komm schon, wer weiß, was die gerade mit Leonardo anstellen."

Die Tür zum Inneren des Gebäudes war verschlossen, und ein Schild teilte allen, die es wissen wollten, mit, dass der GOTTESDIENST JEDEN OKTOTAG UM 10 UHR stattfand. Kein Laut war aus dem Inneren zu hören. Sophia betrachtete im Mondlicht eine Weile das Schloss und zog dann zwei komplex geformte Drahtschlingen aus ihrer Tasche.
"Halt du nach verdächtigen rotäugigen Priestern Ausschau, ja?", flüsterte sie, bevor sie sich konzentriert daran machte, das Schloss zu knacken. "Das dauert nicht lange."
Charlie beobachtete die Frau verblüfft. Gehörte das zu den Standardkenntnissen einer Codeknackerin? Bei Vetinari war alles möglich.
Nach nicht einmal einer Minute schwang die Tür auf. Sophia legte einen Finger an die Lippen, und gemeinsam betraten sie das Gebäude.

Das Innere des kleinen Tempels bestand aus nichts weiter als einem Altarraum mit schlichten Holzbänken und Wandgemälden, die vom einfallenden Mondschein in fahles Licht getaucht wurden. Die Bilder zeigten die Geschichte Offlers und seiner Anhänger: Offler mit seinem ersten Propheten Ptuh-nit-gud, den er vor dem Tod gerettet hatte, als er in einem Bastkörbchen in einem Fluss ausgesetzt worden war; Offler mit seinen getreuen Vögeln - die sechs, die ihn mit Nahrung versorgten und seine Zähne sauber hielten, und der siebte und achte, die beiden heiligen Botenvögel, die ihm Kunde über seine Gläubigen und ihre Sünden brachten; und Offler am Ende aller Tage, wie sein riesiger Schlund die .Ungläubigen verschlang.

Der Altar war aus schlichtem Granit gemeißelt und trug die Inschrift

OFFLERIVS DEI ALII SEMPER VICIT
FELIX ERGO ES!


Darunter war das ein Relief eines im Profil dargestellten Krokodilskopfes mit zwei Dutzend rasiermesserscharfen Zähnen zu sehen, auf dem acht stilisierte Vögel saßen.
"'Offler hat die anderen Götter immer besiegt, also freue dich'", übersetzte Charlie.
"Hurra", kommentierte Sophia trocken.. "Wie schön für uns. Aber jetzt hilf mir lieber, statt die Kunstwerke zu bewundern. Es muss hier irgendwo einen geheimen Eingang zum Hauptquartier des Ordens geben."
Charlie kniete sich vor dem Altar hin und untersuchte ihn, während Sophia die Wandgemälde genauer betrachtete. "Die Zähne lassen sich drücken!", stellte er fest. "Wahrscheinlich müssen einige davon sie in der richtigen Reihenfolge gedrückt werden."



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Welche wohl?
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[10]

Charlie blickte hinab. Schmale Stufen führten an einer gemauerten Wand entlang spiralförmig etwa drei Meter in die Tiefe. Am Fuß des Schachtes schien sich ein Gang anzuschließen, der von ihrer Position aus jedoch nicht einsehbar war. Schwacher Fackelschein flackerte aus dieser Richtung, und gedämpfte Stimmen waren zu hören.
"Was jetzt?", flüsterte Charlie.
"Ich gehe rein", entgegnete Sophia und holte eine kleine Pistolenarmbrust aus einer verborgenen Manteltasche. "Du kannst hier draußen warten."
"Warum gehen wir nicht einfach alle gemeinsam?", fragte da plötzlich eine Männerstimme hinter ihnen. Charlie und Sophia drehten sich um und sahen einen in das traditionelle Gewand eines Offlerpriesters gekleideten Mann in der Tür stehen, der eine gespannte Armbrust auf sie gerichtet hielt. "Aber die Waffe können Sie ruhig hier oben lassen, Fräulein."
Sophia ließ ihre Armbrust auf den Boden fallen, und der Priester stieß mit dem Fuß die Tür des Gebäudes hinter sich zu. "Nach Ihnen, bitte!", sagte er mit einer einladenden Geste.

Der Keller des kleinen Tempels war deutlich weitläufiger als das Gebäude selbst. Der Priester führte sie an mehreren geschlossenen Türen vorbei in einen großen Raum, in dessen Mitte eine Apparatur aus Röhren, Kammern und Wassergefäßen Gestalt annahm. Bewacht von mehreren bewaffneten Männern arbeitete dort ein mittelgroßer alter Mann mit Bart und Halbglatze, den Charlie sofort als Leonardo erkannte, daran, die Maschine zu vollenden.
Eine Gestalt verließ den Kreis der Männer, die um die Apparatur herum standen, und trat auf die Gefangenen und ihren Bewacher zu. Er hatte eine schneeweiße Haut und rote Augen, aber seine Zähne zeigten, dass es sich wohl nicht um einen Vampir handelte.
"Herzlich willkommen im Allerheiligsten von Opus Offlerii, sagte er. "Ich bin Diakon Braun. Sie müssen Vetinaris Suchtrupp sein. Der Orden hatte ein Auge auf Sie, seit Sie im Leonardo-Museum gewesen waren. Jussuf hier" - er deutete auf den Mann mit der Armbrust - "hat neben dem Schrein gewartet, falls Sie uns irgendwie finden würden. Wie ich sehe, hat unsere Vorsicht sich ausgezahlt."
Er wandte sich an Jussuf: "Fessel sie und setz sie in eine Ecke. Wir überlegen uns später, was wir mit ihnen machen."
Er wandte sich ab, drehte sich dann aber noch einmal um. "Ach ja, und wenn du fertig bist, park den Esel der beiden bitte am Schuppen hinter dem Tempel. Und verriegel die Geheimtür von innen, wenn du zurückkehrst." Er zwinkerte seinen Gefangenen zu. "Wie schon gesagt - etwas Vorsicht kann nie schaden."

Wenige Minuten später saßen Charlie und Sophia, an Händen und Füßen gefesselt, in einer Ecke des Raumes, unweit von Leonardo.
"Es tut mir leid!", zischte dieser ihnen zu. Offensichtlich hatte er das Gespräch zwischen ihnen und Diakon Braun mit angehört. "Das habe ich alles nicht gewollt."
"Was ist das eigentlich für ein Gerät?" Sophia zeigte auf den Apparat, der inzwischen einen relativ fertigen Eindruck machte. Nur noch wenige Einzelteile lagen neben dem Gebilde verstreut.
"Ich habe noch keinen Namen dafür", entgegnete das Genie. "Aber es ermöglicht einem, die Gespräche der Götter zu verfolgen."
"Ja", nickte Braun, der zu ihnen getreten war. "Und mit dem, was wir erfahren, werden wir Offler sicher zu dem ihm gebührenden Platz unter den anderen Göttern verhelfen. Aber jetzt Schluss mit den Gesprächen, verstanden? Mach weiter, alter Mann."
Charlie und Sophia sahen sich gegenseitig an. Was nun? Die Wache konnte sie hier unten nicht finden - nicht jetzt, wo Schusi nicht mehr an der Straße stand und der Keller von innen verriegelt war. Kurzum: Die Situation war ausweglos, wenn nicht ein Wunder geschah...

"Ich bin fertig!", verkündete Leonardo keine Viertelstunde später, nachdem er das letzte Teil festgeschraubt hatte. "Die Maschine ist einsatzbereit."
"Hervorragend!" Diakon Braun musterte den Apparat interessiert. "Wie bedient man es?"
"Oh, das ist ganz einfach." Leonardo deutete auf einen Hebel. "Zur Energieerzeugung muss in diesem Kessel hier unten ein Feuer entfacht werden, der das Wasser in dem Kessel darüber zum Dampfen bringt. Die akustischen Schwingungen, die überall in der Luft vorhanden sind, werden dann in diesen kleineren Wasserbehältern gefangen und verstärkt, und dadurch, dass man drei von den Behältern hat, ist eine Filterung..."
"Danke, aber bleiben wir bei der Praxis. Der Kessel hier unten, sagst du?"
"Ja. Aber... äh..."
"Ja?"
"Es ist nur... Sie haben versprochen, mich gehen zu lassen, wenn die Maschine fertig ist."
"Ja, das habe ich. Aber machen wir doch erst einmal die Generalprobe."
Er winkte zwei andern Ordensmitgliedern zu, die einige Eimer Wasser und Feuerholz brachten. Kurz darauf war die Maschine einsatzbereit.
Braun warf ein entzündetes Streichholz in die Feuerkammer, und der Raum erstarrte. Alle, Charlie und Sophia eingeschlossen, blickten gebannt auf die Vorrichtung. Eine Weile geschah nichts, während das Feuer langsam seine Wirkung entfaltete. Nach einiger Zeit war ein Zischen zu hören, das immer lauter wurde. Der Dampf aus dem großen Wasserkessel verschwand in dem komplizierten Röhrensystem.
Und dann... dann waren in dem Zischen andere Geräusche zu hören. Sie kamen aus einem in der Mitte der Maschine angebrachten Trichter. Erst leise und verzerrt, aber immer deutlicher... Stimmen, Hunderte von ihnen.
Und dann... "FO, ICH GLAUBE, JETFT HABT IHR LANG GENUG EUREN FPAFF GEHABT."
Und dann... dann kam noch etwas anderes aus dem Trichter. Eine Gestalt, in der Perspektive irgendwie verzerrt, klein und doch riesengroß. Sie schien direkt aus der Maschine heraus zu treten, und zwei Schritte später stand sie menschengroß in der Mitte des Raumes. Menschlich, mit Schuppen, einem Krokodilskopf und reptilienhaften Augen. Sie sah wütend aus.
Die Ordensleute fielen auf die Knie. Diakon Braun senkte ehrfürchtig sein Haupt. "Oh, großer Offler, sieh, was wir dir..."
Charlie ahnte, was jetzt kommen würde. Keinem Gott konnte es gefallen, wenn Sterbliche seine Privatsphäre stören würden. Er sah zu der neben ihr sitzenden Agentin, die ihre Augen geschlossen hatte.
Gute Idee, dachte er, und rief Leonardo, der den Krokodilgott fasziniert betrachtete, zu: "Nicht hinsehen!"
Und dann... Hitze, Flammen, Schreie. Eine schrille Stimme, die nur mit Mühe als die von Diakon Braun zu erkennen war: "Es... ist wundervoll!" Irres Gelächter, mehr Schreie.. Auch Charlie und Sophia schrieen. Die Flammen schienen an ihnen zu zehren, aber sie dennoch zu verschonen. Charlie stellte sich vor, was mit den Ordensleuten gerade passieren mochte - wie ihre Gesichter schmolzen, wie ihr Fleisch verbrannte und nur noch Skelette übrig blieben...
Und dann... Stille. Nach einigen Minuten wagte Charlie es, die Augen wieder zu öffnen. Der Raum war leer - keine Ordensleute, keine Maschine, nur er, Sophia und Leonardo, der auf dem Boden lag und seine Hände an die Ohren gepresst hielt. Auch Sophia hatte die Augen inzwischen wieder geöffnet. Die Agentin atmete schwer.
"Was... ist gerade passiert?", fragte sie.
"Ich glaube, es ist ganz gut, wenn wir das nicht wissen", entgegnete der Hauptgefreite, und rief dann, an Leonardo gewandt: "Hallo? Herr da Quirm?"
Leonardo nahm die Hände von den Ohren und richtete sich auf. "J... ja. Mir geht es gut... glaube ich."
"Könnten Sie uns vielleicht losbinden?"
Das Genie ging, leicht schwankend, zu ihnen und löste die Fesseln. Er schien unter Schock zu stehen.
Sophia wandte sich an Charlie. "So, Hauptgefreiter. Ich schlage vor, du nimmst deinen Schusi und kehrst zur Wache zurück, damit deine Kollegen die Suche einstellen. Wenn du ihnen erzählst, dass du im Auftrag von Vetinari gehandelt hast, dürften sie dir ja kaum etwas ans Zeug flicken können, oder?" Sie versuchte, wieder ein freches Grinsen aufzusetzen, aber es gelang ihr nicht so recht. Man spürte ja auch nicht jeden Tag den Zorn eines mächtigen Gottes.
"Und du...?"
"Ich werde mit Leonardo zusammen zum Patrizier zurückkehren. Und wir werden uns um die Werkstatt unter dem Teppichgeschäft kümmern, damit die nicht in falsche Hände gerät."
Leonardo nickte.
"Gut", meinte Charlie. "Ich... äh... es hat mich gefreut, mit dir zusammen zu arbeiten."
Diesmal wirkte das Grinsen echter. "Mich auch, Hauptgefreiter. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder."

Offlerschrein, 23:30 Uhr: Epilog

"Und... was passiert jetzt?"
SOWEIT ICH WEISS, PASSIERT IMMER DAS, WORAN MAN ZUVOR GEGLAUBT HAT. WAS GLAUBST DU?
"Nun, ich habe immer geglaubt, dass Offler mich in allen Ehren an Seinem Göttlichen Flusslauf willkommen heißen wird, wo es Obst und Fleisch in Überfluss gibt..."
IM ERNST? INTERESSANT. DANN DÜRFTE DEIN FALL WOHL DIE BERÜHMTE AUSNAHME SEIN, DIE DIE REGEL BESTÄTIGT.

[1] Charlie wandte sich wieder dem Zettel zu. "Trenn das Grobe und das Feine?"
Sophia schwieg und sah ihn nur abwartend an.
"Wenn da eine Botschaft drin enthalten ist, muss es einen Schlüssel geben. Grobe und feine Buchstaben voneinander trennen? Wann ist ein Buchstabe grob oder fein? Grobes und feines trennt man mit einem Sieb... also sieben? Wie siebt man Buchstaben? Nein, Moment... Sieben! Die Zahl sieben als Schlüssel?"
Charlie betrachtete die Buchstaben auf dem Blatt Papier. "Verschiebung um sieben Buchstaben? Nein, das ergibt nichts. Jeden siebten Buchstaben? Das ist auch eine Art Sieben, oder? Man siebt jeden siebten Buchstaben heraus? H... I... N... Ja, das ist es, oder?"
"Ich bin beeindruckt, Hauptgefreiter", sagte Fräulein Oderfünf nicht ohne eine gewisse Ironie in der Stimme. "'Hinter der Schrift', lautet die Botschaft. Aber ich habe den Zettel allen chemischen Verfahren unterzogen, die mir zum Sichtbarmachen unsichtbarer Schrift bekannt sind, und habe bisher nichts finden können."
Die Lösung durchfuhr Charlie wie ein Blitzschlag. "Sagen Sie, Fräulein Oderfünf, können Sie Leonardos Schrift ohne Hilfsmittel lesen?"
"Klar", bestätigte die Frau. "Mit etwas Übung geht das ganz gut."
"Aber wo ist 'hinter der Schrift', wenn man nicht so viel Übung hat?"
Sophia sah ihn einige Sekunden verständnislos an, dann zuckte die Erkenntnis über ihr Gesicht. "Natürlich!", entfuhr es ihr. "Hinter dem Spiegel!"
"Genau", bestätigte Charlie, den jetzt das Jagdfieber gepackt hatte. "Helfen Sie mir mal?"
Gemeinsam hoben sie den großen Spiegel von der Wand.
"Hier steckt etwas an der Rückseite", sagte Sophia und griff danach.

[2] Keine zehn Minuten später rief die Codeexpertin ein triumphierendes "Fertig!" in den Raum.
Charlie ließ seinen Notizblock sinken. "Ich habe zwei mögliche Kombinationen gefunden", sagte er, "aber ich finde keine Möglichkeit, zwischen ihnen zu wählen."
Sophia grinste. "Aber wir sind uns sicher einig, dass man in der Rechnung 'MONA+OGG=GNOM' die Buchstaben durch Ziffern so ersetzen muss, dass die Gleichung aufgeht, nicht wahr?"
Charlie nickte.
"Gut - und wahrscheinlich auch, dass das Stillleben über dem Gemälde ein Hinweis ist, dass das Lösungswort 'MANGO' ist? Es besteht aus fünf Buchstaben, die alle in MONA OGG vorkommen, das wäre ein zu großer Zufall."
"Ja, das habe ich mir auch gedacht. Und wenn man davon ausgeht, dass die Zahlen wohlgeformt sind und ohne führende Nullen auskommen, und dass verschiedene Buchstaben auch verschiedene Ziffern sind, gibt es zwei verschiedene Lösungen: 19427 und 39045. Meine Lösung wäre es, einfach beide auszuprobieren."
"Tja, dann fehlt dir noch ein kleiner Schritt zur perfekten Lösung, Hauptgefreiter. Denk an das Flugblatt!"
"Das Flugblatt?"
"'Om ist groß'! OM ist in deiner ersten Lösung 71, in der zweiten 53. Und wenn Om groß ist, dann..."
"...muss die erste Lösung die richtige sein." Charlie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. "Kompliment, Fräulein Oderfünf."
"Sophia, bitte", lächelte die Agentin. "Dann wollen wir doch mal nachsehen, ob ich Recht hatte..."

[3] "Was ich gerade sagen wollte", fuhr Sophia fort: "Das sind bestimmt Himmelsrichtungen. Mittwärts, Randwärts, Drehwärts, Gegen-drehwärts. Quadratisch, so wie dieser Raum. Aber wie ist die Orientierung?"
"Die Tür?", mutmaßte Charlie. "Schließlich steht man dort, wenn man den Raum betritt. Sie ist genau in der Mitte der drehwärtigen Seite."
"Sicher?"
"Ja, ganz sicher. Mein Orientierungssinn hat mich noch nie betrogen." Charlie ging zur Tür. "Dann stehe ich jetzt auf dem vierten Buchstaben der letzten Zeile. Der Raum ist mit quadratischen Fliesen gekachelt und ziemlich genau sieben Meter breit, es sind - ja, genau vierzehn Kacheln pro Kantenlänge."
"Du stehst auf einem G. Also einen Schritt in gegen-drehwärtige Richtung."
Charlie ging zwei Fliesen weit nach vorne.
"Jetzt ein M... wenn die Tür drehwärts liegt, ist mittwärs..."
"Links", fuhr Charlie fort, und tat einen Schritt.
So folgten sie der Spur über einen verschlungenen Pfad - mittwärts, drehwärts, wieder mittwärts, wobei sie immer wieder diversen Ausstellungsstücken aus dem Weg gehen mussten, bis ein erneutes "Mittwärts" von Sophia Charlie aufhorchen ließ.
"Dann würde ich wieder genau auf den Punkt gehen, von dem ich gerade komme", widersprach er.
Sophia sah auf. "Das heißt, du bist am Ziel", mutmaßte sie.
Charlie kniete sich nieder und betrachtete den Boden. Er befand sich jetzt ziemlich in der Mitte des Raumes, etwas mehr als drei Meter von der hinteren rechten Ecke entfernt. "Tatsächlich", stellte er fest, als er die Fliesen abtastete. "Hast du mal einen Hebel?"

[4] "Es gibt fünfhundertundzwölf mögliche Kombinationen", rechnete Charlie vor. "Im Zweifelsfall müssen wir sie eben alle durchprobieren, ob eine davon ein Wort ergibt."
"Ich weiß nicht", entgegnete Sophia nachdenklich. "Könnte das Herz ein Hinweis sein?"
"Stand in seinem Dossier etwas zu früheren Liebesbeziehungen?", überlegte Charlie.
Sophia schüttelte den Kopf. "Über seine Zeit in Quirm stand dort kaum etwas, und während er in Ankh-Morpork war, gab es wohl keine. Vielleicht sollten..."
"D!", rief Charlie plötzlich aus.
"Wie bitte?"
"D - der Buchstabe D, meine ich. In dem Tresor, in dem der Schlüssel lag, war auch ein silberner Ring mit eingraviertem D. Wenn er mal eine Beziehung mit jemandem hatte, dessen Name mit D beginnt, dann..."
Sophia stellte das erste Rad so ein, dass das D oben links zu sehen war. "Dann bleiben noch 64 Kombinationen, von denen die meisten wegen unsinniger Buchstabenkombinationen ausscheiden." Sie drehte eine Weile an den anderen Rädern. "Ich hab's!"
Charlie sah auf die Schatulle. Das Wort DONATELLO war dort zu lesen.
"Donatello?", fragte er nach.
Die Agentin zuckte mit den Achseln. "Laut dem Dossier hat Leonardo, sagen wir mal, nicht viel für Frauen übrig. Aber jetzt lass uns mal nachsehen, was in der Schatulle ist."

[5] Sophia sah auf. "Nein, noch nicht. Gesucht ist ein Mann... und das Rätsel sagt, 'Ich zeig dir, was er tat'. Aber hier steht nicht, was er tat."
Sie schob den Zettel in die Mitte des Tisches, und beide beugten sich eine Weile schweigend darüber. Ein dezenter Fliederduft stieg Charlie in die Nase.
"'ZEIG DIR'", merkte er an und deutete auf die zweite Zeile. "Wieso ist das in Großbuchstaben geschrieben?"
"Gute Frage", bestätigte Sophia. "Steckt da vielleicht ein Hinweis auf das, was der Mann getan haben soll?"
Der Kellner unterbrach ihre Gedankengänge, indem er zwei Weingläser vor ihnen abstellte.
"ZEIG DIR", murmelte Charlie, als sie wieder allein waren. "GEIZ... REIZ..."
"Was machst du da?"
"Ich suche Anagramme. REIZIG... DREIZIG... REGIZID! Königsmord! Ein Königsmörder!"
"Steingesicht Mumm!", rief Sophia aus. "Er hatte den letzten König getötet, und damit die Herrschaft der Patrizier eingeläutet."
"Das muss es sein! Schnell weiter. 'Wenn ihr es habt'... die Lösung? Gut, die haben wir... aber wie sollen wir dann in hundert Jahren etwas sein?"
"Vielleicht bezieht sich 'es' auf etwas anderes? Steingesicht Mumm... wenn wir Mumm haben. Wenn wir mutig sind."
"Wenn wir mutig sind und nachdenken... in hundert Jahren..."
"Trolle!", unterbrach Sophia.
"In hundert Jahren sind wir Trolle?"
"Nein... wenn ihr 'es' habt. Nicht Mumm, sondern ein Steingesicht! Wenn wir Trolle sind!"
"Ja, das klingt nicht schlecht. Wenn wir Trolle sind und nachdenken... das ist es! Es gibt diese Geschichten von uralten Trollen, die..."
"Uralt passt. Streng genommen war sein Spitzname 'Altes Steingesicht'."
"...die anfangen, zu viel nachzudenken", fuhr Charlie fort, ungehalten über die Unterbrechung. "Sie bewegen sich kaum noch, und im Lauf der Jahrhunderte verwandeln sie sich in..."
Aber Sophia hörte gar nicht mehr zu, sondern drehte schon die Segmente des Kryptex. "B... E... R... G... E. Mal sehen..."

[6] "Den elften Teil von dreizehn", begann Sophia. "Dreizehn Jünger Bruthas, dreizehn Goldene Regeln der Kohlbauern, dreizehn Monate im Jahr..."
"Das klingt gut", unterbrach Charlie. Der elfte wäre Sektober - aber erster und zweiter Teil wären dann Ick und Offel... 'Offel bringt Ick an' ergibt keinen Sinn."
"Das nicht..." Sophia sah nachdenklich dem Kellner hinterher, der ein kleines Glas Flüssigkeit, in der etwas Traditionelles zu schwimmen schien, einem einsamen Gast auf den Tisch stellte. "Der Ober bringt Sekt!"
"Wieso? Wir haben keinen be-" Charlie stockte. "Wovon redest du?"
"Sektober. Zweiter Teil Ober, erster Teil Sekt."
"Sehr gut! 'Nimm dir und schüttel, was man sonst nicht tut'... das muss sich dann auf den Ober beziehen, nicht auf den Sekt. Sekt schüttelt man manchmal, bevor man ihn öffnet."
"Soll ich mal?" Sophia deutete grinsend auf den Kellner.
"Sei nicht dumm", entgegnete Charlie schroff. "Leonardo hat das sicher nicht wörtlich gemeint."
"Dumm?" Die Agentin sah ihn ungläubig an. "Hör mal, hast du denn gar keinen Sinn für Humor, Hauptgefreiter?"
"Wieso?" Charlie blickte verständnislos vom Gedicht auf.
"Ach, vergiss es. Kümmern wir uns lieber um das Rätsel. Den Ober schütteln... könnte das wieder ein Anagramm sein? EROB... ROBE? 'Nimm zwei davon, es steht dir sicher gut!' Zwei ROBEN!"

[7] "Zum Pseudopolisplatz. 'Pseudopolis' ist ephebianisch für 'Scheinstadt'. Laut der zweiten Zeile geht es wohl um das am weitesten mittwärtig gelegene Haus."

[7a] "Merke dir mein Wort", überlegte Sophia laut. "Ein Wort... das ist es!"
Sie drehte sich zur Wand und sagte: "Hinab!"

[9] "Warte, sag nichts", meinte Sophia. "Ein blaues Auge... Die Veilchengasse?"
"Es ist durchgestrichen", sagte Charlie. "Deshalb würde ich auf den Veilchenweg tippen. Veilchen weg, du verstehst? Das ist eine kleine Straße an der mittwärtigen Seite von Morpork. Dort befindet sich außerdem ein kleiner Offler-Schrein, was den schreienden Mund erklären würde."
"Du kennst dich gut aus in der Stadt, was?" Sophia warf ihm einen anerkennenden Seitenblick zu. "Moment mal... ein Schrein im Veilchenweg?"
"Ja... sagt dir das was?"

[10] Sophia trat zu ihm und sah ihm über die Schulter. "Könnte die Inschrift ein Hinweis sein?", fragte sie. "Die Grammatik kommt mir etwas seltsam vor."
Charlie betrachtete die Buchstaben. "Latitianische Zahlen?", spekulierte er. "OFFLERIV... IV ist vier... DEI... I ist eins..."
"Versuch mal jeweils immer jeden siebten und achten Buchstaben", sagte Sophia. "Die Nummern von Offlers heiligen Vögeln."
"Das wären... IV... II... VI... IX. Vier, zwei, sechs, neun. Das sieht gut aus!"
Charlie drückte auf die entsprechenden Zähne, und mit einem steinernen Knirschen schob der Altar sich gegen die hintere Wand, und ein dunkler Schacht tat sich vor dem Spurensicherer auf.




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Feedback:

Von Daemon Llanddcairfyn

10.05.2005 14:42

So, mal sehen:
Rätsel waren am Anfang super, ließen zum Ende hin aber stark nach :o(
Konzept war interessant und darf wiederholt werden ;o)
Story war... wohl eher Beiwerk, oder? *g*
Leonardo fand ich nicht ganz gelungen, zu wenig 'verwirrt'.

Aber jetzt mal mit ein bißchen mehr Text: Ich verstehe natürlich, wenn man sich soviel Mühe gegeben hat mit dne Rätseln und sich auch eine Story erdachte, die das Ganze trägt, dass man dann nicht mit 8 Seiten um die Ecke kommen will oder gar die Rahmenhandlung äußerst unkreativ durch eine rückblickende Erklärung am Ende runterrattern will, allerdings fand ich die Leonardo-Zwischenstücke zu 'aufklärend', man wußte während der Ermittlung schon sehr früh, worum es geht, ohne dass die Wächter dies taten und gerade die Sache mit dem 'angelülerten' Stift hätte man ja durchaus in ein Rätsel umbauen können, ob Leonardo freiwillig den Raum verlassen hat oder ähnliches. Scheinbar basiert die Geschichte ja auf einem ähnlichen Buch und ich weiß nicht, wie das dort gelöst ist, so fand ich jedenfalls, dass es zuviel von der Spannung und der Ermittlung wegnahm.

Ansonsten: Spaß gemacht hat es auf jeden Fall, auch wenn ich einige Haare verloren habe :o)

- dae

Von Harry

10.05.2005 20:09

Ich stimme Dir fast in allen Punkten zu, und hätte mir selbst auch einen bis zwei Punkte weniger gegeben :-)
Leonardos Charakter... na ja, was heißt "verwirrt"? Weltfremd ist er, und weltfremd ist es doch auch, mit ein paar Papieren in einen Tempel zu marschieren und die Priester zu bitten, ihre Dogmen zu ändern, oder? Aber ich musste natürlich einige Kompromisse machen für die Story... und ich habe gehofft, mich ein bisschen dadurch rausretten zu können, dass ich sage, der "frühere" Leonardo war noch nicht so "verwirrt" wie der spätere.
Soll ich die Rätsel jetzt auflösen, oder will noch jemand halbwegs spoilerlose Tipps haben?
Ach ja, und wie vielen Leuten ist der wortwörtliche Deus ex Machina am Ende aufgefallen?

Von Daemon Llanddcairfyn

11.05.2005 12:00

Was meinst du mit Rätsel auflösen? Die vollständige Geschichte reinsetzen? Oder hier die Lösungen posten? Wenn Zweites, mach dafür doch bitte einen neuen Thread hier im Forum auf, damit dieser 'frei bleibt' für die allgemeine Kritik. Kritik an den einzelnen Rätseln kommt dann schon, keine Bange ;o))

Von Romulus von Grauhaar

11.05.2005 12:43

Und dann kannst du ja auch [code:1:c016489c55][spoiler][/spoiler][/code:1:c016489c55] nutzen :)

Von Daemon Llanddcairfyn

11.05.2005 16:28

Ich will aber auch die Diskussionen über Einzel-Rätsel nicht hier haben ;o)

Von Harry

11.05.2005 19:36

Einen Thread hier im Forum gibt's ja schon... aber ich habe jetzt einfach mal die komplette Version online gestellt. Also kritisiert ruhig die Rätsel und/oder die Lösungen :-)

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