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Für Rekruten (erste Mission):
Armbrusttraining steht heute auf dem Ausbildungsplan.
Haben sie die Scheibe mit Absicht so klein gemacht?
Na, wie viele Bolzen treffen?
Dafür vergebene Note: 12
Der hochgewachsene Hauptmann in der grauen Uniform drehte sich um. Der leichte Schwung seiner Bewegung ließ die zusätzliche G.R.U.N.D.-Kordel an seiner Uniform schlenkern.
"Oberstes Gebot beim Schießen ist die Sicherheit! Und das ist nicht komisch. Da gibt es nichts zu lachen."
Hatte heute früh noch alles nach einem ungewöhnlich schönen Tag in Ankh-Morpork ausgesehen, war die Wetterlage innerhalb der ersten Minuten des Armbrust-Trainings dramatisch gekippt. Es goss in Strömen, und das natürlich bei ihrem ersten Unterricht im Freien. Die Uniform klebte Ophelia unangenehm rau und kalt am Körper.
"Die Armbrust ist eine Waffe, kein Spielzeug. Sie sollte auch als solche behandelt werden." Der Ausbilder hielt sich einen labbrigen Zettel mit einer undeutlich zu erkennenden, handschriftlichen Auflistung vors Gesicht. Den größten Teil seines Vortrages schien er davon abzulesen. Zwischendurch jedoch blickte er sie eindringlich an.
Die junge Frau bemühte sich möglichst unauffällig darum, ihren Nacken vor den kalten Wasserrinnsalen zu schützen. Sie fröstelte.
"Es gibt Bögen, deren Reichweiten bei bis zu 1 600 Metern liegen.", der Hauptmann blickte wieder einmal vom Zettel auf und räusperte sich, sichtlich von dem selbst Gesagten imponiert. "Natürlich sind das nicht solche Exemplare, wie wir sie Euch zum Üben geben würden. Ihr solltet erst einmal mit kleineren Dingen beginnen. Außerdem schießen wir in der Wache ja hauptsächlich mit Armbrüsten, die noch etwas anders zu handhaben sind."
Er stand so ungerührt in den nassen Fäden, die da aus dem grauen Himmel über seinem Kopf entsprangen, als wären sintflutartige Sturzbäche der Normalzustand der Welt, der ihn weder überraschte, noch etwas anginge.
"Unterschätzt niemals die Einschlagkraft von Bolzen. Es gab schon Fälle, bei denen..."
Ophelia blickte zu Boden und sah dabei zu, wie die mit Kreidepulver angedeutete Linie zu ihren Füßen zu verlaufen begann. Als der Hauptmann damit begann, verschiedene Bolzendurchmesser, Zahlenkolonnen für Legierungen und die Vor- oder Nachteile dieser oder jener Wandstärke zu erörtern, indem er immer wieder auf den sich langsam auflösenden Zettel blickte und die entsprechenden Daten monoton ablas, ließ sie ihr Gehirn in einen gnädigen Leerlauf hinüberdämmern.
Der Ausbilder schritt die Reihe der Rekruten ab und kam an Ophelia vorbei. Sie hob den Blick von der Pfütze und bemühte sich um einen interessierten Blick. Der Hauptmann starrte angestrengt auf die feuchten Schlieren, die inzwischen vom Papier rannen. Er runzelte die Stirn. Er hielt den Papierlappen schräg in das verregnete Zwielicht. Schwarze Tropfen fielen zu Boden. Frustriert knüllte er den unbrauchbar gewordenen Wisch zusammen.
"...Kommen wir zur Körperhaltung."
Es ging ein Seufzer der Erleichterung durch die Reihe der wartenden Rekruten, als ihnen endlich "ihre" Armbrust zugeteilt wurde. Jeder bekam noch eine Handvoll Bolzen. Dann mussten sie sich an der weißen Kreidepfütze aufstellen, nebeneinander, mit der linken Schulter dem Ziel entgegen.
"Die Schießlinie wird zwischen den Füßen platziert. Ihr erkennt den optimalen Stand daran, dass ihr die Augen schließen könntet und nach fünf Sekunden zielen noch immer treffen würdet. Körperhaltung hat aufrecht und straff zu sein. Schlaffe Kartoffelsäcke können wir hier nicht gebrauchen. Der Kopf wird hoch getragen, nicht schüchtern eingeknickt oder wie bei den Bücherwürmern unterm Arm. Wir wollen keine Briefmarken sammeln, sondern den Horizont treffen."
Der Hauptmann betrachtete die Rekruten einen Moment lang höchst skeptisch, dann entschied er sich seufzend.
"Na gut. Ich glaube das hat so keinen Sinn. Fangen wir mit Trockenübungen an."
Neben Ophelia wisperte eine Rekrutin einer anderen zähneknirschend zu: "Der hat gut reden! Trockenübungen! Pah! Wir haben hiernach noch im kleinen Saal einen Vortrag über Recht - und der ist nicht geheizt! Er dagegen kann sich gleich erst mal vor einen schönen warmen Ofen setzen. Ich hasse diesen Unterricht schon jetzt!"
Die Trockenübungen bewirkten, dass nun auch Ophelias Nacken unter Wasser stand und ihr insgesamt eisigkalt war. Sie zitterte erbärmlich. Doch der Ausbilder setzte seinen Unterricht erbarmungslos fort.
"Um die Armbrust zu spannen, senkt ihr den Lauf in Richtung Boden und tretet in die Eisenschlinge am vorderen Teil, vor den Wurfarmen."
Er verdeutlichte das Gesagte an seinem Vorzeige-Exemplar.
"Dann spannt ihr die Sehne...", wieder begleitete er das Gesagte in Form einer Handlung.
"Dann hebt ihr die Armbrust wieder, legt den Bolzen auf und hebt sie etwa in Schulterhöhe."
Die Armbrust des Hauptmannes hob sich in einer einzigen schnellen Bewegung, der Bolzen zitterte in seiner Auflage.
"Beim Schießen kommt es, wenn ihr auch treffen wollt, vor allem auf zwei Dinge an. Erstens: Ihr müsst eine Routine entwickeln. Und zweitens: Ihr müsst die nötige innere Ruhe zum Zielen haben. Wilde Verfolgungsjagden mit einer Armbrust im Anschlag sind zwar schon vorgekommen, aber dass jemand dabei das anvisierte Ziel getroffen hätte, davon weiß ich nichts. Wenn ihr mich fragt, empfehle ich noch immer ein ordentliches Schwert."
Nochmals blickte er in die triefende Runde. Regentropfen perlten ständig von seiner Nase.
"Na gut. Ich halte zwar nicht viel davon, aber ihr könnt nun eure ersten Erfahrungen sammeln." Während sich die Rekruten um ihn herum in neu erwachtem Eifer oder mit misstrauischem Blick auf die Waffe in ihren Händen, je nachdem, daran machten, ihre Armbrüste zu laden, nahm Hauptmann Llanddcairfyn den Bolzen vorsichtiger als vielleicht nötig aus der eigenen Waffe. Er löste die Spannung und stellte die Armbrust unauffällig beiseite.
Ophelia wischte sich mit dem Handrücken die anhaftenden roten Strähnen von Stirn und Schläfen. Sie spannte ihre Waffe, legte einen ihrer fünf Bolzen auf die Auflage und nahm die Waffe dann in den Anschlag. Sie zielte. Sie atmete wie geheißen nur zur Hälfte aus. Zögerte noch einen Moment und betätigte dann den Auslöser. Links und rechts neben ihr hörte sie die charakteristischen Geräusche abgeschossener Bolzen und einer gerissenen Sehne. Daemon Llanddcairfyn eilte einem gedämpften Scherzensschrei am anderen Ende der Reihe entgegen.
Ophelia entspannte sich etwas. Immerhin konnte er ihr so nicht dauernd über die Schulter sehen. Ihr Bolzen steckte am Rande der Schussauflage, doch das war mehr, als ein Großteil der Rekruten vorweisen konnte. Der erste Rekrut hatte schon ärztlich behandelt werden müssen. Und während sie den nächsten Bolzen auflegte, hörte sie den Hauptmann mit nervösem Unterton über den Übungsplatz donnern:
"Ich sagte, ihr sollt auch auf die anderen achten, verdammt noch mal! Das kommt nicht in Frage! Keiner rührt sich vom Fleck, bevor nicht jeder seinen letzten Bolzen abgeschossen hat! Dann erst holen alle gemeinsam ihre Bolzen zurück. Sagt mal... spreche ich zu undeutlich oder was?"
Ophelia hob den Arm, legte ihre linke Hand als Stütze unter den Lauf und... sah sich selber in schwarzer Assassinen-Gewandung über die Dächer der Stadt eilen - eine geladene und gespannte Armbrust in den sicheren Händen. Mutig und ohne das leiseste Zögern sprang sie über einen bodenlosen, tief-schwarzen Abgrund. Sie riss sich wieder zusammen ließ den Auslöser zurückschnellen. Es machte "ploing". Verwundert blickte sie auf ihre Waffe. Dann auf die in einigen Metern stehenden Scheiben. Bis auf den vorigen Bolzen war nirgends ihre Farbe zu sehen. Eine kräftige Böe klatschte ihr einen weiteren Wasserschwall ins Gesicht. Rote Striemen klebten ihr plötzlich quer übers Gesicht. Sie strich die Haare mühselig beiseite. Und entdeckte den Bolzen zu ihren Füßen. Der Wind hatte ihn aus der Auflagerinne geschubst. Sie spannte die Armbrust erneut, legte den Bolzen ein und schoss. Diesmal landete er weit hinter der Zielscheibe, in den aufgereihten Strohballen.
Die Trainingseinheit endete schließlich doch noch und die völlig durchfrorenen Rekruten eilten schnellstens von der Waffenkammer in den kleinen Saal, um sich dort so gut wie möglich trocknen zu lassen. Glücklicherweise hatte jemand Erbarmen mit ihnen gehabt und den Raum etwas vorgeheizt. Ophelia schüttelte ihr oberstes Hemd aus und hängte es zum Trocknen über die Stuhllehne. Ganz langsam fühlte sie das Leben in ihre steifgefrorenen Finger zurückkehren. Um sich herum hörte sie die anderen lachen und schimpfen, schwatzen und tratschen. Es blieb noch etwas Zeit, bis der Gastredner eintreffen würde. Sie lehnte sich müde zurück und lauschte den unterschiedlichen Stimmen der Männer und Frauen um sie herum.
"Blau! Ich sage nur blau! Das ist die einzig akzeptable Farbe!"
Die Rekrutin überlegte verwundert, worum es in dem Gespräch hinter ihr wohl ging, als der Gefreite eintraf. Die Klasse nahm Platz und die Einweisung begann.
Der Unterricht für die Rekruten zog sich sehr in die Länge. Die meisten von Ihnen hatten ihre einst aufrechte Haltung längst zugunsten einer bequemeren Sitzhaltung aufgegeben. Der Gastredner, ein Mitarbeiter der Abteilung S.E.A.L.S., war extra aus der Wache am Pseudopolisplatz zu ihnen gekommen. Und auch das Thema seines Vortrags hätte sicherlich ein größeres Anrecht auf Aufmerksamkeit verdient gehabt. Aber irgendwie sprang der Funke nicht über. Gerade kam der Redner zu einem Gedankenschluss in seinem Gedankenfluss, wenn auch nicht zum Schluss seines Vortrags:
"...natürlich kann man in so einem Fall davon ausgehen, dass der Verdächtige sich sehr wohl noch an seinen Namen erinnern kann. Aber es ist immer schwer, so etwas zu beweisen. Aber es ist eine unserer Aufgaben, solchen Menschen zu helfen. Wir können ihnen helfen, sich an ganz viele Sachen zu erinnern. Eine Möglichkeit, ihnen zu helfen, besteht darin, sie "festzuhalten", wie es dann im Bericht später heißt. Es gibt hierbei einen Unterschied zum..."
Die junge Frau blickte zum wiederholten Male aus dem kleinen Fenster des Klassenraumes und ihre Gedanken begannen unweigerlich wieder umherzuschweifen.
Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen. Sie hatte sich nicht vorstellen können, angenommen und anschließend in der Stadtwache ausgebildet zu werden. Nein, wirklich nicht! Im Grunde hätte es auch genauso gut sein können, dass sie in diesem Moment in einer ähnlichen Klasse im Komplex der Näherinnengilde gesessen hätte. Ihre Familie begegnete Vertretern beider Einrichtungen mit Misstrauen, Verwunderung und Abneigung. Ihr Entschluss, sich erst bei der Wache zu bewerben, hatte mit einem Satz zu tun, den Großtante Pätrischa immer sagte:
"Traue niemals den Typen mit den Blechmarken: Die haben komische Ideen - vor allem wenn es um ihr komisches Gesetz geht."
Ja, die Wache war die logische Entscheidung gewesen.
Sie merkte überrascht, dass ihre Kleidung einigermaßen getrocknet war. Möglichst unauffällig zog sie sich wieder die Jacke über.
Der Gefreite neben der Tafel sagte eben: "...was sehr wichtig ist, wie ich betonen muss!"
Ophelia runzelte verwirrt die Stirn. Was war so wichtig, dass man es sich merken sollte? Sie hatte wieder einmal nichts mitbekommen. Vorsichtig versuchte sie, auf die Notizblätter der Rekrutin neben ihr zu sehen. Doch diese waren von kleinen Männchen, von Kästchen, Strudeln und Waffenzeichnungen überzogen. Verdammt! Sie musste sich unbedingt besser konzentrieren. Sie blickte wieder nach vorne. Und begann zu überlegen, woher der Redner wohl diese lange Narbe haben mochte, die an seinem Hals entlang führte. Bestimmt verbarg sich hier der Schlüssel zu einer dramatischen Vergangenheit! Ohne dies bewusst mitzubekommen begann sie, den frisch gespitzten Stift in ihrer Hand aufgeregt hin- und her zu drehen. In ihrer Phantasie kam es zu einer Verfolgungsjagd quer durch die schwarzen Wälder Überwalds, zu einem heftigen Gewitter und einer hysterisch lachenden Hexe, zu einem Kampf mit einem machthungrigen Zauberer und zur Entführung eines Babys, dann sprang eine Horde Assassinen aus dem!
Gebüsch und... Ophelias Hand bewegte sich ganz von selbst und das fleckige Papier füllte sich mit dünnen Linien. Sie war gerade bei der obligatorischen Liebesszene mit dem Helden angelangt, als die Tür des Klassenzimmers sich öffnete. Der Ausbilder unterbrach seine Ausführungen und alle schauten interessiert auf, um zu erfahren, wer für die willkommene Abwechslung verantwortlich war.
Ophelia wurde etwas nervös, als sie ihre Vorgesetzte Lance-Korporal Feinstich erblickte, die den angereisten Wächter ansprach. " Bitte entfuldigen Fie die Ftörung, Gefreiter Träumer. Ich muff Fie bitten, die Rekrutin Fiegenberger für den Reft def Tages vom Unterricht freifuftellen."
Dabei deutete sie kurz in die Klasse und auf Ophelia, die plötzlich sehr aufmerksam war. Der Redner nickte. "Natürlich, kein Problem." Und an sie gewand, "Fräulein Ziegenberger, Sie dürfen Ihre Sachen packen. Sie sollten einen Wächter im Anschluss um seine Notizen bitten, damit Sie nichts Wichtiges verpassen."
Ophelia schlug schnell den Block zu, schnappte ihre Tasche und den Stift und eilte mit dem Stapel auf dem Arm in den Gang hinaus. Die Tür schloss sich und sie hörte die leise Stimme des Mannes, wie sie hinter dem dünnen Holz in ihren Ausführungen fortfuhr.
Die Rekrutin schob mit der etwas freieren Hand den Riemen der schweren Büchertasche auf die Schulter zurück. "Ma'am?"
Sie war jedes Mal irritiert, wenn sie ihrer Vorgesetzten in die Augen sah. Das konnte damit zusammenhängen, dass diese verschieden waren. Sie hatten nicht einfach verschiedene Farben, sondern sie stammten ursprünglich aus zwei unterschiedlichen Körpern. Lance-Korporal Feinstich war eine Igorina. Ophelia kam aus bürgerlichen Verhältnissen. Ihre Familie war zwar nicht arm, was schon einmal viel bedeutete. Aber sie war auch nicht reich. Daheim gab es nur eine Bedienstete - Märrie. Und die war alles andere, als außergewöhnlich. Und auch wenn ihr Vater der Mitherausgeber des Almanach war, worauf alle ja so stolz waren, hieß das noch lange nicht, dass er wirklich etwas über die Völker wusste, über die er Dinge veröffentlichte. Und man blieb ja auch unter sich. Jedenfalls hatte Ophelia schnell bemerkt, dass sie vieles nicht wusste und dass es in der Wache eine Menge ziemlich unterschiedlicher Personen gab. Lance-Korporal Feinstich stammte angeblich aus Überwald. Für einen kurzen Moment schlich sich das Bild eines düsteren Schlosses in Ophelias Gedanken, ein grandioses Gewitter tobte vor den schmiede-eisernen Portalen, regennasse Ketten klirrten leise im eisigen Wind von den Gebirgszügen und... es juckte sie in den Fingern, den Stift anzusetzen. Aber sie riss sich zusammen.
Die beiden Augen blickten sie an. "Rekrutin Fiegenberger, heute ift ef an der Feit, daff Du in den Ftreifendienft eingewiefen wirft. Ich werde daf felber machen. Bring Deine Fachen in Dein Fach und mache Dich fertig, fo daff wir in fünf Minuten lofgehen können. Ich warte am Eingang."
Ophelia nickte und machte auf dem Absatz kehrt. Die Igorina blickte ihr mit einem merkwürdigen Gesichtausdruck nach, bis die langen roten Haare flatternd hinter der Gangbiegung verschwunden waren. Man hätte meinen können, dass ihre Schultern etwas herabsanken, soweit die Rekrutin außer Sichtweite war.
Ophelia hatte aus irgendeinem unerfindlichen Grund das Schloss vom Spind nicht aufbekommen können. Irgendetwas musste mit dem Mechanismus geschehen sein, denn als sie den winzigen Schlüssel herausziehen wollte, hatte dieser sich zusätzlich verkeilt. Oder so. Jedenfalls schien das Schlossinnere sich in eine zähe Masse verwandelt zu haben und Ophelia wurde immer ungeduldiger in ihren hastigen Bemühungen, während die Frist erbarmungslos tickte. Letztlich hatte sie die Büchertasche einfach verzweifelt auf den Metallschrank oben auf geschmissen, Notizblock und Stift in ihren Werkzeuggürtel gestopft und war den Gang zum Haupteingang hinuntergerannt. Als sie nur noch wenige Meter von der Igorina entfernt war, mäßigte sie ihr Tempo und versuchte langsamer zu atmen.
Die Vorgesetzte stand neben dem Tresen, und neben ihr stand ein hochgewachsener, kräftiger Korporal. Ophelia sah ihn nur von der Seite, doch er wirkte irgendwie... widersprüchlich. Gefährlich und stark und doch auch wieder zurückhaltend und nicht gefährlich. Sie runzelte die Stirn, strich das glatte Haar hinter die Ohren und trat näher.
Der Korporal sagte gerade: "...Das weiß ich auch nicht. Aber ich kann mich erkundigen."
Die Igorina nickte und es wirkte fast verlegen. "Ef wäre irgendwie... ähm... gut. Daf fu wiffen."
Der kräftige Mann wandte sich dem Neuankömmling zu und ein freundliches Lächeln ließ sein strahlendes Gebiss leuchten. "Ah! Da kommt der Frischling! Rekrutin Ziegenberger, nicht wahr?"
Ophelia lächelte aus einem Reflex heraus ebenfalls übers ganze Gesicht und wurde daraufhin prompt rosarot aus Verlegenheit. "Ja, Sir." Sie knickste leicht.
Der Mann mit den mächtigen Augenbrauen lachte laut auf und winkte ab. "Das ist nicht nötig. Wir sind hier alle Wächter." Er blickte zur Wächterin neben sich und wurde wieder ernst. "Ich werde mich darum kümmern."
Rogi dankte ihm. Daraufhin verabschiedete er sich.
Die beiden Wächterinnen traten auf die Straße hinaus. Plötzlich war es wieder ein ganz außergewöhnlich schöner Tag. Die Luft roch nicht so schmierig und schwer wie sonst, sondern eher aromatisch, würzig und halt irgendwie undefinierbar. Sogar die Sonne ließ sich dazu herab, mit ihren Strahlen zögerlich über das verkrustete Kopfsteinpflaster der schmalen Gassen zu tasten. Ophelia vergaß für einen Moment, dass dies nicht der erste Schritt zu einem ihrer bisher üblichen Spaziergänge war. Sie atmete tief ein, spürte die leichte Brise und lächelte glücklich. Wie wechselhaft das Wetter heute war! Dann bemerkte sie den Blick der Igorina, die kommentarlos einige Meter vor ihr stehen geblieben war. Sie räusperte sich und schloss schnell zu dieser auf. "Ein wundervoller Tag, nicht wahr, Ma'am?"
Die Igorina nickte zögerlich. "Nun ja."
Die Rekrutin betrachtete die Vorgesetzte möglichst unauffällig, konnte ihre Neugier dabei jedoch nicht ganz verhehlen. Sie waren noch nicht einmal hundert Schritte gegangen, als Ophelia sich nicht mehr davon abhalten konnte, diesem Wissensdurst nachzugeben. "Ihr kommt aus Überwald, richtig?"
Der schlurfende Gang des Lance-Korporals stockte kurz, doch die Igorina nickte. "Ja. Urfprünglich."
Die grauen Augen der Jüngeren blieben unverwandt auf dem Gesicht mit den feinen Nähten haften. "Wie lange seid Ihr denn schon in der Wache?"
Rogi Feinstich strich sich mit einer Hand über die müden Augen, dann wandte sie sich mit einem kleinen Lächeln ihrer neuen Rekrutin zu. "Lange. Aber waf im Moment viel wichtiger ift... Wie haft Du Dich denn fon fo eingewöhnen können, in der Wache? Find irgendwelche Fragen aufgetaucht, die ich beantworten könnte?"
Ophelia begann schlagartig über das ganze blasse Gesicht zu strahlen. "Oh, es ist wirklich ganz herrlich jetzt auch dazu gehören zu dürfen. Alle diese netten... Leute! Und die interessanten Vorträge! Ich würde mir das alles so gerne merken können, wenn ich nur nicht ein so furchtbar unzuverlässiges Gedächtnis hätte. Ich vergesse ständig diese ganzen Fachbegriffe und die Zusammenhänge und die Details. Na ja. Und dann noch die ganzen anderen Rekruten! Das ist alles so aufregend für mich!"
Sie war etwas kleiner als der Lance-Korporal. So blickte sie immer wieder auf, während sie fließend gestikulierend und mit leuchtendem Blick neben Rogi herging und dieser ausführlichst auf ihre Frage antwortete.
"Ich hätte ja nie gedacht, dass ich wirklich angenommen werde! Und was für eine Aufregung das war, das könnt Ihr Euch gar nicht vorstellen! Maman war ganz aus dem Häuschen, genauso wie Papa. Sie haben natürlich gleich eine Familienkonferenz einberufen. Nicht, dass das großen Aufwand bedeutet hätte. Ich meine, die Großtanten und Onkel Alfred sind ja sowieso immer Mittwochs zum Tee bei uns. Und Mamie Klärett braucht ja nur eine Treppe hochkommen. Anders bei Dschosefien und ihrem Mann. Dschosefien ist meine ältere Schwester. Sie wohnen inzwischen in der Dahlienstrasse. Aber das ist ja auch kein Wunder, bei dem guten Verdienst ihres Mannes. Er hat als Sekretär gearbeitet, bei er Diebesgilde. Inzwischen hat er einen neuen Arbeitgeber. Aber Sekretär ist er immer noch. Ein schöner Beruf, finde ich. Wenn ich irgendwann einmal nicht mehr in der Wache arbeiten sollte, würde ich auch gerne solch einen Beruf ausüben: Akten sortieren und bearbeiten, Protokolle aufnehmen, Leuten Informationen entlocken um diese an den Chef weitergeben zu können..."
Die ältere Wächterin sah sie skeptisch an und warf ein: "Dazu wirft Du in der Wache ficherlich auch noch kommen. Keine Forge."
Die Rekrutin kam aus dem Konzept, als sie so unerwartet aus ihrem Redefluss gerissen wurde. "Meint Ihr?"
"Ganz gewiff! Ef feint, alf wenn Du Deinen Traumdfob gefunden hättet."
Ophelia sah mit ihrem, vom Wind zerzausten langem Haar ziemlich verwirrt aus. Es glänzte rötlich in der Sonne. Ein zaghaftes Lächeln verirrte sich in einen ihrer Mundwinkel.
"Das wäre ziemlich merkwürdig, weil eigentlich..."
Rogi sah sie kurz an, sagte jedoch nichts. Sie schlurfte lediglich, ungeachtet der Passanten, die den beiden so unterschiedlichen Wächterinnen teils vorsichtig, teils genervt aus dem Wege gingen, weiter die Strasse hinab. Und wartete, dass die Rekrutin weitersprechen würde.
Ophelia lachte leise. "Eigentlich habe ich mir darüber noch nie wirklich Gedanken gemacht. Also darüber, was ich gerne mal beruflich machen würde. Oder ob ich überhaupt etwas machen wollen würde. Das Geld hat immer ausgereicht, so dass Maman auf eine gute Bildung bestehen konnte. Sie brachte mir viele wichtige Sachen bei. Ich kann sehr gut nähen und singen, ich kann eine Festtafel genau eindecken und ich kann lesen und schreiben."
An dieser Stelle verstummte sie überraschend. Ihre Stirn umwölkte sich in kurzem Unmut, doch schnell gewann das optimistische Naturell wieder Oberhand. Sie lenkte sich von dem ärgerlichen Gedanken ab, indem sie ihrer Neugier die Zügel in die Hand gab.
"Gefällt Euch Eure Arbeit in der Wache denn, Ma'am? Ist dies Euer Traumberuf?"
Die Igorina blickte stur geradeaus. "Ef ift eine Ehre, der Ftadt zu dienen."
Ophelia runzelte die Stirn und wollte gerade nachhaken, als die Vorgesetzte sich ihr zuwandte und sie vorsorglich unterbrach.
"Wir follten unf nun aber auf daf konfentrieren, wefwegen ich meine andere Arbeit unterbrechen muffte. Normalerweife hätte ich Dich dafür auch nicht auf dem Unterricht geholt. Ich bin nur fur Feit etwas... aufgelaftet. Die Feit ift irgendwie neuerdingf fo knapp, dass ich nicht fo genau weif, wie ich Dich fonft hätte unterbringen follen. All die fielen neuen Rekruten! Und dann noch... Nun ja, jedenfallf hätten wir unf anfonften noch einige Tage nicht gefehen."
Sie wich dem silber schimmernden Blick aus und begann, über die verschiedenen Stadtteile zu sprechen, über Dinge, die man in diesem oder jenem Bereich lieber nicht machen oder dort auf jeden Fall machen sollte. Sie wies die Rekrutin darauf hin, dass es sich niemals lohnte, während eines normalen Streifenganges zu schnell zu laufen, da man Wichtiges übersehen könnte und sich darüber hinaus auch nur unnötig erschöpfte.
Ophelia zückte irgendwann, als die Igorina in einer engeren Gasse vor ihr her lief, ihren Notizblock. Sie schrieb sich schnell einige Stichworte zu dem Vortrag des Lance-Korporals auf. Auf einer der unteren Seiten des Blockes notierte sie jedoch heimlich etwas Anderes. Dort gesellte sich zu den Stichpunkten "kornblumenblau", "Himmelszelt", "geschmolzenes Schloss", "Narbe" und "Kaffeedämon" ein neuer hinzu: "Vergangenheit". Sie malte ein großes Fragezeichen hinter dieses Wort und dahinter wiederum schrieb sie flüchtig noch die Buchstaben L-K R.F.
Die Igorina tauchte plötzlich in ihrem Blickfeld auf, da sie unerwartet stehen geblieben war. Ophelia schrak heftig zusammen und hielt sich die Hand mit dem Stift an das pochende Herz. Das verlegene Gefühl, bei etwas Unerlaubtem ertappt worden zu sein, war ihr nur allzu vertraut.
Rogi Feinstich betrachtete sie aufmerksam. "Waf freibft Du da?"
Das blasse Gesicht der Rekrutin wurde einen Hauch rosiger und sie war froh, in dem Schrecken unabsichtlich die Seite verblättert zu haben. Sie zeigte den kleinen Block unaufgefordert und bemerkte: "Notizen. Zu dem, was Ihr gesagt habt. Wegen des Streifegehens. Weil ich doch so vergesslich bin." Das peinliche Gefühl ging vorüber.
Und ebenso das Streifegehen. Mit warmgelaufenen Füßen erreichte sie gegen Abend das schlichte Haus, in dem ihre Familie wohnte. Sie öffnete die Haustür und erklomm die wenigen Stufen zur Wohnung. Als sie diese betrat, rief ihr eine viel zu hohe, zuckersüß trällernde Stimme aus der Küche heraus zu.
"Filli, mein Schatz, bist Du das? Putz Dir ordentlich die Schuhe ab, ja? Sei doch so gut. Und am besten wäre es, wenn Du gleich in dein Zimmer gehst und diese schrecklichen schweren Kleider ausziehst. Märrie soll sie heute Abend noch waschen."
Der Kopf ihrer ebenfalls rothaarigen Mutter zuckte kurz mit einem strahlenden Lächeln um den Türrahmen hervor. Das Lächeln verblasste, als sie ihre Tochter in der typischen Uniform der Rekruten auf dem Fußabtreter stehen sah. Ihr Mund kräuselte sich missmutig.
"Du meine Güte. Wie siehst Du nur aus! Beeil Dich! Wir wollen gleich essen."
Und als Ophelia sich umständlich von ihren schweren Stiefeln zu befreien begann, setzte die allabendliche Litanei bereits mit den wohlvertrauten Worten ein:
"Großtante Pätrischa kommt heute abend auch noch. Nicht, dass Du Dich daneben benimmst und wieder über diese Leute zu erzählen beginnst. Du weißt ja, was sie von Wächtern hält. Womit ich ihr keinen Vorwurf mache, oh nein, das nun wirklich nicht..."
Ophelia seufzte. Ein kleiner Gedanke schlich durch ihren Hinterkopf und nistete sich dort wohlig ein.
Ihre Bewerbung bei der Stadtwache war eine Trotzreaktion gewesen. Es hieß, Trotz stünde höchstens kleinen Kinder noch zu Gesicht und selbst diese müssten damit letztlich auf die Nase fallen.
Der Gedanke in Ophelias Hinterstübchen grinste schamlos. Sollte es möglich sein, dass das nicht stimmte und dass dieser Job ihr weitaus mehr bedeuten würde? War es möglich, dass sie genau nach dieser Option in ihrem bisher so behüteten Leben gesucht hatte?
Sie fühlte sich erschöpfter, als es möglich hätte sein sollen, wenn sie an den bevorstehenden Abend mit Großtante Pätrischa dachte.
Märri nahm ihr naserümpfend die Uniform aus den Händen, trug diese weit von sich gestreckt zur Waschküche und deutete den Gang hinunter, wo Ophelias Zimmertür offen stand.
Auf dem Bett lag schon das nebelgraue Abendkleid bereit.
Die Rekrutin sah es lange nachdenklich an.
Dann begann sie sich frisch zu machen.
Und während sie noch die Haare kunstvoll hochsteckte, und auf dem Flur ein freudiges Gewirr von Stimmen anhub, als auch an diesem Abend wieder die "Üblichen Verdächtigen" eintrafen, grinste sie ihr Spiegelbild schief an und dachte:
"Du beginnst ganz offensichtlich, ein Doppelleben zu führen, meine Liebe!"
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