Schmuggler-Bande - EPILOG: Erste Schritte

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von Obergefreiter Damien G. Bleicht (SEALS)
Online seit 08. 12. 2004
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Damien steht kurz vor dem Rauswurf. Wird er es schaffen sich zu bewähren und zum vollwertigen Szenekenner zu werden?

Dafür vergebene Note: 12


Ein dunkles Zimmer. In diesem Raum gibt es keine Fenster, nur schwarze, undurchdringbare Dunkelheit. Nur langsam gewöhnt sich das innere Auge des Lesers an die Finsternis, nimmt allmählich vage Konturen wahr. In diesem Zimmer stehen fast keine Möbel. Kein Sessel, kein Bett... Nur in einer Ecke lassen sich einsam und verlassen ein kleines Tischchen und ein Stuhl ausmachen. Bei näherer Betrachtung erkennt der Beobachter die Silhouette einer Gestalt auf dem Boden. Auf dem Rücken und kerzengerade liegt sie da, regungslos, ohne sich zu rühren. Das Geräusch von flachem, gleichmäßigem Atem ist zu vernehmen. Und doch wirkt die Gestalt nicht wirklich... lebendig.

Ein anderes Zimmer im selben Gebäude. Ein gleichmäßiges rhythmisches Knarren ist zu hören. Das Geräusch stammt von einem Schaukelstuhl, der langsam vor und zurück schwingt. Eine alte Frau sitzt darin. Ihre Augen sind geschlossen. Ihr ergrautes Haar ist zu einem Knoten gebunden. Sie trägt ein schlichtes, graues Kleid und hat eine Brille mit schmalen, halbmondförmigen Gläsern auf der Nase. Ihre faltigen Züge strahlen eine Ruhe aus, die auf einen gesunden Schlaf zurückzuführen ist. Doch das Idyll wird plötzlich von einem markerschütternden Schrei zerstört...
Frau Fellgrau öffnete die Augen. Sie blickte sich kurz im Raum um. Alles noch an seinem Platz. Sie seufzte. Es schien als hätte ihr Schützling wieder diese Schlafprobleme. Sie stand auf, schlüpfte in ihre weichen Pantoffeln und verließ das kleine, schlicht eingerichtete Wohnzimmer. Sie ging durch einen sehr schmalen und kurzen Flur, öffnete eine Tür und stieg eine ebenfalls sehr schmale und kurze Treppe hinab. Nun stand sie vor Damiens Zimmertür. Sie horchte angestrengt. Schweres, hektisches Atmen war dahinter zu vernehmen. Kein Zweifel, einer von solchen Fällen. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Sie blinzelte.
Im Zimmer war nur Dunkelheit zu sehen, aber sie konnte deutlich seinen Atem hören und seinen Angstschweiß riechen.
"Gerald...", sagte sie leise.
"Zurück! Bleib wo du bist!", erklang eine schrille Stimme.
"Du hast wieder diese Albträume, nicht wahr, Gerald?", sagte Frau Fellgrau in beruhigendem Tonfall.
"Verschwinde!"
"Sie verfolgen dich wieder, nicht wahr? In deinen Träumen..."
"Nein! Ihr werdet mich nie kriegen!"
Frau Fellgrau rollte mit den Augen. Dies würde schwerer werden, als sie gedacht hatte. "Damien Gerald Bleicht...", begann sie, "WACH AUF!"
Die Gestalt im Zimmer schreckte hoch. Frau Fellgrau seufzte und entzündete eine Kerze. Sie betrat das Zimmer. Damien saß zitternd auf der dünnen Matte aus Stroh, die ihm als "Bett" diente. Sein Gesicht wirkte noch blasser als sonst – was eigentlich unmöglich sein sollte, da seine Haut normalerweise weißer als (sauberer) Schnee war. Sein schwarzes Haar war, anders als sonst, ganz zerzaust und stand nach allen Seiten ab. Um den dürren Leib hatte er sich eine kratzige Wolldecke geschlungen. Er blickte seine Zimmerwirtin aus von dunklen Ringen umrandeten Augen an. Sein Blick war immer noch von nächtlichem Schrecken gezeichnet.
"Es tut mir leid... ich... ich wollte nicht...", stammelte er.
Abermals seufzte die alte Frau. "Schon gut", sagte sie freundlich, "Es wird bald hell. Zieh dich am besten an und komm dann nach oben, dann können wir einen Tee zusammen trinken." Sie wandte sich um, um das Zimmer zu verlassen.
"Adele...", begann Damien.
Frau Adele Fellgrau blieb im Türrahmen stehen. "Ja?", sagte sie leise, ohne sich umzudrehen.
"Es wird immer schlimmer", flüsterte der junge Mann.
Adele schauderte. "Ich weiß", sagte sie ruhig, "Wir sehen uns oben." Sie verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich.

Damien blieb auf seiner Matte sitzen. Was ist bloß los mit dir?, fragte er sich in Gedanken, Seit du dich zurück erinnern kannst, war es dein Schicksal von einigen Irren durch dunkle Gassen gehetzt zu werden, weil sie dich aufgrund deiner Erscheinung für ein blutsaugendes Monster hielten. Warum verfolgt dich dies nun sogar in deinen Träumen? Früher hast du dich von so etwas nicht aus der Bahn werfen lassen. Er dachte darüber nach. Ja. Wir haben gelernt. Gelernt zu erdulden. Gelernt zu fliehen. Aber irgendwann fragen wir uns: Wie lange können wir noch weglaufen?[1] Einsam kauerte Damien Gerald Bleicht in seiner dunklen Kammer. Aber vielleicht lässt du ja nach auf deine alten Tage., dachte er und ärgerte sich sofort über diesen albernen Gedanken. Ha! Du bist kaum zweiundzwanzig und denkst schon wie ein Greis! Ein Achtzigjähriger im Körper eines jungen Mannes! Er richtete sich auf und zuckte schaudernd zusammen als er die knackenden Geräusche vernahm, die seine Knochen von sich gaben. Und vielleicht stimmt nicht einmal der Teil mit dem Körper des jungen Mannes, dachte Damien verbittert. Er strich sein Nachthemd glatt und ging zu einem kleinen gesprungenen Spiegel, der an derselben Wand hing, an der auch das Tischchen und der Stuhl standen. Er blickte in sein zerzaustes Antlitz und erschrak. Wenn er so auf die Straße ging, war es nicht verwunderlich, wenn Leute versuchten, ihm einen Pflock ins Herz zu treiben. Er griff nach einem kleinen abgenutzten Kamm.

Frau Fellgrau saß in ihrem Schaukelstuhl und trank Tee, als Damien fertig eingekleidet die kleine Kammer, die sie als ihr "Wohnzimmer" bezeichnete, betrat.
"Ah, Guten Morgen, Gerald", sagte sie fröhlich. "Setz dich doch."
Damien ließ sich in den zerschlissenen Sessel gegenüber von Adeles Schaukelstuhl sinken.
"Möchtest du einen Tee?", fragte Adele und deutete auf die Kanne, die auf einem kleinen Tisch zwischen Sessel und Schaukelstuhl stand. Damien schüttelte wortlos den Kopf. Die alte Dame beobachtete ihn stumm, während sie weiter an ihrem Tee nippte. Damien war in Gedanken versunken, hatte das kantige Kinn in die bleichen schmalen Hände gestützt und eine düstere Miene aufgesetzt. Hatte sie ihn gerade noch in aufgewühltem, panischem Zustand erlebt, so war er jetzt wieder in den für ihn typischen, ein wenig unheimlich anmutenden Zustand der Abwesenheit und Gleichgültigkeit verfallen, der für Außenstehende beinah autistische Züge aufwies.
Frau Fellgrau trank ihren Tee und musterte den jungen Mann noch einige Zeit lang. Schließlich seufzte sie. In letzter Zeit stand es wirklich schlimm um ihren jungen Schützling. Er sprach kaum, aß nichts und wirkte noch dünner und ausgemergelter als sonst. Sicher, sie hatten nicht sehr viel, aber das war doch kein Grund...
Auch beunruhigte sie Damiens Seelenleben: Er schien nicht sehr glücklich zu sein, lächelte so gut wie nie. Natürlich wusste Frau Fellgrau, dass es dabei auf solche Dinge nicht ankam: Sie dachte an ihren Großonkel, den alten Horatio Fellgrau, der im wahrsten Sinne des Wortes einen steinernen Gesichtsausdruck sein Eigen nannte. Der alte Horatio hatte kein einziges Mal in seinem Leben auch nur mit den Mundwinkeln gezuckt, aber niemand machte ihm Vorschriften, wie er sich verhalten sollte und deshalb konnte man gut mit ihm auskommen. Er durfte er selbst sein und war zufrieden mit seinem Leben. Was Damien betraf... Nun, man konnte nicht direkt sagen, dass er unzufrieden sei. Oh, mit ihm war alles in Ordnung. Doch einige Leute – sie dachte da an ein ganz bestimmtes Viertel, das direkt an die Blass-Straße angrenzte – kamen mit Damiens... allgemeinem Auftreten nicht zurecht. Ja, genau das war es. Frau Fellgrau war stolz, dieses heikle Thema so geschickt umschrieben zu haben. Nun, es war eine Sache, wenn einige Leute, die Fackeln und Heugabeln trugen, gelegentlich die Haustür blockierten, doch eine ganz andere war es, wenn man tagtäglich von jenen Leuten durch die Stadt gehetzt wurde und es nicht sicher war, ob man so unbeschadet ins Bett gehen konnte wie man am Morgen aufgestanden war. Obwohl in Damiens Fall von einem "Bett" kaum die Rede sein konnte...
Sie blickte auf, als die alte Standuhr zu schlagen begann.
Damien stand auf. "Halb sechs", sagte er, "Ich sollte jetzt besser gehen."
Adele nickte und nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse.

In der Blass-Straße war es noch immer dunkel. Nur wenn man genau hinsah, konnte man dicht über den Dächern das Tageslicht als einen schmalen silbernen Streifen ausmachen.
Die Tür von Adele Fellgraus sehr kleiner Wohnung öffnete sich und ein bleicher, ganz in schwarz gekleideter, junger Mann trat auf die Straße. Damien G. Bleicht bewegte sich langsam und bedächtig durch sein Heimatviertel, während er seinen Blick über die schäbigen, ärmlichen Häuser schweifen ließ. Noch war niemand auf der Straße zu sehen, doch bald würde der gewöhnliche Alltag der Blass-Straße seinen Lauf nehmen. Damien dachte an den alten Herrn Laufgut, einen Zombie, dem eines Tages seine Beine abhanden gekommen waren. Laufgut war eines Tages von einem Karren angefahren worden und von seinen Beinen war nichts übrig geblieben, das es noch wert gewesen wäre wieder angenäht zu werden. Seitdem verließ der alte Laufgut die Blass-Straße nur noch dann, wenn sich jemand fand, der bereit war, ihn in seinem Rollstuhl durch die Straßen Ankh-Morporks zu schieben, während der alte Zombie laut über die Welt im Großen und Ganzen klagte. Er schimpfte oft über die Lebenden, über ihre Rücksichtslosigkeit und ihren mangelnden Respekt gegenüber den Untoten. Sicher, es lebten nicht nur Untote in der Blass-Straße, aber die Lebenden im Viertel waren... anders. Sie gehörten praktisch dazu. Es hatte etwas mit Dingsbums, äh, Gesellschaft zu tun. Genau, sie bildeten eine Gemeinschaft, eine sehr kleine Gemeinschaft, die von der großen Gemeinschaft, der Gesellschaft, ausgeschlossen war[2]. Dies war zumindest der Standpunkt von Lester Laufgut. Damien seufzte. Bald würde Laufgut in seinem verbeulten Rollstuhl auf die Straße gerollt kommen und nach jemandem suchen, der ihn spazieren schieben würde. Nun, heute würde er sich jemand anderen suchen müssen.
Damien holte tief Luft, als er das Ende der Straße erreichte. Er blieb vor einem Straßenschild stehen auf dem das Wort "Pöbelgasse" prangte.
Eine seltsame Fügung des Schicksals hatte veranlasst, dass die Pöbelgasse in der fast ausschließlich Emigranten aus Überwald lebten, die wahrscheinlich vor einem tyrannischen blutsaugenden Herrscher nach Ankh-Morpork geflüchtet waren, direkt an die Blass-Straße angrenzte, die Heimat von vielen (armen) Untoten und sozial Benachteiligten. Nun, die Bewohner der Pöbelgasse lebten wohl ebenfalls eher schlecht als recht, aber sie kamen über die Runden. Leider hegten sie aufgrund ihrer Vergangenheit (verständlicherweise) eine Abneigung gegen alle Untoten, beziehungsweise Nicht-Lebenden. Ihr größter Abscheu richtete sich (ebenfalls verständlicherweise) gegen Vampire. Dies wäre alles nicht weiter schlimm gewesen, denn in der Blass-Straße lebten keine Vampire.
Die Pöbelgässler hätten also nur einen großen Bogen um die Blass-Straße machen müssen und Damien wäre vieles erspart geblieben. Eine weitere Fügung des Schicksals jedoch[3] hatte bewirkt, dass Damien von den Bewohnern der Pöbelgasse "unerklärlicherweise", wie Damien es ausdrückte, für einen Vampir gehalten wurde. Damien wandte ein, dass es nicht an Haut, die weißer war als Kreide, Augenrändern, die so dunkel waren, dass die Bezeichnung "schwarze Augenringe" neu definiert werden musste, und Kleidung die den Anschein erweckte, dass er an einem ausgeprägten Nekro-Syndrom litt, liegen konnte, da er ja immer deutlich darauf hinwies, dass er (noch) zu den Lebenden gehörte. Seltsamerweise hatten solche Hinweise überhaupt keine Wirkung auf eine wütende mit Fackeln, Mistgabeln und Pflöcken bewaffnete Meute.
Frau Fellgrau versuchte es mit dem Phänomen zu erklären, dass die meisten Leute nur das glauben, das sie glauben wollen. Nun, derartige Hinweise nützten Damien wenig, denn letztendlich lief es ja doch nur auf eines hinaus: Die Flucht. Damien fragte sich insgeheim, ob es sich bei der Jagd auf ihn um eine Art Vollzeitbeschäftigung der Pöbelgässler handelte oder ob sie vielleicht auch noch einer geregelten Tätigkeit nachgingen. Er wagte es jedoch nicht seiner Neugier nachzugeben und sie darauf anzusprechen, da nur ein Narr dazu fähig wäre, eine gut 100-köpfige verärgerte Meute mit schlauen Fragen zu erfreuen. Außerdem hätte er dazu stehen bleiben müssen und diese Vorstellung missfiel ihm gewaltig.
Auch in der Pöbelgasse war zu dieser frühen Stunde noch niemand zu sehen. Damien atmete ein weiteres Mal tief durch, bevor er losrannte.

"LASST IHN NICHT ENTKOMMEN!!!"
Damien rannte mit wehendem Umhang durch eine der vielen schmuddeligen Straßen Ankh-Morporks, dicht gefolgt von ungefähr hundert Männern (darunter auch einige Überwald-Zwerge und Trolle), die mit Pflöcken, Heugabeln und Fackeln ausgerüstet waren. Die ganze Szene hatte von oben betrachtet gewisse Ähnlichkeit mit einem Kometen, der einen langen feurigen Schweif hinter sich her zog.
"Du entwischst uns nicht noch einmal, Blutsauger!!", rief ein blonder, muskelbepackter Hüne, der an der Spitze des Mobs lief und unschwer als Anführer der aufgebrachten Menge zu erkennen war.
Die Empfindungen, die Damien während dieser Verfolgungsjagd durch den Kopf gingen, setzten sich aus einer bunten Mischung aus Panik, Wut und stiller Bewunderung für die Hartnäckigkeit seiner Verfolger zusammen. Beeindruckend, nicht wahr?, dachte ein Teil von ihm, Es ist erstaunlich, wie sie dich immer wieder finden, obwohl sie doch keinerlei Anhaltspunkte haben...
SEI STILL!, schrie der andere Teil Damiens, der wesentlich mehr Platz in seinem Bewusstsein in Anspruch nahm, Ich könnte jeden Moment von einem dieser Irren aufgespießt werden und DU lobst ihren Jagdstil!
Entschuldige mal, aber Tatsache ist, dass...
Genug! Manchmal hätte ich wirklich Lust, dir einen ordentlichen Schlag zu versetzen!
Ha, das einzige Problem dabei ist, dass du dir dafür selbst die Zähne einschlagen müsstest, Mistkerl! Immerhin bin ich DU!
DAS REICHT! ICH WERDE DICH...
Halt die Klappe und RENN!!
Damiens kleiner privater Disput wurde unterbrochen, als er die schrille Stimme des Anführers der Meute, Boris Crimsson mit Namen, vernahm. Er konnte nicht verstehen was er rief, aber sein Tonfall verriet, dass er einige nicht besonders angenehme Dinge mit ihm anstellen würde, wenn er ihn in die Finger bekäme. Damien und Damien beschlossen, vorerst zusammenzuhalten und ihren Streit später zu beenden. Damien schlug einen Haken, wurde nur haarscharf von einem herannahenden Armbrustbolzen verfehlt und bog hastig um eine Ecke.

Und die Zeit vergeht...

Damien hechtete in eine weitere Gasse. Noch immer hatte er die Verfolger nicht abgeschüttelt. Sein Atem rasselte. Schweiß rollte ihm von der Stirn und die Emotionen, die ihn durchfluteten, waren ihm nur allzu vertraut: Diese Mischung aus grenzenloser Panik, Routine und einer Art belustigtem Wahnsinn. Ja, Wahnsinn... Wer so etwas fast jeden Tag durchmacht muss irgendwann den Verstand verlieren.
Damien stolperte. Ein axtschwingender Zwerg, der ein wenig schneller lief als seine Kumpanen, sah seine Chance gekommen und schrie etwas auf zwergisch.
"K’z dra’ak bg’duz ha’ak!!!"
Der auf dem Boden liegende Damien rollte zur Seite und wurde nur um Haaresbreite von der herannahenden Zwergenaxt verfehlt. Funken stoben über das Kopfsteinpflaster, als die Klinge über den Boden kratzte. Der Bleiche schaffte es wieder auf die Beine zu kommen, knallte aber sofort erneut auf den Boden, als er ein nicht unerhebliches Gewicht an seinem Fuß spürte. Der Zwerg klammerte sich an Damiens Bein fest und lachte triumphierend.
Aus den Augenwinkeln erblickte Damien den Rest der Meute, der rasch näher kam. Strampelnd versuchte er sich zu befreien, doch der Griff des Zwerges war fest wie ein Schraubstock. Er keuchte, trat so fest er konnte mit dem freien Bein zu und traf den Zwerg am Kopf. Schmerzerfüllt verzog Damien das Gesicht, als sein Stiefel gegen den dicken Zwergenschädel prallte, verspürte jedoch trotzdem eine gewisse Genugtuung als er ein knackendes Geräusch vernahm – auch wenn er nicht sicher war, ob es vom Schädel des Zwergs oder von seinem eigenen Fuß stammte. Wie dem auch sei, der Griff des Zwerges lockerte sich und Damien kam wieder auf die Beine. Humpelnd setzte er den Weg fort, doch aufgrund seines verstauchten Fußes hatte er einiges an Geschwindigkeit eingebüßt und der Wütenden Menge gelang es langsam aber sicher den Abstand zu dem vermeintlichen Vampir zu verringern.
Keuchend versuchte er, seine Verfolger abzuschütteln, während er hinter sich wütende zwergische Flüche vernahm, die mit der allgemeinen Geräuschkulisse verschmolzen.

Auf allen bewohnten Welten, in welchem Universum oder welcher Dimension sie sich auch befinden mögen, üben Geschichten seit Anbeginn der Zeit erheblichen Einfluss auf die allgemeine Struktur aus. Es handelt sich hierbei nicht nur um einfache Erzählungen, die von Generation zu Generation von einem alten Wichtigtuer (auch "Geschichtenerzähler" genannt) zum nächsten alten Wichtigtuer weiter getragen werden.
Geschichten wirken sich auf das Denkmuster der Leute aus, in manchen Fällen sogar auf die Welt selbst. Das Grundprinzip ist, dass bestimmte Dinge nach einem bestimmten Muster geschehen, welches sich im Laufe der Geschichte immer wieder wiederholt. Man könnte so etwas narrative Kausalität nennen, Schicksal oder einfach nur Zufall. Jemand mit etwas klarerem Blick für die Dinge würde sagen, dass das Universum und seine ganze verfluchte Struktur schlicht und einfach an fortgeschrittenem Schwachsinn litten, genau wie seine bescheuerten Bewohner, die es allesamt verdienten eines schmerzhaften und qualvollen Todes zu sterben und dies hoffentlich eines Tages auch tun würden...
Eine Auffassung, an der Damien G. Bleicht sicher Gefallen gefunden hätte, wäre sein Leben nicht zu schrecklich und verachtenswert gewesen, als dass er an irgendetwas hätte Gefallen finden können. Es gibt viele Leute, die von einer Form narrativer Kausalität befallen sind und bedauernswerterweise war Damien einer von ihnen. Es sind Leute, deren Leben nach einem bestimmten Muster verläuft, welches sich immer und immer wieder wiederholt.
Damiens Leben verlief nach dem Muster: "Tragischer-Antiheld-Gerät-Von-Einer-Lebensgefährlichen-Situation-In-Die-Nächste-Um-Immer-Im-Letzten-Augenblick-Mit-Dem-Leben-Davonzukommen-Damit-Der-Spaß-Von-Vorne-Losgehen-Kann". Es gibt beängstigend viele bedauernswerte Subjekte deren Leben auf diese Weise verläuft:

Beispielsweise der ehrenwerte Lord Munch aus Splintz, einem Ort in Überwald, der bekannt für seine Bewunderung der Schönheit war und sich aus diesem Grund mit Frauenkleidern, Ohrringen und Make-Up schmückte und sich in diesem Aufzug täglich unter die Leute mischte. Als man ihm schließlich auf die Schliche kam – er befand sich gerade in einer intimen Situation mit einem Dorfjüngling und hatte wohl vor lauter Enthusiasmus ein nicht ganz unerhebliches Detail vergessen – waren die Bewohner nicht gerade begeistert. Vor allem nicht der arme Junge, der gerade seine erste romantische Erfahrung gemacht hatte. Was den Lord betraf - man beschloss, ihm den Teil der ihn am meisten von einer Frau unterschied abzutrennen, ihn auf einen Speer zu spießen und im ganzen Dorf herumzutragen, damit alle Leute im Ort sehen konnten was mit Männern geschah, die sich derartige geschmackliche Entgleisungen erlaubten. Er entkam im letzten Moment und schloss sich einer fahrenden Theatergruppe an, konnte es jedoch nicht lassen, sich immer wieder unter die Leute zu mischen und hoffnungsvolle, manchmal auch verzweifelte junge Burschen auf diese schändliche Art und Weise hinters Licht zu führen. Deshalb kam es auch immer wieder vor, dass er und seine Gruppe fahrender Thespisjünger, wo sie auch hinkamen, den entsprechenden Ort meist schleunigst wieder verlassen mussten.

Ein weiteres Beispiel für diese bedauernswerte Menschengattung ist der Zauberer Rincewind, den sein sprichwörtliches Pech sogar quer über die ganze Scheibenwelt verfolgte, wo er immer wieder Leuten begegnete – hierbei musste es sich nicht zwingend um Menschen handeln – die aus ihm unerklärlichen Gründen vorhatten ihm spitze Dinge in den Leib zu stoßen oder auf sonstige Weise seinen Tod herbeizuführen. Nach über zehn Jahren der Flucht gelangte er schließlich wieder nach Ankh-Morpork. Heute befindet sich Rincewind in der Unsichtbaren Universität, wo er sich vorzugsweise in einer dunklen Abstellkammer versteckt und es vermeidet nach draußen zu gehen.

Rincewind, Lord Munch und Damien sind Musterbeispiele des tragischen Lebenskünstlers dessen Leiden nie ein Ende findet, hauptsächlich deshalb weil sein Leben kein Ende findet. Doch es lief auch auf folgendes hinaus: Sie waren vor allem Überlebenskünstler. Aus irgendeinem Grund zog es das Schicksal vor sie immer wieder aus der bedrohlichen Situation entkommen zu lassen in die es sie zuvor geführt hatte.
Das war auch der Grund, warum ein zufällig vorbeifahrender Eierkarren Damien unerwarteterweise das Leben rettete.

Damien atmete schwer. Inzwischen trennten ihn keine zehn Meter mehr von seinen Verfolgern und sie holten stetig auf. Er versuchte nachzudenken, was sich als schwierig erwies aufgrund der hämmernden Geräusche, die die verschiedenen Stadien des Wahnsinns in seinem Schädel verursachten.
Plötzlich ging alles sehr schnell (wie immer):
Aus einer Seitenstraße kam ein Karren geschossen, voll beladen mit Eiern. Damien reagierte schnell. Mit dem letzten bisschen Kraft, das er noch in seinen Beinen spürte, stieß er sich vom Boden ab, warf sich direkt in die Ladung des Karrens – man überlebte nicht lange auf den Straßen Ankh-Morporks wenn man zimperlich war. Die Geräusche von zersplitternden Eierschalen und auf dem Boden aufprallenden Eierkartons ertönten. Von Eigelb bedeckt sprang Damien vom Karren, taumelte nach vorne und bog so schnell er konnte in die nächste Seitengasse.
Wütende Meuten können bekannterweise große Geschwindigkeiten entfalten, diese lässt sich aber nur langsam wieder verringern. Diese Zeit blieb dem Mob jedoch nicht, um den Zusammenprall mit dem die Straße blockierenden Karren zu vermeiden. Der Aufprall war so heftig, dass Damiens Verfolger mitsamt dem Eierwagen umgerissen wurden. Als der Zwerg, der Damien noch kurz zuvor ans Leder gewollt hatte, fiel, entglitt ihm seine Axt, welche die Riemen durchschnitt, die das Zugpferd am Karren festhielten. Der Gaul gab ein erschrockenes Wiehern von sich bevor er losgaloppierte. Der Fuhrmann, der noch die Zügel in der Hand hielt, schrie als er vom Pferd mitgeschleift wurde. Es war bemerkenswert wie viel Chaos innerhalb von wenigen Sekunden ausgelöst werden konnte.
Damien rannte noch einige Straßen weiter bevor er stolperte, schrie, auf dem Boden aufschlug, in wahnsinniges Gelächter ausbrach und sich schließlich übergab. Dann verlor er das Bewusstsein und blieb in seinem eigenen Erbrochenen liegen, während Passanten einfach an ihm vorbeigingen oder über ihn hinweg stiegen, um sich nicht ihre feinen Schuhe schmutzig zu machen. Das stellt der Wahnsinn mit Leuten an: Er zerstört sie von innen bis er schließlich aus ihnen heraus bricht - im wahrsten Sinne des Wortes.

Im Wachhaus am Pseudopolis-Platz war heute nicht allzu viel los. Normalerweise hatte der diensthabende Wächter am Tresen in der Einganshalle sich mit Leuten rumzuschlagen, die Anzeige gegen irgendwas oder irgendwen erstatten wollten, eine Beschwerde vorzubringen hatten oder einfach nur Unruhestifter waren. Doch der Wächter, der heute Tresendienst verrichten musste, hatte beneidenswert wenig zu tun. Er blickte auf seine Uhr. Es war bald zwölf Uhr und er überlegte, ob er in die Kantine gehen sollte um sich etwas zum Mittag zu genehmigen – niemand würde es bemerken, denn das bisschen Papierkram hatte er längst erledigt und er zweifelte stark daran, dass in der nächsten halben Stunde jemand eine Anzeige erstatten würde.
Gerade als er sich mit dem Gedanken anzufreunden begann, bemerkte er eine Gestalt, die durch den Eingang geschlurft kam. Der Mann – wenn das schleimbedeckte Etwas männlichen Geschlechts war – steuerte gerade auf die Treppe zu, die ins obere Stockwerk zu den Wache-Büros führte.
"Äh... he du... ähm... HALT!", rief der Wächter.
Die Gestalt blieb auf halbem Wege stehen, drehte sich langsam um und sah den Mann am Tresen, bei dem es sich um einen Korporal handelte, aus blutunterlaufenen Augen an.
Der Korporal schluckte. "Äh... Komm hierher, sofort!"
Die schmuddelige Gestalt stapfte gehorsam an den Tresen, wobei sie verdächtige gelbe Fußspuren auf dem frisch gebohnerten Hartholzboden hinterließ. "Ja?", fragte sie in einem seltsam monotonen Tonfall.
"Äh... wohin denn so eilig... ähm... guter Mann?"
Das Wesen deutete ein Nicken zur Treppe an. "Nach oben", war die knappe Antwort.
Der Korporal tat verständnisvoll. "Aaaach, nach oben soll es also gehen, wie? Und was willst du dort oben, wenn ich fragen darf?"
"In mein Büro."
"Ah ja, in dein Büro, soso." Der Korporal klang inzwischen belustigt. "Du hast also ein Büro, wie?"
"Ja."
"Hier im Gebäude?"
"Ja."
"Im Wachhaus"
"Ja."
"Im Hauptquartier der Stadtwache von Ankh-Morpork?"
"Ja."
"Du bist also ein Wächter?"
"Ja."
Der Korporal betrachtete die Gestalt von oben bis unten. Ihre Kleidung war komplett mit einer schleimigen weißlich-gelben Substanz bedeckt und in den strähnigen Haaren, die ihr wie ein scheußlicher Vorhang vor den Augen klebten, hingen einige verdächtige gelblich braune Brocken. Und der Geruch... der Bursch roch wie ein Gemisch aus faulen Eiern und Kotze. Der Korporal unterdrückte einen plötzlichen Brechreiz.
"Ein Wächter...", wiederholte er, diesmal in einem etwas schärferen Tonfall.
"Ja."
Der Korporal schlug erbost mit der Hand auf den Tisch. "SAG MAL WILLST DU MICH VERSCHEISSERN ODER WAS?!", fuhr er das Scheusal, das vor dem Tresen stand, an.
"Korporal! Das genügt!", ertönte eine schneidende Stimme vom oberen Ende der Treppe. Es war Stabsspieß Atera, Abteilungsleiterin der S.E.A.L.S, der viel gerühmten "Spezialeinheit"[4] der Stadtwache von Ankh-Morpork. Neben ihr stand Feldwebel Cim Bürstenkinn, stellvertretender Abteilungsleiter der S.E.A.L.S.
Hastig stand der Korporal auf und salutierte. "Aber Mä'äm, ich habe hier einen Unruhestifter, der sich über mich lustig..."Ein klackendes Geräusch erklang, als die Gestalt eine schmuddelige Dienstmarke auf den Tisch knallte.
"Obergefreiter Damien Gerald Bleicht, Abteilung S.E.A.L.S., Szenekenner", verkündete die Person kühl und salutierte zackig. Dabei löste sich ein Teil des gelben Schleims von ihrer Hand und klatschte dem Korporal an die linke Wange. Der Korporal nahm den widerlichen Gestank nun noch intensiver wahr, ganz zu schweigen von dem schaurigen Gefühl als ihm das Sekret langsam die Backe herunter lief. Bei den Göttern!, dachte er, Ich muss gleich kotzen! In Gegenwart eines Vorgesetzten! "Lächerlich!", brachte er hervor und versuchte dabei nicht einzuatmen, "Mir ist kein Wächter bekannt namens..."
"Ruhe, Bursche!", fuhr ihn Bürstenkinn an, "Ich kenne den Mann! Wir wurden zusammen ausgebildet! Also setz dich und mach weiter, was auch immer du gerade gemacht hast!" Der Korporal fuhr hastig auf seinen Stuhl zurück und kritzelte auf seinen längst bearbeiteten Papieren herum.
Atera nickte Damien zu. "In mein Büro, Obergefreiter! Über den letzten Teil den du erwähntest haben wir nämlich noch zu reden..."
Damien wusste nicht was der Stabsspieß damit meinte, stieg jedoch die Treppe hinauf und folgte seinen beiden Vorgesetzten zu Ateras Büro. Während sie über den Flur gingen, hörten sie von unten seltsame Geräusche – es klang, als würde sich jemand übergeben.

In seinem 22-jährigen Leben hatte Damien G. Bleicht schon viel Haarsträubendes erlebt. Er war als Kind täglich so durchgeprügelt worden, dass man auf seinem zernarbten Rücken mit Leichtigkeit Tic tac toe hätte spielen können. Zu dieser Zeit war er (wie jeder anständige Bürger Ankh-Morporks) in diversen Straßenbanden tätig gewesen und einer der vielversprechendsten minderjährigen Kleinkriminellen gewesen. Jahre später gehörte es zu seinem Alltag mindestens einmal täglich von einem blutrünstigen Mob durch die Stadt gejagt zu werden. Einmal war er dem Schneevater begegnet, was entgegen aller Erwartungen keine besonders fröhliche Angelegenheit gewesen war. Doch nichts von alledem hatte ihn je so beunruhigt wie das Geräusch, das Stabsspieß Atera beim Blättern in seiner Personalakte verursachte. Bleicht saß in einem kleinen Lehnstuhl und beobachtete die S.E.A.L.S.-Abteilungsleiterin mit starrer Miene über den Schreibtisch hinweg, während diese andächtig in der Akte las.
Dies nahm einige Zeit in Anspruch, was seltsam war, denn sie war nicht besonders umfangreich - bis auf das Datum seiner Einschreibung bei der Stadtwache dürfte sie nicht besonders viele Informationen enthalten. Vielleicht war das auch der Grund warum Atera so lange auf die Akte starrte. Damien versuchte sich die Zeit zu vertreiben, indem er stumm die Nähte an ihrem Hals zu zählen begann.
Schließlich löste sich Ateras Blick von der Akte und sie blickte Damien eine Weile schweigend in die Augen. Es stellte sich heraus, dass sich hier zwei Meister des Starrens begegnet waren, denn wo andere nach einigen Augenblicken den Blick abwendeten, hielt Damien ohne eine Miene zu verziehen stand. Dies überraschte die Abteilungsleiterin ein wenig, denn es war allgemein bekannt, dass niemand so gut starren konnte wie ein Zombie und ihr war gesagt worden, dass Damien Bleicht entgegen aller Gerüchte keine laufende Leiche war, trotz dieser Haut, weißer als Kreide, trotz der schwarzen zerschlissenen Kleidung, die wirkte als wäre er darin beerdigt und nach mehreren Wochen wieder ausgegraben worden, trotz dieses starren teilnahmslosen Blickes, der keinerlei Gefühlsregung erahnen ließ.
Endlich brach Atera das Schweigen.
"Nun, Obergefreiter", begann sie routiniert, "Wenn sich jemand deine Akte zu Gemüte führt, um etwas mehr über den Wächter Damien Gerald Bleicht, Szenekenner in Ausbildung, zu erfahren, wird er nicht gerade mit Informationen überhäuft. Das Einschreibungsdatum, zwei Berichte und einige Beschwerden wegen unangenehmen Auffallens in der Öffentlichkeit... das ist nicht gerade viel, nicht einmal für jemanden, der erst seit kurzem bei uns ist. Und du "arbeitest" bereits seit einer verhältnismäßig langen Zeit hier. Um dir die Peinlichkeit zu ersparen verzichte ich jedoch darauf die genaue Zeitspanne, die seit deiner Einschreibung vergangen ist, hier zu benennen. Beschränken wir uns auf's wesentliche und das heißt in deinem Fall: Es sieht nicht gut für dich aus. Einige Leute aus den... höheren Etagen sind der Meinung dass wir...", sie suchte nach einer taktvollen Formulierung, "...uns von dir trennen sollten." Sie ließ diese Worte einige Augenblicke in der Stille verharren, um Damiens Reaktion abzuwarten. Sie überlegte, ob sie wütend werden sollte, als Damiens Miene nahezu unverändert blieb. Sie entschloss sich zunächst dagegen. "Beunruhigt dich das gar nicht, Obergefreiter?", sagte sie ruhig, doch mit leicht schneidendem Unterton.
Keine Antwort.
"Ich sagte: Beunruhigt es dich nicht, dass du bald auf der Straße stehen könntest, ohne Arbeit und ohne Geld? Oder hast du genug Geld um auch ohne Job zu überleben?" Die letzte Frage wurde mit kurzem Blick auf Damiens zerlumptes Erscheinungsbild ausgesprochen. Wieder war Schweigen die Antwort. "Obergefreiter?"
Endlich sprach Damien: "Wir haben nicht einmal genug, um die Ratten satt zu kriegen." Sein Tonfall war genauso monoton wie sein Gesichtsausdruck und zeugte von einer seltsamen Teilnahmslosigkeit, so als wären seine eigenen Probleme zwar eine ärgerliche Angelegenheit, die ihn im Grunde genommen jedoch nichts anginge.
Atera hob die Brauen. "Ah, 'Wir', eh? Hast Familie, wie?"
"In gewisser Weise", raunte der Noch-Obergefreite.
"In gewisser Weise?"
"Ich wohne mit jemandem zusammen."
"Ah." Und dabei beließ sie es. Neugier war an sich nichts Falsches für einen Wächter, aber ab einem gewissen Grad zahlte es sich nicht aus, noch weiter nachzubohren.
Wieder schwieg Atera und Damien tat es ihr gleich. Erneut musterte sie ihn mit einem durchdringenden Blick. Sie untersuchte ihn gründlich während sie überlegte:

Entweder ist der Kerl ein gleichgültiges, seelisches Wrack, das alle Hoffnungen an sich selbst und die übrige Welt aufgegeben hat... oder wir haben es hier mit jemandem zu tun, der gelernt hat, seine innere Gefühlswelt radikal von der Außenwelt abzuschotten, nichts und niemanden an sich heran zu lassen, ganz gleich wie verletzend Worte oder Schläge auch sein mögen... Wenn letzteres der Fall ist... Es mag vielleicht zunächst unmöglich erscheinen, so jemanden in unser Team zu integrieren, aber es könnte durchaus zu schaffen sein. Wenn man ihn in die richtige Richtung lenkt. Schauen wir uns mal etwas genauer an mit wem wir es hier zu tun haben... Es ist eindeutig, dass er vor der Wache sein Geld nicht mit ehrlicher Arbeit verdient hat. Ich erkenne einen waschechten Ankh-Morpork Straßenköter wenn ich ihn sehe. Hat sich wohl, wie so viele, hauptsächlich aus Geldmangel der Wache angeschlossen.
Ausgemergelt ist er, doch die vielen blauen Flecken zeigen, dass er oft einstecken muss. Er humpelt jedoch nicht und auch sonst scheint er sich bisher keine dauerhaften Verletzungen oder Verstümmelungen zugezogen zu haben, was beweist: Der Bursche ist zäh. Zäher als er aussieht. Eine Eigenschaft, die sehr nützlich für einen Szenekenner der S.E.A.L.S. sein könnte. Ha, kein Wunder, dass er sich für die Stelle beworben hat. Sein Leben verändert sich dadurch so gut wie überhaupt nicht: Er wird sich weiterhin in den übelsten Gegenden der Stadt herumtreiben und mit dem schlimmsten Abschaum Morporks verkehren... nur dass er uns auf diese Weise Informationen von unschätzbarem Wert liefern könnte. Es gibt nur ein Problem: Dem Jungen fehlt der Ehrgeiz. Ich sehe es in seinen fahlen abgestumpften Zügen. Es kann ihm auch keiner verdenken, denn was für einen Antrieb sollte er schon haben? Und hier hätten wir den Grund, warum die Chefs ihn nur zu gern möglichst schnell loswerden würden: Sie sehen in ihm nur einen abgerissenen, unmoralischen Schmarotzer, der uns nicht zum Nutzen gereichen kann. Aber was, wenn doch? Vielleicht eignet sich Damien Gerald Bleicht ja gerade
wegen seiner Unmoral für die Stadtwache, vielleicht lässt sich sein unmoralisches Wesen ja noch zurechtformen? Wenn wir sein Vertrauen gewinnen, genau wie es später seine Aufgabe sein wird, das Vertrauen von Menschen zu erwecken, die schon vor langer Zeit allen Glauben und alle Hoffnung an so etwas wie Gerechtigkeit über Bord geworfen haben. Menschen von seinem eigenen Schlag...

"Lass mich dir etwas zeigen, Obergefreiter", brach Atera das Schweigen. Sie griff in eine Schublade ihres Schreibtisches und holte ein Bündel krakelig beschriebenes Papier hervor. Das Gebilde sollte wohl eine Art Buch darstellen, denn am Rand waren alle Blätter mit Löchern versehen durch die ein Bindfaden gezogen worden war, der das Papier zusammenhielt.
Oh, dachte Damien.
"Kennst du das hier Obergefreiter?"
Damien nickte. Er kannte es nur zu gut.
"Immerhin bist du nicht vollkommen untätig gewesen in der Zeit seit du bei uns bist", sagte Atera. "Beeindruckend. Eine sehr ausführliche Zusammenstellung von Leuten aus dem Ankh-Morporker Untergrund. Humbert Taschenklau? Ich wusste gar nicht, dass der Kerl überhaupt noch in der Stadt ist."
"Er versteckt sich bei..."
"Seiner Großmutter, ja. Das steht hier ebenfalls. Meine Güte... Hühnerdraht Faulzahn, Blathazar Hutt, Benji der Brecher... Meine Güte, sogar Benji der Brecher?"
"Ein alter Bekannter aus meiner Kindheit", sagte Damien gleichgültig.
"Sprechen wir hier vom gleichen Benji? Der Kerl, der schon mehrmals wegen Körperverletzung und Raub vorbestraft ist und mehreren Männern Arme und Beine gebrochen hat, weil ihm die Art, wie sie ihr Bier tranken, nicht gefiel? Deshalb auch der Spitzname 'Brecher'?"
"Zu meiner Zeit nannten wir ihn vor allem deswegen so, weil er sich beim kleinsten Anzeichen von Gefahr übergeben musste", kommentierte Damien trocken. "Das ist natürlich lange her", fügte er schnell hinzu, als Atera eine Braue hob, "Ich nehme an, er hat irgendwann angefangen Gewichte zu stemmen."
Atera ging nicht darauf ein. "Wie dem auch sei, Obergefreiter... Das ist einer der Gründe, weshalb ich wider besseren Wissens bereit bin dir noch eine letzte Chance zu geben. Irgendetwas sagt mir, dass man aus dir einen guten Szenekenner machen könnte, wenn man dich in die richtige Richtung lenkt. Du hast die Anlagen, die dafür notwendig sind, das spüre ich. Glaub nicht, es wäre mir entgangen, was du in deiner Jugend so alles getrieben hast!" Das war ein Schuss ins Blaue, doch das fast unmerkliche Zusammenzucken Damiens bei Ateras letztem Satz zauberte ein wissendes Lächeln auf ihre Züge. "Ich werde dir deine Chance geben... Und es wird deine letzte sein, glaub mir das."

Als Damien das Wachhaus verließ, ging er einig Schritte um das Gebäude herum, bevor er sich in einer ruhigeren Ecke gegen die Mauer lehnte und tief durchatmete. Dann holte er einen schäbigen Tabaksbeutel und einige zerknitterte Papers hervor und drehte sich eine Zigarette. Während er rauchte, dachte er über die "Chance", die Atera ihm gegeben hatte, nach:
Der Stabsspieß hatte davon gesprochen, Damien "in die richtige Richtung" zu lenken. Das bedeutete in seinem Fall: Er hatte nur bis morgen Mittag Zeit, um Atera einen vollständigen Bericht über den ihm gestellten Auftrag abzuliefern. Dieser wiederum lautete folgendermaßen: Er sollte einen Mann namens Rodrigo Hinkebein ausfindig machen, genannt "Humpel-Rod". Der Name war nicht neu für Damien, wenn er den Mann bisher auch nur einige Male flüchtig gesehen hatte.
Humpel-Rod war ein alternder Kleinkrimineller, ein kleiner Gauner, der mehrfach vorbestraft war wegen Delikten wie Taschendiebstahl oder Beihilfe zu diversen kleineren krummen Dingern. Bisher hatte man ihm nie nachweisen können in größere Angelegenheiten verwickelt gewesen zu sein, doch die Wache vermutete, dass er Kontakte zu diversen größeren Verbrecherbanden hatte. Wenn sie sein Vertrauen hätten, könnte das sehr nützlich sein. Jedenfalls war Rodrigo fast zeitgleich mit dieser Erkenntnis von der Bildfläche verschwunden und niemand wusste, wo sich sein derzeitiges Quartier befand, es hieß er sei untergetaucht. Damiens Aufgabe bestand darin, Humpel-Rod ausfindig zu machen, sein Vertrauen zu gewinnen und herauszufinden wo er zurzeit Unterschlupf suchte. Wenn ihm das gelänge, würde Atera seine Ausbildung offiziell für abgeschlossen erklären und er wäre vollwertiger Szenekenner der S.E.A.L.S..
Damien seufzte. "Na schön", brummte er und setzte sich in Bewegung.

Zuerst begab er sich zurück in die Blass-Straße, um sich so gut er konnte zu reinigen und saubere Kleidung anzuziehen. Niemand war anwesend, als Damien Adele Fellgraus Wohnung betrat, doch als er kurz darauf wieder ins Freie trat um sich auf den Weg zu machen, wurde er von einer schneidenden Stimme zurückgehalten.
"Damien Gerald Bleicht!"
Damien stockte. "Oh nein", hauchte er, drehte sich um und blickte in die knochigen Züge von Frau Fellgrau. Sie schob einen quietschenden alten Rollstuhl vor sich her und darin saß...
"Oh nein", wiederholte Damien mit zitternder Stimme. "Nein... Nicht Lester..."
"Oh doch mein Junge!", ereiferte sich Adele Fellgrau. "Lester Laufgut! Du hast doch nicht etwa deine Pflichten vergessen, Gerald, denn hier hat jeder welche! Und deine ist es, den armen Lester jeden Mittwoch spazieren zu fahren!"
Der "arme Lester" präsentierte sich als dürrer affenartiger alter Mann, dem Nähte quer über Gesicht und Hals verliefen und der statt Beinen nur zwei mickrige Stummel zu präsentieren hätte. Außerdem trug er das dreckigste Grinsen zur Schau, das Damien je gesehen hatte. In der Hand hielt er einen schwarzen Gehstock, nur die Götter wussten wofür er den brauchte.
"Hallo, Leichenfreund", krächzte der Zombie fröhlich.
"Ich hab dir gesagt, was passiert wenn er mich das nächste mal so nennt, Adele", brachte Damien zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Treib es nicht auf die Spitze, mein Junge", drohte Frau Fellgrau mit erhobenem Zeigefinger, "Du weißt, dass es der arme Lester nicht leicht hat!"
"Adele, ich kann nicht..."
"Du kannst was nicht? Du kannst mir nicht widersprechen, das ist es was du nicht kannst! Egal was du jetzt vorhast, du wirst Lester mitnehmen, du weißt, dass er die frische Luft dringend nötig hat."
"Frische Luft? Aber er ist to..."
"Keine Widerrede, Damien!" Adele Fellgrau sprach ihn nur ganz selten mit seinem ersten Vornamen an und wenn es soweit kam, war es besser ihr nicht zu widersprechen. Damien startete dennoch einen letzten verzweifelten Versuch.
"Adele! Verstehst du nicht? Es geht um meinen Job! Ich kann den alten Lester nicht mitnehmen, denn dann kann ich meinen Auftrag nicht ausführen und dann verliere ich meine Arbeit. Das musst du doch verstehen!!"

"Polter nicht so herum mit meinem Rollstuhl, Leichenfreund, oder willst du dass mir schlecht wird?", keifte Laufgut.
"Du hast doch überhaupt keine Verdauung mehr", erwiderte Damien genervt, der Lester Laufgut in seinem Rollstuhl durch die Straßen Ankh-Morporks schob.
"Ja, aber ich kann trotzdem reihern, dass du dir wünschst du wärst ein wenig sanfter mit mir umgesprungen, Junge!"
"Ja, Würmer und Maden vielleicht", spottete Damien.
"Sei nicht so verdammt frech, Junge! Ich habe nicht beide Beine im Krieg verloren, damit du dich über mich lustig machst."
"Du hast nie in irgendeinem Krieg gekämpft, Lester. Du hast Ankh-Morpork so gut wie nie verlassen. Deine Beine wurden dir von einem Karren abgefahren!"
Dies bewirkte, dass Laufgut für eine Weile schwieg. Dann erhellte sich plötzlich seine Miene und er sagte: "Du hast recht! Har, Har Har! Bist verdammt scharfsinnig, Junge! Weißt du, du bist irgendwie in Ordnung. Du erinnerst mich daran, wie ich in deinem Alter war."
"Ein dürrer bleicher Junge?", vermutete Damien.
"Nein, ein dürres bleiches Arschloch!", triumphierte Laufgut und lachte hämisch.
"Das reicht!", schrie Damien und gab dem Rollstuhl einen Stoß, so dass er gegen die nächste Wand knallte und Laufgut beinahe heraus gefallen wäre. Für einige Augenblicke sank eisiges Schweigen auf die beiden zerlumpten Gestalten herab. Die Stille zische und surrte bedrohlich in ihren Ohren. Laufgut starrte schweigend gegen die Wand, während Damien, selbst überrascht über den plötzlichen Gefühlsausbruch, stocksteif und verkrampft dastand. Schließlich fasste sich der Bleiche wieder einigermaßen, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und sprach mit ruhiger, fast unmerklich vibrierender Stimme: "Ich vergeude nur meine Zeit mit dir." Er schnappte kurz nach Luft, bevor er murmelte: "Verdammt, ich muss den verfluchten Humpel-Rod finden, sonst stehe ich morgen auf der Straße..."
Wieder herrschte Schweigen. Langsam drehte sich Laufgut um und blickte den Bleichen mit großen Augen an. "Was hast du gesagt?", fragte er.
Damien beruhigte sich ein wenig. "Ich verliere meinen Job, wenn..."
"Nein, nein, das andere!"
"Ähm... Humpel-Rod?"
"Humpel-Rod?", entfuhr es Laufgut. "Doch nicht etwa der alte Rodrigo Hinkebein?!"
"Ich glaube, genau der", seufzte Damien
Laufguts Miene erhellte sich. "Dreimal verfluchte Kacke, den alten Penner kannte ich schon, da war ich noch am Leben."
Damien horchte auf. "Du kennst Humpel-Rod?", fragte er ungläubig.
"Aber klar doch", lachte Laufgut, "Haben das eine oder andere Ding zusammen gedreht, har har har! Mann, was hatten wir für'n Spaß!"
"Kannst du mir helfen, ihn zu finden?", fragte Damien hoffnungsvoll.
Laufgut blickte ihn misstrauisch an. "Ich weiß nicht", murrte er, "immerhin bist du jetzt'n Bulle und so und Humpel-Rod..."
"Ich bin kein Bulle", knurrte Damien. "Wag es nie wieder mich so zu nennen! Ich hasse die Wache, klar? Sie stehen auf der einen Seite und wir auf der anderen! Sie haben nie etwas für Leute wie uns getan! Ich mache das nur weil wir das Geld brauchen, verstanden? Ich arbeite für die Wache, aber ich bin kein Polyp!"
Laufgut zögerte. "Also lässt du dich von ihnen durchfüttern, wie?", hakte er nach.
"Wenn alles glatt läuft, ja."
"Und was musst du dafür tun?"
"Kaum was anderes, was ich sonst nicht auch täte, mich in der Gosse rum treiben und mit Abschaum verkehren", antwortete Damien fast wahrheitsgemäß.
"Har, ja! Und Humpel-Rod? Ich will ihn nicht ans Messer liefern..."
"Ihm wird nichts Passieren, das verspreche ich dir. Ich muss ihn nur finden, dann kann ich meinen Job behalten und alles ist in Butter."
Laufguts blassgrüne Züge verkrampften sich, als er nachdachte. Dann zeigte er wieder sein dreckiges Grinsen. "Also gut, Leichenfreund, ich helfe dir! Aber nur, weil Adele eine gute Freundin von mir ist, damit das klar ist!"
"Aber sicher", antwortete Damien und zuckte kurz mit den Mundwinkeln, sein Äquivalent des Lächelns. "Ich bin dir sehr dankbar. Also, wo könnte man bei der Suche nach Hinkebein ansetzen?"
Laufgut lachte krächzend. "Har, Har, keine Sorge Junge, ich weiß genau, wie man vorgehen muss, um einen Galgenvogel wie Humpel-Rod zu finden! Schieb mich einfach dorthin, wo ich es dir sage..."

Der Barkeeper runzelte die Stirn, als er die beiden schäbigen Gestalten anblickte. "Humpel-Rod...", murmelte er, "Der Bursche hat sich hier schon seit einer ganzen Weile nicht mehr blicken lassen. Seit einiger Zeit hat ihn kaum noch einer zu Gesicht bekommen. Keine Ahnung wo er sich rum treiben könnte, tut mir leid, Lester."
"Ach komm schon, Benji", sagte Laufgut, nachdem er seinen dritten Whiskey runtergekippt hatte. "Ich weiß genau, dass ein Bursche wie du so einiges mitbekommt. Du kannst mir und meinem Kumpel nicht erzählen, dass du keinen Dunst, nicht einmal einen Anhaltspunkt hast, wo Roddy sich aufhält."
Damien, der neben Laufgut an der Theke stand und irgendwas Hochprozentiges vor sich stehen hatte, fürchtete einen steifen Hals zu bekommen, als er in die zernarbten Gesichtszüge seines früheren Bandenkollegen hinaufstarrte. Benji der Brecher, dachte er. Oder "Brechbohne", wie wir ihn früher nannten. Gilt inzwischen als einer der gefürchtetsten Schläger der ganzen Stadt. Ich frage mich, wer ausgerechnet dem diesen ruhigen Tresenjob gegeben hat.
Benji der Brecher schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, Lester. Keine Ahnung! Weißt du, ich habe damit abgeschlossen, schlimme Burschen und so. Ich will keinen Ärger mehr. Deshalb hab ich auch diesen Kneipenjob angenommen, damit ich ein ruhiges, ehrenvolles Leben führen kann."
Laufgut spuckte verächtlich. "Ha, ruhig und ehrenvoll. Ausgerechnet du? In dieser Spelunke? Hör gut zu, Brecher, wir wissen genau, dass du dauernd deine Ohren in der Unterwelt offen hast, sei es hier am Tresen, oder draußen auf der Straße. Aber wir wissen auch, dass längst nicht jeder in den Genuss dieser Informationen kommt, zumindest niemand ohne gut gefüllte Brieftasche. Und genauso wie wir das über dich wissen, weißt du über uns, dass wir kaum einen Cent in der Tasche haben..."
Benji fuhr hoch. "Was willst du damit andeuten?!", donnerte er. Die übrigen Gäste beobachteten das Schauspiel interessiert und legten schon mal die Hand an den Gürtel, falls sie später diverse Waffen ziehen mussten.
"Halt dich zurück, Lester", zischte Damien aus den Mundwinkeln. Lester ignorierte ihn.
"Damit will ich andeuten, dass du ein bestechlicher Mistkerl bist!!", keifte Laufgut.
"Ich knüppel dich zu Brei!", schrie der Brecher und griff unter die Theke.
Bevor er den Prügel hervorziehen konnte hatte Laufgut blitzschnell den Gehstock gezückt und den Knauf gedreht, woraufhin ein metallisches Zischen erklang. Nur wenige Millimeter von Benjis Kehle entfernt befand sich nun eine 15 Zentimeter lange Klinge, welche aus der Spitze des Gehstocks herausgeschnellt war. Benji schielte darauf hinunter bevor er bemerkte, dass hinter Laufgut bereits die ersten Flaschen an den Tischkanten zerbrochen wurden.
"Gnnniii", brachte er hervor.
"Hast du was zu sagen, Benji?", sagte der hämisch grinsende Zombie.
Erneut huschte Benjis Blick zu den übrigen Gästen, die sich bereits auf den bevorstehenden Kampf eingestellt zu haben schienen.
"Gnnh... Versucht's unten bei den Docks, könnte sein, dass er sich dort rumtreibt, es heißt, er hätte dort ein Ding am laufen und würde letzte Vorbereitungen treffen. Bitte geht jetzt!" Benjis Gesicht färbte sich hellgrün.
"Ah, wie ich sehe wird dir noch immer übel, wenn du die Hosen voll hast, Brecher", kommentierte Damien, als sie die Kneipe verließen.
"Fahr zu Hölle, Bleicht!", keuchte der Brecher. Wenig später erbrach er sich hinter der Theke.

Der Geruch von verfaultem Fisch und Rattenexkrementen war bezeichnend für die Docks von Ankh-Morpork. Ebenso, dass hier häufig dunkle Gestalten auf der Lauer lagen.
"Ist das nicht ein wenig übertrieben, Lester?", flüsterte Damien. Er und Laufgut hatten sich hinter einigen Kisten versteckt.
"Du musst noch verdammte viel lernen, Junge! Um eine Ratte zu fangen, braucht man viel Geduld und darf nicht gesehen werden."
"Es ist bald Mitternacht."
"Wir kriegen ihn schon, Junge, keine Sorge. Benji mag zwar ein verdammter Hurensohn sein, aber seine Informationen waren noch immer zuverlässig."
"Ja, aber was wenn..."
"Still!"
Eine Gestalt in einem zerschlissenen Kapuzenumhang schlich über den Steg. Sie war nicht sehr gut zu Fuß und musste ihr linkes Bein immer wieder hinter sich herziehen.
"Das ist er", zischte Laufgut aufgeregt, "Das ist Humpel-Rod! Diesen Gang würde ich unter Tausenden wieder erkennen."
"Gut", sagte Damien leise. "Und wie kommen wir an ihn ran?"
"Nun, wir:.."
"Guten Abend, Herr Hinkebein!"
Die vermummte Gestalt fuhr herum. Drei weitere Gestalten standen bedrohlich vor dem riesigen Kistenstapel. Es waren Männer, zwei von ihnen groß und bullig, der dritte etwas kleiner und unschwer als der Anführer zu erkennen.
"Wer ist da?", sagte Humpel-Rod mit zitternder Stimme.
Der Anführer der Gruppe trat näher. "Wir kommen im Auftrag von Herrn Caliente, Herr Hinkebein. Er ist über die von dir gelieferte Ware nicht sehr erfreut."
"Ich verstehe nicht", stammelte Hinkebein, mir wurde versichert, dass es sich um erstklassigen Stoff handelt..."
"Es handelt sich um Puderzucker, Herr Hinkebein", sagte der Mann. "Und Herr Caliente verlangt, dass wir uns bei dir in seinem Namen in aller Form... bedanken." Die beiden größeren Männer zückten ihre Knüppel und traten näher.
"Moment!", kreischte Hinkebein, "ich war nur der Lieferant, ich konnte doch nicht wissen..."
"Als Lieferant ist es deine Pflicht dich genauestens über die Qualität der Ware zu informieren. Adieu, Herr Hinkebein."
"Jetzt!!!" schrie jemand hinter dem Kistenstapel. Ein Pochen erklang, die drei Männer wandten sich um und konnten nicht einmal mehr aufschreien, als mehrere hundert Kilo Schiffsladung auf sie herabfielen. Hinkebein stand mit offnem Mund da. Zwei weitere Gestalten wurden sichtbar als, sich der aufgewirbelte Staub verflüchtigte.
Eine der beiden Gestalten rief: "Du bringst dich aber auch immer in Schwierigkeiten, Roddy, alter Mistkerl!"
Rodrigos Miene erhellte sich. "Lester, du verdammter Bastard!" rief er.

Humpel-Rods Quartier war ein unterirdischer Kellerraum in den Schatten, ein Geheimraum unter einem alten verfallenen Haus.
Sie saßen auf dem Boden, Rod hatte ein Feuer in einer Dose angezündet, und aßen Bohnensuppe aus ebensolchen Dosen.
"Mann, Lester, ist das lange her!", sagte Rod vergnügt, "Und wie ich sehe, hast du jetzt nen Filius an deiner Seite, wie?" Er lachte meckernd.
"Oh, der Bursche geht nicht auf mein Konto", wehrte Laufgut schnell ab. "Er ist nur so was wie mein Lehrling. Bring ihm die Kniffe bei. Wie man in dieser stinkenden Stadt zurechtkommt und so..."
Wer's glaubt, dachte Damien.
"Sehr gut", sagte Rod. "Es ist gut, wenn alte Hasen wie wir ihr Wissen an die Jugend weiterleiten. Was mich angeht, ich hab genug von dieser Müllhalde von Stadt! Mich hält hier nichts mehr!" Er beugte sich zu Damien und Lester vor. "Ich hab da so'n Ding am Laufen. Könnt ne Menge Geld bei raus springen. Wenn das Ding über die Bühne ist, verschwinde ich von hier und fang ein neues Leben an. Ihr zwei seid in Ordnung, gewissermaßen fast Verwandte. Ich vertraue euch. Wenn ihr wollt könnt ihr einsteigen und wir teilen uns die Kohle..."

Atera ließ den Bericht sinken und blickte Damien an. "Gut gemacht, Obergefreiter. Du hast alle meine Anforderungen erfüllt. Willkommen zurück!"
Damien lehnte sich erleichtert zurück.
"Nur noch eins... Du hast Rodrigo gesagt, du würdest bei seinem Deal mit einsteigen?"
"Ja", antwortete Damien unsicher.
"Sehr gut. Dann können wir jetzt zum eigentlichen Fall übergehen..."
Damien runzelte die Stirn. "Ma'am?"
"Es hat sich herausgestellt, dass Hinkebein mit einer Art Schmugglerring in Kontakt steht und nächste Woche die Ware in empfang nehmen wird. Nur dass es sich bei der 'Ware' um Menschen handelt, die als kostenlose Arbeitskräfte an führende Persönlichkeiten in Ankh-Morporks Unterwelt verschachert werden sollen. Dort werden sie gehalten wie Tiere, wie Sklaven. Das soll sein 'großes Ding' sein. Mit deiner Hilfe, werden Rodrigo und die ganze Bande endlich hinter Gittern wandern! Damit werden wir einen bedeutenden Durchbruch erzielt haben, und du kannst später mit Stolz von dir behaupten, entscheidend dazu beigetragen zu haben!"
Verdammt..., dachte Damien, Ich glaube, jetzt bin ich in Schwierigkeiten...


ENDE DES VORSPANNS

[1] Dies war ein Tick von Damien Bleicht: Der Ablauf seiner Gedankengänge ähnelte oft einem Gespräch zwischen zwei Personen. Es stimmt also, was behauptet wird: Leute, die nach außen hin möglichst wenig von sich preisgeben, zeichnen sich in ihrer eigenen persönlichen Gedankenwelt durch eine erstaunliche, meist mit Wahnsinn verbundene, Aktivität aus.

[2] Gemeinschaften dieser Art gab es praktisch Dutzende in der Stadt. Jede von ihnen hegte eine enorme Abneigung gegen die übrigen Gemeinschaften und zusammen bildeten sie das komplexe 10.000-Teile-Puzzle welches auf dem Kontinent gemeinhin als "Gesellschaft der Stadt Ankh-Morpork" bekannt war...

[3] Dies sagte eine Menge über den Charakter des Schicksals aus, fand Damien.

[4] Oder auch "verlauster Chaotenhaufen" wie die meisten Mitglieder der Abteilung F.R.O.G. zu sagen pflegten. Ebenso wie die S.E.A.L.S. stellten auch die F.R.O.Gs eine selbst ernannte Elitetruppe dar – Beide Abteilungen standen in ständigem (inoffiziellem) Konkurrenzkampf zueinander. Die S.E.A.L.S. hatten keinen derart geistreichen Spitznamen für ihre Kollegen... Sie dachten immer noch, das Wort "Frog" sei ein fremdländischer Ausdruck für "arroganter Mistkerl".

Zählt als Patch-Mission.



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