Rotes Pflaster

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von Wächter Søren Eltsam (GRUND)
Online seit 25. 10. 2004
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Für Rekruten (erste Mission):
Auf dem heutigen Ausbildungsplan steht "Erste Hilfe".
Damit muss ein Besuch im Eimer nach einem anstrengenden Tag gemeint sein, oder?

Dafür vergebene Note: 11

Sören Eltsam, seit kurzem mehr oder weniger freiwillig Rekrut der Stadtwache von Ankh-Morpork, erwachte im Dachgeschoss des Hinterhauses einer Bäckerei in der Ankhstraße. Er versuchte gequält, die laute Altstimme seiner Mutter, sowie die Sonnenstrahlen, die nahezu penetrant durch das kleine Fenster fielen, aus seinen Wahrnehmungen zu vertreiben und weiterzuschlafen, als ihm bewusst wurde, dass er doch zur Arbeit musste! Mist, schoss es ihm durch den Kopf und mühsam kletterte er aus dem Bett. Er beeilte sich, seine Uniform anzuziehen, welche die Nacht reichlich unordentlich auf dem einzigen Stuhl des Zimmers verbracht hatte, und den Abort aufzusuchen - was sein muss, muss eben sein. Er stolperte also die klapprige Außentreppe in den Hof hinunter und betrat den Abort. Als er wieder herauskam, klatschte er sich noch schnell einen Schwung Wasser aus der Regentonne ins Gesicht, verzog selbiges aufgrund der Kälte des Wassers und blickte noch kurz missmutig auf die Spiegelscherbe, die im Hof über der Regentonne auf einem kleinen Brett stand, dass an der Abortwand angebracht war. Stahlblaue Augen unter wirr und etwas nass ins Gesicht hängenden, blonden, kinnlangen Haaren blickten ihm unsagbar müde entgegen. Trotz seiner bemüht aufrechten und wachen Haltung verrieten sie mal wieder genau seinen eigentlichen Zustand. Sören seufzte und beeilte sich, den Hof zu verlassen und zum Wachhaus in der Kröselstraße zu kommen. Sörens Weg führte ihn durch das Gewirr der Gassen hinter der Ankhstraße in Richtung Übermaß und weiter über die Mumpitzstraße zur Ankh-Brücke. Er blickte in Richtung der Sonne, die trübe über der städtischen Dunstglocke stand, bereit sich jederzeit hinter den Regenwolken zu verstecken, die vom Meer her unwahrscheinlich langsam in Richtung Ankh-Morpork trieben. Er entschied, dass es schon zu spät sei und begann, am Ufer des Ankh, entlang der Schatten, in Richtung Unbesonnenheitsstraße zu rennen. Der Rest seines Weges würde ihn nun direkt durch die Schatten führen, aber es war der kürzeste Weg. Er atmete tief ein und begann, die Unbesonnenheitsstraße sehr unbesonnen entlang zu rennen, wobei er diversen suspekten Subjekten ausweichen musste, bis er endlich vor dem Wachhaus stand. Geschafft, dachte er erleichtert, wie jeder es in seiner Situation gedacht hätte. Doch erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

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Im trüben Dämmerlicht einer kleinen Kammer lagen zwei Gestalten auf einem Lager. Ihr Atem ging schnell und Schweiß glitzerte auf ihrer nackten Haut. Die Welt um sie herum schien für diese wenigen Augenblicke vollkommen zu verschwinden. Sie überhörten die Geräusche der Metropole, die gedämpft, nichtsdestotrotz laut, an ihre Ohren drangen. Ein paar Ratten, die im Stroh in der Ecke raschelten, bekamen höchstwahrscheinlich mit, was die beiden Menschen dort trieben, ignorierten es aber völlig, so wie die Liebenden die Ratten ignorierten. Plötzlich wurde der Moment intimer Zweisamkeit jäh unterbrochen. Eine tiefe, männliche Stimme brüllte nahezu unten im Hof: "Ich weiß genau, was dieser Bastard von einem Klatschianer mit meiner Tochter treibt und wenn ich ihn erwische..."
"Nein, Harold!" wurde die Stimme von einer weiblichen Stimme unterbrochen, "Du kannst doch nicht..."
"Doch, er kann!" fuhr nun eine andere männliche Stimme dazwischen. Sie kündete von tiefem Hass, noch tiefer als der der ersten Stimme. "Und ich werde ihm helfen! Sie steht allein MIR zu!"
In der Kammer hielt das Paar den Atem an. Sie waren sich sicher, dass die Worte ihnen gegolten hatten. Hastig zogen sie sich an. Die junge Frau verließ die Kammer durch eine kleine Tür, der Mann hangelte sich durch die winzige Luke in der Wand und hinab in die belebten Straßen der Doppelmetropole Ankh-Morpork. Die weibliche Stimme im Hof stotterte noch einige wenige Proteste, während die zwei erbosten Männer den Hof rennend verließen und die Verfolgung des jungen Mannes aufnahmen.

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"Rekrut Sören Eltsam, kannst du mir bitte verraten, warum du schon wieder zu spät kommst?" schallte die Stimme des Ausbildungsleiters Hauptmann Humph MeckDwarf gezwungen geduldig durch das Wachhaus Kröselstraße. Der Angesprochene stand steif im Raum und salutierte mehr schlecht als recht, Trotz funkelte in seinen Augen. "Sör, ich hatte am heutigen Morgen ein längeres... ähm...", er zögerte, "Ähm... na ja... Geschäft... zu verrichten... Sör!"
"Interessant", äußerte sich der Hauptmann leicht amüsiert. "Hmmm... das ist neu. Gute Ausrede, Sören. Und jetzt setz dich, wir wollen, oder besser müssen, heute über Erste Hilfe reden."
Erste Hilfe war durchaus ein Thema, dass Sören einigermaßen lag. Schon früh hatte sein Vater ihm einige Grundlagen der Ersten Hilfe beigebracht, denn es kam nicht selten vor, dass Mutter mal wieder ein wenig wütend wurde und mit dem steinharten Brot ihres Ehegatten nach den Kunden warf. Kenntnisse in Erster Hilfe waren somit im täglichen Betrieb der heimatlichen Bäckerei unverzichtbar und manchmal auch lebensrettend.
"Hast du schon Vorkenntnisse auf diesem Gebiet, Rekrut?" fragte MeckDwarf.
"Ja, Sör", antwortete Sören wahrheitsgemäß.
"Gut, dann können wir das alles ein wenig abkürzen. Stell dir vor dieses... öhm... Ding hier..." er deutete auf eine etwas mitgenommene Strohpuppe, die wohl einmal einen Menschen dargestellt haben mochte, "ist ein Verletzter. Er liegt still da und blutet ganz offensichtlich aus einer größeren Wunde am Kopf. Was du bei der Untersuchung feststellen könntest, sofern du es richtig angehst, teile ich dir dann mit."
Sören beäugte die Puppe ein wenig misstrauisch und begann mit der - von seinem Vater so genannten - "Standardprozedur der Annäherung an ein Brotopfer". Er näherte sich dem "Bewusstlosen" vorsichtig und sprach ihn laut und deutlich an. Dies zeigte bei der Puppe natürlich keine Wirkung, doch Sören hatte schließlich doch ein wenig Phantasie und konnte sich die Situation recht gut vorstellen, einen echten Verletzten vor sich zu haben. Danach versuchte er, das Opfer mit einer Ohrfeige zu wecken. Als auch dies nicht in einer Meldung seitens seines Ausbilders resultierte, dass der Patient aufwache, sagte er: "Keine Reaktion, Patient muss bewusstlos oder tot sein." Sein Ausbilder nickte stumm.

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Zur selben Zeit jagte der gehetzte Klatschianer von der Augentroststraße in Richtung der Unsichtbaren Universität. Seine Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen, aber der Verkehr nahm zu, je näher sie der Universität kamen. Der Verfolgte hatte durch seinen athletischen, schlanken Körperbau einen großen Vorteil auf der Flucht zwischen dem restlichen Verkehr hindurch. Seine grobschlächtigen, übergewichtigen Verfolger konnten ihm nicht schnell genug folgen. Sein Vorsprung wuchs.

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Sören begann nun, den "Verletzten" auf Puls und Atmung zu prüfen. Beides sei vorhanden, erklärte ihm sein Ausbilder. Daraufhin untersuchte Sören die Puppe genauer, tastete das Opfer, das dank seiner Phantasie schon fast zu einem echten Lebewesen geworden war, nach Knochenbrüchen ab. Humph teilte ihm mit, das Opfer habe keine Knochenbrüche, wohl aber eine stark blutende Kopfverletzung. Sören war mittlerweile so sehr in die Situation vertieft, dass er sofort einen imaginären Wächter, mit dem er ja schließlich auf Patrouille gewesen war (wer geht schon gern alleine?), losschickte, Rogi Feinstich zu holen. Sein Ausbilder kommentierte das - wie schon Sörens vorherige Handgriffe und Taten - mit einem stummen Nicken und sah dem blonden Rekruten dabei zu, wie dieser den Kopf des Verletzten sorgfältig mit einem Stück des Hemdes desselbigen verband. Daraufhin erklärte er die Übung für beendet: "Sehr gut, Rekrut Eltsam. Komm mit, wir gehen ein wenig durch die Stadt."
Sören folgte dem Hauptmann auf die Kröselstraße hinaus.

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Der Gejagte rannte, verfolgt von dem wütenden Vater und dem noch wütenderen Bräutigam seiner Geliebten, so schnell er nur konnte über den Hier-Gibt's-Alles-Platz. Im Gedränge konnte er dank seiner Wendigkeit noch etwas Vorsprung gut machen, aber wie lange würde er noch durchhalten? Er dachte nicht viel über ein Ziel nach und rannte einfach weiter über den Platz der Gebrochenen Monde, die Straße der Geringen Götter hinab. Er schlängelte sich durch den dichten Verkehr. Sein Vorsprung vergrößerte sich, nur um kurz darauf wieder rapide zu schrumpfen, da die anderen Personen auf der Straße den zwei Wuchtigen Verfolgern mittlerweile auswichen und diese dadurch viel schneller vorankamen. Er wusste nicht, wohin er rannte, aber er wollte nur weg. Weg von dem Vater und dem Bräutigam, weg aus dieser grauenvollen Stadt. Er rannte in Todesangst, und während er fühlte, wie ihn seine Kräfte langsam verließen fragte er sich noch, woher die beiden dicklichen Verfolger die Energie hernahmen ihn so lange in diesem Tempo zu verfolgen. Als sie ihn schließlich einholten begriff er: Es war nackter Hass.

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Sören und sein Ausbilder patrouillierten die Ulmenstraße entlang und schließlich durch die Schimmerstraße weiter zur Ankertaugasse. Sören schwieg, während sein Ausbilder ihm noch einige Tipps zum Umgang mit Verletzten gab. Das meiste war Sören durchaus bewusst, da sein Vater ja in den vielen Jahren, die er nun mit Sörens Mutter verheiratet war, einige Erfahrungen hatte sammeln können. Deshalb konzentrierte Sören sich mehr auf die Menschen um ihn herum, als auf das, was MeckDwarf ihm beizubringen versuchte. Doch er sah nichts Außergewöhnliches, bis sie die Leichte Straße überquerten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, an der Einmündung nach Willkommenseife verprügelten zwei Männer eine dritte, am Boden liegende Person. Das Ganze sah Sören und auch seinem Ausbilder verdächtig nach unlizensiertem Überfall aus.
Sören begann, ohne dass er großartig über die durchaus ernst zu nehmenden Gegner nachdachte, zu rennen und erreichte den verletzten Mann. Es war ein gutaussehender, junger Klatschianer, dessen Haare von Blut verklebt waren und dessen Hemd auch schon von Blut getränkt war. Die beiden Männer, für die Sören im ersten Moment nur die Bezeichnung Fleischklöße einfiel, traten seltsamerweise sofort die Flucht an, obwohl sie Sören haushoch überlegen waren. Mit wenig Begeisterung in der Stimme kommandierte Hauptmann MeckDwarf: "Dann kannst du ja gleich mal zeigen, was du kannst", und er fuhr noch missgelaunter fort: "Ich werde mich mal an die Verfolgung machen." Und mit diesen Worten ging der Hauptmann mehr, als dass er rannte, den Fliehenden hinterher. Sören zögerte keinen Augenblick: Als er zwei ihm noch unbekannte Rekruten der Stadtwache erblickte, die offensichtlich Humph begegnet waren, der sie unverzüglich hergeschickt hatte, schickte er sie sofort los, um Rogi Feinstich aus dem Wachhaus zu holen. Während die Rekruten losrannten (bzw. schlurften, denn einer von ihnen war eine Mumie), begann Sören mit der Versorgung des Klatschianers.
Sören entledigte sich umgehend seines Brustpanzers, damit er aus seinem Hemd einen Verband improvisieren konnte. Er drückte das Hemd auf die Messerwunde im Bauch des Opfers und band die Kordel, die der Mann als Gürtel trug, darum. Dieser notdürftige Druckverband sollte fürs erste reichen. Die relativ harmlose Platzwunde am Kopf des Opfers verband Sören vorsichtig mit einem Streifen des Hemdes des Verletzten. Die starke Blutung am Bauch ließ allerdings immer noch nicht nach. Langsam schwand Sörens Hoffnung. Halt durch! dachte er und versuchte, die Blutung durch etwas stärkeren Druck zu vermindern, was ihm allerdings kaum gelang. Endlich - für Sören schienen Stunden vergangen zu sein - kam einer der beiden Rekruten die Straße entlang gelaufen. Neben ihm lief Lance-Korporal Rogi Feinstich, die - noch - einzige Igorin der Wache. In einer Hand hielt sie eine Tasche. Rogi drängelte sich mit dem üblichen drohenden Ruf durch die Schaulustigen, die sich mittlerweile um Sören und den Verletzten geschart hatten: "Lafft mich durch, ich könnte eine Ärftin fein!"
Sören überließ die weitere Arbeit nun Rogi. Diese nickte anerkennend ob der Versorgung der Wunden, die zwar katastrophal, aber unter den gegebenen Umständen vergleichsweise fachkundig ausgeführt war, und beauftragte dann den Rekruten, sowie Sören in befehlsartigem Ton: "Ihr beide tragt ihn inf Wachhauf! Fofort!"
Die beiden Wächter zögerten keinen Augenblick. Sören nahm seinen Brustpanzer mit und sie trugen den Verletzten bis hin zur Kröselstraße. Auf dem Weg dorthin hinterließen sie eine deutliche Blutspur auf dem schmutzigen Kopfsteinpflaster. Endlich kamen sie an. Sören wusste nicht, wie viel Blut der Verletzte schon verloren hatte, aber es war mit Sicherheit zu viel. Rogi führte sie in das nächstbeste Zimmer des Wachhauses, dass einen großen Tisch aufwies und bat sie dann, sie allein zu lassen.

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Nach schon einer halben Stunde kam Rogi niedergeschlagen aus dem Zimmer heraus. "Ef tut mir leid, aber die Mefferwunde war fu tief. Wenn ich einen Magen, einen grofen Kanifter Blut und mindeftenf eine Niere vorrätig gehabt hätte..."
Sie sprach nicht weiter, als sie Sörens Blick bemerkte. Trotz seiner bemüht sicheren Haltung verrieten seine Augen seine wahren Gefühle nur zu deutlich. Er hatte versucht, den Mann zu retten und gab sich nun selbst die Schuld für dessen Tod. Sören ließ seine Haare vor sein Gesicht fallen. Trotz aller Schuldgefühle und trotz seiner Niedergeschlagenheit konnte er nicht weinen. Es war zu ernüchternd, da eigentlich nie eine Chance auf Erholung bestanden hatte. Dennoch verfluchte Sören sich selbst. Langsam stand er auf und verließ das Wachhaus. Ebenso langsam ging er in Richtung des Ankh, in Richtung seines Zimmers auf der anderen Seite des Flusses, irgendwo, viel zu weit weg. Er fragte sich nicht mehr, warum und von wem dieser Mann getötet worden war.
Die Stadt hatte ein weiteres Opfer gefunden.



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