Der Ritualmord - Das erste Auftreten

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von Gefreiter Steven Träumer (SEALS)
Online seit 01. 10. 2004
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Deine Ausbildung beginnt, doch wie du weißt, kannst du dich dabei an niemanden wirklich wenden - mal abgesehen von ein paar langen, doofen Büchern - also solltest du dir wohl was einfallen lassen...

Dafür vergebene Note: 11

Ein heiterer, sonniger, aber auch ein bisschen regnerischer Tag neigt sich dem Ende zu. Für manche die Zeit mit ihrer Arbeit zu beginnen, für andere die Zeit sich schlafen zu legen und dadurch die nötige Kraft für morgen zu sammeln. Die Wache scheint nie zu schlafen, denn zumindest im Wachhaus am Pseudopolisplatz brennt immer Licht. [1] Es war gerade Schichtwechsel, für die einen die ersehnte Erlösung, für die anderen der Beginn einer langen Nacht.
In einem winzigen Seals-Büro lag, mitten auf einem kleinem Holztisch aufgeschlagen, ein grausames Buch. [2] Vor dem Tisch, auf einem wackligem Stuhl, saß ein einsamer Gefreiter, der sich weiterhin dem schier endlosem Kampf mit eben diesem Buch hingab. Seine Euphorie war bereits nach den ersten 20 Seiten verflogen, was folgte war menschenunwürdig. [3]
Mittlerweile war dieser arme Gefreiter schon fast eine Woche damit beschäftigt sich eingehend mit der Lektüre zu beschäftigen, dessen spannender Inhalt schon mit leicht vergilbten, goldenen Lettern auf dem Deckblatt, durch den Titel "Die Gesetze und Verordnungen der Städte Ankh und Morpork" angekündigt wurde. Es ist also wahrlich kein Wunder, dass ein solcher Titel zu einer gewissen Abschreckung führt. Doch ab und an meinen Unbelehrbare den unüberschaubaren Gefahren des Titels trotzen zu können und wagen sich ins Innere hinein, denn allein die Stadt Ankh-Morpork beklagt jährlich 20 Tote, die keinen Ratschlag ernst nehmen und ihren Geist ungeschützt dem Inhalt freigeben. Daher ist es wohl auch nicht weiter verwunderlich, dass sich die Ausbildung zum Rechtsexperten in der Stadtwache nicht außergewöhnlicher Beliebtheit erfreut. Dennoch wird dann und wann ein unerschrockener (Möchtegern-)Held geboren, der sich wie schon einige vor ihm in das Reich der Gesetze vorwagt und den unerschütterlichen Weg des Rechtes entlang wandert. [4]
Ein solcher Mensch war auch Steven Träumer, es hieß sein Wille könne Berge versetzten. [5] Ja, man könnte sagen, er hielt sich vielen gegenüber geistig überlegen, also hatte er lernen müssen, dass ihn ein spitzfindiger Satz nicht vor einem Kinnhaken schützen kann. Dies war eindeutig seine bisher größte Herausforderung. Er hatte zwar schon in seiner Kindheit angefangen zu lesen und wusste daher, wie man mit Büchern umzugehen hatte, doch ein solches Exemplar war ihm bisher noch nicht untergekommen. Während es bei den meisten Büchern reichte, den Inhalt zu verstehen, so kam es hierbei darauf an jedes einzelne Wort und jede Form, in der es geschrieben stand, in sich aufzunehmen und bei Bedarf abrufen zu können. Die Tatsache, dass er alleine lernen musste, und sich nicht mal jemand dazu bereit erklärt hatte ihn abzufragen, machte die Sache nicht gerade leichter. Trotz all der Schwierigkeiten war er gut vorangekommen und hatte bereits drei Viertel des Buches durchgearbeitet und zumindest im Moment noch im Kopf. Gelegentlich fragte er sich stichprobenartig einige Paragraphen ab und es schien zu funktionieren - er hatte eine ikonographisches Gedächtnis, das ihn dabei tatkräftig unterstützte, doch bald, sehr bald wäre auch dessen Kapazität erschöpft und es würde resignieren.
Steven ging immer davon aus, dass so etwas nur anderen passieren könnte, denn bisher hatte er sich grundsätzlich alles merken können, was er irgendwo gelesen hatte. [6]
Es klopfte an die Tür. Dies war kein gewöhnliches "Darf-Ich-Bitte-Eintreten?"-Klopfen, nein, es war vielmehr so etwas wie ein "Ich-Weiß-Dass-Du-Schläfst-Also-Werd-Wach-Bevor-Ich-Eintrete"-Klopfen. Steven sah einen Moment lang vom Buch auf, drehte dann seinen Kopf zur Tür.
"Ja? Herein", rief er mit monotoner, schläfriger Stimme. Die Tür wurde langsam und behutsam geöffnet, um dem Schlafendem Gelegenheit zu geben sich einigermaßen herzurichten. Herein kam Atera, die ihn mit einem mitleidigen Blick bedachte. Steven, der diese Art von Blicken kannte, winkte nur ab.
"Ich wusste ja, worauf ich mich einlasse...", sagte er lässig.
Atera nickte. "Du bist heute für die Nachtschicht eingeteilt, aber ich fürchte es ist niemand mehr da, den du begleiten könntest..", erklärte sie freundlich, während sie sich an den Türrahmen lehnte. Steven zuckte mit den Schultern.
"Kein Problem", erwiderte er. "Ich werde auch allein zurechtkommen."
Damit wandte er sich wieder dem Buch zu, legte sich ein Lesezeichen hinein und schlug es dann zu. Er stand auf, holte sich seinen Mantel von der aus zwei krumm in die Wand geschlagenen Nägeln bestehenden Garderobe und warf ihn sich um. Er bemerkte, dass Atera noch immer in der Tür stand, irgendwas schien sie zu beschäftigen.
Als sie seinen Blick bemerkte, wandte sie sich ihm zu, und erkundigte sich, wie er vorankam.
"Es geht ganz gut voran...", erzählte Steven in einem recht gleichgültigem Tonfall, "Es ist zwar eine recht... fordernde Lektüre, doch ich denke, dass ich damit klarkommen werde." Er war wieder zurück zum Tisch gegangen und legte nun eine Hand auf die goldenen Lettern. Damit schien nun wirklich alles gesagt und Atera wandte sich ab und ging den düsteren Flur entlang.
"Ja, ich denke, ich werde damit klarkommen...", murmelte Steven noch undeutlich vor sich hin, als er sein kleines Büro abschloss.

Das erste, was Steven bemerkte, nachdem er das Wachhaus verlassen hatte, war der klare Himmel und der heraus stechende Vollmond. Wolfsgeheul erklang und Steven versuchte sich durch das vor-sich-hin-pfiffeln von fröhlichen Liedern aufzuheitern. Gerade versuchte er sich wieder an das gute alte Zwergenlied zu erinnern, dessen Melodie er zwar kannte, er aber nach "Gold, Gold, Gold, Gold, Gold" nicht mehr weiterwusste. Seine Gedanken schweiften umher, während er verträumt die Sirupmienenstraße entlang schlenderte. Dabei huschten zwar seine Augen aufgeregt hin und her, auf der Suche nach etwas verdächtig- oder bedrohlichem, doch er erwartete nicht wirklich etwas zu sehen, nicht an seinem ersten Tag bei den Seals. Sicherlich, noch hatte er keine wirklichen Wächter-Augen und sein Streifen-Schlurfen ließ auch noch zu wünschen übrig, doch wusste auch ein noch nicht sehr erfahrener Wächter gewisse Zeichen zu deuten.
"Wir sie machen fertig!", erklang eine raue, aufgebrachte Stimme auf der anderen Straßenseite.
"Wir ihre Köpfe zerquetschen!", wurde ihr zugestimmt.
"Aus ihren Schädeln wir Haufen machen!", fügte jemand hinzu.
Steven sah eine Truppe Trolle die Straße entlang laufen, in ihren Händen (soweit dieser Begriff zutreffend ist) befanden sich gewaltige Keulen und andere grobe Waffen, die sie gelegentlich zu ihren Rufen in die Luft erhoben. Diese 'Truppe', scheinbar von einem besonders großen Troll angeführt, der außerdem durch ein besonders Angst erregendes Gesicht mit einer Reihe von Narben gekennzeichnet war.
Steven schluckte. Zwar wusste er nicht genau, was diese Truppe vorhatte, doch schien es (verschiedene) Variationen von Gewalt zu beinhalten. Ihre Gestern zeugten von, bei Trollen recht häufig anzutreffender, Zielstrebigkeit und Starrköpfigkeit. Irgendwie fühlte sich Steven dazu aufgefordert etwas gegen die anstehende Straßenschlacht [7] zu unternehmen. Verzweifelt sah Steven sich um, irgendwie hatte er es geschafft irgendwo anzukommen, nur wusste er wieder einmal nicht, wo irgendwo war. Nichts deutete darauf hin, dass sich irgendein anderer Wächter in der Nähe aufhielt und eben dieser Zustand führte nicht gerade zu wachsender Euphorie bei Steven.
Langsam setzte er sich in Bewegung, darauf bedacht mit den Trollen Schritt zu halten, während er überlegte. Üblicherweise runzelte er dabei die Stirn und starrte fast senkrecht auf den Boden, während er aus den Augenwinkeln heraus die Bewegungen der Trolle beobachtete. Er wusste, dass er nicht massig Zeit hatte, und als er dann "Dort es sein!" hörte und bemerkte, dass Pranken auf ein nicht mehr sehr weit entferntes Gebäude deuteten, und dabei von lautem Gegröhle begleitet wurden, setzte er den erstbesten, vorsichtig ausgedruckt, "Plan", in die Tat um. Hastig kramte er einen Zettel und einen Stift aus einer Tasche seines Mantels, kritzelte auf den Zettel schnell etwas und rannte dann vor die Trolle.
Irgendwie wirken sie von näher noch größer...
"Halt!", befahl er ihnen gebieterisch. "Im Namen der Stadtwache von Ankh-Morpork, halt!"
Die Trolle blieben stehen und sahen Steven verblüfft an. [7a]
Na dann mal los, die Zeit läuft...
"Was du wollen von uns?", fragte der Anführer-Troll.
Einen winzigen Moment schloss Steven seine Augen, um nachzudenken. Sein Plan bestand darin, die Trolle anzuhalten, nur hatte er noch nicht ausgearbeitet wie genau das geschehen sollte.
"Allgemeine Fußgängerkontrolle der Stadtwache von Ankh-Morpork, legitimiert durch Paragraph 176, Absatz 4 der Ankh-Morpork-Gesetzordnung", rasselte er mit einem Atemzug runter und bemerkte zufrieden wie die Augen der Trolle sich metaphorisch weiteten. "Sie sind mir durch ihre übermäßige Bewaffnung aufgefallen, haben Sie dafür eine schriftliche Erlaubnis?"
Übermäßige Bewaffnung? Es ist allgemein bekannt, dass Trolle meistens Keulen tragen, so wie Zwerge Äxte, oder...
"Das nur Keulen sein, nicht..." Der Troll hielt einen Moment inne, während er versuchte sich an die letzten paar Sekunden zu erinnern. "... übermäßige Be... Bewa..." der Kopf des Trolls bebte, "... Bewaffnung!" brachte er stolz und nicht ohne eine unausgesprochene Anerkennung der anderen Trolle heraus. Er versuchte wahrscheinlich zu grinsen. "Wir doch Keulen dürfen haben."
Tataaaa! Na, was hab ich gesagt? Selbst Trolle sind nicht so blöd...
"Nunja, eigentlich schon, aber..." Steven war gezwungen das 'aber' recht lang zu ziehen, um wieder kurz die Augen schließen zu können und seine Gedanken zu ordnen. "... nach Paragraph 592, Absatz 5c, und unter Berücksichtigung der Zusatzparagraphen 593 und 594 des Ankh-Morpork-Gesetzbuches, der zwar bereits im vergangenem Jahrhundert von König Frostfuß, dem Unvorsichtigen im Verlauf seiner 5-Minütigen Amtszeit erlassen, aber bisher nicht revidiert wurde, kann ich, als Vertreter der Staatsgewalt, all eure brennbaren Güter, darunter fallen auch Waffen, einfordern, um mit ihnen die dauerhafte Beheizung des königlichen Speisesaales zu gewährleisten, bzw. unterstützen", stellte Steven, ohne auch nur einmal inne zu halten, fest.
Du bist der... Beste, Beste, Beste, Beste! Der... aller-aller-aller-Beste! Ja! Hurra!
Er streckte die Hände aus, um die Keulen entgegen zu nehmen.
"Es seien Sommer, du nicht brauchen Holz um zu haben warm. Du schon brauchen Schatten, um zu haben kühl, aber du nicht können haben kalt", stellte der Troll fest. Die anderen Trolle waren nun damit beschäftigt ihm mit den Armen Luft zuzufächern. [9]<
Du Volltrottel! Wie konntest du das nur nicht beachten?
Doch Steven machte nur eine abwertende Handbewegung. "Wie gesagt habe ich mich auch auf den Zusatzparagraphen 594 bezogen, der nämlich besagt, dass dazu auch das Anhäufen von beliebig großen Vorräten gezählt werden kann, sofern die brennbaren Güter nicht zum Zeitpunkt der Einforderung in Benutzung sind." Er grinste breit.
Okay! Du bist der Champ! Dir macht keiner was vor! Du steckst sie alle in die Tasche! Du...
Die erste Keule traf Steven fast senkrecht auf den Kopf und holte ihn sofort von den Beinen, es knackte leise.
"Du wollen, dass Keule weiter in Benutzung? Ich nicht glauben", hörte Steven den Troll noch sagen, bevor er das Bewusstsein verlor.

Er erwachte auf einem relativ weichen Bett [10]. Langsam öffnete er die Augen und nahm einen dunkel gestrichenen Raum wahr, der gerade soweit erhellt war, dass man von einer Wand zur gegenüberliegenden sehen konnte. Er war recht geschmackvoll eingerichtet, zumindest soweit Steven das beurteilen konnte. Gleichmäßig an den Wänden verteilt hingen Ölgemälde in goldenen Rahmen, auf dem Boden lag ein scheinbar schwerer, großer Teppich, der den ganzen, mittelkleinen Raum bedeckte. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch aus dunklem Holz, er hatte einige Schubladen und auf ihm lagen sowohl einige Bücher, als auch ein Stapel Blätter, sowie ein Tintenglas und Federn zum Schreiben. An der Wand hinter dem Schreibtisch stand ein Bücherregal, auf dem die Bücher ordentlich nebeneinander standen - sie wirkten recht friedlich. Der Raum hatte kein Fenster, so dass die Luft recht stickig war.
"Wo bin ich?", murmelte Steven vor sich hin, ohne die Erwartung auf eine Antwort.
"Bei einem Freund", zischte plötzlich eine helle Stimme hinter ihm. Steven warf den Kopf in den Nacken, um die Herkunft des Geräusches zu suchen. Direkt hinter ihm stand ein, ganz in schwarz gekleideter Mann mit reiner, weißer Haut, Steven war sich sicher gewesen, dass sich niemand im Zimmer aufhielt und gleichzeitig hatte er von seiner Liegeposition die Tür praktisch dauernd im Blick gehabt. Er schloss die Augen kurz, um sicherzugehen, dass er keiner Täuschung unterlag, und tatsächlich, als er die Augen wieder öffnete war der Mann verschwunden.
"So ist es sicher angenehmer für dich, du musst den Kopf nicht verdrehen", hauchte wieder die helle Stimme und als Steven den Kopf wieder nach vorn hob, stand da wieder die Gestalt. Für einen Moment war Steven sprachlos.
"Entschuldige, die Macht der Gewohnheit." Der Mann grinste breit und offenbarte dabei ein paar langer Vorderzähne. Er zischte, und verkündete dann: "Ich bin der Graf von Draag, doch meine Freunde nennen mich einfach nur Radament. Und dies ist mein bescheidenes Heim." Er machte eine allumfassende Geste.
"Ich bin...", wollte Steven ansetzen, wurde jedoch sofort vom Grafen unterbrochen.
"Ich weiß, wer du bist, Steven. Habe dich beobachtet, schon lange. O ja, ich habe dich schon sehr lange beobachtet." Er lachte. "Ich kannte deinen Vater, Steven, ich kannte deine Mutter, deinen Onkel, deine Tante, deinen Großvater, deine Großmutter, ich kannte sie alle", hauchte Radament und als er merkte, dass Steven etwas sagen wollte, bedeutete er ihm zu schweigen.
"Vielleicht weißt du es nicht, Steven, doch in dir fließt blaues Blut. Es ist nicht mehr viel, nein, wahrlich nicht, und doch ist es noch immer da. Blaues Blut... wie lange kam ich nicht mehr in seinen Genuss...?", fragte er sich selbst, beugte sich über Steven und fuhr mit einer Hand behutsam über dessen Hals, Steven erstarrte. "Ja, lange ist es her, sehr, sehr lange ist es her... blaues Blut... lange her..." Bei diesem Satz schienen seine Augen einen weit entfernten Ort zu betrachten, während sich auf Stevens Stirn kalter Schweiß bildete und er begann am ganzen Körper zu zittern. Der Graf schien jetzt wieder geistig anwesend zu sein. Seine Augen fixierten etwas, er schob seinen Kopf blitzschnell vor zu Stevens Hals, der sich daraufhin gegen das Bett drückte und darauf hoffte, dass es ihn verschlucken würde.
Ich bin doch noch so jung...
"Bitte ni...", stöhnte Steven, doch wieder unterbrach ihn der Graf.
"Ach, da ist es ja", sagte er und zog Stevens Anhänger an dessen Kette hervor. Steven warf einen erleichterten, kurzen Blick darauf und stellte fest, dass der Anhänger in Radaments Händen zu leuchten begann.
"Was hat das zu bedeuten?", fragte er, diesmal war er schneller gewesen.
"Wie gesagt...", begann der Graf, "... kannte ich bereits deine Vorfahren. Und sie waren es auch, die diesen magischen Anhänger herstellen ließen. Es ist ein ganz besonderes Erbstück, und du darfst es niemals verlieren, hast du verstanden?" Steven nickte. Er kam sich wie ein kleines Kind vor, das von seinen Eltern Anweisungen bekommt. Radament ließ den Anhänger los und begann um das Bett zu kreisen, Stevens Augen folgten ihm dabei.
"Nun denn, ich wache schon seit ewigen Zeiten über deine Familie und werde dies auch Zeit meiner Existenz weiterführen. Einst ward ich dazu auserwählt, als deine Ahnen noch regierten, es herrschte ein aussichtsloser Krieg und der König bat, mich seiner neugeborenen Tochter anzunehmen, sie weit fort zu bringen und dort alles zu lehren was ich weiß. Dieser König war ein guter König gewesen, er hatte das ihm gegebene Land sorgsam regiert und ihm eine einzigartige Blütezeit beschert. Doch Erfolg bringt Neider mit sich, und so war es auch, seine eigene Schwester fiel ihm in den Rücken und versuchte die Würdeträger gegen ihn aufzubringen - mit Erfolg. Alle führten sie ihre Männer gegen ihn zu Felde, und egal wie tapfer der König und seine Männer kämpften, immer unterlagen sie dem übermächtigen Feind. Ja, alle kämpften sie gegen ihn, sogar ich. Zwar war ich ein loyaler Anhänger und enger Vertrauter des Königs, doch war ich gleichzeitig geblendet von der Schönheit seiner Schwester.
Es dauerte lange, bis ich erkannte, welch großen Fehler ich begannen hatte, gegen meinen eigenen Herrn zu kämpfen, und obgleich dessen, und obgleich der Krieg schon verloren war, nicht zuletzt durch mein zutun, verzieh mir dein Ahn ohne ein Wort darüber zu verlieren. So übergab er mir seine Tochter, um zumindest sie vor dem Tode zu bewahren." Radament hielt kurz inne, während er Steven musterte, der ihn fasziniert anstarrte. "Ich gab alles auf, und floh mit dem Kind in ein Nachbarreich, wo ich es einem jungen, kinderlosen Paar, in einer Wiege vor die Tür stellte. Erst als sie alt genug war zu begreifen, klärte ich sie und ihre 'Eltern' über ihre Herkunft auf, lehrte sie was ich wusste, und genau so mache ich es auch mit jedem weiteren Erstgeborenen. Nun bist du an der Reihe", beendete der Graf seine Erzählung.
"Aha, ich verstehe...", erwiderte Steven, "Aber... der Anhänger, wieso leuchtete er dann?", fragte er.
"Oh, natürlich, er ist der Beweis für meine Geschichte. Um zu gewährleisten, dass mich jeder erste Nachkomme auch akzeptiert, mir vertraut, mir Glauben schenkt, ließ der König dieses Amulett anfertigen. Es ist magisch und leuchtet nur, wenn ich es berühre. Wieso genau, das kann ich dir leider nicht sagen, nur, dass es so ist", beantwortete Radament Stevens Frage.
"Du wirst mich also lehren?", fragte Steven nach einer Weile.
"Ja, das werde ich."
"Was wirst du mich lehren?"
"Hmm... was immer du zu wissen verlangst, was immer du wissen willst, und was immer ich davon weiß."
Steven nickte und legte den Kopf dann wieder auf das Kissen. Das wurde ihm langsam ein wenig zu viel des Guten.
"Du interessierst dich also für die Rechte und Gesetze der Stadt. Das ist kein einfaches Gebiet, besonders, wenn man sich alles allein aneignen muss... nicht wahr?"
"Nunja... meine Ausbildung dauert noch nicht sehr lange an." Steven grinste leicht verlegen. "Deshalb kann ich das noch nicht so sicher sagen, wie du sicher verstehen wirst."
"Doch wenn du Rat oder Hilfe benötigst, ich stehe dir jederzeit zur Verfügung, die Juristik ist mein großes Hobby." Er deutete auf das Regal mit den Büchern und erst jetzt bemerkte Steven, dass es alles Bücher über Gesetze, Verhandlungen und dergleichen waren.
"Ich würde mich jetzt gerne noch ein wenig ausruhen", bat er und schloss die Augen. Als er hörte, wie langsam die Tür geöffnet wurde, sagte er noch "Danke. Für alles." und schlief ein.

Diesmal schlief er fast einen ganzen Tag lang und verarbeitete das Geschehene in einem aufregenden Traum. Wieder wurde er beim Aufwachen von einem angenehmen Licht begleitet. Er streckte alle Viere von sich, gähnte herzhaft und setzte sich dann auf. Als er sich umsah, bemerkte er ein Tablett, das auf dem Schreibtisch rechts von ihm stand. Darauf befanden sich einige trockene Brotscheiben auf einem Teller, eine Kanne Milch, daneben ein leeres Glas, sowie einige Scheiben Äpfel.
Er scheint dich wirklich zu kennen.
Steven musste grinsen, ja das war wohl wahr. Anschließend stand er auf, setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch, rückte ihn zurecht und begann zu frühstücken.

Kurze Zeit später verließ er das Zimmer durch die schwere Holztür in der rechten Ecke des Raumes. Nun befand er sich mitten auf einem langen Gang, der sich in beide Richtungen erstreckte. Auch hier war Teppich ausgelegt, ebenfalls waren gelegentlich Ölgemälde aufgehangen, die Steven nun als Porträts der verschiedensten Personen erkannte. Er sah sich um, keine der beiden Richtungen schien sich von der anderen zu unterscheiden - abgesehen davon, dass die Gemälde verschiedene Motive hatten. Er entschied sich nach links zu gehen, öffnete die erstbeste Tür und hatte offensichtlich eines der Bäder gefunden. Das Bad war luxuriös eingerichtet, es gab fließend Wasser, das aus goldenen Kränen kam. Ebenso konnte er zwischen Dusche und Bad wählen. Steven war nicht ans Baden gewöhnt, [11] also entschied er sich für die Dusche. Noch nie hatte Steven es erlebt, dass man mehr Auswahlmöglichkeiten hatte als 'Kochendes Wasser' & 'Eiseimer', also fiel seine Dusche dementsprechend lang aus. Als er dann aus der Dusche kam, stellte Steven fest, dass jemand seine Kleider entfernt und ihm dafür einen frischen Anzug zurückgelassen hatte. Wie zu erwarten, passte der Anzug wie angegossen.
Steven betrachtete sich in dem großen Spiegel, der die eine Wand des Raumes bildete und stellte fest, das abgesehen davon, dass ihm der Anzug ausgezeichnet stand, er einen neuen, optisch ansprechenderen Haarschnitt bekommen hatte. Einen Moment lang hegte er den Verdacht, in einer dieser neumodischen 'Umstailing-Schous' gelandet zu sein, verwarf den Gedanken aber bald wieder.
Ich finde auch, dass das viel zu viel Arbeit wäre... nur für dich! Ha!
Steven trat wieder den Gang und sah sich erneut um und fragte sich, welche Richtung er einschlagen müsste, um noch vor Sonnenuntergang [12] angekommen zu sein, auch wenn er ja noch nicht wusste, wo das sein sollte.
"Hier geht'f lang, gnädiger Herr", teilte ihm eine Stimme rechts von ihm mit, deutete mit einem Arm, der in erstaunlichem Kontrast zum Oberkörper stand, nach links. Steven bemerkte einige Narben im Gesicht und die leicht gebeugte Art zu stehen.
"Danke, Igor", sagte er kurz und ging in die gedeutete Richtung, und wurde dabei von einem schlurfendem Geräusch begleitet.
"Ich vermute, du bist noch nicht sonderlich alt, Igor?" fragte er.
"Nein, Herr. Alfo, zumindeft mein Gehirn ift erft wenige Jahrzehnte alt... bei einigen anderen Körperteilen bin ich mir da nicht fo ficher, Herr", antwortete dieser.
"Nun denn, zwei Sachen: Erstens kannst du dir das Schlurfen sparen, es reicht wenn du wie aus dem Nichts erscheinst, ja?"
"Wie fie wünfen, Herr."
"Zweitens wünsche ich nicht mit 'Herr' angesprochen zu werden, Igor."
"Fehr wohl, ... Meifter."
"Auch nicht Meister!"
"Exelenf."
"Nein!"
"Euer Gnaden."
"Neeein!"
So erreichten sie also, gehend und schlurfend, den großen Saal des Schlosses.
"Oh, Steven, du bist also aufgewacht. Und wie ich sehe, hast du Igor bereits kennen gelernt", sagte Radament.
"Ja, der ... Herr...", er warf Steven einen ungeduldigen Blick zu, "... hat mich bereitf kennen gelernt, Herr." Steven nickte zustimmend, wollte ihn dann nochmals darauf hinweisen, das 'Herr' zu unterlassen, doch der Graf kam ihm diesmal zuvor.
"Igor."
"Ja, Herr?"
"Bitte unterlasse es Steven mit 'Herr' anzusprechen, Igor."
"Wie fie wünfen, Herr." Er verneigte sich und verließ dann auf ein Handzeichen Radaments das Zimmer.

Es folgte ein recht langes, recht langweiliges Gespräch zwischen dem Grafen und Steven, in dem es um Historie, Ahnen, also die Vergangenheit allgemein ging. Der Graf schien die Eigenschaft zu haben, gerne zu erzählen, Steven mutmaßte, dass es daran lag, dass Radament nicht oft Gelegenheit dazu bekam sich mit anderen zu unterhalten [13], womöglich sogar nur alle Generation wieder. Anschließend führte er Steven im Schloss herum, zeigte ihm die Bibliothek, die zu einem Großteil aus juristischen Büchern, ein wenig Religion und nur einem Bruchteil Unterhaltungsliteratur bestand, den großen Garten, der das Schloss umgab, die schier endlos vielen Gästezimmer, Bäder und Aborte und was es sonst noch in einem Schloss zu sehen gab.
"Ich bin beeindruckt", sagte Steven am Ende des 5-Stündigen Rundgangs. "Wirklich beeindruckend." Möglicherweise waren dies die ersten Worte, die er zum Grafen gesagt hatte. Doch das störte ihn eigentlich kaum. Er gehörte nicht zu dem Schlag Menschen, die immer unbedingt etwas sagen müssen, er hörte gerne zu, zumindest solange er nicht das Gefühl hatte, dass etwas bestimmtes von ihm erwartet wurde. Der Graf konnte ausgezeichnet unterhaltsam sein, zumindest wenn man eine besondere Art von trockenem Humor mochte, die auch nur dann zum Ausdruck kam, wenn er sich ausreichend aufgewärmt hatte.
Er würde einen ausgezeichneten Geschichtenerzähler abgeben... diese fließende Art zu sprechen, ohne den Eindruck zu vermitteln, sich bei etwas unsicher zu sein. Geschichtenerzähler, oder... ja, Jurist
"Ich vermute mal, du bist nun hungrig, die Mahlzeiten nehme ich für gewöhnlich im Saal ein, einfach wegen des Ambientes. Wenn du etwas dagegen haben solltest, so lass es mich wissen." Er grinste freundlich und Steven schüttelte den Kopf leicht. "Nein, ich wüsste nichts was dagegen sprechen würde."

Die Mahlzeit des Grafen stellte sich als ein Krug mit Blut und ein dazu passender Kelch heraus, worin Steven keinen Grund sah, den Grafen als ungewöhnlich anzusehen, soweit er wusste handhabten es einige Vampire in Ankh-Morpork ähnlich. Er dagegen bekam Schweinebraten vorgesetzt, der vorzüglich schmeckte. Steven nutzte die Gelegenheit, um ein paar Fragen loszuwerden.
"Wo befinde ich mich hier eigentlich?", fragte Steven mit vollem Mund.
"In meinem Schloss, und keine Angst, es ist nicht weit von Ankh-Morpork entfernt. Vielleicht eine halbe Stunde mit der Kutsche - du kannst meine natürlich benutzen, ich benutze sie praktisch nie."
"Oh, vielen Dank."
"Du brauchst dich nicht zu bedanken. Immerhin bist ja nicht aus freien Stücken hier... Zumindest nicht wirklich."
"Was ist eigentlich passiert...? An dem Tag... vor ein paar Tagen... du weißt schon."
"Ja... du wurdest von einem Troll niedergeschlagen... gegen Trolle kann ich nichts ausrichten, ebenso wenig wie gegen Armbrustbolzen, die wie aus dem nichts kommen." Er grinste ein wenig.
"Und was ist danach passiert? Nachdem ich bewusstlos war?"
"Oh. Natürlich. Wie dumm von mir, das nicht zu erwähnen... ich habe dich aufgehoben und in eine dunkle Gasse gelegt, während ich eine Kutsche aufgetrieben habe, die dich dann hierher fuhr."
"Und die Trolle?"
"Ach, es gab einen Kampf mit ein paar Zwergen, der sich dann zu einer Schlacht ausweitete. Wurden auch ein paar Unbeteiligte getötet, du weißt schon... Frauen, Kinder, Alte... so welche eben." Er zuckte mit den Schultern. "Selbst schuld." Die letzten beiden Sätze sprach er mit einer ungewöhnlichen Kälte in der Stimme, die ganz im Kontrast zu dem stand, wie er die ganze Zeit über mit Steven gesprochen hatte.
"Sie sind dir egal?", fragte Steven, dem die Kälte nicht entgangen war.
"Sollten sie das nicht? Es sind nur niedere Wesen ohne Wert, Abfall und weiter nichts." Aus der Kälte war Verachtung geworden.
Steven schwieg. Er hatte noch nicht viel Erfahrung mit Vampiren, besonders nicht mit ihren Abneigungen, deshalb hielt er es nicht für sinnvoll weiter nachzubohren. Dennoch fragte er sich, was er selbst wohl für Radament war. Eine lästige Aufgabe? Einer von vielen? Ein niederes Wesen? Er wusste, dass er das wohl nie erfahren würde, egal wie sehr er sich bemühte. Deshalb war es wohl besser diesen Aspekt zu vergessen und nicht weiter zu verfolgen. Zumindest nicht Primär.
"Du teilst meine Ansicht nicht. Das weiß ich. Und es ist in Ordnung. Ja, wirklich, jeder sollte seine eigene Meinung haben."
"Ich...", wollte Steven beginnen, wurde jedoch wieder unterbrochen. Der Graf machte eine abwehrende Geste.
"Sag nichts! Sag nichts. Schon so oft habe ich das gehört. Schon so, so oft, ja..." Radament senkte den Kopf und wirkte bedrückt.
"Ich..."
"Du willst sicher gehen, sicher wirst du schon vermisst, ich werde Igor rufen, damit er dich zurück fährt." Er hatte den Kopf wieder gehoben und sah wieder viel fröhlicher aus. "Igo..."
"Ja, Herr?" Igor stand plötzlich hinter ihm.
"...r, fahr Steven bitte zurück in die Stadt. Pack ihm aber zunächst seine Sachen ein. Das wär's dann, Igor."
Dieser war bereits wieder verschwunden und Radament streckte Steven noch die Hand entgegen. Steven ergriff diese und seine wurde kräftig geschüttelt.
"Auf ein baldiges Wiedersehen, Steven", sagte er.
"Bis bald", erwiderte Steven knapp, der Graf verbeugte sich und verließ dann den Saal.
"Brauchst du noch lange, Igo..."
"Bin fon fertig, ... ... fertig." Er stand wieder hinter Steven.
"...r?"
"Folgen fie mir bitte, Fteven."
Igor schlurfte durch den Saal, Steven folgte ihm schweigend. Nach dem Saal folgte nur noch ein längerer, unheimlicher Gang und eine Empfangshalle, vor dem Tor stand die Kutsche schon bereit. Es war eine recht noble Kutsche, die völlig schwarz gestrichen war, und dessen Fenster ebenfalls durch schwarze Vorhänge verdeckt waren. Vorne waren sechs Pferde eingespannt. Auf der Kutsche lag ein großer tiefschwarzer Koffer. Der ganze Eindruck der Kutsche könnte also mit "Schwarz" beschrieben werden. Igor näherte sich der Tür und öffnete sie für Steven. Dieser trat widerstrebend in die geräumige Kutsche und setzte sich auf die gemütlichen, ausnahmsweise roten Ledersitze, schob die Vorhänge beiseite, lehnte sich dann zurück und schloss die Augen.
Igor hatte mittlerweile auf dem Kutschbock Platz genommen und trieb die Pferde an, die Kutsche setzte sich ruckartig in Bewegung und fuhr von Anfang an mit recht großer Geschwindigkeit und Steven wurde von den leichten Schaukelbewegungen schnell schläfrig, und schlief, während er die Augen kurz ausruhen wollte, ein.

"Wir haben unfer Ziel erreicht, Herr Fteven."
Erschrocken fuhr Steven auf. War er wirklich eingeschlafen? Das war doch auch sonst nicht seine Art gewesen. Bedächtig zog er die Zuhänge beiseite, wodurch ihm der Blick auf den von der Morgensonne erhelltem Pseudopolisplatz freigegeben wurde. Inzwischen war Igor zur Tür geschlurft und öffnete sie nun mit einem vortrefflichen Quietschen.
"Danke schön, Igor", nuschelte Steven noch vor sich hin, während er aus der Kutsche trat und auf das Wachhaus zuging. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie Igor sich verbeugte und ging ein paar Schritte, als ihm noch etwas einfiel.
"Sag mal Igor,...", fragte er, während er sich umdrehte und feststellte, dass dieser mitsamt der Kutsche lautlos verschwunden war.
"Seltsam...", wunderte Steven sich laut, bevor sein Gedankengang über das gerade passierte jäh unterbrochen wurde.
"Oh, da bist du ja wieder, wo hast du denn die ganze Zeit über gesteckt?" Es war Laiza, die ihm entgegengelaufen kam.
"Was soll das denn heißen?", fragte Steven verwirrt.
"Was das heißen soll? Du hast dich seit Tagen nicht mehr blicken lassen! Und zuletzt wurdest du angeblich dabei beobachtet dich mit ein paar Trollen angelegt zu haben..."
Steven tastete sich kurz über den Kopf. "Ja, so ganz aus der Luft gegriffen ist das wohl nicht..." Er brachte ein leicht gequältes Lächeln über die Lippen. "Aber ich denke, ich habe aus meinem Fehler doch etwas gelernt... Trolle sind nicht sehr empfänglich für Anweisungen, die von jemandem gegeben werden, der sowohl 5 Köpfe kleiner ist und dazu unbewaffnet. Naja, und wie heißt es doch so schön? Knochenbrechende Schläge auf den Kopf bringen dich ins andre Reich?" Es vergingen einige Sekunden, in denen Laizia ihn verwirrt ansah und er noch mal kurz über seine letzten Worte nachdachte. "Äh... Quatsch! Irgendwie anders natürlich..." Er hielt erneut einen Moment inne, um seine Gedanken zu ordnen. "Aber das ist jetzt auch nicht so wichtig. Ich muss los, hab noch viel zu tun." Er schenkte Laizia ein entschuldigendes Lächeln, gefolgt von leichtem Schulterzucken. Sie nickte, wünschte ihm noch einen schönen Tag und beide gingen wieder ihrer Wege.

Er war erst wenige Schritte weit gekommen, als ihm auch Atera entgegenkam. Natürlich erkundigte auch sie sich zunächst nach seinem Ausbleiben.
"Ach, da waren so ein paar Trolle, die haben Ärger gemacht und mich in meine Schranken verwiesen..." Er verdrehte die Augen leicht und hoffte, dass das als Entschuldigung ausreichen würde.
"Und was haben die mit dir gemacht, dass du so lange nicht mehr da warst? Dich in ihre Höhle entführt und tagelang gefangen gehalten? Hm?" Sie warf Steven einen durchdringenden Blick zu, dem er leider nicht lange standhalten konnte.
"Achso...", begann Steven, der sich unter Ateras andauerndem Blick zunehmend unwohler fühlte, "Nein, das haben sie natürlich nicht. Ich wurde von einem Passanten, der zufällig..." - der Blick verschärfte sich - "... nicht ganz so zufällig vorbeikam und mich in sein Schloss brachte, wo ich tagelang geschlafen habe und dann feststellen durfte, dass der Mann, der mich da hingeholt hat, ein Vampir ist, der schon seit Generationen über meine Familie wacht, oder so ähnlich..." Langsam bemerkte er, wie unglaubwürdig seine Geschichte schon jetzt klingen mochte. Vielleicht sollte er doch lieber so etwas wie 'Ich war inner Kneipe und hab mich da tagelang volllaufen lassen und dann den Weg zurück nicht mehr gefunden' gestehen
"Soso... und das soll ich dir nun glauben?", fragte Atera schließlich.
"Es ist fast die ganze Wahrheit", gestand Steven, dem der Spaß daran vergangen war. "Aber der Rest tut wirklich nichts mehr zur Sache."
Atera warf ihm einen letzten, abschätzenden Blick zu und gab sich dann zufrieden. "Hauptsache ist ja, dass du jetzt wieder da bist. Du bist übrigens heute für die Nachtschicht eingeteilt, meld dich einfach um acht bei mir."
"Ok, das werde ich machen. Und nichts wird mich aufhalten können, fast versprochen." Er grinste ein wenig.
"Das 'fast' hab ich mal überhört", erwiderte sie. "Das wärs dann, du bist entlassen."
Steven nickte, salutierte hastig und spurtete dann zum Wachhaus, in der Hoffnung auf dem Weg in sein Büro nicht wieder aufgehalten zu werden.
Leider kann man nicht alles haben, und so dauerte es eine Weile, bis Steven sich zur Tür seines Büros vorgekämpft hatte. Als er langsam die Tür aufschloss und eintrat, konnte er sofort die veränderte Luft spüren, einer Luft, die er schon kannte, sich aber nicht mehr daran erinnern konnte, woher. Erst wesentlich später bemerkte er das kleine Päckchen auf seinem Bett, auf dem ein kleines Kärtchen lag. Als er das Kärtchen ergriff und gleichzeitig mit der anderen Hand den Deckel anhob, stellte er fest, dass sich darin sowohl ein neues Kettenhemd, als auch ein scheinbar schmiedefrischer Helm befand.
"Damit ich heute Nacht nicht so viel zu tun habe", stand auf der Karte geschrieben.
Schmunzelnd zog sich Steven das Kettenhemd, das er unter seinem extra dicken, weißen Hemd trug, aus und schlüpfte in das neue hinein. Anschließend zog er auch wieder ein Hemd an, klemmte sich den Helm unter den einen Arm, eine kleine Tasche mit seinem wichtigsten Arbeitsmaterial unter den anderen und marschierte los.

"Wer bist du und was willst du?"
Eine der Palastwachen hatte Steven angehalten.
"Ich bin Steven Träumer, Gefreiter der Stadtwache von Ankh-Morpork und wünsche eine kurze Audienz beim Patrizier!" antwortete Steven möglichst höflich.
Sein Gegenüber sah ihn abschätzend an. "Der Patrizier befindet sich gerade bei der Vorbereitung auf seine täglichen Verhandlungen und wünscht nicht gestört zu werden", erwiderte er scharf und für ihn war das Thema damit gegessen.
"Genau darum geht es ja! Ich möchte dem Patrizier ein Angebot machen, dass ich ihm diese Vorbereitungen zumindest heute ein Stück weit ersparen kann."
"Wer? Du? Ha! Dass ich nicht lache."
"Ich bin nicht umsonst Rechtsexperte in Ausbildung!"
"Na und? Meinst du er hätte Rechtsberatung nötig? Und wenn, dann würde er sicher nicht dich dafür brauchen!"
"Darum bin ich ja auch nicht da. Ich will ihm nur bei der Bearbeitung der täglichen Rechtsfälle unterstützen."
"Soso, unterstützen willst du ihn also..."
"Ja."
"Hmm... wenn du nützlich sein könntest, und ich dich jetzt wegschicke, wird der Patrizier sicher nicht sehr gut auf mich zu sprechen sein... Na gut, du kannst zu ihm, sobald die Besprechung vorbei ist."

Ruhig schritt Steven nun also zum Arbeitszimmer des Patriziers und klopfte höflich an.
"Es ist offen!", verkündete eine Stimme von der anderen Seite der Tür und Steven öffnete die Tür so respektvoll er konnte, trat in den Raum, salutierte, obgleich der Patrizier ihm den Rücken zugewendet hatte. "Hallo, Excellenz", sagte er fast kleinlaut.
"Hallo, Gefreiter Träumer. Ich hörte, du sähest eine Möglichkeit meine Arbeit zu erleichtern..." Die Tonart, die der Patrizier anschlug, gefiel Steven ganz und gar nicht, aber da er ja nun einmal da war, konnte er auch keinen Rückzieher mehr machen.
"Ja, Excellenz..."
"Und wie stellst du dir das vor?" Während er das sagte, drehte er sich um und sah Steven nun tief in die Augen, als ob er da seine Antwort sehen könnte.
"Ich dachte Herr, dass ich vielleicht die Angeklagten vor der Verhandlung... vernehmen könnte, Herr." Er schloss ungewollt die Augen, als erwarte er einen Frontalangriff oder etwas dergleichen. Doch es geschah nichts, der Patrizier schwieg. Ganz langsam wagte er es die Augen wieder öffnen und was er erblickte, beruhigte in leider nicht im geringsten – der Patrizier hatte ein, mehr oder weniger, breites Lächeln aufgesetzt, als hätte er gerade einen Witz gehört.
"Ha! Natürlich! Eine ausgezeichnete Idee, ich lasse mir von einem Gefreiten die Arbeit abnehmen... das ich nicht selbst darauf gekommen bin, einfach genial!" Augenblicklich wandte der Patrizier ihm den Rücken zu.
"Wartet, Herr! Ich will euch keineswegs eure Arbeit abnehmen... naja, zumindest nicht die eigentliche Arbeit, sondern nur ein oder zwei unwichtige Fälle, die nichts weiter als eure kostbare Zeit verschwenden würden." erwiderte Steven instinktiv.
"Unwichtige Fälle sagst du..."
"Ja!"
"Zeitverschwendung..."
"Ja!"
"Warum?" fragte der Patrizier schließlich.
"Warum?!" Steven runzelte die Stirn, die Frage verwunderte ihn, denn er hatte gar nicht damit gerechnet. "Nun ja, ich bin ja noch dabei, ausgebildet zu werden und könnte etwas Training gut gebrauchen."
"Ach, und wenn du es nicht kannst, wieso sollte ich dich das dann machen lassen?"
"Ich habe ja nicht gesagt, dass ich es nicht könnte, sondern Training benötigen würde."
Der Patrizier verschränkte die Arme vor der Brust. "Kannst du es?", fragte er schließlich und Steven senkte den Blick und starrte auf den Boden.
"Das soll wohl 'Nein' heißen" er hielt einen Moment lang inne. "Aber du hast recht, einige Fälle sind so simpel, dass sie sogar jeder Anfänger sie bearbeiten könnte... genau dazu geeignet ein bisschen Theorie an den Mann zu bringen."
Stevens Gesicht hellte sich ein wenig auf. "Heißt das...?"
"Ja. Wie du willst. Dir wird ein Raum dafür bereitgestellt und alles was du sonst benötigen solltest", sagte er schließlich, nach einer für Steven unendlich langen Pause. Damit war die Audienz beendet, Steven salutierte noch einmal und machte dann, dass er raus kam.
Vor der Tür erwartete ihn bereits ein Sekretär des Patriziers, der offensichtlich schon bescheid wusste und ihn zum versprochenen bereitgestellten Raum führte und ihn nach seinen Bedürfnissen ausfragte.

Wenig später saß Steven in seinem kleinen Raum und wartete auf den ersten Angeklagten. Er hatte alles Gewünschte bekommen, auch wenn er sich fragte, wie die Gehilfen des Palastes an manches so kurzfristig gekommen waren. In zwei der vier Ecken standen furchteinflößende Wachtrolle, die eingreifen sollten, sollte etwas offensichtlich schief laufen. Nur wenige Minuten später klopfte es schon und der erste wurde hereingeführt. Es war ein mittelgroßer Mensch, mittleren Alters, mit mitteldunklen, braunen Haaren und ohne große Auffälligkeiten.
Hereingeführt wurde er von zwei Palastwachen, die den Raum aber schon kurz später verließen.
"Hallo, Herr..." begann Steven höflich.
"... Zdroieken. Horst Zdroieken", antwortete der Angeklagte kurz. "Was soll ich hier? Sie sind definitiv NICHT der Patrizier..."
"Nein, das bin ich tatsächlich nicht, aber ich bin da, um ihre Schuld oder Unschuld schon vor der Verhandlung zu überprüfen, völlig sachlich, versteht sich", versicherte Steven hastig.
Herr Zdroieken sah ihn misstrauisch an, suchte dann scheinbar noch nach Worten für etwas, ließ es dann aber doch wieder fallen. "Und was soll ich jetzt tun?", fragte er schließlich.
"Setzen Sie sich erstmal", wies Steven ihn an, deutete dabei auf einen der beiden Stühle, die am Tisch standen und der Angeklagte kam seiner Anweisung sofort nach.
"Nun, Herr Zdroieken, dann erzählen Sie mir doch mal bitte, weshalb Sie angeklagt sind...", bat Steven freundlich, während er einen kurzen Blick in die dazugehörigen Akten warf, die auf seiner Seite des Tisches schon bereit lagen, bevor er eingetreten war, sich dann auf seinen Stuhl setzte und einen interessierten Ausdruck machte, oder es zumindest ziemlich glaubhaft vorgab.
"Nun...", holte der Angeklagte aus, der sich auch sogleich zurücklehnte – er erzählte scheinbar ganz gerne Geschichten, dass es hierbei um sein gegenwärtiges Schicksal geht, schien vorerst aus seinem Kopf verschwunden zu sein, "... das ganze fing vor drei Wochen an, da saß ich zusammen mit dem Bert und dem Kuno in der Trommel und wir haben uns gepflegt ein Bier genehmigt. Da meinte der Kuno auf einmal, 'Ey Jungs! Wissta wa?', meinte er, 'Ich find wa ham nu endlich lang jenuch vonne Dollar inne Hand gelebt, ne? Ich find, das muss jetz ma endlich ne Ende ham, diesa Drecks-Lebm das wa hier führn...' Ja, genau das hat er gesagt, hat er. Da meinte dann der Bert 'Ja, Kuno...', meinte der, '... was meinste denn damit? Können wir doch auch nix dran ändern.' Und darauf sagt der Kuno dann 'Ja Bert, iss klaa...', hat der gesagt, '... wenn wa so weitamachn dann wird dat au nix mehr werdn, mitta besserm Lebm! Aber ich bin ja au net so blöd wie ia, nee, dat binni net!' Und dann hat er ganz triumphierend gelacht, der Kuno! Und dann hat er weitergeredet, 'Ich sach euch, wat wa machn!', meinte der dann, 'Wir raubn 'n alten Schnappa aus, genau dat machen wa!'. Und da meint ich direkt 'Nee, Kuno, das kannst du mal ruhig alleine machen, da mach ich nicht mit, denn das ist ILLEGAL', meint ich. Und dann haben der Kuno und auch der Bert gelacht, und dann haben sie gesagt, dass ich dann doch verschwinden sollte, die würden das dann auch alleine machen, ohne mich. Und das hab ich dann auch gemacht. Und nun sitze ich hier, völlig unschuldig."
Steven lehnte sich in seinem Stuhl nun auch zurück. Der Blick in die Akten sagte aus, dass der Überfall auf Schnapper tatsächlich ausgeübt wurde, und weiterhin, dass es zwei Täter gewesen waren, Schnapper sie allerdings, weil es späte Nacht war, nicht erkennen und dementsprechend nicht identifizieren konnte. Einer der Angeklagten, Kuno, hatte gestanden, weigerte sich allerdings den anderen Täter preiszugeben, offensichtlich in der Hoffnung, dass sie beide aus Mangel an Beweisen freigelassen werden würden.
"Ich danke ihnen, Herr Zdroieken, Sie haben mir sehr geholfen." Mit einer Handbewegung deutete er zur Tür, stand auf und begleitete den Angeklagten zur Tür, die auf ein Klopfen von ihm geöffnet wurde, der erste Angeklagte entgegengenommen und der zweite hereingeführt wurde.
Es war, wie zu erwarten, (und den Akten zu entnehmen), Herr Bert Bärenfell, der sich sofort trotzig auf den Stuhl setzte und die Arme verschränkte.


"Was soll das hier werden?", fragte er sofort pampig.
"Dies ist ihre Chance, ungeschoren aus der Sache raus zu kommen", stellte Steven fest.
"Ha! Lächerlich!", erwiderte Bert. "SIE können mir gar nichts! Sie haben keine Beweise, gar nichts haben sie!", behauptete der Angeklagte.
"Das mag sein...", gab Steven zu, "... dass ich keine Beweise habe, zumindest noch, doch hält das den Patrizier davor ab, sie trotzdem für schuldig zu befinden, sie alle drei?", fügte er hinzu.
"Was? Nein! Das kann nicht sein, das darf er nicht! Hat er das wirklich vor?", erkundigte er sich mittlerweile ganz leise.
"Wer weiß...", sagte Steven, "Aber wir werden ja sehen", schloss er und grinste, etwas übertrieben.
"Und... wenn ich ihnen erzähle, was passiert ist, werd ich dann nicht verurteilt?", fragte Bert.
"Das wird sich zeigen... kommt auf ihre Geschichte an." Er zwinkerte Bert kurz zu.
Dieser fing dann auch sofort an recht ausführlich zu erzählen und zwar im Prinzip dasselbe wie Horst, nur dass in seiner Version Horst über ihn gelacht hätte und er sich nicht anschließen wollte.
"Der Horst meinte dann 'Dann mach ich und der Kuno das halt ganz alleine, das wär doch gelacht! Der hatte eh schon vorher gesagt 'De Bert, de macht vielleicht net mi,' hat er gesagt, 'aba dann ziehn wa dat halt auch allein zu, ne?' Und dann meinte ich auch nur 'Ja, klar', meinte ich. Und er hatte recht.' "
Steven nickte, das reichte absolut. Er stellte noch den Diktierdämonen aus, der unter den Akten lag und begleitete den zweiten Angeklagten dann heraus. Anschließend setzte er sich wieder auf seinen Stuhl, kramte einen Stift heraus und schrieb ordentlich in die Akte:
"Empfehle ausdrücklichst, Herrn Kuno Schlucker und Herrn Horst Zdroieken für schuldig zu bekennen, Herrn Bert Bärenfell dagegen unschuldig zu sprechen, da Herr Zdroieken den gemeinsamen (und sehr wahrscheinlich auch wahren) Teil zwar sehr ausführlich schilderte, den gelogenen Teil, den er sich selbst ausdenken musste, dagegen nur oberflächlich berichtete. Herr Bärenfell dagegen schilderte alles durchgehend ausführlich und die Zitierung Herrn Zdroiekens wirkte äußerst glaubhaft.
Anbei liegt ein Diktierdämon, der sich die beiden Geschpräche gemerkt hat."
Daraufhin legte er den Stift beiseite, schlug die Beine übereinander und bearbeitete den nächsten Fall.

Im Laufe des Tages bearbeitete er noch weitere zwei Fälle und fügte den Akten seine Empfehlung bei, konnte den eigentlichen Verhandlungen, die am Abend stattfanden, aber nicht beiwohnen, da er zurück zum Wachhaus musste, um sich zu seinem Nachtdienst zu melden.

Es war bereits 13 Minuten nach acht, als Steven, völlig verschwitzt, am Wachhaus ankam und direkt auf Atera zuhielt, die ungeduldig am Eingang wartete und mit einem Fuß auf den Boden stampfte. Steven salutierte schon aus der Ferne, und fing auch sofort an sich zu entschuldigen.
"Entschuldigung, Mä'äm, da gab es einen kleinen Krawall in der Hekatstraße, ein paar Trolle wollten nicht hören und..." Er schob einen Ärmel seines Hemdes ein wenig nach oben, so dass eine blutende Wunde zum Vorschein kam, umgeben von einem blauem Fleck, der fast den ganzen Oberarm bedeckte. Steven ließ den Ärmel wieder nach unten fallen und warf Atera einen fragenden Blick zu, dessen Ausdruck nun schon fast milde geworden war.
"Meinst du, dass das verbunden werden muss?", fragte sie höflich, er schüttelte den Kopf, auch wenn er seine Zähne dabei so fest gegen einander drückte, dass es schon zu knirschen begann.
"Nun, die anderen sind schon weg, ich hab sie über die Sirupminenstraße geschickt, um über die Ulmenstraße das Latschende Tor zu erreichen und dann mit einem großen Bogen zurückzukehren. Wenn du dich wirklich beeilst, kannst du sie sicher noch einholen."
Als Steven sich schon abwenden wollte, um davonzueilen, fiel ihr noch etwas ein.
"Ach, das hätte ich ja fast ganz vergessen." Sie nahm ihm seine Tasche ab, die er immer noch unbeholfen in der Hand hielt, ging schnell rein und kam mit einer Lampe und einer Glocke zurück. "Du weißt was du damit zu tun hast?", fragte sie schließlich. "Ja, natürlich, bin ja schließlich nicht blöd", antwortete er, während er einen misstrauischen Blick auf die Glocke warf, und sich mit der persönlich Notiz, Informationen über den Gebrauch der Glocke möglichst bald einzuholen, verabschiedete und auf den Weg machte.

Sein Gefühl [14] sagte ihm, dass wenn er seine Kollegen einholen wollte, am besten die Abkürzung durch die Schatten nahm, um sie dann auf halbem Weg abzupassen, statt ihnen einfach nachzurennen. Denn der einfache Weg war einfach nicht sein Stil.
Die Schatten waren am Abend, auch mit Lampe, noch unheimlicher als sonst. Aus jeder Richtung schienen unheimliche Geräusche zu kommen, doch Steven machte sich nicht allzu viel daraus und marschierte tapfer weiter, bis er einen markdurchdringenden Schrei hörte, der offensichtlich von einer Frau stammte – und zu allem Überfluss kam dieser Schrei auch noch aus der nächsten Gasse rechts - Steven fühlte sich genötigt, sich das näher anzusehen.
Als er in die Gasse rechts einbog, stockte ihm der Atem, denn das Bild, das sich ihm hier bot, war eindeutig mehr, als er vertragen konnte:
Da stand ein Leichnam, der mit Fäden aufrecht gehalten wurde, dem sowohl eine Vene aufgeschnitten und der Kopf mit einem großem, groben Gegenstand eingeschlagen worden war, so dass das Gesicht völlig deformiert war und eine komische Masse aus dem Kopf langsam nach unten tropfte. Auch aus dem Hals trat noch ein wenig Blut aus, so dass es sich über das weiße Gewand verteilte, dass der Tote trug. Irgendwie kam das Steven sehr bekannt vor... Der Tote vermittelte ihm den Eindruck, dass er ihn kennen müsste. Vor dem Toten kniete eine Frau, wahrscheinlich dieselbe, die gerade den Schrei ausgestoßen hatte, weinte und zitterte bitterlich.
Steven konnte ein Würgen nicht unterdrücken, wollte es aber zunächst einfach ignorieren, merkte aber schon wenige Sekunden später, dass das völlig sinnlos war, tastete sich hastig zurück um die Ecke und übergab sich dort. Dann musste er ein paar Mal tief ein- und ausatmen, bevor er den Mut aufbrachte auf den Tatort zuzugehen. Dabei sah er misstrauisch auf die Glocke, zuckte mit den Schultern und lehnte sie dann an eine Wand.
"Hallo...", sagte er zögerlich, während er sich langsam, Schritt für Schritt, vorwärts kämpfte.
Die Frau erstarrte zunächst, drehte dann ihren Kopf und als sie Steven sah, hob sie ihren Kopf, so dass sie mit ihren Tränengefüllten Augen genau in Stevens sah. Das Leid in dieser Situation konnte dieser, der in solcher Hinsicht sehr empfindlich war, nachempfinden. Auch ihm kullerte eine einsame Träne über das Gesicht. Unbemerkt fing der Anhänger unter Stevens Hemd an zu glimmen.
"Ich bin von der Stadtwache", erklärte er schließlich, als er sich zumindest kurzzeitig gefasst hatte, und meinte den immer noch andauernden unendlich traurigen Blick der Frau standhalten zu können, die nun aber nicht mehr weiter weinte. "Geht es ihnen gut? Kann ich ihnen helfen?", fragte er.
Statt zu antworten, stand sie nur auf, ging langsam auf ihn zu, bis sie genau vor ihm stand. Sie war etwa so groß wie er, ein wenig kleiner vielleicht, hatte schneeweiße Haut, hellblondes, schulterlanges Haar und blau-graue Augen. Ihre Lippen bebten, während sie offensichtlich versuchte die Tränen so lange wie möglich zurückzuhalten.
"Er ist tot! Vater!", wimmerte sie schließlich, während sie ihre Arme um seinen Hals schlang und wieder anfing hemmungslos zu weinen. "Sie haben ihn umgebracht, die Schweine!"
Steven wusste nicht, was er nun zu tun hatte, doch er wusste auch einfach nicht, was ihm anderes übrig blieb, als auch seine Arme um sie zu schlingen und ihr beruhigend auf den Rücken zu klopfen, als ein unscheinbares Glitzern wieder unbemerkt aus seinem Hemd trat.
"Sie wissen also, wer das war?", fragte er schließlich, doch bekam er keine Antwort, außer dem andauerndem Wimmern.
Schließlich fasste er eine Entscheidung, führte sie langsam in die Richtung, aus der er gekommen war, um die Ecke und deutete ihr dann, sich zu setzten. Sie tat, wie ihr geheißen, setzte sich und lehnte sich an die kalte Wand, warf ihm einen mitleidigen Blick zu und bat "Bitte geh nicht! Bitte lass mich hier nicht allein!"
Er hatte keine Ahnung woher sie wusste, dass er weg wollte, und wusste zunächst nichts zu erwidern. "Aber ich muss Hilfe holen. Jemand, der sich um Sie kümmern kann, außerdem müssen Spuren gesichert werden und so...", sagte er schließlich unbeholfen.
"Ich brauche von niemandem Hilfe, von niemandem außer dir!"
"Von mir? Aber ich kenne sie doch nicht mal! Ich habe keine Ahnung was man in einer solchen Situation machen muss... Ich...", brachte er stotternd hervor.
"Du kennst mich vielleicht nicht, Steven, aber ich weiß wer du bist."
Steven erstarrte bei diesen Worten. Woher kannte sie seinen Namen? Oder hatte er sich einfach verhört? Instinktiv wusste er, dass dies nicht der Fall war. Aber eben diese Intuition sagte ihm auch, dass er schon sehr bald von allein verstehen würde; im Moment gab es wichtigeres zu tun.
"Und du kannst mich jetzt nicht hier allein lassen. Sie würden mich auch holen, bestimmt!"
"Also weißt du, wer das getan hat?", entfuhr es Steven plötzlich.
"Ja und nein. Ich weiß, wer es war, kann dir aber keine Namen nennen. Sie arbeiten schon seit Ewigkeiten daran, ihn zu erwischen, und jetzt ist es endlich geschehen! Weißt du was das bedeutet?"
Natürlich wusste er das nicht. Aber er wusste, dass wenn sie recht hatte, sie auch hinter ihr her waren, und dass sowohl ihr als auch sein Leben in Gefahr waren.
"Dann komm mit! Aber schnell!", befahl er schließlich, half ihr hoch und führte sie zur nächstgelegenen Kröselstraße. Als er dort eintraf war es etwa neun Uhr. Als die beiden eintraten, hatte die Überlebende aufgehört zu weinen, aber auch kein weiteres Wort mehr gesagt. Am Wachtresen langweilte sich eine blutjunge Rekrutin, die Steven noch nicht mit Namen kannte.
"Hey du!", rief er ihr zu.
"Ja?" Die Rekrutin sah erschrocken auf.
"Ich muss sofort mit einem Offizier sprechen, in den Schatten wurde ganz offensichtlich ein Mord begangen, das muss sich unbedingt einer ansehen!"
Die Rekrutin nickte, und rannte davon.
"Und du setzt dich am besten irgendwohin." Er deutete auf einen der freien Stühle und sie setzte sich dankbar.
Wenige Augenblicke später kam Daemon hinter der Rekrutin hereinspaziert.
"Was gibt's?", fragte Daemon, der es wohl gerade bereute ausgerechnet heute noch anwesend zu sein.
"Es gab einen Mord in den Schatten, nicht sehr weit von hier", antwortete Steven, nachdem er hastig salutiert hatte. "Ziemlich blutige Sache, außerdem gibt's auch eine Zeugin." Er deutete auf die Zeugin.
Daemon rollte kurz mit den Augen. "Ok, ich werde das erforderliche in die Wege leiten. Warte kurz hier, bis ich die betreffenden Leute aufgetrieben habe, und du sie zum Tatort führen kannst", befahl Daemon und verschwand so schnell wie er gekommen war.
Steven setzte sich neben die Zeugin. "Möchtest du mitkommen?", fragte er.
"Ja", antwortete sie sofort.
Es folgte eine kurze Zeit des Schweigens, nur unterbrochen von einem gelegentlichem Räuspern der Rekrutin, die vor Neugier fast platzte, sich aber nicht traute, laut zu sprechen.
"Hmm... ich kenne deinen Namen noch gar nicht", stellte Steven schließlich fest, der das Räuspern zwar wahrgenommen hatte, ihm aber absichtlich keine Beachtung schenkte.
"Andariel", antwortete sie und sah ihn ernst an. "Du weißt wirklich nicht, wer ich bin, oder?"
"Nein, ich habe keine Ahnung. Kann mich nicht erinnern, dich jemals gesehen zu haben", antwortete Steven ehrlich.
"Dann wirst du es aber bald wissen", stellte sie fest.
Steven bekam keine Möglichkeit mehr, etwas zu erwidern, denn in diesem Moment kam Daemon mit einigen Wächtern zurück. Einige der Gesichter erkannte Steven sofort, andere waren ihm nicht so geläufig.
"Ich denke, dass ich nicht extra mitkommen muss, um Aufseher zu spielen, also werde ich euch jetzt allein lassen."

So gingen sie also los, ließen die Rekrutin ohne ein weiteres Wort zurück und erreichten recht schnell den Tatort so wie Steven ihn verlassen hatte. Er war auf den Anblick vorbereitet, doch den anderen stockte wie ihm, als er angekommen war, zunächst einmal der Atem.
Doch auch für Steven war es diesmal ein bisschen anders, er meinte jetzt etwas zu spüren, das vorher noch nicht da gewesen war. Während die anderen sich eifrig an die Arbeit machten, zog Andariel ihn ein wenig zur Seite.
"Du spürst es auch, nicht?", fragte sie nach ewigen Momenten des Schweigens. Er nickte.
Sie wollte noch mehr sagen, doch sie kam nicht mehr dazu, denn die Untersuchung war bereits abgeschlossen.
"Und?", fragte Steven einen der Ermittler.
"Und?", antwortete Romulus. "Da ist irgendwas ganz komisches passiert, das war eindeutig kein Mord, mit dem irgendeine Gilde zu tun haben könnte, wie uns versichert wurde. Es wurde offensichtlich kein Gift verwendet, keine Geschosse... ein Mord aus Notwehr oder einfacher Totschlag können wir auch ausschließen, denn dann hätte sich niemand die Mühe gemacht, den Leichnam so komisch aufzuhängen. Abgesehen davon gibt es noch weitere Ungereimtheiten:
Das Opfer wurde zunächst mit einem stumpfen Gegenstand oder einer stumpfen Waffe auf den Kopf geprügelt, dann wurde ihm allerdings mit äußerster Präzision die Drosselvene geöffnet, der Tod trat aber durch Erdrosseln ein. Diese Mischung aus roher Gewalt und ungewöhnlicher Präzision ist mir bisher noch nicht untergekommen."
"Und was soll das nun bedeuten?", fragte Steven schließlich.
"Offensichtlich handelt es sich hierbei um einen Mord nach einem bestimmten Muster, eine Opferung oder ein Ritual... und ich dachte so etwas würde nur im fernen Klatsch vorkommen, wo es auch so komische Religionen oder Sekten gibt, die solche Dinge ausüben..."
Die Stimme schien sich immer weiter und weiter zu entfernen, als sich in Stevens Kopf alles zu drehen begann. Das viele Blut, war schon viel gewesen, doch dieses komische Gefühl, das sich nun in ihm ausbreitete, dem konnte er nicht mehr standhalten. Er gab nach, verdrehte die Augen und sank zu Boden.

Am nächsten Morgen erwachte Steven in seinem Bett, ohne sich an das Vergangene wirklich erinnern zu können. Er wusste noch, dass er einen abgeschlachteten Toten gesehen hatte, das notwendige in die Wege geleitet hatte und dann verlor sich seine Erinnerung am Tatort.
"Du bist endlich erwacht."
Es war eine weibliche Stimme, die ihm sofort bekannt vorkam. Er drehte seinen Kopf leicht zur Seite und erkannte Andariel.
"Was ist passiert?", fragte er.
"Du hast das Bewusstsein verloren. Nicht weiter tragisch. Es wartet eine Menge Arbeit auf dich, nicht?"
"Ja, heute sollte ich eigentlich weiter an meiner Ausbildung arbeiten...", erwiderte Steven nach einer Weile.
"Wenn du gestattest, würde ich dir dabei gerne helfen."
"Wie? Du mir helfen? Ich verstehe nicht..."
"Dann weißt du wohl immer noch nicht wer ich bin, was?", sie lächelte und entblößte dabei zwei scharfe, lange Zähne.
Die Erkenntnis reifte schnell in Steven. Um sich Gewissheit zu verschaffen warf er einen schnellen Blick an seine Brust. Der Anhänger glimmerte erneut.
Und in diesem Moment ergab das ganze plötzlich einen Sinn:
Der Körper, der ihm bekannt vorgekommen war, dass Andariel ihn kannte, ihre dauernden Andeutungen...
"Warum haben sie das getan?", entfuhr es ihm plötzlich.
"Um ihre Macht zu stärken natürlich. Diese machtgierigen Dummköpfe wissen nicht mal, was sie damit womöglich angerichtet haben..." Sie hielt einen Moment inne. "Aber daran können wir nun nichts mehr ändern. Meine Aufgabe ist es, die seine weiterzuführen, darum werde ich dich nun lehren, was ich weiß. Ich werde draußen warten, in der Kutsche. Komm einfach, wenn du dich bereit dazu fühlst, egal wie lange das dauern sollte." Mit diesen Worten verließ sie Stevens Büro und Schlafraum und ging nach draußen um, wie gesagt, auf ihn zu warten.
Wenige Minuten später war Steven soweit, er folgte ihr, meldete sich aber diesmal für einige Tage ab.

Die erste Lektion bestand darin, den Blick auf jemanden so lange gerichtet zu halten, dass er ihm nicht mehr standhalten kann und mit der Wahrheit herausrückt.
Für Steven bestand das Problem nicht unbedingt darin, den Blick auf jemandem ruhen zu lassen, als vielmehr die ebenfalls nötige Menge Durchdringlichkeit und auch Aggression hineinzulegen. Andariel bewies viel Geduld und klärte ihn auch darüber auf, dass diese Methode bei sehr willensstarken Personen, unter anderem auch Trollen keine Wirkung erzielt und dabei eher nach hinten losgehen könnte.
Auch nach einigen Stunden intensiven Übens könnte nicht von einem wirklichen Fortschritt bei Steven gesprochen werden. Die Gärtnerin konnte er zwar zu einem Geständnis bringen, aber eher, weil die alte Frau Mitleid mit seinen kläglichen Bemühungen hatte, als dass sie seinem Blick nicht hätte standhalten können.
Also verlegte sich Andariel zunächst auf Lektion Zwei, erlernen und erkennen von typischen Verhaltensmustern bei Tätern.
Zwar konnte Steven schnell die Merkmale auswendig vor- und rückwärts aufsagen und erklären, er schaffte es aber wiederum nicht, das gelernte in die Praxis umzusetzen, was sogar soweit ging, ein gespieltes, übernervöses Augenzucken nicht zu bemerken.
"Du bist ein hoffnungsvoller Fall, Steven...", erklärte sie mit einem Grinsen, "Dabei verstehe ich beim besten Willen nicht, woran das liegen könnte. Zumindest das Augenzucken hätte selbst ein Blinder bemerken müssen..."
Statt zu antworten schaute Steven zu Boden wie ein getadelter Schuljunge und scharrte ein wenig mit den Füßen. "Ich kann ja nichts dran ändern...", stotterte er schließlich und zuckte mit den Achseln.
Schließlich verlegte sie sich auf Lektion Drei: Auffälligkeiten am Sprechverhalten der Verdächtigen zu finden. Da Steven sich das schon (mehr oder weniger) selbst angeeignet hatte und ihm sein ikonographisches Gedächtnis dabei sehr half – er konnte fast den ganzen gesprochenen Dialog in Gedanken oder laut wiederholen, wenn er wollte – schnitt er bei dieser Lektion wesentlich besser ab als bei den Vorherigen.
Lektion Vier war es Verdächtige verbal in die Enge zu treiben und provozieren, dabei auf Fehler zu hoffen und diese dann möglichst mit einem Diktierdämonen aufzunehmen. Auch hierbei stellte sich Steven ganz passabel an, auf jeden Fall gut genug, um jemanden von schwachem Geist recht schnell auszutricksen.
Es folgte noch eine Lektion mit kleinen, fiesen, aber legalen Tricks, mit denen man sich die Arbeit etwas erleichtern konnte, bevor sie Steven noch ein bisschen in Sachen Paragraphen abfragte.
Letzteres war ganz offensichtlich Stevens Spezialgebiet, denn die Paragraphen kannte er fast so gut wie das Gesetzbuch selbst.
Mittlerweile war es Abend, die beiden hatten den Rest des Vormittages und den ganzen Nachmittag durch alles immer und immer wieder wiederholt, dass es Steven schon mehr als nur aus den Ohren rauskam. Es gab noch ein reichhaltiges Abendessen, mit viel Traubensaft und Blutorangen, aber auch einem saftigem, nur leicht gebratenem Steak.
"Das war ein ausgezeichnetes Essen, Igor", sagte Steven schließlich nach dem Essen. "Und es war ein arbeitsreicher, und gleichzeitig sehr schöner Tag mit dir, Andariel. Ich danke dir dafür." Dann erhob er sich und begab sich auf sein Zimmer um sich endlich mal wieder so richtig auszuschlafen.

Doch schon im ersten Morgengrauen stand Andariel wieder vor seinem Bett.
"Ausgestanden, Schlafmütze!", rief sie. "Morgens ist die beste Zeit zum Lernen."
Steven schlug verständnislos die Augen auf und sah aus dem nach Osten gerichtetem Fenster, dessen Vorhänge Andariel gerade beiseite zog – die Sonne war noch nichtmal richtig aufgegangen.
"Früh, ja, aber doch noch nicht mitten in der Nacht", grummelte er verschlafen, schlug die Decke beiseite und begab sich zum Bad, um sich frisch zu machen.
"Es gibt auch gleich schon Frühstück, ich erwarte dich dann in Speisezimmer", erwiderte die fröhlich.
Auch das Frühstück war ausgezeichnet, so dass Steven seinen Ärger schnell vergaß, und bereit war für die nächsten Lektionen.
"Was steht denn für heute auf dem Plan?", fragte er gut gelaunt.
"Du wirst versuchen dein neu gewonnenes Wissen anzuwenden, Steven", erwiderte Andariel.
"Und an wem?"
"Ich habe ein paar Freiwillige aus den Reihen des Personals dafür ausgewählt, mit der Gärtnerin hast du ja schon Bekanntschaft gemacht. Aber keine Angst, die anderen sind nicht so willensstark wie sie" Andariel lachte.

Notdürftig wurde in einem kleinen Raum des großen Schlosses ein Büro für Steven hergerichtet, in dem er seine Zeugen vernehmen sollte. Unter den Angestellten dagegen wurde ausgelost, wer den Täter spielen sollte, auch alle anderen Rollen und Textinhalte wurden unter den Angestellten ausgelost. Sie hatten eine halbe Stunde Zeit sich ihr "Wissen" und das, was sie gesehen hatten, genau einzuprägen, bevor sie auf Steven losgelassen wurden.
Der erste Zeuge war ein Küchengehilfe. Steven ließ ihn auf einem Stuhl platz nehmen, stellte den Aufnahmedämonen auf "Mithören" und umkreiste den Zeugen langsam.
"Darf ich fragen wie du heißt?"
"Michael"
"Was hast du gesehen?"
"Ehrlich gesagt nicht sonderlich viel. Da war so ein Typ, ganz in schwarz, der hat vor dem Geschäft gewartet. Da hab ich mir noch nichts bei gedacht, denn abgesehen davon, dass er ganz in schwarz war, hat er ja nichts auffälliges gemacht gehabt. Dann hab ich so beim Vorbeigehen gemerkt, wie einer aus dem Laden rauskam und der Typ in schwarz daraufhin in den Laden ist. Dabei hat er dann die Tür zugeknallt, was mir schon ein bisschen komisch vorkam, und der Grund war, warum ich darauf überhaupt noch ein wenig geachtet hatte. Erst passierte gar nichts, aber dann hab ich, als ich schon ein paar Schritte weiter war, einen Schrei gehört, der aus dem Laden kam. Da hab ich mich dann umgedreht und gesehen, wie der Typ in schwarz die Tür wieder aufgeknallt hat, dabei eine andere Person, die gerade in das Geschäft wollte, weggestoßen hat und dann weggerannt ist. Kurz darauf jagte ihm dann der Ladeninhaber hinterher. Und dann hab ich halt gedacht: Naja, da hast du nichts mit zu tun, geh einfach mal weiter. Aber als ich dann hörte, dass der Inhaber tot aufgefunden wurde, habe ich mich dann bei der Wache gemeldet."
Steven hatte sich während des ganzen Monologs eifrig Notizen gemacht und hatte nun Zeit, zum ersten mal aufzusehen. Er sah seinen Zeugen so durchdringend an, wie er es fertig brachte, während er seine Fragen stellte.
"Und das entsprach nun alles der Wahrheit?"
"Ja, natürlich."
"Ich möchte Sie nur warnen. Sollte ich feststellen, dass ihre Angaben nicht vollkommen der Wahrheit entsprachen, dass wird das sehr übel enden für Sie!"
"Haben Sie, während Sie am Geschäft vorbeigegangen sind, irgendetwas von dem sehen können, was drinnen vorging?"
"Nein. Es gab kein Schaufenster oder etwas ähnliches, nur die Tür, und die wurde ja zugeschlagen, bevor ich auf gleicher Höhe war."
"Und könnten Sie die Person in schwarz vielleicht etwas genauer beschreiben? Haben Sie vielleicht ihr Gesicht gesehen?"
"Nein, nicht dass ich wüsste. Ich habe ja auch nicht wirklich darauf geachtet."
"Und ist ihnen am Toten etwas besonderes aufgefallen? Hatte er etwas in der Hand oder so?"
"Nein, da bin ich mir ziemlich sicher."
"Ok, vielen Dank. Ich werde auf Sie zurückkommen, wenn ich noch weitere Fragen haben sollte."
Damit verabschiedete sich Steven und ließ den nächsten Zeugen eintreten.

Der nächste Zeuge, es war Igor, trat ein und setzte sich auf den Stuhl.
"Hallo. Wie ich sehe, haben Sie sich schon gesetzt. Also fangen wir am besten gleich an."
Wie sich herausstellte, hatte Igor nicht viel mehr gesehen, wie der Küchengehilfe. Ihm war weder am Verdächtigen, noch am Toten etwas aufgefallen, ansonsten erzählte er aber auch dasselbe.
Steven entließ Igor wieder und deutete dem nächsten Zeugen an, in sein Büro zu kommen.

"Setzen Sie sich einfach auf den Stuhl hier." Er deutete auf den betreffenden Stuhl, schloss die Tür und setzte sich wieder auf seinen Platz.
Es war der Koch, ein stämmiger, großer Mann, der eher nach einem Metzger oder dergleichen aussah, als nach dem, was er war, der sich auf den Stuhl setzte und lässig die Beine über einander schlug.
"Ich werde ihnen gar nichts sagen und sie können mir gar nichts beweisen!", warf dieser Steven entgegen, bevor er die erste Frage stellen konnte.
"Aha, soll das jetzt sowas wie ein Geständnis sein?", fragte Steven.
"Na und wenn es das wäre? Sie haben gar keine Beweise gegen mich in der Hand, selbst wenn ich ihnen sagen würde: 'Ja, ich wars!' Haha!" Er fing an höhnisch zu Lachen, so authentisch, dass Steven sich zu fragen begann, wie er das zustande brachte, entweder ging er sehr in seiner Rolle auf oder liebte die Schauspielerei.
"Sie waren es also?" Siegessicher wandte Steven ihm den Rücken zu, da er sich ein hämisches Lächeln nicht verkneifen konnte. Er machte es ihm wirklich ziemlich leicht.
"Natürlich... nicht!" Sofort drehte Steven sich um und das erste, was er sah, war das gehässige und selbstherrliche Grinsen des Kochs. Sein Lächeln erstarb. "Meinen Sie etwa, ich hätte nicht bemerkt, dass ihr kleines Aufnahmegerät da auf "Aufnahme" gestellt ist? Ein geradezu erbärmlicher Versuch."
Es tobte in Steven. Wie konnte es dieser Dienstbote es wagen, ihn zu beleidigen, niederzumachen? Seine rechte Hand formte sich zu einer Faust, und er war kurz davor sie gegen den Koch zu erhaben, als plötzlich sämtliche inneren Glocken Alarm schlugen. Hast du denn schon alles vergessen, was dir gesagt wurde? 'Lass dich niemals von deinen Gefühlen leiten!' hatte Andariel gesagt. 'Lass niemals Wut, Mitleid, Rache oder Reue dein Vorgehen bestimmen!' hatte sie ihm gesagt. Einen Moment lang kämpfte er mit sich selbst, unsicher, ob er seinen Gefühlen nachgeben und gnadenlos auf das selbstherrliche Schwein losgehen, oder seinem Verstand folgen und ihm auf anderem Wege zeigen sollte, wo der Hammer hängt.
"Ganz wie Sie meinen. Dann wüsste ich doch gern warum Sie aus einem Laden gerannt sind, dessen Besitzer, der ihnen gefolgt ist, in einer Gasse tot, und die Kasse leer aufgefunden worden ist?"
"Ganz einfach weil der Typ plötzlich aggressiv wurde und auf mich losgehen wollte."
"Ach, einfach so?"
"Naja, zugegeben, ich hatte Schulden bei ihm. Steh' bei ihm schon seit Monaten in der Kreide und musste ihm an dem Tag erklären, dass er noch ein bisschen darauf warten müsse. Das hat ihn zur Weißglut getrieben, er hat sich ein Messer geschnappt und wollte, wie gesagt, auf mich losgehen."
"So, ein Messer hat er sich also genommen. Sind Sie sich dessen ganz sicher?" Steven sah ihn scharf an.
"Ja, ganz sicher." Der Koch blieb gelassen.
"Wie kommt es dann, dass keiner der anderen Zeugen dieses Messer gesehen hat? Ich meine, wenn jemand wie ein Berserker auf Sie losgehen und dann mit einem Messer verfolgen würde, meinen Sie das würde niemandem auffallen?"
"Dann hat er das Messer halt kurzzeitig weggesteckt. Kann doch sein..."
"Nur dass ich noch niemanden erlebt habe, der in einer solchen Situation, wie Sie sie beschreiben, zur Weißglut getrieben, geistesgegenwärtig genug ist, das Messer wegzustecken..."
Der Koch antwortete eine Weile nicht.
"Meine Götter! Dann hat er das Messer halt dagelassen, ich bin ihm ja nicht nochmal begegnet!"
"Seltsam, dass das Messer aber nicht im Laden gefunden wurde."
"Und was wollen Sie damit sagen?" Die Stimme des Kochs, zunächst noch recht selbstsicher, wurde langsam schon etwas leiser.
"Das soll heißen, dass ich nicht glaube, dass es dieses Messer überhaupt gegeben hat!", folgerte Steven selbstbewusst.
"Grr! Dann hab ich mich halt verguckt, vielleicht war es doch nur ein Lineal oder ein langer Stift oder etwas ähnliches..." Seine Stimme war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
"Das glauben Sie doch selbst nicht."
"Das würde immer noch nichts daran ändern, dass er fuchsteufelswild war und auf mich losgehen wollte. Da hab ich's halt mir der Angst bekommen!" Die Stimme hatte wieder zu neuer Kraft gefunden.
"Sie? Sie wollen mir erzählen, dass Sie Angst vor einem kleinem, schmächtigem Mann hatten?"
"Na gut, na gut. Vor dem Pimpf hat wirklich niemand Angst. Aber ich dachte ja schließlich, dass er ein Messer hätte."
"Na, das hört sich doch, wie Sie selbst zugeben müssen, sehr aus der Luft gegriffen an. Denn jemand wie Sie, der fast sein ganzes Leben lang mit allerhand Messern zu tun hatte, sollte doch ein solches von einem Lineal unterscheiden können. Oder haben Sie jemals zum Schneiden versehentlich zum Lineal, statt zum Messer gegriffen?" In Stevens Stimme mischte sich nun ein gewisses Maß an Spott.
Der Koch verschränkte die Arme vor der mächtigen Brust und grummelte vor sich hin.
"So, da wir das ja nun geklärt hätten, wollen Sie nun nicht endlich zugeben, dass Sie wegen ihrer Schulden, die Sie, wie ich weiß, nicht nur beim Toten, sondern auch bei einigen anderen Geschäftsleuten haben, zur Kasse gegriffen haben und alles Bargeld herausgerissen haben, und dann flüchten wollten, jedoch nicht damit gerechnet haben, verfolgt zu werden. Da sind Sie dann einfach in eine leeren Gasse abgebogen und haben dort dem Inhaber aufgelauert, um ihn anschließend totzuschlagen?" Steven freute sich irrsinnig darüber, es offensichtlich geschafft zu haben.
Der Koch schwieg.
"Ich hoffe, dass Sie wissen, dass wenn Sie mir jetzt wieder eine Geschichte erzählen wollen und sich diese ebenfalls als gelogen erweist, ich Sie nach Paragraph 23 auch noch wegen Eidbruch vor Gericht bringen kann."
"Eidbruch? Ich habe doch gar keinen Eid geleistet!" Die Stimme klang erschrocken.
"Nein, noch nicht. Aber wenn Sie vorhaben weiterzureden, werde ich ihnen einen abverlangen."
Die Miene des Kochs, die bisher größtenteils ungerührt war, verfinsterte sich langsam, während er seine verbleibenden Chancen abzuwägen schien.
"Soll ich ihnen noch sagen wie viele Jahre das dann extra wären? Hm?", bohrte Steven.
"Nein! Lassen Sie mich in Frieden! Ich gestehe ja, ich gestehe!"
"Sie gestehen?"
"Ja, ja, ich gestehe! Ich bin's gewesen. Ich hab den alten Dreckskerl umgebracht, hab die Kohle genommen... Aber er hatte es auch verdient!"
"Natürlich, er hatte es verdient. Hat ihnen ja auch so viel Schlechtes getan, dass er den Tod verdient hatte. Ganz im Gegensatz zu ihnen."

Stolz spielte er Andariel das Aufnahmegerät vor und wie erwartet, war sie positiv überrascht.
"Ausgezeichnet, Steven. Du hast den Fall gelöst und den Schuldigen zu einem Geständnis gebracht. Doch das sollte kein Grund sein, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Morgen bringe ich dir dann noch eine letzte Sache bei, die wahrscheinlich nützlichste von allen, und dann musst du ja auch schon wieder zurück."

Zwei Tage später stand Steven am Ufer des Ankhs und ein milder Wind spielte mit seinen Haaren. Die vergangenen Tage hatten viel Veränderung für ihn gebracht.
"Ich verstehe einfach nicht, warum R.U.M. in dem Fall nicht weiter ermitteln wird."
"Sie haben es dir doch tausendmal gesagt: Keine Abteilung fühlt sich zuständig!" Es war Andariel, die neben ihm stand. "Und wie du weißt ist das rechtlich gesehen, völlig korrekt, da es keine Anhaltspunkte gab, mit denen irgendjemand etwas hätte anfangen können."
"... auch wenn das Gesetz dazu völlig veraltet ist und aus einer Zeit stammt, in der die Wache bloß keine Zeit hatte, alle Fälle zu bearbeiten." Steven war nicht bereit sich damit abzufinden, wusste aber nicht, was er dagegen tun sollte.
"So ist es aber nun mal", erwiderte Andariel resignierend.
So standen sie noch lange da, starrten ins dunkel und ließen ihre Gedanken treiben.


Wer der Gerechtigkeit folgen will durch dick und dünn, muß lange Stiefel haben.





In dieser Story gibt es (mindestens) einen gravierenden Logik-Fehler zu finden, der jedem aufgefallen sein müsste, der sie aufmerksam gelesen hat...



[1] Gerüchten zufolge, gab es eine Zeit, in der das Geld für Wachs knapp war, so dass Nachts kein Licht brannte, doch dies sind, wie gesagt, nur Gerüchte.

[2] Wer meint, Bücher könnten nicht grausam sein, der ist noch nicht gegen dieses Buch angetreten, und es gibt sicher noch härtere Gegner.

[3] Vielleicht gilt das auch für andere Spezies, doch das ist nicht erwiesen, da zumindest Trolle sich noch nie besonders lange mit Büchern auseinandergesetzt haben.

[4] Auch wenn mittlerweile bereits erwiesen werden konnte, dass dieser Weg nicht ganz so unerschütterlich ist, wie sein Name verlauten lässt. Schon so mancher vertraute zu sehr auf die Unerschütterlichkeit des Weges und wurde dann von einer Troll-Keule, die scheinbar eines der wenigen Mittel Unbelehrbare einem Sinneswandel zu unterziehen ist, eines besseren belehrt.

[5] Zumindest behauptete er das gelegentlich, eine Demonstration hat es aber bisher noch nicht gegeben.

[6] Ein bisschen anders sah das beim Zuhören aus - zwar konnte er gut zuhören und er merkte, wenn irgendetwas wichtiges gesagt wurde, doch wenn er dann zu irgendetwas anderem gefragt wurde, dauerte es meist eine Weile, bis er die Frage in den richtigen Zusammenhang setzen und darauf reagieren konnte.

[7] Eine Schlacht mit Trollen in geschlossenen Gebäuden führt in 99,99% der Fälle zu einer Umwandlung des Kampfortes zu einem Straßenkampf [15]

[7a] Natürlich lässt die Mimik der meisten Trolle, einschließlich dieser hier, so Verblüffung oder Verwunderung in der Regel nicht zu, und beschränkt sich auf Zorn, Wut und große Wut, dennoch lässt sich eine gewisse Verwunderung erahnen.

[9] Nichts geht einem Troll über einen ordentlichen Straßenkampf, also ist so mancher auch bereit seine ganze Intelligenz einzusetzen, um sie stattfinden zu lassen.

[10] Das heißt, zumindest im Vergleich zu dem, auf dem er in der Wache schläft.

[11] Abgesehen von der ein oder anderen unangenehmen Bekanntschaft mit einem engen Wassereimer, der mit kochend heißem Wasser gefüllt war.

[12] Manchmal bewies er ein erstaunliches Talent, die Tageszeit zu raten.

[13] Gehässige Personen würden allerdings von einem Monolog sprechen.

[14] Mancher sollte besser nicht allzu oft darauf hören.

[15] Hierbei wird davon ausgegangen, dass ein Gebäude zur 'Straße' wird, wenn höchstens noch eine Wand (mehr oder weniger) steht und auch sonst kaum etwas auf einen Zustand hinweist, der für Gebäude typisch ist.

Zählt als Patch-Mission.



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