Labyrinth

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von Wächterin Rea Dubiata (GRUND)
Online seit 16. 08. 2004
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Auf dem heutigen Ausbildungsplan steht: Suche auf Anweisung deines Ausbilders eine bestimmte Akte im Archiv. Aber Vorsicht, im Archiv findet man nicht immer das, was man sucht und öfters das, was man gar nicht wollte.

Dafür vergebene Note: 11

Rea rannte durch die knallschwarzen Gänge des Wachhauses an der Kröselstraße. Ihre Haare waren ungekämmt und fielen aus dem provisorischen Zopf heraus. Die Uniform war zerknittert. Gestern Abend war sie darin eingeschlafen und hatte keine Zeit mehr gehabt, sie zu wechseln. Rea war eine halbe Stunde zu spät, als sie die Tür zum Büro ihrer Ausbilderin ohne Anzuklopfen öffnete und keuchend salutierte.
Die Sonne schien durch das kleine Fenster von Kanndras Büro. Rea schaute sich etwas verschlafen und gleichzeitig schnaufend um und versuchte, irgendwo ein Anzeichen des Chief-Korporals zu finden. Aber das Büro war leer. Nein, eigentlich nicht wirklich. Ein Efeutopf auf der Fensterbank, der wohl etwas Wasser nötig hatte, breitete seine Ranken bis zum Fußboden aus. Ein Bild an der Wand, was vor Staub nicht mehr ganz erkennbar war, hing schief. Über Rea klimperte ein Mobile aus Mäuseschädeln und auf dem Regal starrte der Schrumpfkopf eines Zwerges mit leeren Augen auf den mit Akten bestapelten Schreibtisch. Doch nichts in diesem Zimmer lebte mehr. Jedenfalls hoffte die Rekrutin das, während sie sich fragte wo ihre Ausbilderin wohl steckte.
Ein kalter Windzug durch das halb geöffnete Fenster ließ die Blätter der Akten rascheln. Rea starrte auf den Schreibtisch. Oben auf einem schon etwas zerfledderten Ordner lag ein Notizblock. Ein Stift lag noch darauf und Rea konnte die Handschrift des Chief-Korporals erkennen. Das Schreiben war an sie adressiert:

Liebe Rekrutin Dubiata,

Ich möchte lieber nicht wissen, zu welcher Zeit du hier aufgetaucht bist. Auch Entschuldigungen sind in diesem Fall nicht von Nöten. Ich bin mit den anderen, pünktlicheren Rekruten zur heutigen Übung am Tatort übergegangen. Du bist von der Übung ausgeschlossen. Ich möchte allerdings, dass du mir die Akte RO-3988-2527 holst. Ich brauche sie dringend. Wenn du sie nicht mitbringst, werden deine ständigen Verspätungen Konsequenzen nach sich ziehen.

Mit freundlichen Grüßen,
Chief-Korporal Kanndra Mambosamba


"Verdammt", dachte Rea und überlegte, wo sie die Akte herbekommen könnte. Ihre Verspätungen beliefen sich meistens nur auf fünf Minuten, nicht später als die der meisten Wächter. Allerdings waren in letzter Zeit Verspätungen von über 15 Minuten aufgetreten. Das lag weniger an Reas Unbereitwilligkeit morgens früh aufzustehen, sondern daran, dass jemand ihr vor einer Weile eines der spannendsten Bücher geschenkt, die sie je gelesen hatte. Dummerweise handelte es sich dabei um eine Serie von vielen Büchern und Rea kam nicht davon los, sie zu lesen, bis ihr die Augen zufielen. Danach verlangte ihr Körper das Recht, zumindest den morgendlichen Weckruf zu überhören. Er hatte einfach die innere Uhr um eine halbe Stunde verstellt und ignorierte Sonnenstrahlen, Gerüttel und sogar Wassereimer, die Rea zurück unter die Wachen rufen sollte.
Nun, an ihrer Lage war nun nichts mehr zu ändern, also wollte Rea nun möglichst schnell diese Akte besorgen. Das Archiv war im Wachhaus am Pseudopolisplatz, das wusste Rea. Allerdings kannte sie sich in Ankh-Morpork immer noch nicht so gut aus wie sie es sich wünschte. Unentschlossen verließ sie das Wachhaus in der Kröselstraße.
"Huhu, Rea!", rief eine Stimme zu ihrer linken. Sören Eltsam kam auf sie zugelaufen. "Was tust du denn noch hier? Die Anderen sind alle schon weg!"
"Moin!", rief Rea. "Ich habe mal wieder verpennt. Kennste ja. Wenn ich einmal ein Buch angefangen habe... Aber warum bist du noch hier?"
"Ich hätte gestern beinahe das Auge von Hauptmann MeckDwarf auf eine Pfeilspitze gepiekst. Jetzt werde ich von ihm am Pseudopolisplatz erwartet". Sören sprach mit einem offensichtlichen Kloß im Hals, der von Sekunde zu Sekunde anzuwachsen schien. Nervös strich er sich die Haare aus dem Gesicht.
"Dann haben wir ja denselben Weg vor uns. Ich schlage vor wir gehen zusammen?"
Sören nickte und sie gingen los in Richtung Pseudopolisplatz. Rea versuchte, sich die Straßenfolge zu merken...

Das Archiv war modrig und in einigen Ecken roch es stark nach Verwesung. Ein Dämon vertrieb sich die Zeit damit, mit seiner Unterlippe und einem Finger ein nervtötendes Geräusch zu verursachen. Es klang als würde eine riesige Hummel immer wieder gegen ein Fenster fliegen. Rea räusperte sich. Der Dämon sah mit der Unauffälligkeit eines Trolls unter Zwergen in eine andere Richtung. Rea war viel zu höflich um einfach so ein Gespräch zu beginnen. Verlegen betrachtete sie zunächst den schwarzen Steinboden. Nein, so konnte das doch nicht weitergehen. Trotzig sah sie den Dämon an. Dieser war nun zu einer anderen Beschäftigung übergegangen und spielte mit seinen Fußzehen. Rea entschied sich, den Dämon anzustarren. Der Dämon schien sich immer noch nicht für die Besucherin zu interessieren.
"Entschuldigung", sagte Rea schließlich. "Ich suche die Akte RO-3988-2527!"
"Ach ja?", sagte der Archiv-Dämon und schielte in ihre Richtung. "Die meisten Leute die hierher kommen suchen eine Akte. Manchmal bringen sie auch welche. Was kann ich dafür?"
"Ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen... sie zu finden?", fragte Rea vorsichtig.
"Nein", sagte der Archivar und wandte sich einem Buch zu.
Rea versuchte in dem schummrigen Licht den Titel zu entziffern. Es gelang ihr nicht, der Dämon hielt den alten Schinken falsch herum.
"Na gut", dachte Rea, "dann such ich die Akte eben selbst."
Entschlossen wandte sie sich um und versuchte, in dem Wirrwarr von Regalen ein System zu finden. Sie ging in die erste Reihe, zog eine Akte heraus. "S-175-1" stand darauf. Wo S war sollte auch R sein, also ging Rea den Gang weiter entlang. Sie hörte Mäuse rascheln und Ratten quieken. Rea nahm eine weitere Akte aus dem Regal, blies vorsichtig darüber um den Staub zu entfernen. Anschließend blies sie noch einmal darüber und noch einmal. Schließlich wischte sie den verbliebenen Staub mit dem Ärmel weg. "ACG-956-36" stand darauf. Rea nahm noch eine Akte und wischte sie sauber: "F-3698-5". Rea seufzte. Anscheinend folgte die Anordnung der Akten in den vielen Regalen keinem System.
Rationalität war zwar keine besondere Eigenschaft von Rea, doch sie griff gerne darauf zurück. Nun, was brauchte sie? Eine Akte mit dem Namen RO-3988-2527.
"Moment mal!", flüsterte Rea zu sich selbst, "Was bedeutet eigentlich RO? Oder diese Zahlenkolonnen? Es wird ja nun nicht jemand einfach so aus Jux und Dollerei irgendwelche Codes auf die Akten schreiben."
Rea betrachtete den Dämon am Schreibtisch durch eine Lücke im Regal und war sich nicht mehr so sicher. Er hatte begonnen, auf einer Harfe ohne Saiten zu spielen und dabei den Mund aufzureißen als würde er singen. Nun, dachte Rea, irgendwo gibt es doch sicher eine Tabelle auf der erklärt ist, was die Buchstaben bedeuten. Sie stapfte los. In der ersten Reihe fand sie nichts, ebenso wenig in der zweiten. In der dritten Reihe huschte ihr eine Fledermaus entgegen. Vorsichtig betrat Rea nun die vierte Reihe. Etwas raschelte auf dem Boden und Rea schrie. [1]
Sie sah eine zum größten Teil skelettierte, menschliche Leiche, welche in den knochigen Händen zwei Akten hielt. Aus der Augenhöhle kletterte eine Ratte, erstarrte bei Reas Schrei und purzelte auf dem Boden, wo sie liegen blieb. "QUIEK", sagte Rattentod empört, als er die Seele der Ratte von ihrem Körper löste.
Rea kniff erschrocken die Augen zu, drehte sich um und rannte blindlings los, geradewegs auf die andere Seite. Zu spät realisierte sie, dass eine Wand ihre Flucht behindern müsste. Als sie glaubte, nun würde sicherlich ihr Nasenbein brechen geschah... nichts. Rea rannte einfach weiter. Metaphorisch spielte sich nun folgendes in Reas Kopf ab: Die Rationalität, die bis vor wenigen Sekunden den Steuerhebel hatte führen dürfen, bekam einen Faustschlag ins Gesicht und blieb ohnmächtig liegen. Panik und Angst setzten sich nebeneinander auf den Kapitänssitz und stellten alle Maschinen auf Volldampf voraus.
Nicht nur Bücher krümmen Zeit und Raum, auch Akten, denn wenn man es nicht ganz so genau nimmt, sind Akten auch Bücher. Ein paar geleimte Seiten, einen harten Deckel darum, warum sollten nicht auch Akten das Privileg haben, einen eigenen Raum zu besitzen, den A-Raum? Alle Archive aller Welten sind miteinander verbunden, denn Akten hegen sehr enge soziale Kontakte.
Man kann den A-Raum nicht finden, nur suchen oder gefunden haben. Die Übergänge vom tatsächlichen Archiv zum A-Raum und wieder zum nächsten Archiv sind so fließend, dass selbst die Akten nicht wissen, zu welchem Archiv sie nun gehören. Die meisten Archivare finden sich im A-Raum jedoch nicht zurecht und betreten ihn auch nicht (wenn sie ihn nicht schon betreten haben). Rea hatte jedoch das Talent, etwas immer genau dann zu finden, wenn sie es nicht suchte. Zum Beispiel Ärger. Im Suchen jedoch war sie sehr gut, da sie ständig Dinge verlor. Sie wusste zwar immer genau, wo sie sie abgelegt hatte, doch mysteriöser Weise fand sie sie immer an anderen Stellen wieder. So zum Beispiel eine Sylvestersocke, die sie, verbunden mit viel Mühe und blutigen Fingern mit einem Schwein bestickt hatte. Sie war in der Sylvesternacht verschwunden, doch drei Monate später fand sie sie im Ziegenfutter wieder. Der Inhalt waren ein angeknabbertes Marzipanschwein und eine verbogene Haarbürste.
Nun, was hier nun wirklich gesagt werden soll, ist dass sich Rea nun unfreiwillig im A-Raum befand. Es war dunkel, denn Akten mögen Dunkelheit.
Eine Weile später wachte die Rationalität wieder auf und begann langsam den zwei meuternden Gefühlszuständen gut zuzureden. Rea blieb stehen. Sie öffnete die Augen, aber alles blieb schwarz. Nein, nicht schwarz, es war nur dunkel. "Nur" dunkel war jedoch schon wieder untertrieben, denn Rea konnte nicht sagen, wo denn nun eigentlich das wenige Licht herkam. Sie versuchte sich zu orientieren. Wo war sie hergekommen? Sie drehte sich um, doch dort, wo sie glaubte, langgelaufen zu sein, erstreckte sich nur ein langes Regal. Es war voller Akten. Leises Rascheln erfüllte den Raum. War es überhaupt ein Raum? Rea war sich nicht sicher. Es sah aus wie ein Raum, aber es fühlte sich komischerweise nicht so an. Sie überlegte, was sie nun tun sollte und fühlte sich ziemlich ruhig, auch als sie bemerkte, dass seltsames Getier um ihre Füße wuselte. [2] Nun, es war vollkommen sinnlos, hier einfach nur zu stehen und auf einen Herzinfarkt zu warten, meldete sich die Vernunft.
Rea ging vorsichtig durch ein Labyrinth von Akten. Irgendwann hatte sie mal gehört, dass Labyrinthe in ihrer Anordnung einer bestimmten Regel folgten. Es hatte etwas mit zweimal links und einmal rechts oder so ähnlich zu tun. Ob diese Vermutung zum Erfolg führen würde, war ungewiss, aber einen Versuch wert. Rea bog erst einmal links, dann noch einmal links und dann rechts ab.
"Wie oft muss ich das jetzt wiederholen, um anzukommen?", fragte sich Rea. Sie tappte durch die schummrigen Gänge und ihr war, als ob sie jemand verfolgen würde. Nun, da waren Tiere und Akten, sie sicherlich irgendein mysteriöses Eigenleben führten, doch sie hörte ganz deutlich wie jemand hinter ihr atmete. Rea ging schneller und auch die Atemzüge hinter ihr beschleunigten sich. Immer wieder schielte sie vorsichtig nach hinten, wurde jedoch von ihrem eigenen Kopf behindert. Jetzt rannte sie fast. Sie musste sich ihm stellen, was auch immer es war! Sie musste sich umdrehen und Gewissheit bekommen, wer sie da verfolgte und wenn es das Letzte war, was sie tat.
Drei, Zwei, Eins! Rea blieb stehen und drehte sich im selben Moment um. Sie starrte in ein behaartes Gesicht ohne Augen. Doch, da waren Augen, nur, sie waren unter dem Mund, nicht darüber. Als Rea diese Tatsache einen Sekundenbruchteil später verarbeitet hatte, schrie sie laut auf. [3]
Irgendwo aus der Finsternis kamen zwei Arme hervor und hielten ihr den Mund zu, worauf Rea noch viel mehr schrie. Wenn sie eines hasste, dann behaarte Hände.
"Ugh", sagte der Bibliothekar. Rea verstummte. Ihre Augen waren noch immer weit aufgerissen, als der Orang-Utan sie losließ und mit einem schwerfälligen Salto seine Füße von der Decke auf den Boden beförderte.
"Ich...", begann Rea. Sie hatte vom Bibliothekar der Unsichtbaren Universität gehört, ihn jedoch noch nie getroffen. Angeblich mochte er einen, wenn man ihm Bananen gab, doch Rea hatte irgendwann aufgegeben sich ein Mittagessen mitzunehmen, wenn sie unterwegs war, da sie ständig vergaß es zu essen und eine Woche später grün-pelzige Dinge in ihren Taschen fand, die nur noch einen kleinen Schritt davon entfernt waren, mit ihr zu reden. In diesem Moment schubste Reas Rationalität Angst und Panik endgültig vom Stuhl, jubelte kurz und kombinierte dann: Der Bibliothekar kannte sich mit Büchern aus. Vielleicht kannte er sich auch mit Akten aus? Vielleicht konnte er sie zurück zum Archiv bringen?
"Ich will hier raus", sagte Rea in einem mitleidserregenden Tonfall.
"Ugh", sagte der Bibliothekar und legte seine Hand auf ihre Schulter. Dann schwang er sich wieder an einem Regal hoch, schaute zu Rea zurück und gebot ihr mit einer Geste, ihm zu folgen.
Rea wusste nicht, wie lange sie unterwegs gewesen waren. Sie waren lange durch die Gänge des A-Raums gewandert, von dem Rea nicht wusste, dass er A-Raum hieß. Es war immer noch dunkel, doch mit einem Mal war es Rea, als ob es am Ende des Ganges in dem sie sich gerade befanden dunkler wäre als normal. Sonst war es immer nur schummrig gewesen, dort war es knallschwarz. Es war so schwarz, dass es Rea fast blendete. Mit zusammengekniffenen Augen lief sie weiter. Dann prallte sie gegen eine Wand aus Haaren. Der Bibliothekar war stehen geblieben. Rea öffnete die Augen. Er nickte und deutete in Richtung Schwarz.
"Ich soll da lang gehen?", fragte Rea und versuchte, ihre Angst zu verbergen.
Der Bibliothekar nickte. "Ugh", sagte er, doch es wirkte nicht sonderlich ermutigend.
"Äh...", sagte Rea, doch der Bibliothekar verabschiedete sich mit einem Winken, hangelte sich an einem Regal hoch und war binnen weniger Augenblicke im dunklen Licht verschwunden.
Rea blieb nichts anderes übrig, als das zu tun, was der Orang-Utan gesagt hatte. Mit der linken Hand fuhr sie an einem Regalbrett entlang, damit sie wusste, dass sie geradeaus ging und schritt auf die Schwärze zu. Mit jedem Schritt schlug ihr Herz schneller und die Angst balgte sich mit der Vernunft um den Steuerknüppel. Als Rea glaubte, es würde nun vollständig dunkel sein (sie konnte nicht einmal mehr die Akten in den Regalen erkennen) wurde es auf einmal wieder heller. Es war wieder schummrig und der Geruch, der Rea in die Nase stieg war vertraut real. Es roch nach Staub. Leises Kratzen wurde begleitet von einem Schnaufen, das immer lauter wurde. Langsam kroch ein Lichtschein um die Ecke und erhellte ein großes Regal voller Bücher. Rea stockte der Atem.
"Wer da?", krächzte die Stimme eines alten Mannes. Rea hatte keinen Mucks von sich gegeben, doch trotzdem schien der Mann zu wissen, dass sie hier war. Wo sie stand, war es immer noch ziemlich düster, doch der Lampenschein kam immer näher. Vom Licht geblendet konnte Rea nicht einmal das Gesicht des Mannes erkennen und ein Teil von ihr wollte zurück in die Schwärze rennen. Schließlich trat sie einen Schritt vor.
"Entschuldigung, aber wo bin ich hier?", fragte sie vorsichtig. Rea konnte immer noch nicht das Gesicht des Mannes erkennen, doch er wirkte gebrechlich genug um nicht angrifflustig zu sein. Sie entspannte sich ein bisschen.
"Hast du dich im A-Raum verlaufen?", fragte der Alte amüsiert und hielt die Lampe ein wenig tiefer. Sein Gesicht wirkte mürrisch, jedoch nicht so unfreundlich wie Rea befürchtet hatte.
"Äh, ja", sagte sie und hatte keine Ahnung, was ein A-Raum war. Sie verband es jedoch intuitiv mit dem hinter ihr liegenden Labyrinth.
"Das ist kein Ort für kleine Mädchen! Weißt du, wie viele Leute ich schon gefunden habe, die im A-Raum herumgeirrt sind?"
Rea war beleidigt, weil er sie "kleines Mädchen" genannt hatte, überspielte es jedoch, um den Mann nicht zu verärgern. "Bin ich die Erste?" fragte sie.
"Ja", sagte der Alte ein wenig kummervoll. "Du bist hier in Tods Haus, aber keine Angst, du bist nicht tot. Tote vermeiden es, sich in Tods Haus aufzuhalten, sie sind nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen."
"Äh.. Verständlich. Aber ich hätte eine Bitte...", begann Rea, doch plötzlich schrie der Mann auf.
"Nimm sofort den dreckigen Drachen da weg! Das ist das größte Archiv des Universums! Ich kann hier keine feuerspeienden Tiere gebrauchen!" Das Gesicht des Mannes war angstverzerrt. Rea folgte seinem panischen Blick. Rechts neben ihr saß ein kleiner Drache und hatte sich in einen Teil ihres Umhangs verkrallt. Er schien eher müde als aggressiv.
"Das ist nicht mein Drache", sagte Rea und blieb vollkommen ruhig. Sie mochte Tiere, außerdem war das komische krabbenartige Vieh auf ihrem Stiefel viel unheimlicher.
"Mir egal. Nimm dieses Biest weg! Aber sofort! Ich tu' alles!"
"Tatsächlich? Hast du zufällig die Akte RO-3988-2527 hier in diesem Archiv?" Rea wartete die Antwort nicht ab. Sie hob den Drachen, der gerade das Ding auf ihrem Stiefel verspeiste, hoch, was bei seinem Körpergewicht nicht allzu einfach war. Wie ein Baby hielt sie ihn auf dem Arm und hielt mit einer Hand das Maul zu. Dies hatte zwar kaum Wirkung, denn Drachen konnten auch durch die Nüstern Feuer spucken, doch es schien den alten Mann zu beruhigen.
"Was glaubst du, das ist die größte Bibliothek des Universums! Immer geradeaus durch, irgendwann gehst du rechts. Ich hole dir die Akte." sagte er hektisch und eilte davon.

Rea saß auf einem weichen Sessel und wartete. Für das Haus des personifizierten Todes war es recht wohnlich hier. Der Drache hatte sich auf dem Sofa eingerollt und schnarchte, als der Alte mit einem schweren Buch unter dem Arm ins Zimmer kam. Er legte es auf den Tisch. "Das sieht mir nicht nach einer Akte aus", sagte Rea doch Albert schüttelte den Kopf.
"Es ist eine Autobiographie. Es dokumentiert das Leben eines bestimmten, höherentwickelten Lebewesens. Da es eine Dokumentation ist, ist es eigentlich auch eine Akte."
Rea musterte das Buch. Das Leben des Rascaal Ohnedurst - Teil 1 stand auf dem verstaubten Buchdeckel. "Rascaal Ohnedurst.. RO.. Hmmm", sagte Rea. "Und wo sind die Zahlen, 3988 und 2527?"
"Es gibt viele Menschen... ähm, denkende Lebewesen, mit den Initialen RO. Ohnedurst ist nur der dreitausendneunhundertachtundachtzigste. Und 2527 dürfte die Seitenzahl sein."
Rea schlug das Buch auf, doch bevor sie es lesen konnte fiel ihr auf, dass der Vampir Ohnedurst ja Chef der IA-Abteilung war. Das was in dieser Akte stand war sicher vertraulich. Peinlich berührt schlug sie es wieder zu.
"Und wie komme ich hier wieder raus?" fragte sie und hoffte, nicht noch einmal durch dieses unheimliche Labyrinth gehen zu müssen.
"Ich erwarte in den nächsten Stunden eine Lieferung aus Ankh-Morpork. Lebensmittel und so. Für mich natürlich, Tod isst nur selten. Ich denke, man könnte dich dann wieder mit zurück nehmen. Zum Wachhaus in Ankh-Morpork nehme ich an?"
"Ja, Kröselstraße!", sagte Rea erleichtert.
"Und zu welcher Zeit möchtest du dort sein?", fragte Albert. "Wenn du dich im A-Raum verlaufen hast, könntest du fünf Jahre vor deiner Geburt hier aufgetaucht sein."
"A-Raum? Hä? Wie?", fragte Rea verwirrt, doch der alte Mann gebot ihr, sich eine Tasse Tee zu genehmigen und ging zurück in die große Bibliothek. Zwei Minuten später kam er zurück. "Alles kein Problem.", sagte er. "Ich weiß, wo und wann du hinmusst. Ich sorge dafür, dass du pünktlich bist. Zum ersten Mal in deinem Leben..."
Rea wurde rot. "Dort sind die Autobiographien aller Wesen archiviert, oder?"
Albert nickte. In diesem Moment gab es eine lautlose Explosion, die seltsamerweise keinen Schaden anrichtete. Nur die beiden Bilder, die eben noch in der Mitte der Wand gehangen hatten, waren an die Seite "geschoben" worden. Dazwischen war nun ein kleiner Laden.
"Gut, dann sag ich jetzt mal Auf Wiedersehen, oder so", sagte Albert "Und nimm den Drachen mit." Rea nahm den schlafenden Drachen auf den Arm und folgte dem Mann in den Laden. Der Ladeninhaber, ein Zwerg, begrüßte den Alten und beide wechselten kurz einige Worte. Dann nahm Albert einen Korb mit aus dem Laden. Rea kam aus dem Staunen bald nicht mehr heraus. Das Buch in der Tasche und den Drachen auf dem Arm begrüßte sie den Zwerg.
"Ja ja!", sagte dieser. "Ich hätte gerne 'nen halben AM-Dollar für die Reise. Oder, ähh, wie viel willst du für diesen Drachen?"
"Gar nichts. Er ist mir zugelaufen.", antwortete Rea, doch dann fügte sie hinzu: "Du bekommst ihn nur, wenn du dich gut und artgerecht um ihn kümmerst und mich dafür kostenlos nach Ankh-Morpork bringst."
"Abgemacht ", meinte der Zwerg." Wir sind übrigens schon da."
Rea erkannte die Kröselstraße. Es war bereits Abend und sie sollte sich beeilen. Sie ließ den Zwerg bei seiner Mutter schwören, den Drachen nicht zu Schuhen zu verarbeiten und verließ den Laden. Mit schnellen Schritten hielt sie auf das Wachhaus zu und klopfte wenig später an das Büro ihrer Ausbilderin.
"Herein!", rief der Chief-Korporal. Rea trat ein und salutierte.
"Setz dich, Rekrutin Dubiata", sagte Kanndra und Rea folgte der Anweisung. "Hast du mir die Akte mitgebracht?"
Rea nickte stolz. "Bitte sehr, Ma'am", sagte sie und legte das Buch auf den Schreibtisch. Der Gesichtsausdruck ihrer Ausbilderin erstaunte Rea jedoch. Ungläubig starrte diese auf das Buch.
"Aber...", begann sie, doch Rea unterbrach sie, zu ihrem eigenen Entsetzen: "Ist es die falsche Akte, Ma'am?"
"Nein", sagte Kanndra und fasste sich wieder. "Nur, es sollte dieses Dokument eigentlich gar nicht geben. Ich habe mir die Nummer ausgedacht, um dich ein bisschen zu är... ähh, damit du dich im Archiv auskennen lernst. Aber wie ich sehe, tust du das. Ich hoffe, du hattest keine größeren Schwierigkeiten?"
"Ähh...", Rea dachte nach. Sollte sie dem Chief-Korporal sagen, wo sie gewesen war? Zum größten Teil wusste sie es selbst nicht. Sie beschloss, einen Teil der Wahrheit zu sagen: "Ich musste ein anderes Archiv aufsuchen, aber ansonsten war es recht einfach."
"Na dann", Kanndra öffnete das Buch und überflog die erste Seite. "Seltsam", murmelte sie, dann sprach sie lauter und lächelte. "Ich denke, du hast mal wieder einen Tag deiner Ausbildung mit Ach und Krach bestanden, jetzt gehen wir erst Mal gemeinsam in den Eimer und du erzählst mir jede Einzelheit von dem, was passiert ist."
Rea seufzte, sie hatte gehofft, dass ihre Ausbilderin es dabei bewenden ließ. Die Aussicht auf den Eimer war jedoch nicht allzu schlecht. Immerhin hatte sie nicht gefrühstückt und in ihrem Magen rumpelte es wie eine Gerölllawine. Schweigend folgte sie Kanndra aus dem Büro.
Das Buch lag auf dem Schreibtisch. Der Wind blähte die schweren Vorhänge. Er tastete nach den Seiten, blätterte spielerisch darin, wie ein kleines Kind. Sanft berührte der Lufthauch die Seiten und es war, als würde der Wind lesen:

..."Nun, Rekrut Ohnedurst. Was hast du dazu zu sagen? Es fehlt eine ganze Rolle Klopapier aus der Toilette. Hast du sie nun genommen oder nicht?"
Der Ausbilder sah Rascaal scharf an, welcher sich immer unwohler fühlte. "Ich.. ich habe nichts genommen, Sir! Nein, ganz bestimmt nicht!"
"Glaubst du, die Ratten haben das Klopapier geklaut um sich ein Nest zu bauen? Ich sage dir eins, wenn du mir so eine bescheuerte Geschichte weiß machen willst, Rekrut, dann..." dem Ausbilder stockte der Atem, auf Rascaals Gesicht jedoch formte sich ein breites Grinsen. Leise trippelte eine Ratte die Längsseite des Zimmer entlang und zog einen nicht enden wollenden, weißen Streifen hinter sich her.
S. 2527


[1] Wenn Rea schreit ist das nicht zu unterschätzen. Ihre Schreie sind hoch, schrill und können in einer Entfernung von 20m Gläser zum Zerbersten oder sehr schwache Herzen zum Stillstand bringen. Zum Glück befand sich Rea in einem Raum ohne Fenster oder alten, strickenden Großmüttern. Daher wurde ihr Schrei von mehreren Lagen Staub gebremst und vom nächstbesten intelligenten Lebewesen (außer dem Archiv-Dämon), einem Würstchenverkäufer auf dem Pseudopolisplatz, nur als leises Quietschen vernommen. Dieser fragte sich daraufhin, ob er seinen Bauchladen nicht wieder einmal ölen sollte.

[2] Man könnte auch sagen, dass Rea so panisch war, dass man es schon wieder als ruhig bezeichnen konnte

[3] Es wurde bereits erwähnt, dass Reas Schreie nicht harmlos sind. Im A-Raum jedoch entfalten sie eine ganz andere Wirkung als in einem normalen Archiv. Da im A-Raum Zeit und Raum gedehnt sind, können Geräusche, Gerüche und sogar Kleinstlebewesen durch kleine Wurmlöcher an die unmöglichsten Orte und Zeiten gelangen. Daher kam es, dass eine alte Frau in Sto Helit einen Herzinfarkt erlitt, ein Kristallgläserverkäufer in Klatsch vorgestern Insolvenz anmelden musste und im Achatenen Reich ein Sack Reis umfiel.




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