Klettern leicht gemacht

"Rekrut! Stillgestanden!", brüllte mir Lance-Korporal Romulus von Grauhaar entgegen, "Deine Ausbildung geht weiter! Bis jetzt hast du immer nur gehört was man als Wächter machen muss. Heute wirst du selber deinen Körper einsetzen müssen."
Endlich habe ich mich soweit sortiert, dass es wenigstens nicht so aussieht, als ob ich noch schlafe.
"Körpereinsatz, Sir?", hakte ich nach.
Mit meinem Körper könnte das gefährlich werden. Nicht sehr viel größer als ein Zwerg, aber ohne die entsprechende Masse, habe ich meine Gegner meistens besiegt, indem sie, während ich vor ihnen wegrannte, vor Erschöpfung zusammenbrachen.
"Keine Angst", kam die Antwort, "Du wirst nicht kämpfen. Wir gehen klettern."
Mit diesen Worten drehte er sich um und verlies das Wachhaus. Ich stecke noch schnell mein Buch ein und versuchte mit Romulus Schritt zu halten.

Kurze Zeit später standen wir vor einer recht zerklüfteten Steinwand.
"Hier dürftest selbst du keine Probleme haben", sagte der Lance-Korporal zu mir, "Also los, hoch und wieder runter klettern, Rekrut."
"Ja, Sir!", antwortete ich, während ich zweifelnd die Wand ansah.
Schließlich trat ich einen Schritt nach vorne und versuchte einen guten Halt zu finden. Als ich mit meinen Händen zwei feste Steine zu packen bekam und mich etwas in die Höhe gezogen hatte ging es wirklich ganz einfach. Diese Wand schien zum Klettern gemacht zu sein, so viele Lücken und hervorstehende Steine waren vorhanden. Bereits nach kurzer Zeit hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen, drehte mich zu meinem Ausbilder und salutierte.
"Auftrag ausgeführt, Sir!"
"Schön, Rekrut", war seine Antwort, "Dann auf zur nächsten Wand."
Diese Wand war schon schwerer. Es gab keine größeren Lücken und nicht mehr so viele vorstehende Steine. Stattdessen waren überall Ritzen entstanden, wo die Steine aufeinander lagen. Auch hier kam ich nach oben und wieder runter, jedoch brauchte ich beinahe dreimal so lange wie vorher. Bei der dritten Wand verzweifelte ich jedoch. Ich sah nicht die kleinste Ritze und keinen Punkt, an dem ich ansetzen könnte. Meine Hoffnungslosigkeit bemerkend tippte mir Romulus auf die Schulter.
"Weist du nicht wie du da hoch kommen sollst?", fragte er mich.
Verneinend schüttelte ich meinen Kopf. "Nein, Sir."
"Dann schau mal zu."
Er drehte sich um, sah sich kurz die Wand an und begann dann mit einer fast unmenschlichen Gewandtheit zu klettern. Kein einziges Mal zögerte er oder sah sich nach einem sicheren Halt um. Als er wieder unten ankam war ich viel zu erstaun um zu reden.
"Jetzt bist du dran, Rekrut", sagte Romulus aufmunternd zu mir.
"Ja, Sir", erwiderte ich zögernd.
Jetzt stand ich direkt vor dieser Wand und versuchte mich daran zu erinnern, wo mein Ausbilder seine Hände und Füße hingesetzt hatte. Vorsichtig fuhr ich mit meinen Händen über die Steine und tastete nach kleinen Spalten, an denen ich mich festhalten konnte. Nach einer Zeit fand ich auch Halt für meine Hände und, nachdem ich wieder lange gesucht hatte, auch für meine Füße. Dann ging es immer Stück für Stück weiter. Nachdem ich etwa zwei Drittel der Wand hinaufgeklettert war hatte ich keine Kraft mehr und sprang herunter.
"Das war ja schon mal gar nicht so schlecht", wurde ich gelobt, "Aber du solltest weiter trainieren."
"Ja, Sir", war das Einzige, was ich unter schwerem Atmen heraus bekam.
"Lance-Korporal! Lance-Korporal!", rief plötzlich ein anderer Wächter, der auf uns zu gerannt kam. "Wir brauchen ihre Hilfe Lance-Korporal!"
"Ganz ruhig, Obergefreiter", reagierte der Angesprochene, "Erklär mir erst mal was los ist."
"Wir haben einen Fall von unlizensiertem Mord. Die Täter haben sich in einem haus verbarrikadiert. Alle Ausgänge sind gesichert, aber wir brauchen noch jemanden, der uns sagen kann, wie es drinnen aussieht."
"Da habe ich genau den richtigen Mann für", antwortete Romulus, "Aven heißt du, oder? Los komm mit!"
Noch bevor ich zu einer Antwort ansetzten konnte musste ich schon hinter den beiden Wächtern her rennen.
Als wir an besagtem Haus ankamen sah ich was mit "gesichert" gemeint war. An jeder Tür und jedem Fenster im Erdgeschoss stand ein Wächter. Langsam fragte ich mich was ich hier sollte.
"Die Fenster im ersten Stock sind versperrt?", fragte Romulus den Obergefreiten.
"Ja, Sir", antwortete der. "Wir haben schon versucht hinein zu kommen."
Mein Ausbilder sah mich an.
"Du hattest doch Dietriche dabei, als ich dich das erste Mal gesehen habe, oder? Hast du die jetzt auch dabei?"
"Ja, Sir, habe ich", sagte ich mit einem fragendem Blick.
"Wenn ich dich an der Wand halte, meinst du, du schaffst es dieses Fenster unbemerkt zu öffnen?", fragte er mich während er auf ein Fenster im ersten Stock zeigte.
"Weis ich nicht, Sir. Müsste ich ausprobieren."
"Okay, dann los Rekrut!"
Noch während er das sagte ging er auf die Wand zu. Sie war etwas besser zum Klettern geeignet als meine zweite Trainingswand und so schaffte ich es relativ schnell nach oben. Am Fenster angekommen verschaffte sich Romulus noch einen besseren Halt und deutete mir dann mich in seinen Arm zu legen. Nachdem ich mit meinen Füßen eine gute Position eingenommen hatte lehnte ich mich vorsichtig zurück. Als ich mir sicher war, dass er mich halte konnte packte ich meine Dietriche aus und ging ans Werk. Es dauerte nicht lange und ich hatte das Fensterschloss geknackt.
"Los jetzt, geh rein und schau dich etwas um", befahl mir der Lance-Korporal, "Ich will wissen wie es da drinnen aussieht."
"Okay, Sir."
Langsam schlich ich mich durch das Fenster und dann zur nächsten Tür. Schnell fand ich die Treppe nach unten, die ich, jede Stufe aufmerksam musternd, nach unten ging. Ich bewegte mich weiter und sah mir jedes Zimmer an, ohne bemerkt zu werden. Im Haus waren nur Menschen und ihre Anzahl war geringer als die der draußen wartenden Wächter. Als ich mir alles eingeprägt hatte ging ich wieder nach oben und durch das von mir geöffnete Fenster wieder nach draußen.
"Und, wie sieht es drinnen aus?", wurde ich direkt gefragt als ich den Boden berührte.
Während meiner Erklärung machte Romulus ein ernstes Gesicht, fragte aber nicht einmal nach.
"Okay, Rekrut", sagte er, als ich mit meinen Ausführungen am Ende war. "Du kannst wieder ins Wachhaus zurück."
"Ja, Sir!", sagte ich salutierend und ging.

Gegen Abend kam Romulus wieder ins Wachhaus und berichtete mir von ihrer erfolgreichen Aktion.
"Nur ein Wächter wurde leicht verletzt", endete sein Bericht, "Ohne dich wären es wahrscheinlich mehr. Dank dir noch einmal, Rekrut."
"Keine Ursache, Sir", erwiderte ich.
"Für heute kannst du nach hause gehen."
"Danke, Sir."
So endete ein weiterer Ausbildungstag.