Ein reicher Adliger wird tot aufgefunden. Ein alter Fluch, oder ein raffinierter Mord?
Dafür vergebene Note: 12
Die Villa, in der Lord Baskerville lebte, war ein altes, aber gut gepflegtes Gebäude außerhalb der Stadtmauern. Korrekterweise müsste man jedoch sagen "gelebt hatte", denn Sir Karl Baskerville war an diesem Morgen mit zerfetzter Kehle auf einer Straße aufgefunden worden, nur einen knappen Kilometer von eben dieser Villa entfernt. Und dies wiederum war der Grund, weshalb sich dem Gebäude jetzt zwei Gestalten in Wächteruniform näherten, begleitet von einem bärtigen, betroffen dreinblickenden Mittdreißiger.
"Standen Sie Ihrem Onkel sehr nah?", fragte der größere der beiden Wächter, ein verwegen aussehender Mann mit Augenklappe, gerade - in einem Tonfall, wie nur professionelle Püschologen ihn zustande bringen.
Der Bärtige sah ihn kurz an. "Ja", bestätigte er mit rauer Stimme. "Nach dem Tod meines Vaters hat er mich immer wie einen Sohn behandelt. Er..."
"Gibt es eigentlich noch andere Verwandte, die wir benachrichtigen sollten?", unterbrach der andere Wächter und wurde von seinem Kollegen für diese Taktlosigkeit mit einem zornigen Blick bedacht. Wie der Püschologe hatte auch dieser Wächter nur ein Auge, zog es jedoch vor, diesen Umstand durch ein Glasauge zu verschleiern, statt eine Augenklappe zu verwenden.
"Er hatte noch einen Sohn", entgegnete der Bärtige, "aber der hat vor Jahren jeden Kontakt mit ihm abgebrochen. Kurt hat mir immer vorgeworfen, dass ich ein
Erbschleicher sei und es nur auf Onkel Karls Vermögen abgesehen habe..."
Inzwischen war das Trio vor der Villa angekommen, und der Neffe des Toten zog mit zittrigen Händen einen Schlüssel aus der Tasche.
"Und was genau hoffen Sie, hier zu finden?", fragte er.
"Das ist schwer zu sagen, Sir Heinrich", entgegnete der kleinere Wächter. "Aber bis unsere Spurensicherer etwas anderes sagen, müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei dem Tod Ihres Onkels um einen Mord handelt, und nicht um die zufällige Attacke eines entlaufenen Tieres. Und wenn es Mord war, dann lässt sich in den Aufzeichnungen Ihres Onkels möglicherweise ein Motiv finden."
Heinrich nickte und steckte den Schlüssel ins Schloss. "Ich verstehe. Nun, ich bezweifle zwar, dass Onkel Karl irgend welche Geheimnisse vor mir hatte, aber wenn es Ihnen oh mein Gott."
Die Tür war aufgeschwungen und hatte den Blick auf ein großes Foyer voller Bilder und exotischer Jagdtrophäen freigegeben. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo wohl früher eine große Glastür in den Garten geführt hatte, klaffte ein von Glasscherben gesäumtes Loch.
Der größere Wächter drehte sich zu seinem Kollegen um. "Kolumbini, lauf zurück zum Tatort und sag Charlie und Silly Bescheid - sie sollen sofort hierher kommen, wenn sie dort fertig sind. Ich" - er warf einen Blick auf die vor ihnen zusammengesunkene Gestalt - "kümmere mich inzwischen um Sir Heinrich."
Etwas später waren die Spurensicherer Sillybos und Charlie Holm eingetroffen und untersuchten den Raum. Man brauchte nicht viel
Kunstverstand, um zu erkennen, dass der Inhalt des Foyers ein kleines Vermögen wert war: Wo sich keine Gemälde befanden, hingen Köpfe und andere Körperteile exotischer Tiere, oder mindestens ebenso exotische Waffen, an der Wand. An einer Wand lehnte eine Leiter, zu deren Füßen der über einen Meter lange Schwanz eines Mantikors lag, der zwischen zweien seiner Glieder einen Riss aufwies, aus dem Holzwolle quoll - offensichtlich war Lord Baskerville gerade dabei gewesen, ein paar der Trophäen auf Vordermann zu bringen.
Heinrich Baskerville saß unterdessen, ein Glas Wasser in der Hand, auf einem Stuhl und unterhielt sich mit Araghast Breguyar, dem Püschologen mit der Augenklappe, während Kolumbini sich Notizen machte.
"Dort stand sie", sagte Heinrich gerade und deutete mit der freien Hand auf ein leeres Podest in einer ziemlich schlecht ausgeleuchteten Ecke des Raumes.
"Und Sir Karls Vater hatte diese Katze also von einer Jagd im Wiewunderland mitgebracht?"
"Ja. Er war ein leidenschaftlicher Jäger. Alle Trophäen, die Sie hier sehen, stammen von ihm. Sehen Sie das Bild dort? Das ist Hugo Baskerville, Onkel Karls Vater, mit der Katze."
Araghast folgte mit seinem Blick dem Zeigefinger des Adligen. Das Gemälde, auf das dieser deutete, zeigte einen muskulösen Mann, der in heldenhafter Pose vor einem grünen Dschungelhintergrund stand und einen Speer wurfbereit hielt, während ihm ein großes, pechschwarzes, katzenartiges Raubtier entgegen sprang. Das Tier war im Profil zu sehen, und das eine Auge, das der Betrachter sehen konnte, strahlte die typische animalische Wildheit aus, wie dies eben nur ein
Katzenauge kann.
"In Wirklichkeit", fuhr Heinrich fort, "war es wohl eher eine Horde von angeheuerten Treibjägern, die das Tier erledigt hat - aber Tatsache ist, dass Hugo kurz darauf im Dschungel auf einen Eingeborenen traf, der ihm erzählte, dass diese Katze irgendsoein seltsamer Mondgott ihres Stammes gewesen sei und sich an ihm und seinen Nachkommen rächen werde." Heinrich lachte kurz auf. "Onkel Karl hat immer Witze darüber gemacht, wie glücklich ich sein müsste, dass wir nur mütterlicherseits verwandt sind, weil der Fluch mich so nicht treffen würde."
"Dann ist - war - Karl gar nicht Ihr echter Onkel?"
"Nein, mein Halbonkel. Hugo hat meine Großmutter geheiratet, als ihr Mann - also mein Großvater - gestorben war, und ihren Sohn - meinen späteren Vater - adoptiert."
Kolumbini machte sich eine weitere Notiz. "Also meinen Sie, dass diese Katze irgendwie zum Leben erwacht und durch die Glasscheibe gesprungen ist, um dann Ihren Onkel umzubringen?"
Heinrich antwortete nicht, sondern trank stumm einen weiteren Schluck aus seinem Wasserglas.
Charlie und Sillybos hatten das Gespräch mit einem Ohr
[1] verfolgt, während sie den Raum inspizierten.
"Glaubst du, an der Geschichte ist etwas dran?", fragte der Philosoph seinen Kollegen.
"Was meinst du?", erwiderte Charlie, während seine Pfeife stopfte. "Dass ein ausgestopftes Raubtier nach vierzig Jahren urplötzlich aus heiterem Himmel erwacht und den Nachkommen des Mannes tötet, der es umgebracht hat? Lächerlich!"
"Aber die Spuren deuten immerhin darauf hin - und du musst zugeben, dass wir schon weitaus seltsameres erlebt haben. Die Glasscheibe ist eindeutig von innen zerbrochen worden."
"Das stimmt, aber ich gehe bei meinen Schlussfolgerungen zunächst grundsätzlich davon aus, dass nichts Übernatürliches im Spiel war - denn sobald Zauberei in einem Fall eine Rolle spielt, kommt man mit Logik nicht mehr weiter."
Charlies Kollege und ehemaliger Ausbilder musterte diesen kritisch. "Du schließt also einfach von vornherein die Möglichkeit aus, dass es sich wirklich um den Fluch eines wiewunderländischen Katzengottes handelt? Und das nur, weil das den Fall für dich einfacher macht?"
"Nun, ich denke, in diesem Fall habe ich auch guten Grund dazu."
"Und wieso das?"
"Weil die Leiche keinen Schlüssel dabei hatte." Charlie zog einmal tief an seiner Pfeife und atmete den Rauch in Richtung seines Kollegen aus, der instinktiv die Luft anhielt. "Weil außerdem keinerlei Spuren an den Glasscherben zu finden sind - weder Haare, noch Blut, noch Holzwolle, oder was auch immer man bei einer zum Leben erwachten ausgestopften Katze erwarten würde - ebensowenig wie Fußabdrücke draußen im Garten. Und weil drittens..." Er gab Sillybos mit einer Geste zu verstehen, dass er ihm folgen möge, und ging zum Sockel, auf dem die Katze gestanden hatte.
"Hier, sieh dir das mal an." Mit der Pfeife in der Hand deutete er auf vier Löcher in der schon etwas wurmstichigen Mahagoniplatte, die die Oberfläche des Sockels bildete. "Venn du ein Katzengott wärst, der nach vierzig Jahren plötzlich erwacht und feststellt, dass man ihn ausgestopft und mit den Füßen auf einem Podest festgeschraubt hat, was würdest du dann tun?" Er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr gleich fort: "Du würdest dich wahrscheinlich mit Gewalt losreißen. Aber schau dir die Löcher im Sockel mal genauer an" - er drückte Sillybos sein Vergrößerungsglas in die Hand - "und du wirst feststellen, dass die Schraubgewinde alle noch intakt sind. Ich kann mir einfach keinen Katzengott vorstellen, der sich selbst mit einem Schraubenzieher befreit."
"Bist du wirklich sicher?", fragte Charlie nach.
"Natürlich bin ich sicher!", entgegnete Pismire ungehalten. "Sowohl die Kratzspuren als auch die Zahnabdrücke lassen keinen anderen Schluss zu."
Sie standen im Labor des Ex-Schamanen, wo dieser gerade die pathologische Untersuchung der Leiche von Karl Baskerville abgeschlossen hatte. Aus Rücksicht auf Besucher waren Lord Baskervilles sterbliche Überreste mit einem Tuch bedeckt.
"Und ein Werwolf?", versuchte Charlie es noch einmal. "Immerhin war letzte Nacht Vollmond..."
Pismire seufzte. "Hör zu, Charlie, ich könnte dir jetzt fünfzig Merkmale aufzählen, wie sich die Krallen eines Werwolfs von denen einer Katze unterscheiden, aber erspar uns beiden bitte die Mühe und glaub es mir einfach, ja? Lord Baskerville wurde von einer Katze getötet. Von einer ungewöhnlich großen zwar - wahrscheinlich eher eine Art Löwe oder Tiger - aber auf jeden Fall von einer Katze."
"Aber normale Katzen lassen sich kaum so dressieren, dass sie auf Kommando einen Menschen töten würden - und wenn ein Tiger oder ein Löwe hier losgelassen worden wäre, dann wäre das ziemlich sicher jemandem aufgefallen. Was hat das zu bedeuten?"
Der Pathologe zuckte mit den Achseln. "Lass das doch RUMs Sorge sein. Unser Job ist es, die Spuren zu erklären, nicht den Mord aufzuklären."
Charlie murmelte etwas Unverständliches und verließ, ohne zu salutieren, das Labor.
Da das Opfer ohne Schlüssel aufgefunden wurde, ist davon auszugehen, dass der Mörder ihm diesen abnahm, um sich Zugang zur Villa zu verschaffen, wo er anschließend die Scheibe der Glastür zerstörte und die Katze von ihrem Sockel entfernte. Angestellte befanden sich zu diesem Zeitpunkt keine im Haus, und offensichtlich wurden keine Gegenstände entwendet. Der Mord selbst geschah..."Ach, hier bist du!" Sillybos' Stimme ließ Charlie von seinen Notizen hochschrecken.
"Hallo Silly", entgegnete er. "Sag mal, gibt es eigentlich Werkatzen?"
Sillybos runzelte die Stirn. "Werkatzen? Habe ich noch nie etwas von gehört."
"Ich auch nicht." Charlie klappte sein Notizbuch zu und erhob sich von dem Kantinentisch, an dem er gesessen hatte.
"RUM sucht jetzt mit Hilfe von Anschlägen nach der Katze", teilte Sillybos ihm mit.
"Wie bitte? Was denn für Anschläge? 'Katze entlaufen - besondere Kennzeichen: Riesengroß, blutrünstig, Holzwolle im Bauch und zwei Glaskugeln als Augen', oder wie?" Charlie blickte seinen Kollegen ungläubig an.
"So ungefähr. Pismires Bericht war schließlich ziemlich eindeutig. Sie haben gesagt, dass sie natürlich auch noch anderen Spuren nachgehen, aber zumindest halten sie es durchaus für möglich, dass es die Katze war."
"Und irgend jemand da draußen lacht sich ins Fäustchen und glaubt, ein perfektes Verbrechen begangen zu haben", murmelte Charlie und schüttelte den Kopf.
Früh am nächsten Morgen fand Sillybos seinen Kollegen mit einer Tasse Kaffee, einem Marmeladenbrötchen und einem großen Stapel Akten wieder in der Kantine.
"Das sind die Vernehmungsprotokolle im Fall Baskerville", erklärte Charlie. "Ich habe sie mir ausgeliehen, um darin nach Spuren zu suchen - nach etwas, das RUM vielleicht bisher entgangen ist." Er steckte den Rest der Brötchenhälfte in den Mund und stocherte mit seinem Messer in dem Glas
Zartbittermarmelade, das vor ihm auf dem Tisch stand, um sich den letzten Rest auf die zweite Hälfte zu streichen. Mit vollem Mund fuhr er fort: "Baskerville hatte sich an dem Abend, an dem er umgebracht wurde, mit ein paar Freunden zum Abendessen und Kartenspielen getroffen. Er war auf dem Weg nach Hause, als die... wer oder was auch immer es war... ihn getötet hat. RUM hat mit dem Rest dieser Essensgemeinschaft gesprochen und auch einige Augen- oder, besser gesagt, Ohrenzeugen für die Ereignisse ausfindig gemacht." Der Spurensicherer schluckte den Rest der Brötchenhälfte herunter und schob seinem Kollegen einen aufgeschlagenen Ordner zu. "Hier, lies das mal. Ich habe die interessanten Stellen angestrichen."
"
Angestrichen? In einem offiziellen RUM-Protokoll?"
''Ja, wieso? Irgend jemand muss hier doch die Hinweise finden. Na los, lies!"
Seufzend nahm Sillybos den Ordner entgegen. ''
...Anwohner gab an, 'gegen zehn Uhr abends' einen Schrei gehört zu haben..." Sein Blick wanderte die Seite hinab zum nächsten markierten Abschnitt. "
...laut Aussage eines Nachbarn, der das Geräusch 'im Halbschlaf' vernommen haben will, wurde die Glastür um etwa zehn Uhr dreißig zerstört."
''Siehst du?", meinte Charlie. "Das ist doch der Beweis für meine Version, oder nicht?"
"Na ja, du weißt doch selbst, wie schwer es ist, in dieser Stadt zwei gleich gehende Uhren zu finden. Und wenn die Zeugen auch noch halb geschlafen haben... Aber wenn du Recht hast, wer war dann der Mörder?"
"Ich muss zugeben, dass ich in diesem Punkt noch zu keiner zufriedenstellenden Antwort gekommen bin", sagte Charlie. "Aber überlegen wir doch mal." Er lehnte sich zurück und stopfte seine Pfeife. "Erstens: Wer hätte ein Motiv?"
"Der Neffe", schlug Sillybos vor. "Er erbt Baskervilles gesamtes Vermögen."
Charlie schüttelte den Kopf. "Er hat einen Schlüssel zur Villa - aber der Täter hat Baskerville seinen Schlüssel gestohlen, um sich Zutritt zu verschaffen."
"Dann ist da natürlich noch Kurt, der verlorene Sohn", überlegte der Philosoph laut. "Vielleicht wollte er sich an seinem Vater dafür rächen, dass dieser ihn zugunsten von Heinrich enterbt hat."
Charlie nickte und entzündete die Pfeife an einem Streichholz.
"RUM versucht zur Zeit, den Sohn ausfindig zu machen", fuhr Sillybos fort. "Abgesehen von dem Motiv wäre er ja auch ein potenzielles weiteres Opfer, wenn an dem Fluch wirklich etwas dran ist. Bisher haben sie allerdings nur herausgefunden, dass er anscheinend nach Quirm gezogen ist. Kolumbini hat der Wache dort schon eine Semaphoren-Nachricht geschickt."
"Nach Quirm, ja? Das erinnert mich an etwas..."
Charlie nahm den Ordner wieder an sich und blätterte ihn durch, bis er auf ein dünnes, zwischen den Protokollen eingeheftetes Büchlein stieß.
"Was ist das?", fragte sein Kollege.
"Baskervilles Adressbuch", erklärte Charlie, während er es aus dem Ordner nahm. "Ich glaube, ich habe... der Beruf hatte mich... und jetzt, wo du..." Leise vor sich hin murmelnd, blätterte er das Büchlein durch, bis er an einer Stelle innehielt. "Ja, da ist es."
"Da ist was?"
"Erkläre ich dir später... ich muss weg!"
Mit diesen Worten sprang Charlie, das Adressbuch in der Hand, auf, und lief zur Tür.
"Aber in zwei Stunden ist bei RUM Fallbespre...", war alles, was Sillybos noch sagen konnte, bevor sein Kollege den Raum verlassen hatte.
Diese Fallbesprechung neigte sich bereits dem Ende zu, als Charlie mit dem Ruf "Ich hab' ihn!'' in den Besprechungsraum hereinplatzte.
Irina Lanfear, Abteilungsleiterin von RUM, musterte den Obergefreiten zornig. ''Was ist das für ein Benehmen, Obergefreiter? Und
wen hast du?"
"Stephan Stapelmann. Er hat eine Hundeschule bei den Tollen Schwestern. Die erste Adresse der feinen Herrschaften, wenn es darum geht, dem Schoßhündchen, das immer auf den Teppich kackt,
Gesellschaftsfähigkeit anzuerziehen." Triumphierend sah Charlie in die verständnislosen Gesichter. "Er ist der Mörder!", fügte er schließlich hinzu, als ihm klar wurde, dass er einen wesentlichen Punkt vergessen hatte.
"Komm rein, mach die Tür hinter dir zu, und setz dich", sagte Irina schroff. "Dir ist klar, dass du um elf Uhr hättest hier sein sollen, ja?"
"Ja, aber ich habe eine Spur verfolgt. Und ich habe den Mörder ermittelt", verteidigte sich Charlie.
"Du hast ermittelt, ja?" Die Abteilungsleiterin betrachtete ihren ehemaligen Rekruten. Irgendwie hatte sie es nicht geschafft, ihm Respekt vor höheren Dienstgraden - und vor allem vor
Vorschriften - beizubringen. "Und wer hat dich zum Ermittler ernannt?"
"Nun, äh, ich..." Charlie zögerte. "Wollt ihr denn gar nicht hören, was ich herausgefunden habe?"
"Nun gut, reden wir später darüber. Du meinst also, zu wissen, wer der Täter ist?"
"Genau. Dieser Hundetrainer ist Teil der Kartenspielrunde, mit der sich Baskerville regelmäßig trifft... äh... traf. Er hat in einer kleinen Tierschau in Quirm als
Welpendompteur gearbeitet, bis er schließlich beschlossen hat, sich in Ankh-Morpork selbstständig zu machen."
"Und was hat das mit unserem Fall zu tun?"
Charlie wandte sich an Pismire. "Du hast gesagt, den Gebiss- und Angriffsspuren nach zu urteilen, war es eine Katze, die Baskerville angegriffen hat. Könnte man einem Hund das Gebiss und die Krallen so zurecht feilen - oder mit entsprechenden Prothesen ergänzen - dass er die gleichen Spuren hinterlässt, wie es eine Katze täte?"
"Damit wäre es nicht getan", entgegnete der Gerichtsmediziner. "Man müsste dem Hund beibringen, wie eine Katze
anzugreifen - ihm also völlig andere Verhaltensmuster beibringen."
"Aber ein wirklich guter Trainer könnte das schaffen, oder?"
"Nun, es ist jedenfalls nicht auszuschließen", gab Pismire zu, "auch wenn ich von einem solchen Fall noch nie gehört habe."
Charlie wandte sich triumphierend an die Runde. "Gestern Vormittag, noch bevor Kolumbini mit ihm gesprochen hatte, hat Stapelmann einen seiner Hunde einäschern lassen. Ich habe mit dem Kremator der Bestattergilde gesprochen. Er sagte, Stapelmann habe angegeben, der Hund sei an Herzversagen gestorben."
"Interessant", gab Irina zu. "Du meinst also, er wollte seine Spuren verwischen?"
"Genau das. Laut RUM-Bericht hat Stapelmann die Kartenrunde eine halbe Stunde vor Baskerville verlassen - genug Zeit, um ihm mit dem Hund aufzulauern und ihn zu töten. Übrigens arbeitet er nicht nur als Trainer, sondern auch als Tierarzt. Ich habe mich bereits in seine Praxis geschlichen und mich umgesehen - er hat auf jeden Fall das notwendige Werkzeug, um eine solche Operation durchzuführen."
"Und hat dein
unautorisiertes Eindringen auch irgendwelche konkreten Beweise erbracht, oder hast du nur dein Bauchgefühl und ein paar Indizien, die niemals für eine Verurteilung ausreichen würden? Und vor allem: Wo ist das Motiv?"
"Ich vermute, dass Stapelmann im Auftrag des 'Verlorenen Sohns' Kurt gehandelt hat. Er kommt immerhin aus Quirm, wo Kurt angeblich zur Zeit lebt, und hat auch immer noch seinen Zweitwohnsitz dort."
"Als ich mich mit ihm unterhalten habe, hat er angegeben, Kurt nicht zu kennen", wandte Kolumbini ein.
"Ich weiß - aber kurz nach deinem Gespräch mit ihm ist er zum Nachrichtenturm gegangen und hat eine Nachricht postlagernd nach Quirm geschickt", sagte Charlie und sah triumphierend in die Runde. "Es ist mir gelungen, an eine Abschrift der Nachricht zu kommen." Er kramte in seiner Tasche und holte einen mit Bleistift schraffierten Zettel hervor, auf dem undeutlich einige hell hervorstehende Buchstaben zu erkennen waren.
"Sagt dir das Wort Postgeheimnis etwas, Obergefreiter?", fragte Irina ungläubig nach. "Oder gegen wie viele Vorschriften hast du noch verstoßen?"
Charlie ging nicht auf diese Frage ein, sondern reichte ihr den Zettel. "Ich denke, dies ist Beweis genug."
Der Leutnant sah auf den Zettel und las die erkennbaren Buchstaben vor, die eine im Telegrammstil abgehackte Nachricht ergaben: "K WACH HINT DIR HER. KARL GEST NACH GETÖT MAN SUCHT DICH. ST."
"Oder", erklärte Charlie, "'Kurt, Wache hinter dir her. Karl gestern nacht getötet. Man sucht Dich. Stephan.'"
Irina sah skeptisch auf das Blatt Papier. "Selbst wenn das tatsächlich eine Nachricht an Kurt Baskerville ist, kann man 'Karl gestern nacht getötet' auch als 'Karl ist gestern nacht getötet worden', statt als 'Habe Karl gestern nacht getötet' interpretieren. Aber auf jeden Fall ist das Grund genug, noch einmal mit Herrn Stapelmann zu sprechen. Was aber nicht heißen soll", fügte sie mit einem zornigen Seitenblick auf Charlie hinzu, "dass ich dein Verhalten gut heiße. Glaub nicht, dass das ohne Folgen bleiben wird!"
"Ja, ich kenne Kurt", gestand Stapelmann einige Zeit später im Verhörzimmer der Wache. "Um ehrlich zu sein, hat er mich, als ich nach Ankh-Morpork gezogen bin, gebeten, mich mit seinem Vater zu treffen und ein Auge auf die Ereignisse in der 'Heimat' zu haben."
"Und warum haben Sie mir das nicht gesagt, als wir uns das erste Mal unterhalten haben?", hakte Kolumbini nach.
Stapelmann rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. "Nun... Kurt ist in Quirm wegen einer anderen Sache mit dem Gesetz in Konflikt geraten und deshalb untergetaucht. Aus diesem Grund hatte ich zunächst instinktiv geleugnet, ihn zu kennen."
Der Ermittler notierte sich etwas auf einem Zettel. "Und wie erklären Sie Ihre Nachricht an ihn?"
"Ich wollte ihn warnen, dass die Katze seinen Vater umgebracht hat und jetzt hinter ihm her ist. Deswegen habe ich ihm geschrieben."
"Können Sie sich noch an den genauen Wortlaut Ihrer Nachricht erinnern?"
Der Hundetrainer dachte nach. "Ich glaube, es war so etwas wie 'Die Katze ist aufgewacht und hat Karl gestern nacht umgebracht - jetzt ist sie hinter dir her, und man sucht nach dir' - irgend etwas in der Art."
"Ihr lasst ihn
frei?", fragte Charlie ungläubig nach.
"Ich fürchte, außer einer Falschaussage können wir ihm schlicht und einfach nichts nachweisen", entgegnete Rina. "Seine Version der Nachricht ist mindestens so glaubwürdig wie deine - vor allem, wenn man bedenkt, dass der Angestellte des Nachrichtenturms sich wahrscheinlich bei der Wache gemeldet hätte, wenn Stephan wirklich etwas wie 'Die Wache ist hinter dir her' geschrieben hätte."
"Aber wenn..."
"Nichts 'aber', Obergefreiter. Überlass die Ermittlungen doch einfach RUM, ja?''
"Und was genau macht ihr jetzt?"
"Wir hoffen, dass die Kollegen in Quirm Kurt finden - und zwar, bevor es diese Katze tut."
"Nur, weil es keine wasserdichten Beweise gegen Stapelmann gibt, heißt das noch lange nicht, dass..."
"Weggetreten, Obergefreiter!"
Wortlos drehte Charlie sich um und marschierte aus dem Büro des Leutnants hinaus. Er hatte versagt; wer auch immer hinter dem Mord stand, würde Dank des Aberglauben seiner Kollegen wahrscheinlich nie gefasst werden.
***
Die streichelnde Liebkosung seines Vaters Licht-am-dunklen-Himmel weckte ihn aus seinem jahrelangen Schlaf. Man hatte ihn entführt, misshandelt und in eine Nische gestellt, in der der Blick seines Vaters ihn nicht erreichen konnte, aber jetzt war seine Zeit gekommen. Am Morgen dieses Tages war er von seinem Sockel gehoben und weiter in die Mitte des Raumes gelegt worden - und sein Vater hatte wieder einmal eine Schlacht in seinem ewigen Kampf gegen Kubu-ta-tuk, den Schwarzen Mondfresser, gewonnen und stand als perfekter Kreis am Himmel. Dunkle Wolken zogen vor seines Vaters Antliz vorbei, doch jedesmal, wenn sich eine Lücke auftat, spürte Jagt-lautlos-in-der-Nacht, wie das helle Licht der Nacht die Kraft in seinen Körper zurückkehren ließ. Er war weit von seiner Heimat und seinem Stamm entfernt, und er konnte aus weiter Ferne den Ruf seiner Blutsbrüder Fliegt-pfeilschnell-durch-die-Luft, des Sohnes der Sonne, und Kriecht-ungesehen-durchs-Gras, des Sohnes der Erde, hören. Aber bevor er zu ihnen zurückkehren konnte, musste er noch etwas erledigen.
Er blieb eine Weile regungslos liegen und genoss das Gefühl der Energie, die ihn durchfloss. Dann stand er auf, spannte seine neu entstandenen Muskeln und sprang mit einem gewaltigen Satz durch die durchsichtige Wand, die ihn von der Freiheit trennte. Scharfe Stücke dieser Wand bohrten sich in seine Flanken, doch er hatte seine Kraft zurück, und sie schafften es nicht, ihn zu verletzen.
Draußen war es - vom Licht seines Vaters abgesehen - dunkel, und Regen prasselte auf ihn herab. Doch er war eine Kreatur der Nacht und konnte sehen, als wäre es heller Tag. Und er konnte mehr als das: Er fühlte
. Er fühlte seinen Vater am Himmel, er fühlte seinen Stamm und seine Brüder daheim, und er fühlte zwei, die das Blut seines Mörders in sich trugen. Einer davon nah, einer weiter entfernt. Zuerst würde er sich des nahen annehmen...
Ohne eine Spur zu hinterlassen, huschte er zu der Mauer, die das Stück Land begrenzte, in dem er sich befand, und sprang anmutig hinauf und auf der anderen Seite wieder herab. Die Jagd hatte begonnen.
Sein Opfer war vom Alkohol berauscht - es sang ein Lied und spielte mit einem Metallring, an dem mehrere kleine, scheppernde Dinge befestigt waren. Dies war kein würdiges Opfer für ihn - aber er hatte seine Pflicht zu erfüllen.
Jagt-lautlos-in-der-Nacht sprang aus dem Schatten, in dem er sich verborgen hatte, und schoss auf das Opfer zu.
Dieses schrie auf, ließ das scheppernde Metallding fallen, das vom Regen in eine Abflussrinne und dann durch ein Loch in den Untergrund gespült wurde. Sein Opfer drehte sich um und versuchte, zu fliehen, doch schon sprang Jagt-lautlos-in-der-Nacht es an und warf es zu Boden. Mit einem Biss war alles vorbei.
Einem Schatten gleich huschte die Gestalt, ohne von einem menschlichen Auge gesehen zu werden, durch die Dunkelheit davon, seiner Heimat und seinem Volk entgegen. Noch einen weiteren Menschen, einen zweiten Nachkommen seines Mörders, musste er unterwegs aufsuchen - dann würde der Gerechtigkeit Genüge getan worden sein.ENDE
[1] mit
jeweils einem Ohr, also insgesamt mit zwei Ohren
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