Und ewig schleichen die Erben

Bisher hat keiner bewertet.

von Leutnant Irina Lanfear (RUM)
Online seit 01. 04. 2004
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Was macht eine Abteilungsleiterin, wenn sie nicht gerade von ihrer Mutter vereinnahmt wird? Sie schlägt sich mit einem Fall herum, den niemand in ihrer Abteilung haben will. Eigentlich seltsam, geht es doch um Mord, Hochstapler und ein wahrhaft künstlerisches Erbe...

Dafür vergebene Note: 12

Ein Wecker klingelte. Natürlich war es nicht zufällig irgendein Wecker, sondern der sündhaft teure Weckdämon von Leutnant Irina Lanfear, der noch dazu mit fast schon unangenehmer Lautstärke darauf hinwies, dass der Dienst der Wächterin vor zwanzig Minuten begonnen hatte.
"Oh verdammt!", noch während Rina die Augen aufschlug, kletterte die RUM-Abteilungsleiterin ziemlich unelegant aus ihrem Bett, wankte zu ihrem Kleiderschrank und griff wahllos nach der erstbesten Uniform. Noch immer gähnend schlüpfte die Wächterin in die Hose aus reißfestem, schwarzem Tuch und zog mit einer Hand das obligatorische weinrote Hemd an, während sie mit der anderen Hand versuchte, gleichzeitig ihr Nachthemd auszuziehen. Solch eine Aktion konnte natürlich nur schief gehen, wodurch Rina kurzzeitig ihr Nachthemd irgendwie um ihren Kopf verknotet hatte und ausgiebig fluchte.

Vier Sumpfdrachenaugen spähten neugierig aus einer großen Pappkiste, die auf einer Metallplatte in der hinteren rechten Ecke von Rinas Schlafzimmer stand. Ein leises Rülpsen war zu hören, das von einer kurzen Stichflamme begleitet wurde, die ein weiteres Eck des ohnehin schon angesengten Kartons verbrannte.

"Jaaa, ich weiß, ein neuer Karton wäre auch mal wieder fällig..", fluchend hatte die Wächterin es inzwischen geschafft, ihr Hemd anzuziehen und kämmte fahrig ihr schwarzes, langes Haar, bevor sie es mit einem geübten Handgriff hochsteckte. Ein abschließender Blick in den Spiegel überzeugte sie davon, dass sie halbwegs diensttauglich aussah. Rasch befestigte sie noch die Dienstmarke an ihrem Hemd, warf den langen, schwarzen Mantel über, den sie schon aus Gewohnheit fast immer [1] dabeihatte und stürmte aus ihrem Zimmer. Im Vorraum hielt sich der Leutnant nicht damit auf, die Treppe hinunterzusteigen, sondern hechtete über die Brüstung und landetet kurz darauf wieder einmal vor einem panisch zurückweichenden Butler.

"Morgen Arthur, richte meiner Mutter aus, dass ich wieder mal nicht zum Frühstück erscheinen werde. Ja?"
Ein lautes "IRINAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA" ertönte.
"Das wird Madam aber ganz und gar nicht gefallen."
"Mir egal, der Wache gefällt es auch nicht, wenn ich zu spät zum Dienst erscheine.", mit diesen Worten setzte sich der Leutnant wieder in Bewegung und schritt eilig auf die Eingangstüre zu.
"Wenn du nicht sofort stehen bleibst, junge Dame, enterbe ich dich!"
DAS hatte gesessen. Rina drehte sich schuldbewusst um, sah ihren Mutter mit zornig funkelnden Augen in der Wohnzimmertüre stehen und antwortete: "Guten Morgen, Mama. Hab dich gar nicht gehört. Was gibt’s denn, ich bin spät dran."
"Von wegen nicht gehört. Du wirst gefälligst zumindest ein Brot mit etwas Zartbittermarmelade essen! Schließlich kannst du nicht ohne irgendetwas im Magen arbeiten gehen. Ich verstehe sowieso nicht, warum du das mir und deinem Vater zumutest. Eine Tochter, die ARBEITEN geht. Such dir doch endlich einen reichen Mann, heirate ihn, bekomme ein paar Kinder, damit ich allen unsere Enkel zeigen kann und verlege dich auf das Feste organisieren. Das ist es, wozu eine Lanfear geboren wurde."
Rina knirschte mit den Zähnen. Sie wusste, wenn sie jetzt widersprach, würde sie wohl einen längeren Streit mit ihrer Mutter riskieren, der sie noch später kommen lassen würde. Also zuckte sie resignierend mit ihren imaginären Achseln, trottete in das Frühstückszimmer und benutzte die Zauberworte: "Ja, Mama."


*Eine halbe Stunde und zwei Brote mit Zartbittermarmelade sowie eine Tasse Tee später*

Ergeben nickte Rina. Sie hatte eben wieder einen Vortrag über die Pflicht der weiblichen Lanfears, gute Ehefrauen und Mütter zu sein, über sich ergehen lassen und hoffte, dass ihre Mutter ihre Ausführungen bald beendete.
"Und deswegen ist es dringend notwenig, dass du endlich einen guten Mann bekommst, der dir diese Flausen mit dem Wächtersein austreibt. Du solltest endlich wieder etwas Gesellschaftsfähigkeit an den Tag legen, sag ich dir das nicht dauernd? Den Göttern sei Dank, bist du ja zumindest LEUTNANT, wäre ja noch schöner, wenn du die Unteroffizierslaufbahn eingeschlagen hättest. Wann wirst du eigentlich wieder befördert? Du arbeitest so viel, dass die sicher bald ins Haus stehen müsste und ich muss deswegen doch ein großes Fest ausrichten."
"Keine Ahnung, Mama..."
"Ich verstehe sowieso nicht, warum dich dieser Kommandeur ausgerechnet der Abteilung Raub und Mord zugeteilt hat. Viel zu gefährlich, auch wenn du dort nur für die Aktenarbeit zuständig bist. Wer weiß, welcher Verrückter da irgendwann mal hereinspaziert.."
"Ja Mama...", Rina seufzte strategisch gut positioniert und grinste innerlich. Zumindest hatte ihre Mutter nie erfahren, dass das "Aktensortieren" zum Teil aus Befragungen potentiell gefährlicher Verdächtiger bestand. Gut, der Ausrutscher mit Sir Corwin [2] war bis ans Ohr ihrer Mutter gedrungen, aber dieser Fall war schon lange her...
Lange her.. VERDAMMT! Ihr Dienst hatte schon vor über einer Stunde begonnen
Aufgeregt sprang Rina auf.
"Ähh Mama, war ja nett, mit dir zu frühstücken, aber du weißt ja, die ähh.. Akten laufen mir davon.. ich äh.. sollte arbeiten."
"Jaja, geh nur und lass deine arme alte Mutter hier alleine weiter frühstücken."
"Warum denn alleine, Papa sitzt doch auch da..", die Wächterin wies auf einen auseinandergefalteten Ankh Morpork Kurier, der das Gesicht ihrer Vaters komplett verbarg.
"Außerdem bist du nicht alt und arm ist sowieso eine Defintionssache..", als sich das Gesicht ihrer Mutter krebsrot verfärbte, wich Rina rasch einige Schritte zurück durch die Wohnzimmertür, drehte sich dann am Absatz um und rannte los, während hinter ihr ein "IRIIIIIIIIIINNNNAAAA!" ertönte.


"Pseudopolisplatz, fünfzehn Minuten später*

"Mäm! Schön, dass sie endlich da sind", Dragors Hand fuhr automatisch hoch und der LK salutierte.
"Morgen Dragor, tu bitte die Hand herunter. Gibt es irgendetwas neues?", keuchend ließ sich Rina auf ihren Bürostuhl fallen und atmete tief ein und aus.
"Ja Mäm, ein Mordfall, der ihre Anwesenheit erfordert."
"Meine? Kannst du das nicht erledigen?", die Wächterin seufzte und zog die Augenbrauen hoch
"Nein Mäm. Dieser Fall ist etwas komplizierter."
"Gut, um was geht es?"
"Ein gewisser Enrique Theobaldi wurde gestern ermordet."
Rina stutzte.
"Was ist denn daran besonders?"
"Nun ja, Herr Theobaldi war der einzige, der den Erbstreit Gutenberg hätte schlichten können. Aber das sehen sie sich besser selbst an, Mäm."
"Na ja, wenns denn unbedingt sein muss. Gib mir mal die Akte, Dragor."

Minuten lautlosen Blätterns folgten, in denen der Lance Korporal nervös herumstand und auf das Urteil seiner Chefin wartete. Endlich erhob Leutnant Lanfear den Blick, und runzelte die Stirn.
"Lass mich das mal rekapitulieren. Lord Alfonso von Gutenberg ist vor inzwischen rund einem Monat verstorben. Wenn ich das recht sehe, wurde in seinem Testament verfügt, dass sein einziger Verwandter, ein gewisser Ernest Gutenberg, sein Cousin oder so..."
"Sein Neffe, Mäm.", warf Dragor schüchtern ein.
"Oh ja, stimmt, sein Neffe. Also, es wurde verfügt, dass sein Neffe, mit dem er schon seit Jahren kein Wort mehr gesprochen hat, der aber immerhin der letzte lebende Verwandte ist, die umfangreiche Bildersammlung erbt. Natürlich war in diesem Testament auch angegeben, wo man den Neffen findet. Wäre ja sonst auch etwas problematisch.."
Dragor nickte.
"Nur dummerweise ist ein paar Tage, nachdem der erste Neffe aufgetaucht ist, ein zweiter aufgetaucht, der behauptet hat, er wäre der echte Neffe und der andere ein Hochstapler. Beide haben absolut echt aussehende Dokumente, die sie als Ernest Gutenberg ausweisen und sehen sich auch noch verdammt ähnlich.."
"Korrekt, Mäm."
"Damit kommt Enrique Theobaldi ins Spiel. Enrique ist.. oder sagen wir lieber.. war ein enger Freund des verstorbenen Lord Alfonso. In der Akte steht, dass sie Blutsbrüder oder sowas sind. Ich persönlich halte ja nichts von dem Quatsch, sich bei Kerzenlicht oder so die ewige Freundschaft zu schwören, aber wenn die zwei Herren meinen..."
Dragor räusperte sich dezent.
"Entschuldige, Dragor. Na jedenfalls, kannte Herr Theobaldi den verschwundenen Neffen und hätte ihn identifizieren können. Soweit ich das sehe, saß er gerade in seiner Kutsche Richtung Gutenbergsches Anwesen, als er zufällig plötzlich einer Vergiftung erlag. Verdächtig ist natürlich in erster Linie der falsche Neffe und jetzt darf RUM ermitteln."
"Genau so ist es, Mäm."
Rina seufzte.
"Hab ich schon gesagt, dass ich solche Fälle liebe?"
"Mehrmals, Mäm."
Ein Augenverdrehen deutete Dragor an, dass er hiermit entlassen war und sich der Leutnant höchstpersönlich dem Fall annehmen würde. Nachdem der stellvertretende Abteilungsleiter gegangen war, herrschte kurze Stille. Dann stand Leutant Lanfear auf, warf noch einen letzten Blick auf die Akte und steckte ihre Notizblock ein. Das war garantiert nicht ihr Tag


*Büro der Gerichtsmedizin, SUSI*

*Poch*
Leise klopfte es an der Tür zum Büro. Oberleutnant Pismire blickte von dem vor ihm liegenden Obduktionsbericht auf, stellte die Tasse mit Kräutertee beiseite und rief: "Herein?"
Rina schob die Tür etwas weiter auf und trat ins Innere des kleinen Büros, dem irgendwie der Duft des Obduktionssaales anhaftete.
"Hallo, Pismire. Ich hab mich mehr oder weniger selbst mit den Ermittlungen im Fall Theobaldi beauftragt und wollte mal nachsehen, wies dem Obduktionsbericht geht."
Der Schamane seufzte.
"Grade eben fertig geworden. Es gab da ein paar kleine Komplikationen, weil das Spurensichererteam deGarde/Drachenflug auf den Fall angesetzt wurde. Bei den beiden fühle ich mich immer wie ein Welpendompteur, der gleichzeitig zehn junge Hunde beaufsichtigen muss. Irgendwo bricht immer Chaos aus."
Rina lachte.
"Kann ich verstehen, ich hatte ja beide selbst einmal bei mir in der Abteilung. Warum man es zugelassen hat, dass ausgerechnet diese beiden ein Thiem bilden, ist mir bis heute nicht klar."
"Tja, Schicksal oder so. Also, du wolltest Informationen zum Fall Theobaldi? Sieht ja recht eindeutig aus..."
"EINDEUTIG?", Rina war verwundert.
"Ja, hat dir dein zuständiger Ermittler nicht mitgeteilt, dass das Dienstpersonal den Mörder identifizieren kann?"
"Irgendwie haben sie das wohl verpasst."
Pismire nickte nachdenklich und kramte in seinen Unterlagen. Nach kurzer Zeit zog er mit einem triumphierenden "HAH!" ein etwas zerknittertes Blatt hervor und reichte es der Ermittlerin.


Ermittlungsbericht von Hauptgefreiter Schwertschleifer:

Das Dienstpersonal hat ausgesagt, dass zur Frühstückszeit (zwischen 7 und 9 Uhr) ein großer, dunkelhaariger Mann, der eine von diesen neumodischen Sonnenbrillen trug, bei Herrn Theobaldi vorsprach. Es dürfte sich ein Streit entwickelt haben, der Butler sprach in diesem Zusammenhang von immer lauter werdenden Stimmen, die sich anbrüllten. Nach kurzer Zeit verließ der dunkelhaarige Mann das Haus wieder, während Herr Theobaldi mit hochrotem Kopf frühstückte und etwas von einer Unverschämtheit murmelte. Später bestieg das spätere Opfer die Kutsche, in der er während seiner Fahrt zum Anwesen der Gutenbergs verstarb.

Gez: Myra Schwertschleifer


Rina seufzte.
"Naja, eindeutig? Wie ich mein Glück kenne, sind beide Gutenbergerben groß und dunkelhaarig und somit sowieso potentiell verdächtig. Woran ist Theobaldi jetzt eigentlich gestorben?"
"An einem langsamwirkenden Gift. Es war in keiner der Frühstückszutaten, also ist anzunehmen, dass er es vor oder während dem Streit zu sich genommen hat. Nachher ist unmöglich, dazu ist die Zeitspanne einfach zu kurz. Wir haben einen winzigen Einstich an seiner Hand gefunden, gut möglich, dass darüber das Gift in seinen Körper gelangte."
"Traumhaft.", der Leutnant seufzte. "Danke auf jeden fall für den Obduktionsbericht."
"Kein Problem.", der Schamane vertiefte sich wieder in seine Berichte, während Rina leise das Büro verließ und die Tür hinter sich schloss.


*Anwesen der Gutenbergs, Holunderblütenweg 23*

"Warum bin ich eigentlich so blöd und übernehme die Fälle, die mit ARBEIT zu tun haben?", fluchend stapfte Leutnant Irina Lanfear auf das Anwesen der Familie Gutenberg zu und nahm sich vor, in Zukunft solche Fälle an ihre Mitarbeiter zu delegieren. Sie hatte sich dafür entschieden, zuerst die beiden Erben anzusehen, die laut einer Zusatzklausel des Testaments im Haus wohnen bleiben mussten, wenn sie ihr Erbe nicht verlieren wollten und erst später zu entscheiden, ob sie auch noch am Haus der Theobaldis vorbeimusste, um das Personal genauer zu befragen.

Gelangweilt schweifte Rinas Blick über die prächtige Außenfassade, die opulent mit diversen Stuckarbeiten verziert war.
"So was protziges...", seufzend trat die Wächterin näher, ignorierte den akkurat geschnitten Vorgarten geflissentlich und betätigte den großen schweren Türklopfer, der die Form eines Löwenkopfes hatte.
Das Klopfgeräusch hallte laut durch die Hallen des weitläufigen Anwesens und schreckte den Butler hoch, der sich gemessenen Schrittes der Tür näherte und diese vorsichtig öffnete.
"Jaa, sie wünschen?"
Rina seufzte. Irgendwie war ihr dieser offizielle Teil nie gelegen, aber da musste sie durch.
"Leutnant Irina Lanfear, Stadtwache Ankh Morpork. Ich bin hier wegen des, nun ja doch unerwarteten, Todes von Herrn Enrique Theobaldi und den Neffen von Herrn Gutenberg."
Der Butler zog eine Augenbraue hoch, sah die Wächterin seltsam an und erklärte dann: "Bitte treten se doch ein, ich werde den Herrschaften mitteilen, dass sie sie im Salon erwarten."
Rina neigte leicht den Kopf, trat ein und holte tief Luft, als sie die Gemälde im Vorraum erblickte. Der alte Herr Gutenberg musste eine Menge Kunstverstand besessen haben, denn alleine die beiden Ölgemälde, die hier hingen, waren mehrere tausende Ankh Morpork Dollar wert.
"Ähm, sind das nicht..."
"Echte Paul Pocassis. Sie haben recht, Mädäm. Wie ich sehe, kennen sie sich mit Kunstwerken aus?", der Butler gestattet sich ein leichtes Lächeln.
"Nun ja, sagen wir es so, ich hab eine ganz gute Allgemeinbildung. Haben sie keine Angst, dass die Gemälde gestohlen werden könnten?"
"Es ist leider bereits hier eingebrochen worden, vor etwa einem halben Jahr. Der Täter hat zwei Gemälde von Vince, dem Koch [3] gestohlen, sowie ein paar persönliche Notizen meines verstorbenen Herren. Seitdem haben wir hier einen teuren Alarmdämonen, der in der Nacht aktiviert wird."
"Ah ja..", Rina nickte wissend und nahm sich vor, bei Gelegenheit einmal herauszufinden, wie sicher diese Alarmdämonen waren.
Nachdenklich folgte sie dem Butler in den Salon, indem zwei riesige Gemälde von Dreiwasser [4] hingen. Während Rina die Ausstattung des Salons bewunderte, große komfortable Sessel luden zum Verweilen ein, an den Wänden hingen außer besagten Gemälden auch noch riesige Wandteppiche und der Boden war ebenfalls mit einem flauschig weichen Teppich ausgelegt, verschwand der Butler auf leisen Sohlen.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis sich die Türe des Salons erneut öffnete und zwei dunkelhaarige, in etwa gleich große Männer den Raum betraten.
"Ah, die Dame von der Stadtwache. Darf ich mich vorstellen, ich bin..", einer der beiden Männer trat vor und griff nach Rinas Hand, doch der andere war eine Spur schneller.
"Ernest Gutenberg ist mein Name, Madam."
"ICH bin Ernest Gutenberg!", empörte sich der erste.
"Meine Herren!", Rina versuchte den Streit zu schlichten. "Da ich selbst mich derzeit nicht in der Lage sehe, zu sagen, wer von ihnen der echte Alleinerbe ist.."
Beide Männer öffneten den Mund, um einen lautstarken Protest anzubringen, doch Rina fuhr mit strahlendem Lächeln fort: "Werden sie es mir hoffentlich gestatten, sie beide mit Herr Gutenberg anzureden. Zumindest bis die ganze Sache geklärt ist."
Die Münder schlossen sich wieder und Unsicherheit schien sich breit zu machen.
Rina wandte sich an den ersten Herrn, der blaue Augen und ein kantiges Kinn hatte.
"Wenn ich das richtig verstanden habe, müssen sie beide in diesem Haus wohnen, wenn sie das Erbe in Anspruch nehmen wollen?"
Der Angesprochene nickte.
"Mein Onkel hat verfügt, dass ich in diesem Haus wohnen und es erhalten muss. Dafür erbe ich diese großartige Sammlung von Bildern."
"Das ist eine infame Lüge.."
"Ganz ruhig Herr Gutenberg.", Rina wandte sich an den anderen Erben, dessen Augenfarbe etwas mehr ins graue ging, und dessen ganze Haltung etwas weicher zu sein schien, als die strenge Haltung des anderen Mannes. Bei sich dachte die Wächterin, dass sich beide wirklich verdammt ähnlich sahen und es vermutlich sogar Herrn Theobaldi schwer gefallen wäre, den falschen vom echten zu unterscheiden.
"Dieser .. dieser Erbschleicher!", ereiferte sich der Mann. "ICH war zuerst da und ICH bin der rechtmäßige Erbe dieses kleinen Vermögens.."
"Das halte ich für ein Gerücht...!"
"Meine Herren, BITTE!", Rina wurde diese ganze Streiterei leid.
"Da es scheinbar nicht möglich ist, sie beide zu befragen, bitte ich einen von ihnen, sich aus dem Salon zu begeben."
"Aber..", begann der grauäugige Herr Gutenberg.
Rina verdrehte die Augen.
"Nun ja, wie heißt es wohl so schön? Der Klügere gibt nach. Ich werde draußen warten.", der Mann mit den blauen Augen und dem kantigen Kinn lächelte die Wächterin an und verließ den Raum.
Leutnant Lanfear atmete tief durch, wandte sich an den verbleibenden Erben und betrachtete diesen kurz. Wie sie vorher schon bemerkt hatte, waren die Augen des potentiellen Verdächtigen leicht grau. Das weiche, etwas schwammige Gesicht verriet durch ein paar Zornesfalten auf der Stirn deutliche Empörung. Rinas Blick glitt weiter über die Statur des Mannes und notierte geistig, dass jener eine Spur beleibter war und eine dunkelgraue Hose sowie einen dezente, dunkelblaue Hausjacke trug.
"So, Herr Gutenberg, erzählen sie mir bitte, was sich ihrer Meinung nach zugetragen hat."
"Aber bitten, nennen sie mich doch Ernest. Tja, es fing alles damit an, dass mich ein Anwalt in meiner Wohnung in der Heiterkeitsstrasse aufsuchte. Er teilte mir mit, dass mein lieber Onkel, Alfonso, einer Herzkrankheit erlegen sei und ich der alleinige Erbe dieses prachtvollen Baus wäre. Sie können meine Trauer sicher nachvollziehen, als ich hörte, dass Onkel Alfonso gestorben ist.."
"Natürlich, Herr Ernest.", Rina verdrehte innerlich die Augen. Soviel Schleimerei hatte sie schon lange nicht mehr ertragen müssen.
"Und dann kam zwei Tage später dieser Hochstapler hier an und behauptete, ER wäre der Alleinerbe. Können sie sich meine Wut vorstellen? "
"Sicherlich, Herr Ernest. Wussten sie, dass Enrique Theobldi auf dem Weg hierher war, um den echten Erben zu identifizieren?"
"Natürlich, der Anwalt, ein Herr Recht oder so, hat mir und diesem Erbschleicher davon berichtet."
"Gut, dürfte ich dann fragen, wo sie..", Rina warf einen kurzen Blick in ihren Notizblock, "Zwischen sechs und zehn Uhr gestern Vormittag waren?"
"Sie wollen mir doch nicht etwa unterstellen.."
"Nur Routinefragen, Herr Ernest." Es war besser, den Verdächtigen nicht sofort wissen zu lassen, dass er verdächtig war. Hatte Rina zumindest ihr ehemaliger Ausbilder VidG Schmiedehammer beigebracht, auch wenn der Zwerg nicht gerade für seine Subtilität bekannt gewesen war.
"Nun, im Bett, wie jeder vernünftige Mensch."
Rina nickte. So etwas hatte sie erwartet.
"Ich danke ihnen für ihre Antworten. Ich werde mich jetzt mit dem anderen Herrn unterhalten. Haben sie etwas dagegen, wenn ich nachher die Papiere ihres Onkels durchsehe? Vielleicht finde ich ja etwas, das mir hilft, diese Geschichte schnell zu einem Ende zu bringen."
"Natürlich. Wovor sollte ich auch Angst haben? Schließlich bin ICH der echte Ernest Gutenberg.", Misstrauen blitzte in den grauen Augen auf.
"Tja, wir werden sehen. Wenn sie mir nun den anderen Herren hereinschicken könnten?"

Es dauerte knapp eine Minute, bevor Herr "Ernest" den Raum verlassen und Herr "Gutenberg" eingetreten war.
"Guten Tag, Fräulein...", der Mann griff nach Rinas Hand und führte sie zu seinem Mund.
"Lanfear. Irina Lanfear. Und sie sind also der andere Herr Gutenberg?", aufmerksam musterte Rina den Mann. Seine blauen Augen wirkten einen Moment lang belustig, als er zu überlegen schien und dann antwortete: "Ich bin der erste und einzige Ernest Gutenberg."
"Tja, Herr Gutenberg, dummerweise behauptet das der andere Mann auch von sich selbst. Darf ich sie fragen, wie sie überhaupt davon erfuhren, dass ihr Onkel verstorben ist? Sie sind ja sozusagen wie aus dem Nichts aufgetaucht.", die Wächterin behielt den Mann weiterhin unauffällig im Blick. Der zweite Verdächtige war nach der neuesten Mode gekleidet und trug zu der dunkelgrauen Hose ein feines, gutgeschnittenes Hemd. Seine strenge Haltung deutete darauf hin, dass er sich fast nie gehen ließ.
"Nun, ich war gerade wegen ein paar Geschäften in Qirm, als mich über die Nachrichtentürme eine Nachricht erreichte. Ein sehr guter Freund von mir wies mich darauf hin, dass mein Onkel, Alfonso Gutenberg, verstorben ist."
"Was sie natürlich sehr mitnahm.", fügte Rina hinzu.
Blaue Augen musterten sie.
"Nicht wirklich, mein Onkel und ich konnten uns nie leiden. Wir hatten schon jahrelang keinen Kontakt mehr miteinander. Er kam mit meinem Lebensstil nicht klar und ich nicht mit seinem. Ich war etwas enttäuscht, das wir es nicht geschafft haben, unsere Differenzen aus dem Weg zu räumen, aber wirklich traurig war ich nicht."
"Soso. Wie erklären sie es sich, dass der erste Erbe ausgerechnet in der Wohnung auftauchte, die im Testament als derzeitige Residenz des Erbens angebeben war?"
"Darf ich sie darauf hinweisen, dass es meine Wohnung ist?"
"Wie bitte?", Rina stutzte.
"Nun, ich habe meine Wohnung, da ich mich das halbe letzte Jahr im Ausland aufgehalten habe, vermietet. Ich habe mich damals gewundert, warum mir der Untermieter so ähnlich sieht, mir aber nichts weiter dabei gedacht. Dass er sich natürlich jetzt als ICH ausgeben würde, habe ich nicht ahnen können."
"Ah jaaaaa..."
"Ich gebe zu, es klingt etwas unwahrscheinlich, aber genau so hat es sich zugetragen."
"Und natürlich gibt es niemanden, der das bezeugen kann."
"Nun ja, es gibt einen Kaufvertrag für die Wohnung, der von mir unterzeichnet wurde, aber wie ich gesehen habe, kann dieser Hochstapler meine Handschrift nachahmen..", der Mann zuckte mit den Achseln.
Rina seufzte.
"Dürfte ich erfahren, wo sie gestern zwischen sechs und zehn Uhr waren?"
"Natürlich dürfen sie. Ich war, wie jeden Morgen, etwas für meine Fitness tun. Ich bin im nahe gelegenen Hydepark Laufen gewesen. Jocking oder so heißt das neuerdings."
"Ich verstehe. Haben sie etwas dagegen, wenn ich mir die Papiere ihres verstorbenen Onkels durchsehe? Vielleicht entdecke ich dort einen Anhaltspunkt."
"Ich habe kein Problem damit. Schließlich habe ich nichts zu verbergen."
"Dann danke ich für ihre Ehrlichkeit.", Rina drückte die Hand des Mannes und läutete dann nach dem Butler.


*Mehrere Stunden später*

Seufzend blickte Leutnant Lanfear von dem Papierberg auf, den sie im Arbeitszimmer des verstorbenen Sir Auguste gefunden hatte. Sie wusste nicht so recht, wonach sie gesucht hatte, aber irgendwie hatte sie es scheinbar übersehen oder gar nicht erst gefunden. Das einzige, das ihr in die Hände gefallen war, war die ausgestellte Kopie einer Diebstahlsanzeige, die die Wache vor rund einem Jahr aufgenommen hatte.
Fluchend suchte sie Wächterin weiter und fragte sich, was in ihrem Hinterkopf so beharrlich schrillte. Was genau wollte sie eigentlich finden? Irgendwelche Tagebücher, Hinweise, private Notizen.. Da war diese beständige Glocke schon wieder. Irgendeine Information versuchte, sich Zutritt zu ihren Gedanken zu verschaffen.
Rina schloss die Augen und ließ den Tag revue passieren.
Dragor, der ihr den Auftrag übergab, Pismire, der sie mit den nötigen Informationen versorgte, die beiden Herren Gutenbergs.... der BUTLER!
Es ist leider bereits einmal hier eingebrochen worden, vor in etwa einem halben Jahr. Der Täter hat zwei Gemälde von Vince, dem Koch gestohlen, sowie ein paar persönliche Notizen meines verstorbenen Herren.
DA lag der Schlüssel. Persönliche Notizen. Hastig blätterte die Wächterin zurück zu der Diebstahlsanzeige der Stadtwache und las diese aufmerksam durch. Ein leises Pfeifen entfuhr ihren Lippen. Es stimmte, es waren tatsächlich einige sehr private Aufzeichnungen gestohlen worden, aber was fast noch wichtiger war, unter den Aufzeichnungen hatte sich auch eine Kopie des Testaments befunden. Irgendjemand hatte gewusst, dass der einzig verbleibende Gutenberg alles erben würde. Grinsend lehnte sich Rina zurück. Jetzt musste sie nur mehr den Dieb finden und dafür hatte sie garantiert den richtigen Mann bei der Hand.


*Später am Tag - Büro des stellvertretenden Abteilungsleiters, Abteilung RUM*

"Ich soll was? Äh.. Mäm?", Dragor schluckte.
"Rausfinden, wer zwei Bilder von Vince, dem Koch, am Schwarzmarkt angeboten hat. Ich will den Dieb bis morgen früh in meinem Büro."
"Ja, Mäm!", Dragor salutierte. Wie sollte er DAS nur anstellen?
Rina hingegen lehnte sich zurück. Endlich einmal Arbeit, die SIE nicht zu erledigen hatte. Wobei, wenn sie sich in ihrem Büro so umsah... Fluchend stand die Wächterin auf und begann ein paar Akten zu sortieren. Zumindest einen Trampelpfad brauchte man, um ihren Schreibtisch zu erreichen.


*Nächster Tag, Morgens, Büro Lt. Lanfear*

"Guten Morgen, Mäm!", freudestrahlend polterte Dragor am nächsten Morgen ins Rinas Büro und salutierte. Die Wächterin, die den halben Abend Akten sortiert hatte und irgendwann müde beschlossen hatte, gleich in ihrem Büro zu schlafen, schreckte hoch und fiel fast von ihrem doch sehr bequemen Schreibtischstuhl, als sie so unsanft geweckt wurde.
"Wa-was?"
Dann schien sie sich zu besinnen, wo sie war, setzte sich aufrecht hin und versuchte möglichst munter dreinzuschauen.
"Morgen, Dargor. Na, wie geht’s der Arbeit?"
"Danke, gut, Mäm! Ich hab den gesuchten Mann gefunden!"
Rina sah ihren Mitarbeiter erstaunt an.
"Das ging ja schnell. Wo ist er denn?"
Dragor strahlte. "Bringt ihn ein!"
Romulus und Mefarina traten ein. Zwischen ihnen befand sich ein kleiner, unscheinbarer Mann, der zitterte.
Leutnant Lanfear grinste.
"Ah ja, unser gesuchter Dieb. Ich machs kurz, ich hab keine Lust, sie an die Diebesgilde auszuliefern, wenn ich im Gegenzug ein paar Informationen bekomme."
Der Mann schien sich langsam zu beruhigen. Ein verschlagenes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.
"An welche Art von Informationen denken sie da.. ?"
"Nun, vor ungefähr einem halben Jahr fand im Anwesen der Gutenbergs ein Einbruch statt. Sie brauche gar nicht erst zu leugnen, wir wissen, dass sie versucht haben, die beiden gestohlenen Gemälde zu verkaufen."
"Nunjaaaa.."
"Ist mir ehrlich auch egal, zumindest derzeit. Ich will wissen, an wen die damals gestohlenen Informationen gingen."
"Nur wenn ich im Gegenzug Straffreiheit zugesichert bekomme."
Rina runzelte die Stirn.
"Ich mache an sich keine Geschäfte mit Dieben. Ich kann ein gutes Wort einlegen..."
Der kleine Mann trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
"Und ich verlasse mich nicht auf das Wort der Wache."
"So kommen wir nicht weiter..", die Wächterin wandte sich an ihre Mitarbeiter.
"Bitte verlasst alle mal den Raum."
"Mädäm? Ist das ihr Ernst?", Dragor blickte ungläubig.
"Ja, klar. Alle mal raus hier, ich komm schon zurecht.", rasch scheuchte die Abteilungsleiterin ihre Leute hinaus und schloss hinter ihnen die Türe.
"Soo, Herr..."
"Katzenauge. Christoph Katzenauge."
"Herr Katzenauge also. Ich denke, wir werden uns einig...."

Romulus, Mefarina und Dragor wartete eine Viertelstunde vor dem Büro der Chefin, immer dazu bereit, notfalls hineinzustürmen und ihre Vorgesetzte aus den Fängen des Diebes zu befreien. Umso erstaunter waren sie deshalb, als nach fünfzehn Minuten die Türe aufging und der Verhaftete seelenruhig herausspazierte. Dragor warf einen Blick in das Büro, und sah Rina auf ihrer Schreibtischplatte sitzen und leicht grinsen.
"Geht es ihnen gut, Mäm?"
"Oh ja, sehr gut sogar. Ich hab eine ungefähre Vorstellung, welcher der beiden Gutenbergs ein Hochstapler ist."
"Ah ja. Was soll jetzt mit dem Dieb passieren?"
"Er hat der Wache bei hochgradig gefährlichen Ermittlungen geholfen und wird deswegen wohl mit einem blauen Auge davonkommen. Vorausgesetzt, er hilft uns bei einem Sondereinsatz."
"Ein Sondereinsatz?", warf Romulus ein.
"Ja. Wir werden einen Mörder überführen.", Rina grinste breit. Scheinbar lief dieser Tag besser als der gestrige.


*Anwesen der Gutenbergs - eine halbe Stunde später*

Erneut stand Rina vor dem pompösen Anwesen.
"So, dann mal auf in den Kampf!", mit einer energischen Bewegung strich sich die Wächterin eine vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr und winkte den Dieb näher zu sich heran.
"Also, wir gehen da rein, du zeigst auf den passenden Mann, wir verhaften ihn und alle sind glücklich. Soweit klar?"
"Jaaaa..", Christof Katzenauge nickte eifrig. Kein Wunder , hatte ihm die Wächterin doch Straffreiheit zugesichert.
"Ok, dann mal los.", Rina näherte sich der Tür und klopfte kräftig an.

Schlurfend näherte sich der Butler und öffnete langsam die Türe.
"Ja, bitte?"
"Leutnant Lanfear, wo sind die beiden Erben?", geschickt drängte sich Rina an dem Butler vorbei und marschierte selbstbewusst den Flur entlang.
"Im Salon, aber sie können da jetzt nicht einfach..."
"Und ob ich kann. Alle mir nach.", Romulus und Mefarina folgten ihrer Chefin, die zielstrebig voranschritt. Hinter ihnen huschte der Dieb lautlos durch den Gang und schien sich in seiner Haut doch nicht allzu wohlzufühlen.

Rina hatte inzwischen die Türe zum Salon erreicht und stieß diese schwungvoll auf.
"Meine Herren, ich denke ich..", weiter kam die Wächterin nicht. Verdutzt betrachtete sie die Szenerie. Der elegantere der beiden Herren, Herr "Gutenberg", lag mit einer üblen Schulterwunde am Boden, während Herr "Ernest" über ihn gebeugt stand und triumphierend grinste.
Als er die Stimme hinter sich hörte, drehte er sich erschrocken um. Schlagartig war der Triumph aus seiner Miene gewichen und Angst nahm den freigewordenen Platz ein.
Rina reagierte sofort.
"Hände hoch, Herr Gutenberg! Äh, nein, nicht sie, ich meinte ihn.. Verdammt! BEIDE die Hände hoch!", die Wächterin hatte einen hochroten Kopf bekommen.
Inzwischen waren auch Mefarina und Romulus nähergekommen. Der Dieb, Herr Katzenauge, lugte zwischen den beiden Wächtern hindurch und deutete auf den stehenden Erben.
"DEM hab ich die Informationen verkauft!"

Ein erstickter Fluch verließ die Lippen des Hochstaplers. Blitzschnell warf er das Messer, welches er noch immer versteckt in der Hand gehalten hatte, nach den Wächtern und traf Romulus an der Schulter. Dann drehte er sich um und stürmte auf das halboffene Fenster zu, welches scheinbar in den Garten führte.

"Mef! Kümmer dich um Romulus!", mit einem wütenden Schrei setzte Rina dem Verbrecher hinterher. Warum konnte sich nicht EINMAL jemand ordentlich verhaften lassen? MUSSTE immer alles in Verfolgungsjagden enden?
Fluchend sprang die Wächterin dem falschen Herrn Gutenberg nach durchs Fenster und landete im akkurat geschnittenen Garten des Anwesens.
Vor sich den Flüchtenden sehend, hetzte Rina durch eine Rosenhecke, zog sich dabei üble Schnittwunden zu und bog dann, immer dem Mann auf den Fersen bleibend, in den Holunderblütenweg ein. Trotzdem es helllichter Tag war und eine menge Passanten unterwegs waren, machte keiner die Anstalten, auf die fortwährenden Rufe der Wächterin zu reagieren und den Verbrecher aufzuhalten.
Inzwischen keuchte Rina schon kräftig. Sie war zwar irgendwann mal sportlich gewesen, aber die dauernde Büroarbeit hatte unter anderem dazu beigetragen, dass sie nicht mehr bei allzu guter Kondition war. Ihre Beine fühlten sich inzwischen bereits ziemlich müde an und wenn ihr nicht bald etwas einfiel, würde ihr der Mann noch entkommen.

Dem Verdächtigen vor ihr schien die Verfolgungsjagd trotz seines verweichlichten Auftretens nichts auszumachen. Er bog gerade in den Hier-gibt-es-alles-Platz ein, als Rina einen neuen Versuch unternahm, ihn aufzuhalten.
"Haltet den Mörder!"

Der Ruf der Wächterin bewirkte zweierlei Dinge bei den Bürgern Ankh Morporks, die sich gerade auf dem Platz befanden. Erstens wich jeder zurück, denn wer schon einmal gemordet hatte, war sicherlich in der Lage, nochmals jemanden ernsthaft zu gefährden und zweites fuhren sämtliche köpfe herum, um das aufregende Spektakel zu verfolgen.
Elena Lanfear, die gerade aus einer Schneiderei trat, wo sie ein neues Kleid für sich in Auftrag gegeben hatte, stutzte, als sie die ihr wohlbekannte Stimme hörte und drehte ebenfalls hastig den Kopf in die Richtung, aus der der Ruf zu vernehmen gewesen war. Was sie sah, ließ eine Ader auf ihrer Stirn gefährlich anschwellen. IHRE Tochter, Irina, verfolgte gerade einen dunkelhaarigen, großen Mann. Und wenn das nicht schon Schmach genug gewesen wäre, brüllte ihre Tochter dauernd etwas von einem Mörder herum und benahm sich furchtbar GEWÖHNLICH.
Tief holte die fast Adelige Luft und machte ihrer Wut dann mit einem lauten Schrei Luft: "IRIIIIIIIIIIIIIIINAAAAAAAAAAAAAAAAAA!"

Rina zuckte zusammen, als sie die laute, durchdringende Stimme ihrer Mutter hörte, beschloss, sich später DIESEM Problem anzunehmen, und hastete weiter dem Mörder hinterher. Zu ihrer Freude entdeckte die Wächterin fast am Ende des Hier-gibt-es-alles-Platzes den Hauptgefreiten Dennis Schmied, der gerade scheinbar einem neuen Wächter ein paar Tricks im Alltag als Verkehrsexperte beibrachte.
Laut rufend versuchte Rina, die beiden auf sich aufmerksam zu machen.
"Ankh Morpork Stadtwache! STEHENBLEIBEN!"
Dennis blickte auf und sah den Mann, der auf ihn zugerannt kam.
"Schau mal, SO macht man das..", erklärte er an den Gefreiten Garnichtgut gewandt und stellte sich dem auf ihn zu flüchtenden in den Weg.
Herr "Gutenberg" versuchte zwar einen Haken zu schlagen und so der Gefangennahme zu entgehen, doch er hatte nicht mit Dennis blitzschnellen Reflexen gerechnet. Der Wächter visierte sein Ziel kurz an, sprang dann los und riss den Verbrecher zu Boden.

"Danke *keuch* Dennis!", Rina war inzwischen näher herangekommen und stützte sich mit den Händen auf ihren Knien auf, während sie nach Atem rang.
"Kein Problem, Mäm! Weu, reich mir doch mal die Handschellen rüber!", noch immer kniete der Hauptgefreite auf dem Mann, der sich heftig zu wehren versuchte.
"Was hat er eigentlich ausgefressen?"
"Er hat jemanden ermordet, einen Mordversuch begangen und wegen Hochstapelei krieg ich ihn auch noch dran."
"Klingt ja richtiggehend gefährlich.", Weufolt war näher getreten und reichte Dennis seine Handschellen.
"Tja, du..", weiter kam Rina nicht.

"IRINA! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dich gefälligst wie eine Dame benehmen sollst. Was sollen denn bloß diese ganzen Leute von dir denken. Weißt du eigentlich, was du mir damit antust?", Rina drehte sich langsam um. Irgendwas war da ja noch gewesen...
Das Gesicht ihrer Mutter, die hinter ihr stand, hatte einen rötlichen Ton angenommen, der bereits leicht ins blauviolette überging. Wütend funkelte Elena Lanfear ihre Tochter an, die blitzschnell improvisierte: "Mama, du willst doch nicht ausgerechnet hier eine Szene machen! Können wir das nicht zu Hause in aller RUHE klären?"
"Das ist das erste vernünftige Wort, dass ich in den letzten Wochen von dir gehört habe. Wir werden das zu Hause klären und zwar JETZT! Nicht heute Abend, nicht morgen Abend und schon gar nicht nächste Woche! Ich weiß ganz genau dass du diese Nacht schon wieder nicht zu Hause geschlafen hast!"
"Aber Mama, ich muss den Verbrecher hier doch.."
"Nichts aber Mama! Ich werde nicht hier rumstehen und zusehen, wie meine Tochter einen gefährlichen Mann verhaftet!"
"Aber.."
"Wir bringen ihn schon zur Wache, Mäm!", sprang Dennis schnell in die Bresche. Weufolt nickte energisch. DAS war eine Aufgabe nach seinem Geschmack und viel besser als diese Verkehrsexperterei.
"Äh..", Rina wusste nicht mehr weiter.
"Kommst du jetzt junge Dame, oder muss ich dich hinter mir herschleifen?", Elena Lanfear stapfte zornig mit dem Fuß auf.
"Ja, Mama." Rina seufzte ergeben und nickte den beiden Wächtern zu. Irgendwie war dieser Tag doch nicht viel besser als der letzte gelaufen und sie befürchtete, dass er noch schlimmer werden würde.


*Nächster Tag, 8 Uhr morgens, Pseudopolisplatz*

Leise kratzte eine Feder über das Papier. Leutnant Irina Lanfear saß über ihren Abschlussbericht gebeugt und versuchte das energisch Klingeln aus ihren Ohren zu vertreiben. Die "Diskussion" mit ihrer Mutter war gestern noch zu einer größeren Schreitirade eskaliert und heute morgen war sie auch noch von Rince höflich darauf aufmerksam gemacht worden, dass sie ihre privaten Probleme nicht in den Dienst bringen und schon gar keine hochgefährlichen Verbrecher von Verkehrsexperten verhaften lassen sollte. Wenn der Rest der Woche auch noch so lief, konnte sie gleich einen Sarg bestellen und sich irgendwo verbuddeln lassen. Urlaub, das war es, was sie jetzt brauchte. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Seufzend blickte der Leutnant auf die bisher geschriebenen Worte:

Abschlussbericht des Falles Theobaldi:
Infolge der Ermittlungen stellte sich heraus, dass vor ungefähr einem halben Jahr ein Einbruch in die Villa der von Gutenbergs stattgefunden hat, infolge dessen einige für den späteren Verlauf des Falles wichtige Dokumente gestohlen wurden.


SO verstand das keiner. Mit einem leisen Stöhnen strich die Wächterin den bisherigen Versuch durch und versuchte es erneut.

Abschlussbericht des Falles Theobaldi:
Meine Ermittlungen haben ergeben, dass bei einem Einbruch in die Villa Gutenberg vor etwa einem halben Jahr wichtige private Dokumente gestohlen wurden. Unter anderem befand sich dabei eine Kopie des Testaments von Herrn Alfonso Gutenberg, die dem Hochstapler Frederick Schopin, dem Beschuldigten, zugespielt wurde. Ich kann nur vermuten, aber nicht beweisen, dass Herr Schopin auch irgendetwas mit dem Tod des alten Herrn Gutenberg zu tun hat. Fakt ist aber, dass er zirka vor 6 Monaten (kurz nach dem Einbruch) die Wohnung von Herrn Ernest Gutenberg, der zu dieser Zeit geschäftlich länger im Ausland zu tun hatte, gemietet hat. Als der alte Herr verstarb, gab er sich als der gesuchte Erbe aus und versuchte, das Erbe anzutreten, was jedoch der aus Quirm zurückgekommene echte Erbe verhinderte.

Enrique Theobaldi, der vermutlich den echten Ernest Gutenberg identifizieren hätte können, musste sterben, weil er sich weigerte, ein falsches Spiel zu spielen und Schopin zu helfen. Kurz danach wurde Ernest Gutenberg von dem Verdächtigen angegriffen, als es zum Streit kam. Schopin hatte, laut Aussage von Herrn Ernest Gutenberg, ihm gedroht, ihn umzubringen, wenn er nicht von dem Erbanspruch zurücktrete. Es hat sich ein Streit entwickelt, infolgedessen Herr Gutenberg sowie Hauptgefreiter Romulus von Grauhaar eine Wunde an der Schulter davongetragen haben. Der Verbrecher wurde von mir verhaftet und sitzt derzeit in Verwahrungszelle 3."


Rina seufzte. Sie ahnte zwar schon, dass Rince sich wieder beschweren würde, weil der Bericht in seinen Augen völlig unverständlich war, aber besser brachte sie es beim besten Willen nicht hin. Müde legte die Wächterin das dicht beschriebene Blatt Papier in die Akte des Falles Theobaldi und schloss diese dann. Fast ein wenig erleichtert griff sie nach dem großen roten Stempel, den ihr ihre Kollegen zum letzten Geburtstag geschenkt hatten und tauchte diesen in das dazupassende Stempelkissen, indem sich ein kleiner Schwamm voll roter Farbe befand. Ein gewisses Gefühl der Befriedigung überkam sie, als sie die Worte "Beendet" auf die Akte stempelte. Sie wusste nur eines: Nie wieder SO einen Fall.

ENDE

[1] außer es war Hochsommer

[2] siehe "Das Geheimnis der Holztruhe"

[3] Vince der Koch ist, wie sein Name schon andeutet, ein berühmter Koch, der sich einmal versehentlich beim Kartoffelschälen das Ohr abschnitt und seine nachfolgenden Erlebnisse in Bildern wie "Der Schrei" verarbeitete.

[4] Dreiwasser war ein vom Gegengewichtskontinent stammender Maler, der Bilder malte, die keiner verstand




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