Acht tödliche Sünden

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von Hauptgefreite Kanndra (FROG)
Online seit 06. 10. 2003
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 Außerdem kommen vor: Araghast BreguyarRibVenezia KnurblichValdimier van Varwald

Ein Banküberfall und die Überwachung eines Festes im Patrizierpalast. Eine arbeitsreiche Woche für FROG...

Dafür vergebene Note: 12

Es gibt nur zwei Arten von Menschen: die Gerechten, welche glauben, Sünder zu sein, und die Sünder, welche glauben, Gerechte zu sein.
Blaise Pascal (1623 - 1662), französischer Philosoph, Mathematiker und Physiker, Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung


Prolog

[Zorn]

In der geheimen Kammer hinter ihrer Statue trat die Tugendhafte Hylda von der Messlatte zurück und betrachtete die Markierungen an der Wand. Ihre Befürchtungen wurden bestätigt. Sie schrumpfte! Gegenüber letzter Woche hatte sie schon wieder zwei Zentimeter verloren. So konnte das nicht weitergehen, andernfalls würde man sie nicht mehr in Cori Celesti zulassen. Vielleicht war es an der Zeit, ein Exempel zu statuieren? Natürlich war ihr nicht entgangen, das die Verlockungen der wachsenden Stadt ihre Wirkung auch auf ihre Priester nicht verfehlten. Und so griffen auch die Sünden um sich, die sie am meisten verurteilte.
"Ich werde sie meinen göttlichen Zorn spüren lassen", beschloss Hylda.
Und warum nicht jetzt sofort? Sie hatte sowieso gerade nichts anderes vor. Also ließ sie einen Novizen den Gong schlagen, der die Priester zusammenrief. Dann setzte sie eine finstere Miene auf und trat in den Inneren Tempelraum. Die Göttin musterte die acht Versammelten und sprach mit ihrer Donnerstimme: "Ihr tretet die Tugend mit Füßen und gebt euch der Sünde hin. Das werde ich nicht länger dulden."
"Aber göttliche Hylda, wir...", wagte einer der zitternden Priester einzuwerfen.
"Schweigt! Und spürt meine Verachtung!"
Leider war sie nicht in der Lage, mit Blitzen zu werfen, das hätte das Ganze noch eindrucksvoller gemacht. So begnügte sie sich damit, den Kopf in den Nacken zu werfen und mit den Armen zu wedeln, während sie eine Verwünschung murmelte. Das Ergebnis überraschte allerdings selbst sie.
"Ähmm, so war das nicht geplant." Ratlos schaute die Göttin in den Tempelraum hinab.
"Das kommt davon, wenn man der Sünde nachgibt" , dachte sie. Vielleicht hätte sie den Tempel auch nicht so nah an dem Turm der Zauberer bauen lassen sollen. Er zog Magie an wie Licht die Motten.

Das war der Anfang vom Ende der Tugendhaften Hylda. Die Gläubigen fingen an, sie zu meiden und später zu vergessen. Ihr Tempel zerfiel und die Göttin schrumpfte immer mehr, bis sie die Inkarnation einer Stechmücke erreichte. Alles was nun noch an den Vorfall erinnerte, war der etwas seltsame Name einer Straße...

Zweitausend Jahre später ungefähr an der selben Stelle


In der Unsichtbaren Universität, Ankh-Morpork, stand ein stiller, unauffälliger junger Mann an einem der vielen Fenster des Gebäudes. Der Flur hinter dem Fenster war ruhig, niemand sonst war zu sehen. Leises Stimmengemurmel aus den angrenzenden Räumen und das Summen einer Mücke waren die Hintergrundmusik für den lautlos im Sonnenlicht tanzenden Staub. Der junge Mann war der Sohn einer der in der Universität arbeitenden Wäscherinnen und verdiente sich sein Geld als Lehrling eines Bäckers. Aber eigentlich fühlte er sich zu Höherem berufen.
Die Straße vor dem Fenster hieß Acht tödliche Sünden. Würde sie sich nicht leicht krümmen, hätte der junge Mann von seinem Standort aus an ihr entlang direkt zum Palast des Patriziers schauen können. Aber so sah er nur ein Stück der Straße mit dem seltsamen Namen und ein paar Häuserdächer.
Der junge Mann dachte über den Namen der Straße nach. Genauer gesagt, starrte er nur aus Langeweile auf sie herunter. Ohne das es ihm zuerst bewusst wurde, setzte sich der Name in seinem Gehirn fest, saugte sich regelrecht an seinem Unterbewusstsein an und ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Plötzlich lächelte der junge Mann, wandte sich von dem Fenster ab und machte sich auf den Weg zu seiner Mutter. Immer noch lächelnd murmelte er dabei "Acht tödliche Sünden, acht tödliche Sünden".

Drei Wochen später


[Völlerei]

Die Sonne schien von einem blauen Himmel, an dem sich vereinzelte Wolken spielerisch wie junge Hunde jagten. Die Straßen der Stadt waren voller lärmender Leute, Tiere und Fuhrwerke. Mitten in dem Gewühl kämpfte sich eine Wächterin in FROG-Uniform zu ihrem Dienstbeginn.
Kanndra grüßte im Vorbeigehen ihren bevorzugten Obsthändler und blinzelte entspannt in die Sonne. Sie konnte gerade noch ausweichen, als zwei ärmlich aussehende Jungen hinter einem Ball herrannten und dabei ihren Weg kreuzten.

Ihr Blick fiel auf eine Bäckerei, vor der ein Schild verkündete:
"Neue Spezialität - Acht köstliche Sünden - Lassen Sie sich verführen!"
Sie beschloss, der Aufforderung zu folgen und betrat den Laden. Der junge Mann hinter dem Verkaufstresen lächelte sie nett an. Der Blick seiner blauen Augen versetzte Kanndra einen wohligen Schauer.
"Hallo, äh... ich wollte... äh.. Ach ja, die Sünden probieren."
Manchmal war die Hauptgefreite froh über ihre Hautfarbe, da fiel ein Erröten nicht so auf.
"Einmal Sünden für die junge Dame." Der Junge zwinkerte ihr zu und Kanndra kam es vor, als hätte er das Wort Sünden besonders betont.
"Danke. Dann werde ich mal wieder gehen", sagte sie und legte fünfzig Cent auf den Tresen. Selten kam ihr das, was sie sagte so dämlich vor.
Kaum wieder auf der Straße, inspizierte sie gleich den Inhalt der Tüte. Er bestand aus acht kleinen Gebäckstücken.
"Witzig, dass das Gebäck fast genauso heißt wie die Straße hier" , schoss der Wächterin durch den Kopf. "Den Namen sollte man allerdings nicht laut aussprechen. Schon gar nicht so nah an der Universität."
Glücklich vor sich hin kauend, achtete sie gar nicht mehr auf das Gedränge. Alle Gebäckstücke hatten eine andere Geschmacksrichtung und außerdem fand die Späherin noch einen Zettel in der Tüte.
"Alles Gute kommt von oben", las sie. Kanndra schüttelte amüsiert den Kopf. Auf solche Weisheiten konnte sie getrost verzichten. Sie verstaute den Zettel und setzte den Weg fort. Kurz vor dem Gebäude der Diebesgilde schlug das Unheil zu. Erst nahm die Hauptgefreite ein paar knallende Geräusche wahr, dann spürte sie den Luftzug. Im nächsten Augenblick zierte ein gräulich-weißer Fleck ihr dunkelgrünes Uniformhemd und ein paar Krallen bohrten sich in ihre Schulter. Die Taube gurrte leise, als Kanndra ihr die Nachricht abnahm.
"505 in der Kurzen Strasse. Sofort zum Einsatzort kommen" hatte Venezia Knurblich, ihre Abteilungsleiterin geschrieben. 505 war der interne Code für einen Banküberfall mit Geiselnahme.
Seufzend änderte die Späherin die Richtung, um dem Befehl Folge zu leisten.

[Leichtgläubigkeit]

Er konnte nicht fassen, dass er versagt hatte. Wie hatte ihm das nur passieren können? Bruder Ramon würde auch nicht gerade erfreut sein. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Jemand hatte ihn gesehen und prompt die Wache alarmiert. Ein Blick durch die Vorhänge zeigte ihm die stadttypische Schaulustigen-Versammlung und eine Anzahl Uniformierter. Einer von ihnen, ein verwegen aussehender Kerl mit einer Augenklappe, hatte eine Flüstertüte erhoben und sprach, bzw. brüllte, auf ihn ein.
"Dem würde ich noch nicht mal mein Frühstücksbrot anvertrauen", schoss es ihm durch den Kopf, "die Wache scheint wirklich jeden zu nehmen, wie man immer hört."
"... verstehen, dass Sie verzweifelt sind...", scholl es von draußen.
Verzweifelt? Nein, dazu bestand kein Anlass. Gut, die Wächter waren, vor allem in dieser Anzahl, nicht zu unterschätzen. Aber er hatte ja Unterstützung. SIE würde ihm sicher vergeben und ihm einen Ausweg aus dieser Situation zeigen. Nach einem versichernden Blick auf seine verschnürten Geiseln glitt er langsam auf die Knie und begann zu beten.

Vor der Bank hatte sich natürlich bereits eine Menschentraube versammelt. Über das Gemurmel der Menge waren die typischen Rufe eines bekannten Straßenhändlers zu hören.
"Würstchen, frische Würstchen! Greift zu Leute, bevor sie davonlaufen! Nur ein Dollar das Stück und damit treibe ich mich selbst in den Ruin!"
Ein paar Wächter versuchten, die Schaulustigen zurückzudrängen, während etwas seitlich Irina Lanfear, Stump von Schwamp, Venezia Knurblich und Araghast Breguyar hinter einem Eselskarren in ein Gespräch vertieft waren. Auf der Ladefläche hatte es sich Rib gemütlich gemacht. Die beiden Triffinsziel der FROGs hatten schon Stellung auf den umliegenden Dächern bezogen und hinter einem zweiten Karren warteten Sidney und Valdimier von Varwald auf einen Einsatz.
Unter dem Murren der Umstehenden drängte Kanndra sich durch die Menge bis sie Gnomen est Nomen gegenüberstand. Sie grüßten sich kurz, dann ließ der Tatortsicherer die Späherin passieren.
"Gut, da bist du ja", wurde sie von Veni begrüßt, die auf Bregs' Schulter saß. "Wir haben gleich Arbeit für dich."
Irina nickte. "Ein Zeuge wollte gerade die Bank betreten als er durch das Fenster einen Maskierten mit einer Waffe sah. Er hat uns sofort benachrichtigt. Leider hat er nicht allzu viel gesehen und neigt wohl auch zu Übertreibungen. Im Klartext: Wir wissen nicht, wie viele Täter es gibt und was in der Bank eigentlich los ist."
"Er oder sie reagieren auch nicht auf meine Versuche, mit ihm oder ihnen zu reden." Araghast winkte mit dem Koboldophon, aus dem gedämpfter Protest zu hören war. "Reicht es dir Sadist nicht, dass ich schon heiser bin? Soll ich jetzt auch noch seekrank werden? Hör sofort auf, du Schnösel!"
"Wir brauchen also jemanden, der die Lage abklärt.", fasste der Oberleutnant die Sache zusammen.
"Dann suche ich mir mal einen Weg hinein", entgegnete Kanndra und musterte das Gebäude kritisch. Mittlerweile waren Vorhänge vor die vergitterten Fenster und die Tür im Erdgeschoss gezogen worden, so dass der Einblick von außen verwehrt blieb. Langsam umkreiste sie die Bank, während sie sich zu einem Vorgehen zu entscheiden versuchte. Schließlich fiel ihr an einer Seitenwand ein Gitter in Kniehöhe auf, das, anders als die anderen, nur mit Schrauben befestigt war und nicht eingemauert. Dahinter befand sich ein kleines Fenster. Es bot gerade Platz genug für ihren schlanken Körper. Schnell begann sie mit Hilfe eines Messers die rostigen Schrauben aus dem Gitter zu lösen. Die erste machte kaum Schwierigkeiten, doch schon die zweite Schraube sperrte sich gegen ihre Versuche. Die dritte bekam sie nur zur Hälfte aus der Wand, bei der vierten gelang es ihr wieder sie zu entfernen. Als die Späherin noch über dem Problem grübelte, hörte sie auf einmal, wie ein Raunen durch die Zuschauermasse ging. Vorsichtig lugte sie um die Ecke des Hauses und sah, wie ein kleiner, ältlicher Mann in einem Anzug die Bank verließ. Er hatte die Arme, dessen Ärmel in schwarzen Schonern steckten, hoch über den Kopf gestreckt und rief: "Nicht schießen! Ich bin eine Geisel!" Dann machte er sich langsam auf den Weg zu der Wächtergruppe, mit der er leise zu sprechen begann. Mehr war nicht zu erkennen.
"Egal, ich habe einen Auftrag, den ich erledigen muss", erinnerte sich Kanndra selbst. Und dann fiel ihr eine Lösung ein. Sie stellte sich an den Rand der Schaulustigen und versuchte sich auf Würstchen zu konzentrieren. Lange brauchte sie nicht warten und Schnapper stand vor ihr.
"Na, Wächterin? Hast du nicht Hunger auf eine meiner speziellen Pasteten oder willst du vielleicht ein Paar neue Schuhe? Die hier sind der letzte Schrei und kosten nur zehn Dollar." Er wedelte mit etwas, das aussah wie zwei äußerst dünne Riemchen an einer Papp-Schuhsohle befestigt.
"Ein Würstchen bitte", bestellte sie und kramte etwas widerwillig einen Dollar hervor. Ein Wucherpreis! Aber was tat man nicht alles für seinen Beruf...
Nur einmal mit dem Würstchen über jede der widerspenstigen Schrauben gestrichen und der Rost löste sich auf. Nun war es ein leichtes, das Gitter von der Wand zu stemmen. Jetzt konnte sie den Riegel des Fensters mit Hilfe ihres Messers hochschieben und es öffnen. Leicht amüsiert dachte Kanndra: "Irgendwo gibt es immer eine Schwachstelle."
Die Hauptgefreite hielt automatisch den Atem an, als sie sich in den dunklen Kellerraum gleiten ließ.

Der Mann zitterte am ganzen Körper, als er sich erleichtert auf den Rand des Eselskarren fielen ließ, der die FROGs zu ihrem Einsatzort gebracht hatte. Der davor gespannte Esel hatte ungewöhnlich rotes Fell und stand friedlich an einem Löwenzahn kauend in der Sonne.
"Also gut, wie heißen Sie? Was wollten Sie in der Bank? Wie viele Täter gibt es? Wie ist der Überfall geschehen? Gibt es Verletzte?", überfiel Venezia den Mann mit Fragen.
"Mein N..Name ist Fischer. Ähmm, Sigismund Fischer. Und ich, also.. äh... wie war die zweite Frage?"
"Beruhigen Sie sich erst mal. Vor allem wollen wir wissen, wie die Situation in der Bank ist. Wie viele Täter gibt es und wie viele Geiseln?", versuchte der Püschologe ihn zu beruhigen.
"Noch zwei Geiseln. Es sind noch zwei Geiseln in der Bank." Betrübt schüttelte der Mann den Kopf.
"Und warum hat man Sie gehen lassen?", hakte die FROG-Schäffin nach.
"Ach ja. Genau. Das ist wichtig, hat er gesagt." Fischer nickte vor sich hin.
Irina musterte ihn. "Was ist wichtig?"
"Er? Also ist es ein Einzeltäter?", versuchte Veni immer noch mehr herauszufinden.
Die Ex-Geisel nickte wieder. "Ja, einer. Und er will ein Fluchtfahrzeug und einen Wächter als Geisel, hat er gesagt. Und dass das wichtig sei. Ohne Waffen und ohne Kleidung", fügte Fischer an. Ein leichtes Grinsen umspielte seinen Mund, dass man bei genauer Betrachtung vielleicht hämisch nennen konnte. "Kann ich jetzt gehen?", fragte er dann.
"Nein, wir brauchen Sie noch. Lassen Sie uns dort rüber gehen" Stump zeigte auf eine ruhige Ecke hinter den Schaulustigen. Dort angekommen packte er seinen Block aus und spitzte den Stift. "Dann lassen Sie mal hören."
"Verdammt!", fluchte Venezia. "Wir versuchen ihn so lange es geht, hinzuhalten. Mal sehen, was Kanndra meldet. Vielleicht können wir es auch anders lösen", fügte sie mit einem Blick auf die leichten Armbrustschützen an. Erst vor kurzem hatten Sidney und Valdimier eine Geiselnahme erfolgreich, wenn auch nicht unblutig beendet [1]
"Wenn es allerdings nicht anders geht... nefer ist noch im Wachhaus und verhört den Zeugen, der den Überfall gemeldet hat..." Unsicher blickte Irina zu Araghast.
"Schon verstanden. Die Wächter-Geisel soll ihn im Notfall auch totquatschen können", grinste der Halbvampir und ließ seine spitzen Zähne sehen. "Kein Problem für mich."

Es roch nach abgestandener Luft und Schimmel. Der Keller diente anscheinend als Abstellraum für nicht mehr benötigte Möbel und anderes Gerümpel. Vorsichtig tastete Kanndra sich vorwärts, denn bei ihrem Glück würde es sie nicht wundern, wenn sie in Ausübung ihrer Pflicht von einem heimtückisch auf sie herabfallenden Regal getötet würde.
"Verfluchter Mist", fluchte sie leise, als sie sich prompt den Zeh an etwas stieß, das sich als überdimensionaler Schreibtisch herausstellte. Ohne weitere Pannen erreichte die Späherin schließlich die Tür. Natürlich war sie abgeschlossen. Nachdem sich ihre Augen an den Helligkeitsverlust gewöhnt hatten, konnte die Wächterin erkennen, dass unter der Tür ein breiter Spalt bis zum Boden blieb. Schnell drückte sie ihr Auge gegen das Schlüsselloch.
"Glück gehabt", dachte sie. Dann begann sie wieder mal in ihrer Tasche zu kramen. Zuerst nahm sie ihren Notizblock und riss ein Blatt ab. Das schob sie unter der Tür durch, so dass es genau unter dem Schlüsselloch lag. Als nächstes holte die Hauptgefreite einen reichlich ramponierten Kamm mit einigen abgebrochenen Zinken und einem langen, dünnen Metallstiel hervor und bohrte damit in dem Schlüsselloch herum. Ein gedämpftes "Pling" war der Lohn ihrer Mühe. Langsam zog Kanndra das Blatt Papier zu sich heran, nahm den Schlüssel und schloss die Tür auf. Kurz horchte sie in das Gebäude hinein. Dann entsicherte sie ihre Armbrust und machte sich auf den Weg, die Bank zu erkunden.
Links von ihr führte eine weitere Tür in einen weiteren Kellerraum. Hier stand die Tür auf, so dass die Wächterin einen schnellen Blick in den Raum, wohl eine Art Archiv, hineinwarf. Er war leer, bis auf die Regale und einen wackeligen Tisch. Dann wandte sie sich der Treppe geradeaus zu.

"Dieses Schweigen macht mich nervös", die RUM-Schäffin rieb sich die Hände.
Auch Venezia sah besorgt aus. "Wo Kanndra nur bleibt. Ich fürchte, wir können den Geiselnehmer nicht mehr lange hinhalten. Wenn er wenigstens mit uns reden würde."
Alle starrten auf das Bankgebäude, als wollten sie es hypnotisieren. Die Zeit dehnte sich wie "Wiggelis besohnders geschmeidelige Masse zum Kauigen". Schließlich gab sich die Wergnomin einen Ruck. "Also gut, ehe wir hier abgeschnittene Finger oder so etwas präsentiert bekommen... Bist du bereit, Bregs?"
Der Lance-Korporal nickte stumm.
"Gut du lenkst den Kerl ab. Wenn es nur einer ist, sollten wir mit ihm fertig werden. Währenddessen schicke ich Val und Sid rein. Dann seid ihr zu viert."
Ein bisschen unwohl wurde Araghast schon bei der Aussicht, einen Striptease vor all den Leuten hinlegen zu müssen. Welche Unterhose hatte er überhaupt heute morgen angezogen?
Er begann unter reger Anteilnahme des Publikums sich seiner Kleidung zu entledigen.
Immer wieder ertönte der Ruf "Ausziehen! Ausziehen!"
Unterdessen gab Venezia den beiden Leichten Armbrustschützen die letzten Anweisungen, ehe sie in Richtung Bank verschwanden, das offene Fenster fanden und hinein kletterten.
Als der Püschologe nur noch in seiner Unterhose dastand, hob er einen Daumen zum Zeichen, das er bereit war. Venezia nickte ihm zu und er bewegte sich mit erhobenen Händen auf die Bank zu. Seine Tätowierung war im hellen Sonnenschein deutlich zu erkennen. Ein Schädel, auf dem ein Rabe hockte, zierte seinen Rücken zwischen den Schulterblättern. Durch die Bewegung seiner Muskeln sah es aus, als ob der Vogel unruhig auf seinem makaberen Sitzplatz herumrutschen würde. Vor der Tür rief Araghast laut: "Sie wollten einen Wächter als Geisel. Hier bin ich."
Keine Reaktion.
"Ich komme jetzt rein", brüllte er.

Es war keiner da. Na ja, keiner war übertrieben. Unter einem der in dem Raum verteilt stehenden Schreibpulte lehnten zwei bewusstlose, gefesselte Männer. Neben ihnen lag ein Baumwolltuch, von dem ein seltsamer Geruch ausging und auf dem Pult über ihnen eine Armbrust und eine Wollmütze mit Löchern. Sicherheitshalber hatte die Späherin ebenfalls im Obergeschoss, in dem sich ein Büro befand, nachgeschaut. Doch der oder die Geiselnehmer waren eindeutig nicht hier. Sie beugte sich gerade über die Ohnmächtigen als jemand vor der Tür etwas rief. Gleichzeitig hörte sie das Einrasten einer Armbrust-Entsicherung hinter sich. Schnell drehte die Hauptgefreite sich um.
"Hände ho... ach, du bist das Kanndra. Was ist denn hier los?", fragte Valdimier und blickte sich um.
Die Vordertür wurde vorsichtig geöffnet und Araghast schob sich in den Raum hinein. Auch er schaute seine Kollegen erstaunt an.
"Was..."
"Frag mich etwas leichteres. Hier ist alles ausgeflogen. Kein Bankräuber in Sicht. Nur zwei Bewusstlose, die wohl ein Fall für Rib sein dürften und ein offenes Schließfach.", antwortete die Späherin.
"Wie... kein Geiselnehmer?"
Die drei Männer blickten sich an. "Fischer!" entfuhr es ihnen gleichzeitig.
"Schicke Unterhose übrigens, Bregs", grinste Kanndra beim Anblick von dem Halbvampir in einer fadenscheinigen, baumwollenen Schnürunterhose, deren Beine die Hälfte seiner Oberschenkel bedeckten.
"Äh ja, danke", entgegnete der Lance-Korporal leicht errötend.

Stump von Schwamp war ebenfalls ohne Bewusstsein. Ein Speichelfaden zog sich langsam aus seinem geöffneten Mund zu den Ärmelschonern, die neben seinem Kopf lagen. Auch ihnen entströmte der selbe Geruch wie den Geiseln in der Bank. Als alle auf das Bankgebäude konzentriert gewesen waren hatte die vermeintliche Ex-Geisel Fischer anscheinend den Ermittler ins Reich der Träume geschickt und sich anschließend aus dem Staub gemacht.
"Äther", stellte Rib fachmännisch fest. "Die wachen bald wieder auf."
Mit diesem Stoff hatte er ja bereits eigene Erfahrungen sammeln können, als Rogi ihm seine Nase operiert hatte. Zum Glück war das Problem bald wieder beseitigt worden. Unwillkürlich strich er über den Höcker, der den Bruch kennzeichnete.
"Unser Job ist dann wohl hiermit beendet", stellte Venezia von ihrem Posten auf der Schulter des mittlerweile wieder angezogenen Araghast fest. "Viel Spaß noch mit diesem
komischen Bankräuber", wünschte sie Irina, die gar nicht begeistert dreinschaute. Dann brüllte sie in das Megaphon "FROGs Abzuug!"

Weitere zwei Tage später


[Wollust]

Der Gefreite Charlie Holm saß in der Kantine am Pseudopolisplatz und genoss seine Mittagspause. Das heißt, er versuchte sie zu genießen. Die gestrige Ausgabe der Times vor der Nase und seine Pfeife im Mund boten eigentlich beste Voraussetzungen dafür. Doch da waren noch seine beiden Kolleginnen, die am Nachbartisch vor sich hin plapperten und gackerten.
Grosser Ball bei Vetinari
Morgen Abend findet im Patrizierpalast...
"Ganz ehrlich, manchmal beneide ich meine Nachbarin wirklich", seufzte Kanndra in ihren Salat.
...ein großer Ball aus Anlass der Stadtgründung vor ungefähr 2000 Jahren statt. Eingeladen sind auch viele Oberhäupter der umliegenden Städte...
"Obwohl es mit Frauen auch schief gehen kann. Letzte Woche war Tania ganz geknickt, weil sie von so einer Schauspielerin eine Abfuhr bekommen hat."
...und Länder, wie zum Beispiel der Bürgermeister von Quirm. Dessen Gattin soll eine unschätzbar wertvolle Perlenkette in ihrem Besitz haben (s. Ikonographie) ...
Fragend blickte Mindorah Giandorrrh, die neue Kommunikations-Expertin der FROGs, sie an. "Tania? Ist das die Schriftstellerin?"
"Ja, unglaublich, dass ausgerechnet sie diese Schmachtromane schreibt, die angeblich von einer Barbara Kartenhand stammen sollen. Wo sie von Männern gar nichts wissen will", kicherte die Hauptgefreite.
...Es wird darüber gemunkelt, ob sie das Schmuckstück wohl zu dem großen Ereignis tragen wird...
"Kann ich verstehen", nickte die Gefreite, wobei ihre schwarzen Haare flogen.
"Ehrlich?", Kanndra schaute sie mit großen Augen an. "Aber..."
"Mein Vater wollte mich unbedingt an einen Millionär verheiraten. Gut, dass ich rechtzeitig abgehauen bin."
...Das Ehepaar weilt bereits seit letzter Woche in seinem Stadthaus...
"Aber so ganz ohne Männer... Vorgestern habe ich erst einen süßen Bäcker getroffen. Und tolle Augen hatte der...", schwärmte die Späherin.
Mindorah stieß sie neckisch an. "Da hat sich wohl jemand verliebt, was?"
... Die Vorbereitungen auf das Fest sind in vollem Gange...
"Ach, Unsinn. Vielleicht ein bisschen.", gab Kanndra zu. Dann warf sie einen Blick auf die Wanduhr. "Nun, da wir beide keinen Millionär abbekommen haben, müssen wir uns wohl wieder an die Arbeit machen."
Langsam brachten die beiden das Geschirr unter weiterem Schwatzen in die Küche und machten sich dann auf in ihre Büros.
Hinter einer Zeitung hörte man ein leises, erleichtertes Seufzen.

[Hochmut/Stolz]

Ein paar Türen weiter schlug Irina Lanfear ebenfalls erleichtert eine Akte zu. Kurz zuvor hatte sie eine letzte Notiz hineingeschrieben:
Der Besitzer des Schließfaches, Herr Willibald Brückenstein (Adresse s.o.) hat bestätigt, dass aus dem besagten Schließfach nichts entwendet wurde. Da auch keine Personen zu größerem Schaden gekommen sind, ist der Fall für die Abteilung RUM hiermit abgeschlossen. Der Fall wird an die Abteilung FROG weitergeleitet, die im Falle einer Anzeige wegen Freiheitsentzugs zum Nachteil des Direktors der Bank, Herrn Thomas Wieselflink, sowie des Angestellten Günter Naseweis zuständig ist. Der Täter ist weiterhin flüchtig. Gez. Lt. Lanfear

An ihren Arbeitsplätzen angekommen, fanden beide FROG-Wächterinnen eine Nachricht ihrer Schäffin auf ihren Tischen, die sie in Venezia Knurblichs Büro wieder aufeinandertreffen ließ. Araghast, Valdimier, Rib, Sidney und Rogi waren bereits dort.
"Tag, ihr beiden", grüßte die Gnomin die salutierenden Wächterinnen. Dann deutete sie auf zwei leere Stühle und grinste die Versammelten breit an.
"Stellt euch vor, diese Trottel von der Palastwache haben es geschafft und sich fast alle den Magen an irgendetwas verdorben", fing sie an.
"Vielleicht zu viele von Schnappers Spezialitäten", entfuhr es Sidney.
"Das glaube ich nicht. So blöd sind nicht mal die", warf Mindorah ein, verstummte jedoch schnell als sie Venis Gesichtsausdruck sah.
"Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass sie vergiftet wurden."
Alle warfen sich Blicke zu, die Bände sprachen. Was ging sie die Palastwache an? Sollten die gefälligst aufpassen, was sie in sich hineinstopften!
"Aber das ist noch nicht alles. Der Patrizier gibt heute Abend ein Fest für einige befreundete Stadtoberhäupter. Und da die Palastwache jetzt zum großen Teil ausfällt, müssen wir das Ganze überwachen. Zumal die Vermutung nahe liegt, dass das Fest als Gelegenheit für einen Anschlag auf den Patrizier oder einen seiner Gäste dienen könnte."
Diesmal nickten alle. Vielleicht war es doch ein Fall, der sich lohnen würde...
"Aber so eine alberne Rüstung ziehe ich nicht an." Valdimier zog seinen schwarzen Umhang enger um seinen Körper, als würde schon jemand versuchen, ihn ihm wegzunehmen.
"Keine Sorge, wir werden uns als Zivilisten unter die Gäste mischen und Augen und Ohren offen halten. Und Nasen", fügte Venezia nach einem Blick auf Sidney hinzu. "Noch Fragen?"
Als alle den Kopf schüttelten, sprang sie energisch auf die Füße, lies sich von Bregs auf die Schulter setzten und sagte: "Dann wollen wir uns mal unseren Einsatzort ansehen."

Die bunt gemischte Gruppe stand bald darauf vor dem Tor des Palastes und hatte die ersten Schwierigkeiten zu überwinden.
"Wie ich bereits erläutert habe, befinden wir uns auf Wunsch des Patriziers hier. Ich bin sicher, Sie möchten ihren Dienst nicht in der Skorpiongrube fortsetzen." Die Augen der Wergnomin funkelten den Palastwächter vor ihr wütend an.
"Ich habe auch nicht vor, das zu tun. Deswegen werde ich erst überprüfen, ob Ihre Angaben der Wahrheit entsprechen, ehe ich eine Horde Stadtwächter hier reintrampeln lasse."
Gelassen schlenderte er zu seinem Kollegen hinüber, der betont langsam in einem Buch blätterte, das an einem Haken im Torbogen befestigt war.
"Soll ich sie außer Gefecht setzen, ehe sie daraus auch noch vorlesen?", fragte Rib, dessen Hand sich bereits in Richtung einer Phiole bewegte, die an einem Gürtel um seinen Körper hing und verdächtig grün schimmerte.
"Halt dich zurück, Rib. Ich möchte auch keine Bekanntschaft mit den Skorpionen schließen", zischte Venezia aus dem Mundwinkel. "Was ist das überhaupt für ein Zeug?"
"Keine Ahnung. Ist heute früh von den Alchimisten gekommen."
"Sie wollen uns nur ärgern, weil wir den Job ihrer Kollegen übernehmen. Das wurmt sie natürlich mächtig." Araghast zwinkerte den anderen zu. "Würde uns wahrscheinlich nicht anders gehen."
Valdimier schüttelte sich. "Allein die Vorstellung", flüsterte er.
Mittlerweile hatten die beiden Palastwächter wohl eingesehen, das sie das Theater nicht weiter treiben konnten und nickten ihnen mürrisch zu. "Ihr dürft passieren. Aber alles hübsch heile lassen, klar?"

Onno Webel hatte kaum geschlafen. Der Ausfall von so vielen Palastwachen gleichzeitig zog natürlich mehr Arbeit für den Einzelnen nach sich. Trotzdem hätte er lieber vier Tage durchgearbeitet als jetzt diese Versager auf sich zukommen zu sehen. Sie waren auch noch stolz darauf in einer Abteilung zu arbeiten, die sich nach irgendeinem Kriechtier benannt hatte. Wahrscheinlich ein passender Name. Und dann hatten sie nicht nur offensichtlich zwei Gnome und drei Frauen dabei, sondern bestimmt auch Untote . Zwei der Männer waren jedenfalls verdächtig blass und eine der Frauen... Oh nein, das war doch nicht etwa ein Zombie? Für Onno gab es nichts schlimmeres als dieses Pack, das sich weigerte, anständig zu sterben.
Seufzend rückte er seinen glänzenden Brustharnisch und den Helm mit der eindrucksvollen Schmuckfeder zurecht und ging auf die Gruppe grüngewandeter Wächter zu.
"Mein Name ist Feldwebel Webel", sprach er denjenigen an, der seiner Meinung nach einer Respektsperson am nächsten kam. Der Wächter grinste ihn unverschämt an und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Macht nichts, wir sind da tolerant."
Finster starrte Onno zurück. "Am besten zeige ich ihnen gleich, woher hier der Wind weht" , dachte er.
"Behaltet bloß eure Hände bei euch. Wenn nachher etwas fehlt, dann werden wir es merken!"
Einer der Gnome, der sich bei näherer Betrachtung als weibliches Exemplar herausstellte, stemmte bestimmt die Arme in die Hüften.
"Nun, Feldwebel. Ich bin Oberleutnant Venezia Knurblich und wir haben alle unsere Körperteile unter Kontrolle, keine Sorge. Wenn Sie uns jetzt zeigen könnten, wie wir der Palastwache unter die Arme greifen können, wären wir ihnen sehr verbunden." Der Tonfall der kleinen Person war zuckersüß, aber von der Art, die das Gift unter der Zuckerkruste erahnen ließ. Der Feldwebel beschloss, die Gnomin zu ignorieren, machte auf den Hacken kehrt und führte die FROGs zu einer riesigen Flügeltür, die er mit Mühe aufstemmte.
"Dies ist der Thronsaal, in dem heute Abend das Fest stattfinden wird. Alles was ihr tun müsst, ist still an der Wand zu stehen, aufzupassen, das niemand etwas klaut und imposant zu wirken... soweit das für euch möglich ist."
"Das mag ja vielleicht Ihre Berufsauffassung sein. Wir erledigen unseren Job auf unsere Art."
Schon wieder diese nervige Gnomin.
"Rib und ich werden uns versteckt halten und ihr anderen mischt euch unter die Gäste. Dadurch wiegen wir mögliche Attentäter, sollte es welche geben, in Sicherheit.", fuhr sie an ihre Kollegen gewandt fort.
"Ich könnte beim Getränkeservieren helfen", meldete sich die dunkelhäutige Frau zu Wort, "da kommt man im ganzen Saal herum und wird meistens übersehen. Gut zum Belauschen von Gesprächen."
"Sie wollen unsere Gäste belauschen ??" entrüstete sich Onno, doch die Wächter waren genauso gut darin, Leute zu ignorieren, wie er selbst.
"Gute Idee, Kanndra. Lass dir alles zeigen. Wir suchen uns ein passendes Versteck und ihr besorgt euch die richtige Kleidung", kommandierte der Oberleutnant.

Am Abend


[Geiz/Habgier]

Der Patrizierpalast war hell erleuchtet. Überall brannten Kerzen und Fackeln, kostbare Gläser und Spiegel warfen den Lichtschein hundertfach zurück. Die bunten Kleider der Damen raschelten und wetteiferten um die auffälligste Farbe. Leider war schrilles Pink die Farbe der Saison, was einigen Festteilnehmern noch Tage später Kopfschmerzen bereitete.
Rogi Feinstich stand am Tor des Palastes und kontrollierte die Einladungskarten der Gäste. Eine sehr traditionelle Aufgabe, wie sie befriedigt feststellte. Immer wieder wiederholte sie die Sätze: "Entfuldigen Fie, Fir. Könnte ich Ihre Einladungfkarte fehen?"
Der Abend war bereits so weit fortgeschritten, dass die meisten Eingeladenen schon an ihr vorbeigekommen waren. Aus diesem Grund hatte die Obergefreite ein wenig Zeit. Müßig beobachtete sie die Ankunft einer in schreiendem Rot gehaltenen Kutsche, die ein blau-silbernes Wappen mit einer ebenfalls roten Blume in der Mitte zierte. Ein Bursche in Livree sprang sofort hinzu, als das Gefährt vor dem Eingang hielt und riss die Tür auf. Anschließend war er einer dürren Frau beim Aussteigen behilflich, deren Kleid auffällig schimmerte, nur übertroffen von der wunderschönen Perlenkette um ihren Hals. Ihr Gesicht jedoch war verkniffen und erinnerte an eine Ziege. Geflissentlich übersah sie die ausgestreckte Hand des Burschen, der sich, obwohl vom Patrizier angestellt, für seine Dienste ein Trinkgeld erhoffte. Auch bei ihrem Begleiter, einem Mann von beträchtlichem Körperumfang, der selbst Kommandeur Rince vor Neid erblassen lassen würde, hatte er kein Glück. Wütend knallte er die Tür der Kutsche zu, was ihm wiederum einen tadelnden Blick des Kutschers einbrachte.
Währenddessen schritt das ungleiche Paar auf Rogi zu und die Igorina sagte pflichtschuldigst ihren Spruch auf. Sie bekam eine Karte mit Goldrand gereicht, auf der stand:

LORD VETINARI LÄDT SIE, Bürgermeister Brückenstein nebst Gattin HERZLICH ZU DEN FESTIVITÄTEN AUS ANLASS DES UNGEFÄHR ZWEITAUSENDJÄHRIGEN JUBILÄUMS DER STADT ANKH-MORPORK AM 24. SEKTOBER IN DEN PATRIZIERPALAST, ANKH-MORPORK EIN.
Um Abendgarderobe wird gebeten

"Zigarette?" Theo Jäger, seines Zeichens Kutscher, hielt dem verärgerten Burschen die Glimmstengel unter die Nase. Rolf bediente sich und zusammen genossen sie die beruhigende Wirkung des Tabaks.
"Da hast du dir ja eine feine Herrschaft ausgesucht."
"Ich bin bei der Stadt Quirm angestellt und kutschiere normalerweise Touristen zu der berühmten Blumenuhr. Aber der Herr Bürgermeister ist zu geizig, um sich eine eigene Kutsche zu leisten." Theo winkte ab.
"Der feine Pinkel? Der hat doch sicher genug Geld, um sich einen eigenen Fuhrpark zu kaufen. Obwohl, sein Anzug war ja nicht gerade die neueste Mode und auch schon ganz schön fadenscheinig."
Der Kutscher nickte. "Das einzige, wofür die Geld ausgeben sind Essen für ihn und Kleider für sie. An allem anderen sparen sie, als ständen sie kurz vor dem Verhungern. Verstehe einer die Reichen."
Er warf den Stummel seiner Zigarette auf den Boden und drückte sie mit dem Fuß aus. "Jetzt muss ich mich um die Pferde kümmern. Und du hast auch Kundschaft", nickte Theo zu einem verspäteten Wagen.

Im Thronsaal des ehemaligen Winterpalastes war das Fest im vollen Gange. Alle hochrangigen Bürger der Stadt waren eingeladen. Mustrum Ridcully begrüßte seinen Bruder, die Gildenoberhäupter versuchten sich aus dem Weg zu gehen und Kommandeur Rince nickte heimlich seinen Wächtern zu. Natürlich war auch der Adel vertreten und trug hochnäsig seinen Reichtum zur Schau. Lord Vetinari schien überall zu sein und erschreckte mehr als eine Gruppe durch sein plötzliches Auftauchen in ihrer Mitte. Mehr oder weniger laut geführte Konversation, unterbrochen von Gläserklirren und Gelächter bildete eine Geräuschkulisse, die wie Meeresrauschen an das Ohr brandete.
Gelegentliche Satzfetzen waren zu verstehen, als Kanndra mit einem Tablett voller Gläser mit Sekt und Sumpfdracheneierpunsch, dem Modegetränk des Jahres, durch die Menge wanderte.
"... außerordentlich gutes Wetter dieses Jahr..."
"... den mit der Augenklappe? Horrorroman-Autor und Parawissenschaftler soll er sein..."
"... Preise kräftig angezogen. Das ist nicht mehr..."
"... Jean-Pierre sich wieder selbst übertroffen, diese Locken..."
"Noch ein Getränk, Sir?" fragte die Wächterin laut und hielt Araghast, der in seinem Smoking ungewohnt aussah, das Tablett hin. Leise fügte sie an: "Noch nichts Auffälliges, nur die Üblichen Gerüchte und Intrigen."
"Ja, sehr gern", antwortete Bregs und flüsterte zurück: "Bei mir auch nicht. Hör dich weiter um."
Als der Püschologe sich ein Glas genommen hatte, mischte die Späherin sich wieder unter die Gäste. Sie hatte sich eine Dienstmädchenuniform geliehen und setzte ihre Illusionsgabe ein, um noch unauffälliger zu wirken. Die Reichen und Mächtigen sahen in ihr wahrscheinlich nicht mehr als ein Möbelstück und gaben sich keine Mühe, etwas vor ihr zu verbergen. Ihre Tarnung funktionierte perfekt. Nun, nicht ganz.
"Reichen Sie mir doch ein Glas von diesem köstlichen Punsch."
Jane Vetinari stand plötzlich vor Kanndra und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. "Sie müssen mir sofort erzählen, was all diese Wächter hier tun, meine Liebe" flüsterte sie in der Lautstärke eines Düsenjets. "Mein lieber Neffe weigert sich mal wieder, mir irgendeine Auskunft zu geben."
"Wir unterstützen nur die Palastwache, reine Routine", versuchte die Wächterin so leise wie möglich zurückzugeben.
Ein paar Herren in ihrer Nähe hatten sich bei der "diskreten" Erkundigung der Tante des Patriziers von ihnen zurückgezogen und steckten nun am anderen Ende des Saales die Köpfe zusammen, soweit sie das durch die hin- und herwogende Menge erkennen konnte.
"Entschuldigung, ich muss weiter..."
Doch so leicht ließ sich Tante Jane nicht abschütteln. "Wie geht es denn dem reizenden Kommandeur?"
Das war Kanndras Chance. Sie deutete zum Büffet, das gerade von ihrem beleibten Chef gemustert wurde. "Er ist auch eingeladen. Dort drüben steht er."
"Ah, da ist er ja. Unter den ganzen Zauberern habe ich ihn gar nicht gesehen. Übrigens eine ganz exquisite Kette, die die Gattin des Quirmer Bürgermeisters trägt, nicht wahr?" Ohne eine Antwort abzuwarten, zwinkerte Fräulein Marmor der Späherin noch einmal zu und segelte dann auf den bedauernswerten Kommandeur zu. Irritiert blickte Kanndra ihr hinterher und fragte sich, was sie wohl damit wieder sagen wollte. Die verschwörerischen Herren hatte sie längst aus den Augen verloren, deshalb beschloss die Hauptgefreite, mal die Gabeln auf dem Büffettisch zu zählen. Zufällig standen die Dame mit der erwähnten Kette und ihr Gatte genau daneben.

"Nun guck dir diesen Vetinari an, Willibald. Wie er da rumstolziert, als wäre er sonst wer. Ich bin froh, dass er damals das Heiratsangebot meines Vaters abgeschlagen hat. Stell dir vor, sonst wäre ich jetzt mit ihm verheiratet und nicht mit dir." Ihre Stimme klang irgendwie zornig.
eins... zwei...
"Mhhmm. Diese Pasteten sieht wirklich köstlich aus..."
"Jetzt denk doch nicht immer nur ans Essen, Willibald. Wenn Quirm so groß wäre wie Ankh-Morpork, was könnten wir für Steuern einnehmen! Was könnten wir uns nicht alles leisten!" Die Habgier blitzte aus ihren Augen, als sie sich die Möglichkeiten vorstellte.
"Wie du meinst, Hildegunda", antwortete Brückenstein träge.
"Sieh dir zum Beispiel mal das Kleid von Lady Schattenfroh an. Einfach traumhaft!"
fünfzehn... sechszehn...
Der dicke Bürgermeister drehte sich in die angegebene Richtung um und warf einen kurzen Blick auf die ältliche Dame, von der seine Frau geredet hatte. Doch während sie weiterhin neidisch auf das Kleid schielte, hatte er bald einen lohnenderen Ausblick gefunden. Eine junge Adlige, die sich anscheinend nicht zwischen sauren Gürkchen und Erdbeertörtchen entscheiden konnte, beugte sich unentschlossen über die Angebote. Dabei wurde Brückenstein ein tiefer Einblick in ihren Ausschnitt gewährt. Und ihr kleiner Hintern zeichnete sich so deutlich unter dem dünnen Stoff des Kleides ab, dass sich bei ihm auch bald etwas abzeichnen würde. Vielleicht sollte er der Kleinen ein wenig Entscheidungshilfe geben...
"Willi! Du könntest dich wenigstens in der Öffentlichkeit zusammenreißen."
sechsunddreißig... nein, achtunddreißig oder doch...
Hildegunda zerrte ihren Gatten weiter in den Saal hinein, so dass Kanndra nicht mehr alles verstehen konnte, was sie sagte. Das einzige, was noch bei ihr ankam, klang wie "...Tochter eines der ältesten Geschlechter Ankh-Morporks... Wasser reichen..." Dabei wanderte das Kinn der Frau ein paar Zentimeter nach oben, so dass sie ihre Nase im wahrsten Sinne des Wortes hoch trug.
Die Hauptgefreite zuckte die Schultern. Viel hatte sie sowieso nicht erfahren, nur dass sie dieses Ehepaar garantiert nicht zu ihren Freunden zählen würde, selbst wenn sie in den selben Kreisen verkehren würden. Seufzend nahm sie das Tablett wieder auf und machte sich erneut auf den Weg. Langsam machte dieser Job keinen Spaß mehr. Ihre Füße jedenfalls verlangten dringend nach einer Pause und das ganze Geschwätz hing ihr schon zu den Ohren heraus.

Valdimier fühlte sich wie zu Hause. Endlich wieder geschmackvolle Kleidung tragen und die einladenden Hälse junger Frauen betrachten... Aber er musste sich zurückhalten. Es würde seiner Karriere bei der Stadtwache wahrscheinlich nicht gerade förderlich sein, sollte er über einen Gast des Patriziers herfallen. Vor allem durfte er nicht zuviel Alkohol zu sich nehmen, denn dann konnte er für sein Benehmen nicht mehr garantieren. Die Konversation fiel ihm ebenso wie Araghast ein wenig schwer. Die spitzen Zähne schreckten die meisten Gesprächspartner ab und es war unmöglich, sie zu verstecken und sich trotzdem verständlich zu machen. Ein kurzer Blick zu dem Püschologen zeigte ihm jedoch, dass zumindest einige Damen ihre Abneigung gegen dentale Auffälligkeiten überwunden haben mussten, denn Bregs war von bunten Seidenkleidern umringt. Allerdings schien er sich dabei nicht sehr wohl zu fühlen. Er schaute mehrmals hilfesuchend um sich und lächelte höchstens mal schüchtern eine der auf ihn einredenden Frauen an. Sein berühmter Zynismus schien ihn im Stich zu lassen. Valdimier wäre seinem Freund gerne zu Hilfe gekommen, doch die Verlockung von all der nackten, duftenden Frauenhaut war einfach zu groß. Schnell reckte er den Hals und sah sich nach seinen anderen Kollegen um. Kanndra schleppte gerade ein weiteres Tablett vom Büffet fort und sah dabei etwas frustriert aus, Sidney stand in einer Ecke und starrte finster auf die sich amüsierenden Gäste und Mindorah schien in ein angeregtes Gespräch mit einer Dame verwickelt zu sein. Angesichts seines trockenen Halses beschloss der Leichte Armbrustschütze, sich doch noch ein Gläschen Sekt zu genehmigen.

Willibald Brückenstein hatte sich endlich von seiner Frau befreit und konnte sich ganz dem Essen widmen. Er wusste gar nicht wo er anfangen sollte bei den ganzen Köstlichkeiten, die sich vor ihm stapelten. Und dazu war es auch noch umsonst! Was regte die alte Schnepfe sich also auf. Mit dem Teller voller Fischpasteten, die er eine nach der anderen in sich hineinstopfte, musterte er die vorbeigehenden Damen.
"Manche Leute sind ganz schön unverschämt", zischte der Dekan und versuchte noch eine Tomate auf dem Essensberg auf seinem Teller unterzubringen.

Das war wirklich eine gute Idee gewesen. Venezia lehnte sich an den Deckenbalken und leckte sich das Würstchenfett von den Fingern. Hier oben hatte sie den totalen Überblick. Und falls es die Situation erforderte konnte sie sich schnell abseilen, dank des mit einem kleinen Haken versehenen Nylonfadens aus Rogis Nähkästchen. Die Bewegungen der Masse sahen aus der Vogelperspektive sehr interessant aus. Kurz kam ihr der merkwürdige Gedanke, Leute mit roten und weißen Punkten zu kennzeichnen, aber den verdrängte sie schnell wieder. Rib saß nicht weit entfernt von ihr ebenfalls mit einem Nylonfaden ausgerüstet und versuchte sich die Zeit zu vertreiben. Ganz wohl war ihr bei der Einstellung des blauen Kobolds immer noch nicht. Eigentlich wartete sie nur darauf, dass er einen Fehler machte, der sie in die Lage versetzen konnte, ihn zu schikanieren. So ganz fair war das natürlich nicht. Nur weil er ein Problem mit ihrem Onkel hatte, hieß das ja nicht, dass er ein schlechter Wächter war. Und was seine Eigenheiten betraf: Welcher Wächter hatte keine Macken? Trotzdem, sie hatte ein schlechtes Gefühl bei dem Kerl. Und seinen Gefühlen sollte man trauen, oder?
Sie riss sich aus ihren Überlegungen und beobachtete weiter das Fest unter ihr.
"Wahrscheinlich passiert sowieso nichts und die Palastwächter haben einfach das Falsche gegessen. Wissen eben nicht, was gut ist die Jungs" , dachte sie.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, fing es an.

"Entschuldigen Sie bitte, meine Dame", säuselte Gisbert Kieselschlucker, "Sie haben hier ein kleines Tier sitzen."
"Wo?", kreischte Hildegunda, "Machen Sie es sofort weg."
"Schon geschehen", antwortete der aufmerksame Kavalier und wischte über Hildegundas Hals.
"Vielen Dank..." setzte Frau Brückenstein an, wurde jedoch von einem rüden "Hände hoch und keinen Mucks alle zusammen" von der Tür des Saales her unterbrochen.
Sofort herrschte Stille. Etwa drei Sekunden lang. Dann begannen einige Damen in Ohmacht zu fallen und der Rest der Gäste die Situation zu diskutieren.
"RUHE, verdammt noch mal", brüllte eine der fünf vermummten Gestalten, die gespannte Armbrüste auf die Gesellschaft richteten.
Der Geräuschpegel sank wieder.
"Na also, geht doch. Jetzt werden alle schön ihren Schmuck in diesen hübschen Sack tun und keinem wird etwas passieren", fügte der Vermummte an, während einer seiner Komplizen einen aus schwarzen Stoff bestehenden Beutel hervorholte und durch die Reihen zu gehen begann.
"Ich darf die Herren darauf hinweisen, das dieses Gebäude voller Überraschungen steckt", meldete sich Lord Vetinari zu Wort, der die Maskierten mit einem Blick musterte, der sagte: "Ich weiß genau, wer du bist. Und deine Zukunft hält wenig Schönes bereit."
"Und ich darf Sie darauf hinweisen, dass dies hier unter unlizensierten Diebstahl fällt", mischte sich Herr Boggis ein. "Und den sehen wir gar nicht gerne."
"Das ist uns doch egal", antwortete ein zweiter Sprecher, doch seine Stimme zitterte dabei leicht.
Währenddessen versuchte Kanndra das Tablett auf einer Hand zu balancieren und unauffällig nach ihrem Dolch zu greifen. Mehr hatte sie leider nicht einstecken können, ohne dass es aufgefallen wäre. Aus den Augenwinkeln sah sie Valdimier ebenfalls unter seinem Umhang nach seiner Armbrust tasten. Dabei schob er sich langsam an einen der Bewaffneten heran. Die Späherin tat es ihm gleich. Die anderen Wächter konnte sie im Moment nicht sehen, doch sie war sicher, auch diese hatten sich schon einen der Täter ausgeguckt.

Hildegunda Brückenstein tastete voller Angst nach ihrer Halskette, als der unheimliche Räuber vor ihr stand und ihr auffordernd den Sack unter die Nase hielt. Doch da war nichts. Vor Schreck vergaß sie, dass sie gerade dabei gewesen war, das Schmuckstück einem Verbrecher zu übergeben.
"Meine Kette ist weg! Jemand hat meine Kette gestohlen! Sie ist ein Familienerbstück!", schrillte ihre Stimme durch den Saal.
Der Kopf des anscheinenden Anführers der Räuberbande fuhr herum. "Das war nicht zufällig ein Collier mit ach...mehreren schwarzen Perlen, oder?"
"Doch, woher..."
"Also gut, wer hat sie? Rück sie sofort raus oder du wirst dir noch wünschen, diesen Tag nie erlebt zu haben."
Gisbert machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten. Wenn er nur eine Möglichkeit sehen würde, unauffällig aus diesem Saal zu verschwinden! Gut, dass er wenigstens an den falschen Bart gedacht hatte, sonst würde ihn einer dieser Wächter wohlmöglich noch als die vermeintliche Geisel Fischer erkennen.

"Hier, halt mal." Kanndra hatte dem ihr am nächsten stehenden Bewaffneten einfach das Tablett in die Hand gedrückt, der ohne nachzudenken zugegriffen hatte. Durch die Bewegung löste sich ein Schuss. Der Bolzen durchschlug ein Halteseil des Kornleuchters, der dadurch in Schieflage geriet, veranlasste Rib, sich bäuchlings auf den Balken zu werfen, auf dem er gerade stand und blieb schließlich in der Decke stecken. Der Räuber starrte einen Moment die Wächterin an, die inzwischen ihren Dolch gezogen hatte, ließ das Tablett fallen und stürzte sich dann auf die Hauptgefreite, die sich zu wehren versuchte.
Das Klirren war aber auch das Signal für die anderen FROGs gewesen, aktiv zu werden. Alle zogen ihre Waffen und drangen auf ihren Gegner ein.
Ein Fausthieb von Araghast setzte den einsammelnden Dieb außer Gefecht, der den Beutel mit Schmuck fallen ließ. Sofort stürzten sich die Damen der Gesellschaft darauf und begannen, sich um die einzelnen Stücke zu raufen. Vorneweg Hildegunda Brückenstein, die noch gar nichts in den Beutel geworfen hatte.
Von oben seilten sich zwei Gnome ab und sprangen den Tätern ins Genick. Nun, jedenfalls hatten sie das vor. Venezia segelte mit Schwung an ihrem Ziel vorbei, erwischte beim Zurückschwingen jedoch die Nase des Mannes, die ein hässliches Knacken von sich gab. Dieses hörten allerdings nur die unmittelbar neben ihm Stehenden, denn Rib hatte unglücklicherweise vergessen, die neue Position des Kronleuchters in seine Flugbahn einzurechnen. Er klirrte und schwankte bedrohlich, als der blaue Kobold in ihm hängen blieb.
"Sofort aufhören oder ich schieße!" ließ der Anführer des Überfall-Kommandos die Kämpfenden für einen Augenblick in ihrer Position verharren. Er hatte die Waffe auf Mindorahs Kopf gerichtet.
Plötzlich gab der Kronleuchter nach, der an einer letzten, rostigen Schraube gehangen hatte. Er fiel auf den Anführer, Mindorah und die sich in den Haaren liegenden Damen. Die Kerzen steckten zwei Ballkleider und die Tischdecke des Büffets in Brand, was zu hektischen Löschversuchen mit den vorhandenen Getränken führte. Währenddessen versuchten die von dem Kronleuchter Begrabenen ihre Gliedmaßen zu sortieren und sich von Kristall und Wachs zu befreien. Nur Frau Brückenstein bewegte sich nicht mehr. Der Leuchter hatte sie erschlagen.
Rib krabbelte an dem Vermummten hoch, der sich bereits wieder befreien konnte und hielt ihm seinen Gnomendolch unter das Auge.
"Keine unbedachte Bewegung, sonst brauchst du bald keinen Augenarzt mehr", drohte er ihm.
Niemand bemerkte den kleinen, ältlichen Mann, der sich durch die Tür nach draußen drückte.
Ebenfalls unbemerkt sank der Bürgermeister von Quirm neben dem Büfett zusammen. Sein Gesicht war blau angelaufen und eine Gräte blockierte die Luftröhre.

Kanndras Gegner hatte die Hände um ihren Hals gelegt und drückte zu. Langsam wurde der Späherin die Luft knapp, als ihr plötzlich ein Bild von einem grässlichen Monster mit glühenden Augen und pickliger Haut durch den Kopf ging. Fast ohne nachzudenken nahm sie diese Form an. Der Räuber reagierte instinktiv und prallte von ihr zurück. Rince stand bereits hinter ihm, packte seine Arme und drehte sie ihm auf den Rücken.
"Im Namen der Stadtwache verhafte..."
"Nichts da, die gehören uns", unterbrach ihn "Flanellfuß" Boggis, der einer der Überwältigten die Wollmütze vom Kopf gerissen und in ihm ein Mitglied seiner Gilde erkannt hatte.
"Flinker Johnnie, Finger, Elmar, Beutel-Bob und Tom Potter, wer auch sonst", zählte er die Missetäter auf.
"Wir... wir erkennen die Gilde nicht mehr an. Wir sind gegen diese ganze Regelmention, oder wie das heißt", rief Elmar aus.
"Genau, Schluss mit Quote. Wir wollen endlich reich werden. Und zwar auf unsere eigene Rechnung", kommentierte Tom Potter, der versuchte, seinen Kopf möglichst weit außer Reichweite des Gnomes auf seiner Schulter und dessen spitzen Gegenstands zu bringen, während ihm Mindorah die Hände fesselte.
"Und dieser Zeitungsartikel mit der Ikonographie von der Kette hat uns auf die Idee gebracht, gleich heute damit anzufangen", mischte sich Finger ein.
Boggis schüttelte bekümmert den Kopf. "Alles was es euch eingebracht hat, ist Ärger."
"Für uns existiert die Gilde nicht mehr. Und damit auch nicht ihr Strafsystem.", wagte Tom mutig einzuwerfen.
"Du wirst noch merken, wie existent unser Strafsystem ist", grinste Boggis und nickte einer Gruppe Herren zu, die die erfolglosen Räuber von den Wächtern übernahmen und abführten [2].
"Wieder mal ein erfolgreicher Einsatz im Kampf gegen das Verbrechen", seufzte Venezia Knurblich.
"Ich störe ja nur ungern", war eine weibliche Stimme zu hören, "aber wir haben zwei Tote im Saal."
Vetinari hob eine Augenbraue und warf einen Blick auf die beiden Leichen. "Ich fürchte nur, dein Scharfsinn ist hier nicht gefragt, Tante Jane. Die beiden sind Opfer ihrer... Leidenschaften geworden."


Epilog

[Trägheit]

"Das habe ich doch alles schon ihren Kollegen erzählt", beschwerte sich der Bankdirektor bei dem Stellvertretenden Abteilungsleiter der FROGs.
"Dann erzählen Sie es mir ruhig noch mal. Es könnte wichtig sein."
"Wichtig wofür?" Wieselflink verdrehte die Augen. "Na schön, wenn Sie darauf bestehen. Also, der Kerl kam rein und fuchtelte mit einer Armbrust herum. Zum Glück waren gerade nur mein Angestellter und ich in der Bank. Dann musste ich Günter... ich meine Herrn Naseweis fesseln und der Räuber hat ihm noch einen süßlich riechenden Lappen vor das Gesicht gedrückt. Dadurch wurde Günter ohnmächtig und mich hat er dann gezwungen, das Schließfach von Herrn Brückenstein zu öffnen. Danach wurde mir schwarz vor Augen und mehr weiß ich nicht."
"Und Sie sind sicher, dass Sie keine Anzeige erstatten möchten, Herr Wieselflink?", fragte der Püschologe.
"Ganz sicher. Das wirbelt doch nur Staub auf und dann gehen die Kunden woanders hin."
"Aber wenn der Täter davon kommt, versucht er es vielleicht noch einmal", wandte Araghast ein.
Wieselflink schüttelte den Kopf. "Das ist egal. Uns ist es am liebsten, wenn wir das alles einfach vergessen können. Am besten so tun, als sei gar nichts passiert."
"Wenn Sie meinen." Der Halbvampir fragte sich, was Sigismund Leid wohl zu so einem Typen gesagt hätte. Er stand auf und schüttelte dem Mann zum Abschied die Hand. Dann holte er "Der Hexer vom Ankh, 56. Folge: Schrecken der Finsternis" aus der Schublade und ließ Akten Akten sein.

[Neid]

Der Kreis der versammelten Gläubigen beobachtete, wie die Perlen sich langsam in der Salzsäure aufzulösen begannen.
Gisbert war glücklich. Er dachte noch einmal an das Gespräch mit Bruder Ramon zurück.
"Sehr gut, Bruder. Damit hast du deinen Fehler von der Bank wieder gut gemacht", hatte er ihn gelobt. Es war aber auch Pech gewesen, das der dicke Bürgermeister die Kette bereits aus dem Schließfach geholt hatte, als er in die Bank eingedrungen war. Aber er hatte Recht gehabt. SIE hatte ihm vergeben und ihm nicht nur einen Weg aus der Bank gezeigt, sondern auch die Erfüllung seiner Mission ermöglicht. Gisbert war stolz, das Bruder Ramon ihn ausgewählt hatte, um die Vision, die Hylda, die Göttin der Tugend, ihm gesandt hatte, Wirklichkeit werden zu lassen.
"Die Perlen der Sünde müssen vernichtet werden." Das hatte der Bruder den Gläubigen vor Wochen gepredigt. Und er, Gisbert, hatte es tatsächlich geschafft! Gleichzeitig beneidete er Ramon wegen dieser Vision und weil er dadurch der geistige Führer ihrer Gemeinschaft wurde. Er war schließlich viel älter und erfahrener als dieser Jungspund.
An der Wand saß eine Fliege und putzte zufrieden ihr Köpfchen.
"Immerhin bin ich schon gewachsen", dachte Hylda und nahm sich als nächstes die Flügel vor. Zweitausend Jahre als Mücke waren auch wirklich genug gewesen. Und die Essenz der priesterlichen Sünden, durch den magischen Unfall damals alles was von den Bedauernswerten übrig geblieben war, löste sich gerade auf. Gut, dass sie endlich ein williges Ohr gefunden hatte, in das sie ihren Auftrag pflanzen konnte. Die Perlen würden zumindest niemanden mehr der acht tödlichen Sünden preisgeben. Das hieß natürlich nicht, dass sie gewonnen hatte. Sünde würde es geben, solange es Menschen gab. Aber vielleicht konnte sie irgendwann wieder mehr Gläubige gewinnen...

Versonnen blickte der Bäckerlehrling aus ihrem Geschäft auf die Straße. In seinen Tagträumen sah er sich schon als Oberpriester einer riesigen Gemeinde Gläubiger, die regelmäßig in Hyldas großen, wunderschönen Tempel kommen. Mit der Idee seines Lehrherrn, was dieses Gebäck betraf, war er überhaupt nicht einverstanden gewesen. Seiner Meinung nach verharmloste er damit die acht tödlichen Sünden und verdiente auch noch Geld damit! Aber was konnte man als Lehrling schon dagegen machen.
Die Ladenglocke unterbrach seine Träumerei. Die dunkelhäutige Wächterin war wiedergekommen und lächelte ihn an. Die hatte eine Figur! Wahnsinn. Aber wahrscheinlich wollte sie sowieso nichts von einem armen Lehrling wissen. Er gab ihr das Brötchen, das sie verlangte und nahm ihr Geld. Da sagte sie plötzlich: "Ich kenne da eine kleine Pizzeria. Hast du vielleicht Lust, mal mit mir hin zu gehen?"
Er konnte sein Glück gar nicht fassen. "Gern", antwortete er. Etwas mehr hätte er schon sagen können, was sollte sie jetzt von ihm denken?
"Ich heiße übrigens Kanndra. Und du?"
"Ramon."

[1] s. "Geiselnahme" von Sidney

[2]  wenn sich jemand wunderte, was so viele Diebe auf einem Fest des Patriziers zu suchen hatte, wagte er es nicht laut auszusprechen

Zählt als Patch-Mission.



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