Die Brücke am Ankh

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von Wächterin Agnetha vom Ankh (GRUND)
Online seit 15. 09. 2003
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Auf dem heutigen Ausbildungsplan steht: Verfolgungsjagd. Verbrecher zu jagen und dann auch zu fangen ist unabdinglich im Wacheleben. Als Übung mußt du deinen Ausbilder verfolgen. Stoppe ihn mit allen erdenklichen Mitteln! (ohne ihn natürlich körperlich zu verletzen)

Dafür vergebene Note: 13



Leise und zaghaft klopfte es an die Tür des Wachegebäudes in der Kröselstraße.
Kurz schenkte Will Passdochauf dem Eingang einen Blick, holte Luft um etwas wie 'Herein' von sich zu geben, überlegte es sich dann aber doch anders und wandte sich wieder der Zeitung zu, die vor ihr ausgebreitet auf dem Tresen lag.
Sie hatte schon so viel in der Wache gelernt, dass sie wusste, dass man einen nächtlichen Klopfer am Rande der Schatten nicht einfach so zum Eintreten auffordern sollte, er könnte es wörtlich nehmen. Außerdem bedeuteten Klopfer an Wachetüren in den meisten Fällen Arbeit, und Arbeit und Nachtschicht vertrugen sich nicht.
Noch einmal klopfte es, immer noch leise jedoch nicht mehr so zaghaft.
Seufzend erhob sich Will, faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Mit einer Tasse bewaffnet erteilte sie dem Kaffeedämon einen Befehl. Eine halbe Minute später saß sie wieder auf ihrem Platz, Dampf stieg aus ihrer Tasse empor und leises Rascheln verkündete, dass sie mit der Zeitung noch nicht fertig war.
Jetzt klopfte es nicht mehr, aber das leichte Quietschen machte deutlich, dass die Tür geöffnet wurde. Ein schwacher Windhauch wehte hinein, tanzte lustig durch den Raum und brachte die Zeitung zum knistern. Will holte tief Luft um zu einem Satz anzusetzen bei dem es um Unhöflichkeit ging, denn nichts anderes war es für sie, wenn jemand unaufgefordert das Haus betrat, noch dazu in der Nachtschicht, da passierte es: Für einen kurzen Moment legten ihre Nasenschleimhäute ihren Betrieb lahm, ihre Augen fingen an zu brennen und füllten sich mit Tränen, dann wandte sich ihre Nase per Notruf an ihr Hirn. Es stank. Es stank bestialisch. Es stank fürchterlich. Es stank unheimlich. Es stank, wie die Rekrutin es noch nie zuvor erlebt hatte!
Keuchend sprang sie von seinem Stuhl auf, erwischte dabei ihre Kaffeetasse mit dem Ellenbogen, ein großer Schwall schwappte heraus und machte damit die Zeitung für die nachfolgenden Tresenrekruten unbrauchbar. Sie stürzte zum Fenster, riss es weit auf und holte tief Luft. Mühevoll blinzelte sie die Tränen aus ihren Augen weg.
"Entschuldigung, ich hatte geklopft, aber ich habe keine Antwort bekommen", riss sie eine schüchterne Stimme aus ihren lebensrettenden Maßnahmen.
"Ich bin hier wegen der Nachricht."
Tapfer drehte die Rekrutin sich um. Die junge Frau hatte die Tür hinter sich wieder geschlossen und war bis in die Mitte des Raumes vorgetreten. Sie war nicht groß, vielleicht einen Meter sechzig, ihre Haare waren von einem dreckigen blond, an ihrem mageren Körper trug sie eine Hose und ein Hemd, beides in ungesunden Grün- und Brauntönen und aus einem Material welches Will beim besten Willen nicht einordnen konnte. Etwas war an ihrer Erscheinung, was in der Rekrutin den unbestimmten Wunsch hervorrief, sich ein Tuch vor Mund und Nase zu halten, um sich nicht mit was auch immer es war anzustecken.
"Ich möchte diese Person sprechen, sie teilt mir hier mit, dass meine Hilfe erwünscht ist."
Die Frau rollte umständlich eins der Wacheplakate aus, die überall in der Stadt verteilt hingen und deutete auf die Zeichnung des Trolls. Bei jeder Bewegung schwappte Will eine neuerliche Welle Gestankes entgegen, doch Nasen und Augen waren anpassungsfähig, zumindest die der Personen, die in dieser Stadt lebten.
Verwirrt schaute Will die Frau an. "Du brauchst Hilfe? Ärztliche Hilfe, nicht wahr?"
Sie legte den Kopf schief und schaute einen Moment zur Decke als würde sie einer Stimme lauschen. "Ah ja, Hilfe... nein, ich brauche keine Hilfe. Dieser Mann hier braucht Hilfe, meine Hilfe." Wieder deutete sie auf das Bild, betont langsam, als hielte sie Will für nicht ganz bei Sinnen, was zumindest bei dem Geruchssinn zurzeit gar nicht so falsch war.
Ganz allmählich, durch einen Schleier von Gestank verborgen, begann die Rekrutin zu begreifen, was diese Frau wollte. "Ja... einen Moment bitte. Ich werde sehen, was ich tun kann." Sie beeilte sich, ihren Platz hinter dem Tresen und in der Nähe dieser Person zu verlassen, um das Büro der Ausbildungsleiterin Irina Lanfear aufzusuchen.

"Maam, Lanfear, Maam, das müssen Sie sehen!", platzte Will in das Büro der Leiterin der Ausbildungsabteilung. "Da ist etwas ganz merkwürdiges, ich glaube, ein neuer Rekrut!"
"Will Passdochauf, ich muss doch sehr bitten! Erstens ist es deine Pflicht anzuklopfen bevor du mein Büro betrittst, zweitens hast du nicht salutiert und drittens sage ICH, wann du mir etwas mitteilen darfst!" fuhr Irina auf und versuchte sich so unauffällig wie möglich den Schlaf aus den Augen zu wischen, sie musste über den Dienstplänen der Ausbilder eingeschlafen sein, anders konnte sie es sich nicht erklären um diese Uhrzeit noch hier zu sein.
"Maam, Entschuldigung, Maam", murmelte Will zerknirscht und holte hastig das Salutieren nach.
"Naja, aber wo du jetzt schon mal da bist kannst du mir auch berichten, was denn genau so aufregend ist, dass du alle Regeln dafür vergisst", lenkte Irina nun etwas sanfter ein.
"Naja, da ist diese Frau und die...", begann die Rekrutin hastig ihren Satz.
"Erwähnte ich, dass es spät ist und es mir deswegen angenehmer wäre, wenn du deine Erklärung etwas langsamer und deutlicher formulieren würdest?" Streng sah Irina Will an.
Diese schloss kurz die Augen um sich zu sammeln, atmete einmal tief durch und begann dann in bedächtigem Tonfall zu berichten: "Also Maam, das war so. Ich hatte Tresendienst und war gerade damit beschäftigt... ähm... mich genauestens über die Vorgänge in dieser Stadt zu informieren..."
"...du hast also Zeitung gelesen."
"...da klopfte es an die Tür, und eine Frau trat herein. Sie ist relativ jung, ziemlich mager und stinkt erbärmlich..."
"Na!"
"...nein, sie stinkt WIRKLICH erbärmlich! Naja, sie kam eben rein und sagte, sie habe eine Nachricht bekommen, dass man ihre Hilfe bräuchte und sie wolle die Person sprechen, die ihr diese Nachricht geschickt hat..."
"Und hat jemand von uns an diese Frau eine Nachricht geschickt?"
"Nein. Nun ja, nicht direkt. Jetzt kommt der merkwürdige Teil, sie hat eins unserer Plakate mitgebracht und wollte sehr dringend mit diesem Troll der da drauf ist sprechen. Sie meint, die Nachricht sei von ihm."
Kläglich blickte Will die Ausbildungsleiterin an. "Maam, ich glaube, sie möchte Rekrut werden."
"Also, noch einmal ganz langsam. Da vorne ist eine junge Frau, die einfach nur der Wache beitreten möchte... auf etwas unkonventionelle Art, das gebe ich zu, aber dennoch ist es nicht mehr als das Bewerben um einen Wächterposten. Und deswegen machst du hier so einen Aufstand? Ich meine, warum hast du sie nicht einfach zu meinem Büro geschickt?"
"Maam, Sie verstehen nicht... Sie haben das nicht GEROCHEN. Sie würden mich ihren Lebtag dafür hassen, wenn ich das getan hätte, den Gestank würden Sie nie wieder aus den Möbeln bekommen."
"Also gut..." Irina fing an sich langsam die Schläfen zu massieren. "ALSO gut... ich komme mit nach vorne und gucke mir das Ganze mal an. Ich will sowieso langsam nach Hause, da schadet es ja nicht, auf dem Weg mal einen Blick auf diese Frau zu werfen. Aber solltest du mich noch einmal, ich betone: EINMAL! mit so einer Lappalie belästigen, dann kenne ich jemanden, der sämtliche Fenster dieses Gebäudes putzt... mit einer Zahnbürste!"
Will wurde drei Zentimeter kleiner. "Ja Maam, natürlich, Maam" murmelte sie kaum hörbar.

Agnetha wartete, und begann schon nach kürzester Zeit, sich zu langweilen. Geduld schien für Menschen gemacht, sie konnte damit wenig anfangen.
Neugierig begann sie sich in der Empfangshalle umzusehen. So also sahen diese Häuser von Innen aus.
Wills immer noch halbvolle dampfende Kaffeetasse erweckte ihre Aufmerksamkeit, vorsichtig, als könne sie beißen, bewegte Agnetha sich um den Tresen herum und starrte in die schwarze Flüssigkeit. Es dampfte, aber es war nicht das gleiche Dampfen was etwas machte, was in den Ankh gefallen war und langsam zersetzt wurde.
Was man damit wohl machte?
Gerade wollte sie nach der Tasse greifen, um das Mysterium näher zu untersuchen, da hörte sie Schritte näherkommen und zwar aus dem Gang in dem die nette aber etwas verwirrte Frau vorhin verschwunden war.
Schnell bewegte sie sich wieder zurück in die Mitte des Raumes um dort zu warten.

Irina roch es schon von weitem, diesen ätzenden Gestank, der einem die Nase frei und die Augen feucht machte.
"Was bei allen Göttern ist das?", raunte sie Will zu.
"Ich hab doch gesagt, dass das eine Frau ist, die, glaube ich, Rekrut werden möchte, Maam."
"Du hast Recht... aller Höflichkeit zum Trotze kann man es nicht anders nennen; sie stinkt! Ich habe das Gefühl, als hätte mich jemand mit der Nasenspitze auf den Ankh gedrückt!"
Die beiden bogen um die Ecke und das Bild was sich der Ausbildungsleiterin bot, war ein bisschen enttäuschend.
Es war nur eine junge Frau, nicht besonders hübsch aber auch nicht hässlich, eines dieser Exemplare, welches man eigentlich immer übersieht, nur dass es in diesem Fall nicht zu überriechen war. Irgendwie hatte sich Irina das zu diesem Gestank gehörende Wesen größer und auf die eine oder andere Weise beeindruckender vorgestellt.
"Sie sind aber nicht die Person, die ich sprechen möchte", begrüßte die Frau sie mit dünner Stimme.
"Ach, und wen hast du gedacht, könntest du sprechen wenn nicht mich? Sei froh, dass ich überhaupt die Zeit finde, dich zu empfangen!", blaffte Irina. Sie mochte es gar nicht, so abgefertigt zu werden.
"Nun ja, es ist so. Dieser Mann hier..." wieder rollte Agnetha das Plakat aus. "...hat mir diese Nachricht hinterlassen. Er hat ja extra ein Bild von sich mit dazugepackt, damit ich ihn auch finde. Und jetzt bin ich hier, aber er ist nicht zu erreichen. Das finde ich... betrüblich."
Irina schenkte der Frau ein Lächeln wie man es sich für Verrückte und kleine Kinder aufsparte. "Junge Frau, es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber dieser Mann existiert gar nicht. Außerdem ist er ein Troll."
"Ich verstehe nicht... erst gibt es ihn gar nicht und dann ist er auf einmal ein Troll?"
"Nein, es gibt ihn nicht, aber würde es ihn geben, wäre er ein Troll. Und er hat dir mit Sicherheit keine Nachricht hinterlassen, weil es gibt ihn ja gar nicht. Alles klar?"
"Aber wenn es ihn doch nicht gibt, warum ist er dann auf dieser Nachricht drauf? Und wer hat mir dann diese Nachricht geschickt, wer braucht mich denn dann?"
"Maam, darf ich das Fenster aufmachen, Maam?" unterbrach Will, ihre Augen hatten inzwischen knallrote Ränder und tränten wie verrückt.
"Natürlich darfst du." Irina versuchte so flach wie möglich zu atmen, als sie sich wieder dem Gast zuwandte.
"Niemand hat dir diese Nachricht hinterlassen. Das hier ist ein Werbeplakat, wir werben damit neue Wächter für diese Stadt an. Sie hängen überall in der Stadt und wo auch immer du meinst, dass es für dich hinterlassen wurde, das war mit Sicherheit ein Unfall. Vielleicht haben Kinder es abgerissen und in deinen Hauseingang gelegt oder..."
"Nein, das glaube ich kaum. Wenige Kinder suchen meinen... Hauseingang auf."
"...oder es ist vom Wind dorthin geweht worden."
"Ja, letzteres könnte sein. Und was heißt das jetzt genau? Die Wache braucht mich?"
"Nun ja, wie ich eben versuchte zu erklären... es handelt sich nicht zwangsläufig um dich, sondern um jeden, der sich von diesem Plakat angesprochen fühlt. Er kann..."
"Ich fühle mich angesprochen."
"...dann solltest du als erstes aufhören mich andauernd zu unterbrechen!"
Die junge Frau schwieg.
"Gut... du möchtest also ein Wächter werden, habe ich das richtig verstanden?"
Agnetha nickte.
"Also, dann solltest du erstmal ein Formular ausfüllen, um dich offiziell zu bewerben." Irina ging zu dem Tresen und kramte dahinter herum.
"So, das hier ist es." Sie legte das Formular zusammen mit einem Graphitstift auf die Tresenfläche und winkte die Frau heran.
"Ich weiß gar nicht, ob ich schreiben kann." Agnetha legte den Kopf schief und betrachtete das Formular einen Augenblick lang. "Oh doch, ich sehe, ich kann schreiben."
Sie nahm den Stift in die linke Hand und legte los.
NAME: Agnetha vom Ankh
"Oh, von Adel? Ich kenne den Titel gar nicht, von wo kommt er denn?", unterbrach Irina die Schreibende interessiert.
"Oh, es ist kein... Adelstitel? Es ist... ein Herkunftsort. Agnetha vom Ankh heißt, dass ich Agnetha heiße und vom Ankh komme."
"Das erklärt einiges!" murmelte Will vom Fenster aus in den Nachtwind.
GESCHLECHT:
"Ich bin weiblich, nicht wahr?"
"In erster Linie scheinst du mir ein wenig verwirrt!"
GESCHLECHT: weiblich, schrieb Agnetha ohne auf die letzte Äusserung einzugehen.
ALTER: unbekannt.
"Du weißt nicht, wie alt du bist?" Irina schaute sie durchdringend an.
"Nein, ich kann mich nur an die letzten paar Tage klar erinnern, aber ich weiß, dass ich älter bin. Ich erinnere mich an... Geschichten. Geschichten aus anderen Zeiten, in denen von meiner Existenz berichtet wird."
"Dann schreib, circa 23. Ja, das trifft es denke ich ganz gut. Zumindest siehst du aus, als wäre das dein ungefähres Alter."
Agnetha strich das unbekannt mit einer sauberen Linie durch und tat wie ihr geheißen.
SPEZIES:
Einen Moment lang starrte die junge Frau auf das Wort vor ihr. Sie setzte den Stift an um ein G zu verfassen, hielt dann jedoch inne. Natürlich, sie könnte dort Göttin hinschreiben, es entsprach schließlich auch der Wahrheit, aber wusste das ihr Gegenüber auch? Sie erinnerte sich noch ziemlich lebhaft an das letzte Mal, als sie sich vor Menschen Göttin genannt hatte ohne es beweisen zu können; es hatte wirklich weh getan!
SPEZIES: Mensch
"Das hat aber lange gedauert..." Irina lächelte. Sie wusste schon genau, wohin sie diesen Rekruten stecken würde, sie hatte mit Daemon noch eine kleine Rechnung offen.
"Du musst noch draufschreiben, wo genau du wohnst. Eigentlich haben die Rekruten hier einen Platz im Schlafsaal, aber ich würde denken, das ist... na ja sagen wir... keine so gute Idee."
"Wo ich wohne?" Panik wallte in Agnetha auf.
"Ja... deine Adresse."
"Ich..." der Göttin war klar, dass die wenigsten Menschen im Ankh wohnten.
"Das Haus in dem du wohnst steht doch in irgendeiner Straße und es hat doch mit Sicherheit eine Nummer, oder?"
"Ich..." Agnetha wurde von einem Gedankenblitz erfasst und nickte.
Lächelnd schrieb sie: An der Schlechten Brücke 1.
"Na siehst du, war doch gar nicht so schwer. Wenn du das mit deiner Bewerbung wirklich ernst meinst, dann kommst du morgen um acht wieder hierher, dann wird dir alles weitere mitgeteilt."
Irina ließ die Frau einfach stehen und wandte sich noch einmal Will zu, die immer noch vor dem offenen Fenster stand und in die Nacht hinausblickte.
"So Will, ich gehe jetzt nach Hause. Ruhige Nachtschicht wünsche ich."
Die Rekrutin fuhr herum und salutierte. "Ma'am, gute Nacht Ma'am!"
"Ma'am... das ist Ihr Name?" wurde Irina noch einmal von der leisen Stimme angesprochen.
Gegen ihren Willen musste sie über die merkwürdige Person lächeln.
"Nein, das ist nicht mein Name. Damit werde ich angesprochen, weil ich über den Rekruten stehe, das ist die Würdigung meines Ranges."
"Oh... und wer steht unter den Rekruten und würdigt dessen Rang?"
Irina lachte. "Niemand. Unter den Rekruten kommt niemand mehr, die sind ganz unten. Und jetzt gute Nacht."
Immer noch lachend ließ sie die verdutzte Agnetha im Raum stehen und ging. In der Phantasie der Göttin stiegen Bilder auf, Bilder, in denen ihr die Verehrung zuteil wurde, die sie verdient hatte, nicht, indem man sie als Göttin anerkannte, sondern indem sie in einen ähnlichen Rang aufstieg wie diese Frau ihn hatte...
"Nun ja, ich werde dann auch gehen, ich wünsche noch einen schönen Abend", teilte sie Will mit und verließ die Wache.
Als sie heute Nacht in die Fluten des Ankhs eintauchte um dort zu ruhen hatte sie das erste Mal seitdem sie körperlich auf der Scheibe wandelte ein wirklich gutes Gefühl...

Die Rekrutin Will Passdochauf machte an diesem Abend noch eine merkwürdige Erfahrung, als sie den Graphitstift wegpackte, mit dem die Person ihren Bewerbungsbogen ausgefüllt hatte: Er war porös geworden, als würde er schon Jahrzehnte existieren.
Etwas nachdenklich über dieses Phänomen steckte sie den Stift in eine Schublade, wandte sich den Überresten ihrer kaffeedurchtränkten Zeitung zu und hatte die Sache bald darauf wieder vergessen.

Pünktlich um sechs Uhr erwachte Agnetha. Die Wagen, die über die verschiedenen Brücken des Ankhs fuhren, um die Marktplätze aufzusuchen und dabei die Kruste zum Vibrieren brachten, waren besser als jeder Wecker.
Schon um halb sieben stand sie vor der Wache... wenn man direkt aus dem Ankh tauchte erledigte sich jede Morgentoilette, Viren und Bakterien wurde jeglicher natürlicher Nährboden entzogen.
Unschlüssig blickte sie auf die Tür. Sie meinte sich zu erinnern, dass zu spät kommen nicht gerne gesehen wurde, aber wie stand es mit zu früh da sein? Sie würde es auf jeden Fall nicht riskieren gleich am Anfang einen eventuellen Fehler zu begehen und noch ein wenig warten...
Doch schon nach fünf Minuten machte Langeweile sich breit, Warten war offensichtlich nichts für die zukünftige Wächterin, ganz und gar nicht!
Neugierig begann sie, das Haus einmal zu umrunden und in die verschiedenen Fenster zu gucken. Als erstes erblickte sie einen großen Raum, in dem viele merkwürdige rechteckige Holzkästen aufgebaut waren, auf allen lagen mysteriöse Stoffdinger.
Agnetha drückte ihre Nase fester an die Scheibe um besser sehen zu können... und bekam einen halben Herzinfarkt, als eins dieser Stoffgebilde direkt unter ihr auf einmal anfing sich zu bewegen. Heraus schälte sich ein junger Mann, löste sich von dem Ding und streckte sich ausgiebig.
"Ob so Menschen entstehen?" murmelte die Göttin leise und beobachtete fasziniert wie der Mann nur in Unterwäsche bekleidet Dehn- und Streckübungen machte, dann seine Kleidung packte, in Hemd und Hose stieg und mit geschulterter Uniform den Raum verlies.
Langsam ging sie weiter und kam als nächstes an die Milchglasfenster des Bades. Staunend betrachtete sie es, im Inneren konnte sie verschwommen sehen, dass dort eine Person irgendetwas tat, was nicht genau erkennbar war.
"Es ist als wenn man durch die Ankhkruste guckt, nur die Farbe stimmt nicht", teilte sie dem Fenster mit und setzte ihren Weg fort.
Eine Stunde später hatte sie das Wachhaus umrundet und viel dazugelernt, zum Beispiel wusste sie jetzt, dass man dieses merkwürdige schwarze Zeug in den Gefäßen mit Henkel offensichtlich durch den Mund in den Körper goss, etwas, was sie so schnell wie möglich auszuprobieren gedachte. Außerdem hatte sie gelernt, dass man diese eng bedruckten großen Blätter die auch des öfteren auf dem Ankh trieben und mit denen sie nie etwas anfangen konnte, offensichtlich dringend auf seinem Schreibtisch liegen haben musste und das es so viele verschiedene Arten gab, sie zu lesen, wie sie Wächter gesehen hatte.

Nun stand sie wieder vor der Tür der Wache und ihr war klar, dass es immer noch viel zu früh sein musste. Nachdenklich betrachtete sie den Eingang, mit sich selbst hadernd was schlimmer wäre; noch eine Ewigkeit hier draußen zu warten und sich zu langweilen oder gleich am Anfang einen schlechten Eindruck zu machen, da wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
"Oh, guten Morgen Agnetha. Du bist ja schon da." Irina steuerte freundlich, wenn auch ein wenig gequält lächelnd auf den Eingang der Wache und somit auf die Göttin zu.
"Also meinst du es wirklich ernst, ja? Aber warum gehst du nicht rein? Es ist doch nicht nötig, dass du hier draußen stehst." Insgeheim war Irina nach dem ausgesprochenen Angebot froh, dass sie nicht in der Empfangshalle bleiben brauchte, sondern sich in ihr Büro zurückziehen konnte zu dem dieser furchtbare Gestank bestimmt nicht dringen würde.
Agnetha betrachtete die Vorgesetzte eine Zeit lang mit schiefgelegtem Kopf, dann hob sie langsam ihre Hand um auch diese nachdenklich anzusehen.
Ihr Denkprozess schien beendet zu sein, denn auf einmal lächelte die junge Frau breit, hob ihre Hand an die Stirn und salutierte.
"Ma'am!" formulierte sie konzentriert aus, als sei es eine Offenbarung.
"Wunderbar Rekrut, das klappt ja schon mal." Irina konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen, diese Person war merkwürdig und sie stank, aber irgendwie machte sie auch Spaß.
Agnetha öffnete die Tür, trat einen Schritt beiseite und ließ die Ausbildungsleiterin eintreten, dann betrat auch sie die Empfangshalle, schloss die Tür hinter sich und blickte sich um.
Will war natürlich nicht mehr da, sie hatte Nachtschicht gehabt und dementsprechend war der Tresendienst jetzt umbesetzt. An seiner Stelle stand der junge Mann dort, den Agnetha schon von ihrem Rundgang um das Gebäude kannte, der Mann, der aus dem Laken gestiegen war und diese merkwürdigen Verrenkungen gemacht hatte.
"Guten Morgen, Rekrut Jijim Nochmalvonvorn", begrüßte die Ausbildungsleiterin den jungen Mann.
"Guten Morgen, Ma'am!" Der Angesprochene sprang von seinem Stuhl auf und salutierte.
"Sag mal, Rekrut, ist Oberleutnant Daemon schon hier?" Irina trat an den Tresen heran, hangelte nach einer Kaffeetasse und schenkte sich ein.
"Ja, Ma'am. Er ist in seinem Büro, Ma'am. Er hat Ihre Nachricht empfangen, dass er einen neuen Rekruten bekommt und wartet gespannt, Ma'am."
"Schön, schön", lächelte Irina und versteckte ihr breiter werdendes Grinsen in ihrer Kaffeetasse. "Dann mach weiter so, Rekrut."
Sie wandte sich der geringen Göttin zu. "Würdest du mich bitte begleiten?"
Jijim schaute den beiden Frauen nach. Irgendwie schien die Grippe umzugehen, diese Frau in Begleitung der Ausbildungsleiterin schien es stark erwischt zu haben und auch Miss Lanfear hatte schon rote Augenringe und eine laufende Nase. [1]

"Herein?" Von irgendwo zwischen Stapeln von Aktenordnern, leeren Kaffeebechern, Zeitungen der letzten Tage, einer goldenen Statue, Stiften, leerem Papier und Radiergummis bahnte sich die Stimme von Oberleutnant Daemon den schwierigen und abenteuerlichen Weg zur Bürotür.
Kurz darauf war das charakteristische Quietschen eben dieser zu hören und, dem Geräusch der Schritte nach zu urteilen, betraten zwei Personen den Raum.
Vorsichtig und mit großem logistischen Verständnis schob er den einen oder anderen Stapel ein bisschen zur Seite, um ein Guckloch zur Tür hin freizugeben, als er plötzlich einen hinterhältigen Angriff auf seine Nasenschleimhäute zu verzeichnen hatte.
Keuchend holte er Luft und hatte auf einmal einen sehr ankhischen Geschmack im Mund. Wie von einer Tarantel gestochen sprang er auf und konnte so einen ersten Blick auf die junge Frau neben Irina Lanfear erhaschen, wahrscheinlich seine zukünftige Rekrutin.
"Guten Morgen, Oberleutnant", grinste die Ausbildungsleiterin. Vom gestrigen Abend kannte sie das Gefühl, dass Daemon gerade haben musste, sehr genau.
"Die... Luft hier ist... ein bisschen stickig, wohl von den ganzen Akten", fing Daemon an und zeigte aufs Fenster. "Ich... werde wohl einmal für Austausch sorgen."
Irina nickte und kurz darauf erfüllte die Luft der Schattenrandbezirke den Raum und verschaffte erstaunlicherweise Erleichterung.
"Naja, ich möchte dich auch nicht länger stören, ausserdem habe ich selber noch eine Menge zu tun. Ich wollte dir eigentlich nur deine neue Rekrutin vorbeibringen." Irina schob Agnetha ein Stück nach vorne.
"Daemon, das ist Agnetha vom Ankh, du wirst sie durch die Zeit bei GRUND begleiten. Schönen Tag noch."
Die beiden Offiziere salutierten sich noch einmal gegenseitig zu, dann verließ die Ausbildungsleiterin den Raum und Agnetha war mit ihrem Ausbilder alleine.

Enthusiastisch salutierte Agnetha.
"Guten Morgen, Ma'am!" wandte sie das gestern Gelernte an.
Daemon stockte. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass nicht noch eine andere Person hinter ihm im Raum war, die die Rekrutin gemeint haben könnte.
"Äh, meinst du mich?" Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er die heftig nickende Rekrutin.
"Du meinst mich", folgerte er und kratzte sich verwirrt am Kopf.
"Also, hör zu. Ich bin keine Ma'am, ich bin ein Sör", erklärte er der neuen Rekrutin mit einem gezwungen langsamen und deutlichen Tonfall.
"Sör?" formulierte Agnetha fragend aus.
"Genau, Sör. Sör Hauptmann Daemon."
Leise murmelte die geringe Göttin die Worte ein paar Mal vor sich hin, dann nickte sie wieder.
"Gut, Sör Hauptmann Daemon, ich habe verstanden, Sör Hauptmann Daemon."
"In Ordnung, dann können wir ja jetzt loslegen. Ich würde sagen, erst einmal rüsten wir dich aus, du weißt schon, Dienstmarke, Brustpanzer, Holzschwert, solche Sachen eben. Dann zeige ich dir deinen Stundenplan und erkläre dir alles."

Eine halbe Stunde später standen Agnetha und ihr Ausbilder wieder in Daemons Büro, die Rekrutin hatte ihre Uniform angelegt, ihre Dienstmarke eingesteckt und das Holzschwert an ihre Seite gebunden.
"Wunderbar, das hat ja gut... was ist DAS?!?" Entsetzt starrte Daemon Agnetha an, seine Hände fuchtelten sinnlos vor ihr in der Luft herum, als wollten sie auf etwas zeigen, könnten sich aber nicht ganz entscheiden, auf was.
Die geringe Göttin schaute an sich herunter, sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. "Was denn, Sör?"
"Da... dein... Brustpanzer! Und was ist mit deinem Schwert passiert?!?"
Noch einmal inspizierte Agnetha sich, dieses Mal speziell die von ihrem Ausbilder genannten Punkte.
Der Panzer war angelaufen, grünlich-graue Schlieren hatten sich auf dem Metall gebildet. Ihr Schwert hatte es noch schlimmer getroffen, Holz war leichter zersetzbar, es war nur noch ein morscher fauliger Klumpen.
"Das... äh...", fing die geringe Göttin an. So langsam geriet sie in Erklärungsnot, was das Menschsein anging.
"Na?", hakte Daemon nach.
"Ich... das..." Verzweifelt blickte sie ihren Ausbilder an.
"Ich warte!" Es war nicht leicht, streng zu gucken, wenn einem jemand mit herzzereissendem Blick aus grossen Augen anguckte, erst recht nicht, wenn die eigenen Augen das dringende Bedürfnis verspürten zu tränen, als hätte man gerade ein halbes Kilo Zwiebeln geschnitten, aber Daemon schaffte es.
"Sör, Daemon Oberstleutnant, Sör. Das... das ist schon immer so. Dinge... zersetzen sich..." Agnethas Gestik ließ ahnen, dass die Situation sie vollkommen überforderte.
"Was soll das heißen, Dinge zersetzen sich?"
"Naja, Dinge... in meiner Hand, an meinem Körper. Alles, was mit mir in Berührung kommt, folgt seinem natürlichen Alterungsprozess, nur... schneller." Agnetha blickte ihren Ausbilder kläglich an.
"Du bist nicht zufällig in der Nähe der Unsichtbaren Universität geboren?" Daemon war ein wenig beruhigt. Immerhin sagte die Rekrutin, es war schon immer so, und er hatte schon eine Menge Merkwürdigkeiten in Ankh-Morpork gesehen.
"Ich... weiss nicht." Ein leises leicht schmatzendes Geräusch zeugte davon, dass die Überreste des Schwertes sich vom Gürtel gelöst hatten und zu Boden gefallen waren.
"Also kein Holzschwert", folgerte der Oberstleutnant, dessen Blick dem morschen Ding gefolgt war.
"Was ist mit Metall? Ich meine, die Rüstung sieht ja noch vergleichsweise gut aus." Daemon runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf.
"Naja, Metall braucht lange, bis es zerfällt. Monate, wenn nicht gar Jahre. Edelmetall zerfällt gar nicht." Agnetha merkte, wie sie sich langsam wieder beruhigte, so schlimm schien es nicht zu sein, und die von ihr befürchtete Fragerei blieb auch aus.
"Waffen aus Edelmetall haben wir nicht, und eine Metallwaffe kann ich dir erst geben, wenn du dein Schwerttraining absolviert hast, also wirst du erst einmal ohne Waffe auskommen müssen." Daemon winkte ab. "Aber das ist nicht so schlimm, zuerst einmal wirst du sowieso hier im Gebäude Unterricht haben, Tresendienst machen, Protokolle schreiben lernen und solche Sachen. Bis du das Streife gehen lernen kannst, wird noch eine Weile dauern und bis dahin werden wir wohl eine Lösung finden."
Agnetha nickte dankbar.
"So, aber jetzt zeige ich dir erst einmal das Gebäude, ich teile dir ein Büro zu und du bekommst deinen Plan, wann du was lernst. Komm mit."
Der Ausbilder und sein Rekrut verließen das Büro.

Zufrieden tauchte die geringe Göttin am Sonntagabend in den Ankh ein, um sich zur Ruhe zu begeben. Die letzten Wochen waren hart gewesen, hart, aber doch auch irgendwie befriedigend.
Sie hatte eine Menge gelernt, und ausserdem hatte sie festgestellt, dass es in der Wache nur so von merkwürdigen Personen wimmelte, so dass ihre Eigenarten zwar auffielen, allerdings nicht so sehr beachtet wurden, wie sie es befürchtet hatte.
Anfang der nächsten Woche würde sie ihr Schwert bekommen, sie war zwar keine begnadete Kämpferin, aber in den Übungen hatte sie so stark mit der Waffe in der Hand herumgefuchtelt, dass es nicht ausgeblieben war, dass ihr Gegenüber mit den Luftzügen, die von ihrer Bewegung ausgegangen waren, ebenfalls eine Wolke ihres Gestanks mit abbekommen hatte, und mit Tränenschleiern in den Augen können sie sich wenigstens noch ordentlich verteidigen.
Großen Spass machte Agnetha besonders das Armbrustschiessen. Am Anfang hatte sie mehrere Sehnen und Bolzen kaputt gemacht, da sie nicht besonders viel Zeit hatte, die Armbrust zu spannen oder den Bolzen einzulegen, bevor sich die etwas empfindlicheren Teile in Wohlgefallen auflösten, aber das hatte nur dazu geführt, dass sie besonders schnell wurde. Sie konnte inzwischen eine einzige Sehne acht Mal spannen, bevor diese brüchig wurde und riss, und Bolzen machten ihr schon lange kein Problem mehr.
Ausserdem war sie eine gute Eselskarrenlenkerin. Diese Tiere hatten eigentlich die dumme Angewohnheit, immer genau dahin zu gehen, wo sie nicht hin sollten, oder gar zu beschließen, sich überhaupt nicht zu rühren, doch dieses Problem hatte die geringe Göttin nicht; für einen Esel der an einen Karren gespannt war, den Agnetha führte, gab es grundsätzlich nur eine Richtung: Weg von ihr.
Nicht so erfolgreich war dagegen das Nachrichten versenden mit Zuhilfenahme von Brieftauben. Die Tiere weigerten sich beharrlich, sie anzufliegen. Außerdem flogen sie in Panik davon, wenn die Rekrutin sich dem Taubenschlag näherte. Das größte Problem war jedoch, dass keine Taube noch in der Lage war zu fliegen, wenn Agnetha sie erst einmal in der Hand hatte, um eine Nachricht zu befestigen. Das Tier kippte danach einfach kränkelnd zur Seite und rührte sich die nächsten Stunden nicht mehr, und nachdem Gralon Banks, Kommunikationsexperte bei SEALS, Beschwerde eingereicht hatte, da er die Tiere wieder aufpäppeln musste, wurde die Rekrutin vom Dienst an der Taube freigestellt.
Ähnlich wenig erfolgreich verlief der Kurs in erster Hilfe. Irgendwie wollte nie jemand den Verwundeten spielen, wenn Agnetha an der Reihe war, ihr gelerntes Wissen anzuwenden. Anfangs hatte Sillybos versucht, Hegelkant diese Aufgabe aufzutragen, aber nicht einmal der schaffte es, länger als er die Luft anhalten konnte, das Opfer darzustellen.
"Also, solltet ihr einmal kein Riechsalz zur Hand haben... Agnetha tut's zur Not auch", schloss Sillybos auch diesen Kurs.
Nun fehlte der geringen Göttin nur noch ein Kursthema, welches in der Theorie zwar schon behandelt wurde, von dem die Praxis jedoch erst am nächsten Tage folgen würde: Die Verfolgungsjagd.
Daemon hatte für morgen, acht Uhr, einen Termin mit ihr vereinbart. Er würde fliehen und sie würde ihn verfolgen und zur Not in der ganzen Stadt suchen.
Sie war gespannt...

Daemon freute sich auf die Verfolgungsjagd, denn sie hatte mehrere Vorteile für ihn: Erstens musste er sich nicht in der Nähe seiner Rekrutin aufhalten, ganz im Gegenteil, es war ja sogar Sinn der Übung, von ihr fernzubleiben.
Und zweitens war dieser Punkt in der Ausbildung das Einzige, was Agnetha noch fehlte, um erfolgreich abzuschließen und dann würde er sie endgültig los sein.
Es war nicht so, dass er sie nicht mochte, ganz und gar nicht. Es war nur so, dass ihm, seitdem er sie betreute, das Essen nicht mehr schmeckte, es war wie eine riesige Erkältung. Man merkt, man hat was im Mund, und sicher schmeckte es auch nach etwas, aber die Information über die Details schaffte es nicht bis zum Hirn.
Wohin sie wohl gehen würde, wenn sie mit GRUND fertig war? Er hatte mit ihr über die Abteilungen gesprochen, hatte jede einzelne genaustens erörtert und ihr die Stellen erklärt, sowohl die ausgeschriebenen, als auch alle anderen, aber trotzdem konnte er nicht sagen, was sie davon interessierte.
Nicht, dass sie nicht interessiert gewesen wäre an dem, was er ihr beibrachte. Eigentlich war eher das Gegenteil der Fall: Alles schien sie gleich stark zu interessieren, es war, als würde man einem Kind Märchen vorlesen.
Daemon schüttelte den Kopf und schob den Gedankengang beiseite, als er Agnetha die Strasse herunterkommen sah, überpünktlich wie immer.
"Guten Morgen, Rekrut", begrüsste er sie und beobachtete belustigt, wie sie immer noch salutierte, als wäre es eine Offenbarung.
"Guten Morgen, Sir Hauptmann Daemon, Sir!"
"Schön, dass du da bist", unterdrückte Daemon das Grinsen. "Heute geht es um Verfolgungsjagden. Das Prinzip ist ganz einfach; ich laufe weg und du versuchst mich zu stellen. Alles klar?"
Agnetha nickte.
Der Hauptmann lächelte ihr noch einmal aufmunternd zu, drehte sich dann um und wetzte mit einem Affenzahn die Strasse herunter. Noch bevor Agnetha verstand, was sie nun tun sollte, war er zwischen den Häusern verschwunden.

Agnetha stapfte frustriert die Strasse herunter. Sie hatte versucht, den Hauptmann zu verfolgen, aber schon am Anfang hatte sie kläglich versagt, er war bereits irgendwo in der Stadt verschwunden, als sie auch nur angefangen hatte, ihn zu "verfolgen".
Wütend kickte sie einen Stein über das Pflaster und seufzte tief.
Und was sollte sie jetzt machen? Die Stadt war so groß, sie konnte doch nicht überall suchen...
Inzwischen hatte sie den Fluss erreicht. Nachdenklich starrte sie in die graugrüne Brühe zu ihren Füssen, sie hatte keine Ahnung, wie sie nun vorgehen sollte, das hatte ihr keiner beigebracht.
"Naja, was soll's." Wenn sie schon einmal hier war, dann konnte sie sich auch ein bisschen ausruhen. Finden würde sie hier keiner und später konnte sie immer noch behaupten, sie hätte den Hauptmann gesucht, das konnte schließlich keiner kontrollieren.
Und schon war sie in den Fluten des Ankhs verschwunden.

Langsam ließ Agnetha sich kurz unter der Oberfläche treiben. Von hier aus sah der Himmel ganz anders aus, so angenehm grünstichig. Ab und zu tauchten Gesichter in ihrem Blickfeld auf, Leute, die in den Ankh starrten, auf Brücken und auch am Ufer. Zwischendurch fiel ein Schatten auf die Stelle an der sie trieb, ein Turm, der nahe am Ufer stand, oder eine Brücke, unter der sie hindurch trieb. So, genau so und nicht anders, hatte nach Ansicht der geringen Göttin die Welt auszusehen! Zufrieden gab sie sich den Fluten des Ankhs hin und döste.

Daemon stand auf der Schlechten Brücke, kaute auf einem Zahnstocher herum und schaute sich um. Merkwürdig, irgendwo hier musste eine Strasse sein, die "An der Schlechten Brücke" hieß, die Adresse, die Agnetha bei ihrer Bewerbung angegeben hatte, aber der Hauptmann konnte sie einfach nicht finden.
Eigentlich hatte er vor zu überprüfen, ob die Rekrutin den Auftrag sich selbst überlassen hatte und nach Hause gegangen war, um ein bisschen zu schlafen. Bei diesen praktischen Verfolgungsgeschichten kam das des Öfteren vor, aber er konnte die angegebene Adresse einfach nicht finden.
"Mist", murmelte er, spuckte den Zahnstocher in den Ankh und machte sich auf den Weg die Umgebung noch einmal abzugehen, um diese vermaledeite Strasse zu finden.

"Eines Tages werde ich wieder groß sein und in vollem grünem Glanz erstrahlen, wie die Legenden aus vorhergehenden Zeiten berichten. Dann wird sich die Welt vor meiner Macht beugen und Daemon wird erzittern, wenn ich mein Haupt hebe", trieben die Gedanken von Agnetha durch ihren Kopf, während ihr Körper unter der Kruste des Anhks entlang schwamm.
"Moment, Daemon wird erzittern?", brach ihre Gedankenkette ab... "Hätte es nicht heißen müssen, die Menschheit würde erzittern? Wie komm ich denn bloß auf Daemon?"
Agnetha versuchte, sich die Situation, die zu diesem Gedanken geführt hatte, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sie war geschwommen, mit dem Gesicht nach oben, Dinge und Gesichter waren an ihr vorbei getrieben, dann kam der Schatten der Schlechten Brücke und sie hatte festgestellt, dass ihre Gedanken bei ihrem Ausbilder waren... die Schlechte Brücke... Ja! Die Schlechte Brücke und auf ihr das Gesicht des Hauptmannes, dass sich über sie beugte und etwas in den Ankh spuckte!
Durch einen präzisen Gedanken bewegte sich Agnetha zurück an die Stelle kurz vor der Brücke und streckte ihre Hand durch die Kruste, um den Gegenstand, oder besser, das, was von ihm übrig war, zu bergen, den Daemon weggeworfen hatte. Es war ein kleines Stückchen Holz, von dem nicht mehr viel übrig war als ein leicht modriger Klumpen.
Vorsichtig, ohne ihre Hand wieder in den Fluss zu ziehen und ohne den Gegenstand mehr zu erschüttern als nötig, ließ sie sich unter die Brücke ans Ufer treiben, um dort aus dem Ankh zu steigen. Sofort floss das schlammige Wasser wieder in eine halbwegs kleidungsähnliche Form und gab den angelaufenen Brustpanzer frei, der Schlick tropfte von ihren Haaren und gab das graugrünliche Blond frei.
Schnell lief sie die Uferböschung am Rande der Brücke herauf und blickte sich um. Da war er, verschwand gerade in einer Seitenstrasse! Sie hatte ihn tatsächlich gefunden!

"Hier auch nicht... diese Strasse scheint tatsächlich nicht zu existieren." Daemon kickte einen kleinen Stein über die Strasse und schlenderte eine kleine Gasse entlang. Inzwischen, nach dem dritten Mal umgucken, hatte er die Hoffnung aufgegeben, eine derartige Adresse, wie er sie suchte, zu finden, es gab sie einfach nicht.
"Naja, dann mal zurück zur Kröselstrasse, vielleicht hat sie ja aufgegeben und sitzt dort und..."
"Sör, Sie haben etwas verloren, Sör. Und ich habe Sie gefunden, Sör", erklang hinter ihm die leise Stimme seiner Rekrutin.
Sie kommt gegen den Wind, ich konnte sie gar nicht riechen, schoss dem Hauptmann durch den Kopf, als er sich umdrehte.
Agnetha stand nicht einmal einen Meter von ihm entfernt, grinste glücklich und hielt ihm etwas hin, was er nach einem Moment Überlegen durch seinen scharfen Ermittlerverstand tatsächlich als den Rest eines Zahnstochers identifizieren konnte.
"Wo hast du das her, ich habe es auf den Ankh gespuckt", fragte er scharf, sein Blick ruhte allerdings nicht auf dem Holz sondern in ihrem Gesicht.
Beinahe unmerklich zuckte Agnetha zusammen. Daran hätte sie denken müssen, sie hätte es nicht mitnehmen dürfen.
"Ich...", piepte Agnetha und fand offensichtlich etwas sehr Interessantes auf dem Boden, was sie eingehend betrachtete. "Ähm..."
"Nun?" Daemon musterte seine Rekrutin.
Sehr leise murmelte Agnetha etwas in sich hinein, das einzige, was davon bei Daemon ankam war 'Sör Hauptmann Daemon, Sör'.
"Ich habe dich nicht verstanden, was hast du gesagt?" bohrte der Hauptmann nach.
"Das... das glauben Sie sowieso nicht, Sör Hauptmann Daemon, Sör", piepte die Göttin.
"Mir fallen nicht viele Möglichkeiten ein, wie ein winziges Stück Holz aus dem Ankh in Deine Hand geraten sein könnte." Langsam wurde Daemon ungeduldig.
"Ich..." Agnethas Stimme wurde noch leiser und piepsiger. "Ich habs eingesammelt."
"Von einem Boot aus? Was hatte das mit deinem Auftrag zu tun? Hast du mich etwa mit einem Boot den Ankh hinab verfolgt?" Ein Hauch von Unglauben huschte über Daemons Gesicht.
"Ich... ich hatte kein Boot. Boote bestehen auf dem Ankh nicht lange, Sör Hauptmann Daemon, Sör, müssen Sie wissen."
"Wie bist du dann rangekommen?" Der Hauptmann runzelte die Stirn. "Du hast doch wohl kein Kind von der Brücke geschubst, damit es den Zahnstocher für dich holt?"
Entsetzt schüttelte Agnetha den Kopf. "Nein, ich habe ihn selber geholt. Ich schubse keine Kinder!"
Daemon straffte sich und schaute die Rekrutin ernst an. "So, ich erwarte jetzt Antworten! Wie hast du mich hier gefunden?"
Vorsichtig und mit großen Augen schaute Agnetha hoch. "Ich... ich habe Sie auf der Brücke gesehen, Sör Hauptmann Daemon, Sör, und dann bin ich hierher gekommen, weil Sie ja irgendwo in der Nähe der Brücke sein mussten."
Ein Lächeln huschte über Daemons Gesicht. "Dann hast du mich also erfolgreich verfolgt. Schön, schön. Aber wie um Gottes Willen bist du dann an den Zahnstocher gekommen?"
"Den habe ich unterwegs eingesammelt. Er, ähm, lag ja praktisch auf dem Weg zu Ihnen, Sör Hauptmann Daemon, Sör."
"Er lag IM Ankh!"
"Ja, aber das war doch mein..." Agnetha räusperte sich, "Weg, Sie zu verfolgen, Sör Hauptmann Daemon, Sör. Ich..."
"Du hast mich über den Ankh verfolgt?! Doch nicht etwa zu Fuß?! Das Risiko einzubrechen wäre viel zu groß!"
"Nicht über, durch..." Agnetha verspürte schon wieder das Bedürfnis, auf den Boden zu sehen, kämpfte aber tapfer dagegen an.
"Du bist im Ankh geschwommen?!??!" entsetzte Daemon sich.
Die Rekrutin nutzte den Moment des Verdutztseins um einmal tief Luft zu holen und legte dann los: "Ich bin durch den Ankh geschwommen wobei schwimmen nicht ganz korrekt ist eigentlich ist es eher so dass ich in den Ankh eingetaucht bin um mit ihm zu verschmelzen und eins zu sein mit ihm denn ich bin sein Geschöpf und er ist meins denn ich bin die Göttin des Flusses und jetzt ist es raus und das glaubt mir sowieso keiner weil die Letzten denen ich das erzählt habe haben mich einfach umgebracht und ich bin im Ankh wieder aufgewacht und darum gehen auch alle Sachen kaputt und das war eigentlich das ganze Geheimnis."
Daemon blickte sie verdutzt an. "Du bist eine Göttin?" wiederholte er die ihm am wichtigsten erscheinende Information aus dem Gewühl.
Agnetha schien zu schrumpfen als sie sehr, sehr leise "Ja" piepte.
"Aber Göttinen sollten... du weißt schon... und du... naja..."
"Ich gebe zu, ich bin keine große Göttin. Der Ankh scheint mir... nun ja... nicht sonderlich beliebt", gewann Agnetha langsam wieder an Boden; sie lebte immer noch, und gelacht hatte er auch nicht, das war ein gutes Zeichen.
"Das erklärt immerhin einiges", murmelte der Hauptmann in sich hinein und wandte sich dann lauter an seine Rekrutin: "Aber was willst du denn dann bei der Wache?"
"Ich muss doch auch irgendwas machen. Und außerdem..." ein Lächeln zierte Agnethas Mundwinkel, "zeigt die Wache Präsenz und sie ist Recht und Gerechtigkeit. Ich halte das für genau das Richtige."
"Oh, du bist SO eine Göttin! Besitzt du denn auch irgendwelche göttlichen Fähigkeiten?"
"Nun ja...", druckste Agnetha herum. "Nein, eigentlich nicht. Ich bin Ankh, mein Wesen ist Ankh. Aber sonst..."
Daemon dachte an das Holzschwert, die Rüstung, die Armbrüste und an alles andere, was im Laufe von Agnethas GRUND-Laufbahn kaputt gegangen war und trat vorsichtshalber einen unauffälligen Schritt zurück.
"Mir scheint, du solltest vielleicht deine Personalien aktualisieren", versuchte Daemon das Gespräch auf etwas bodenständigere Dinge zu lenken.
Agnetha riss entsetzt die Augen auf. "Aber... aber was soll ich denn schreiben?!"
"Naja, die Wahrheit... dass du kein Mensch, sondern eine Göttin bist."
Agnetha wurde leicht grünlich-weiss um die Nase. "Das... das geht nicht! Das glaubt keiner. Und die, die es glauben, erwarten göttliche Wunder und so etwas! Und außerdem..." leichter Ekel machte sich im Gesicht der Rekrutin breit, "...gibt es bei den Wächtern so viele, die GAR NICHT glauben!"
"Du meinst, das soll ein Geheimnis bleiben?"
"Ja, bitte! BITTE!" flehte Agnetha.
"Ja, ja. Schon gut. Schon gut, das sollten wir hinbekommen", beruhigte Daemon sie. "Aber", fuhr er etwas strenger fort, "einige müssen davon erfahren. Die Führungsspitze, dein zukünftiger Abteilungsleiter und auch dein Ausbilder in der Abteilung. Verstanden?"
"Ja, Sör, Hauptmann Daemon, Sör", piepte Agnetha.
"So, und jetzt machen wir uns zusammen auf den Weg zur Wache und erledigen die Formalitäten für deine abgeschlossene Ausbildung", schloss Daemon.
Die beiden machten sich auf den Weg, den letzten Weg, den Agnetha als Rekrutin jemals gehen würde...



[1] Rekrut Jijim gibt es nicht mehr, dementsprechend sei hier beigefügt, dass in seiner Charakterisierung stand, er habe keinen Geruchssinn.




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