Victor oder Die Ehre des Schmugglers

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von Stabsspieß Atera (SEALS)
Online seit 30. 07. 2003
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Als Du und ein Kollege auf Streife seid, bemerkt ihr randalierende Trolle in einem Garten. Was ist da los?

Dafür vergebene Note: 13

Ihre braunen Haare wellten und kräuselten sich zum Ende hin in einer einzigen gedrehten Locke, die glänzte und aussah wie eine aufgespülte Welle, umfangen von feinen Haarstrichen. Das war die Gischt, dachte Victor und sah weiter hinunter. Ihr Rücken war gerade, unter dem Stoff sah man die Abdrücke eines Unterhemdes. Der Blick ging zu ihrem kleinen Hintern, um den sich der dunkle Rock spannte und keine einzige Falte offenbarte, während sie scheinbar regungslos auf der Bank saß. Es gab eine Lücke in der Banklehne, genau dort, wo ihr Hintern zu sehen war, genau in Victors Blickrichtung. So brav, so gesittet, es sprach aus ihrer Kleidung, aus jeder ihrer Bewegungen, selbst aus ihrem Haar.
Ihre Haare waren eine einzige Masse, nicht voneinander trennbar, ihre Haare waren wie das Meer, wie festgefrorene Wellen, die sich niemals wieder bewegen würden. Oh bitte, kämm dir nur einmal die Haare. Bitte, bitte. Ich möchte nur einmal sehen wie du es tust, wie du durch diese Wellen fährst, was dann passiert. Er rutschte weiter vor, die Dachschindeln unter seinem Körper brannten so heiß, dass er irgendwann nicht mehr sagen konnte, ob sie heiß oder eiskalt waren.
Das Haus gegenüber war von einem Garten umgeben und deswegen zu weit weg, um mit den bloßen Augen alles ausreichend zu studieren, doch die neuen Linsen halfen ihm alles schärfer zu sehen. Er hatte ewig gebraucht dieses Fernglas bei einem Schmuggler aufzutreiben und dann war es noch unglaublich teuer gewesen, aber der Preis hatte sich längst ausgezählt. Längst, dachte Victor wieder und sein Blick blieb weiterhin auf dem Mädchen heften. Das Licht des runden Mondes hob ihre Konturen leicht hervor, ebenso die steinernen Balustraden und die Bank auf dem Balkon. Warum saß sie draußen? Drinnen mochte es viel angenehmer sein. Schwüle Sommerluft trieb über Victors nackte Arme, als er darüber nachdachte. Auf seiner Stirn perlten die Schweißtropfen. Keine einzige Falte im Rock, er konnte es kaum fassen.
Dann ging sie endlich rein.

Selbst die Nächte brachten keine Kühlung. Der Wind brachte nur warme, schwüle Luft, die über seine Haut strich. Der Schweiß stand ihm nun in einzelnen Tropfen auf Stirn und Oberlippe. Ein bittres Lächeln hatte sich in seine dünnen Lippen gelegt, als er mit weiteren Blicken das Objekt seiner Pläne abtastete. Es gab zwei Stockwerke, vorne führten Steinstufen auf einen Absatz, der mit einem Holzgeländer versehen war. Ein Schrägdach schützte vor Regen, eine angebrachte Lampe dicht vor der Haustüre; dort brannte tage- und nächtelang ein Licht, nur ab und zu kam der Diener raus, um sie mit neuem Öl zu versorgen. Das Hauptdach war eines jener typischen Spitzdächer, allerdings in zwei Farben gehalten. Die linke Seite besaß dunkelrote, die rechte graue Schindeln. Die Enden dagegen waren leicht geschwungen, irgendwo im oberen Drittel war der Schornstein und rauchte und rauchte.
Victor nannte es das Wanderhuthaus.
Hier war das Ende aller seiner Bemühungen zu finden, hier lag seine Belohnung, sein Stolz, seine Herausforderung. Er drehte das Fernglas in seinen Händen und betrachtete noch einmal die Rückseite des Hauses. An der gelb verputzten Wand schlängelte sich wild wachsender Efeu empor, der mit einem Holzspalier in geregelte Maße gebracht worden war. Seine grünen Finger griffen dennoch bereits nach dem kleinen Balkon im ersten Stock.
Es musste noch in dieser Nacht geschehen, morgen würde die Familie in ihre Sommerresidenz in den Spitzhornbergen ziehen und das wertvollste, was sie besaßen, mit sich nehmen. Victor konnte es verstehen, denn Ankh-Morpork war in dieser Hitze unerträglicher als zu allen anderen Zeiten. Die Stadt lag da wie ein totes, stinkendes Tier. Zu heiß, um darin zu gehen, zu heiß, um darin zu atmen. Selbst die Untoten faulten einfach nur so vor sich hin anstatt sich tief in die dunkle kühle Erde zu scheren, dort wo sie hin gehörten.
Noch mehr als Untote (denn diese hatten unrechtmäßiger Weise eine zweite Chance erhalten, die anderen ewig verwehrt blieb) hasste er diese Familie in dem Haus. Die Wilchesters. Er hasste, wie sie sich kleideten, er hasste, wie sie redeten und wie sie kleine Gartenpartys mit bunten Seidenlampions gaben und sie Festivitäten nannten. Im Grunde waren sie immer noch sehr bürgerlich, obwohl der Hausherr durch irgendwelche Anwaltsgeschäfte zu Wohlstand gekommen war. Sie besaßen nur eine einzige wertvolle Sache und Victor hatte die Absicht sie ihnen zu stehlen.
Sein Vorgehen glich dabei einer Pyramide. Er hatte seit zwei Monate Erkundigungen über die Wilchesters eingezogen, er hatte sich auf die gleichen Feiern wie sie eingeschlichen, er hatte gelauscht, geschmiert und beobachtet. Wie ein Adler zog er immer engere Kreise um das Haus im Nadelspitzenweg, das in der feineren Gegend um den Schlummerhügel lag. Nun war er in der Spitze der Pyramide angelangt, alle Bemühungen hatten sich auf diesen einen Tag fokussiert, ausreichende Informationen waren eingeholt, die Ausrüstung bereitgelegt, die nötigen Vorkehrungen getroffen. Kurz gesagt: Der Plan war gemacht.
Victor warf einen letzten Blick durch das Fernglas zur Dachseite, die sichtbar für ihn war. Etwas unterhalb des Schornsteines gab es eine verrußte Klappe aus Holz für den Schornsteinfeger. Durch den Mond war die Sicht ungehindert und Victor steckte das Fernglas zufrieden zurück in seine Tasche. Dann drehte er sich um und kroch Stück für Stück weiter das Dach hoch auf dem er bis eben gelegen hatte. Dort, wo sich beide Seiten trafen, war vom Dachdeckermeister eine dünne gewölbte Leiste eingefügt worden auf der man, sofern man ausreichend geübt war, balancieren konnte. Extra dafür hatte sich Victor Tanzschuhe angezogen in denen seine Füße fürchterlich juckten. Noch dazu waren sie weiß und mit Schleifen, trotzdem für seine Zwecke aber am besten geeignet.
Mit höchster Vorsicht setzte er den ersten Fuß auf die Leiste, zog den anderen dann nach kurzem Durchatmen nach und trippelte mit ausgestreckten Armen einige Schritte bis zur Mitte. Nur ein Schwanken und er würde vermutlich abrutschen, er durfte in dieser Nacht nie die Konzentration verlieren. Victor ließ seinen Blick über die Dächer schweifen, er konnte die runde Wölbung des Schlummerhügels sehen und sogar ein Stück des Ankhs erkennen, der sich träge vorwärts schob. In seinem weiteren Umkreis lag alles ruhig da, nicht ein Ton war zu hören, noch nicht einmal Katzengejammer. Es war zu heiß für alles. Victor beneidete die Schlafende, aber zumindest würde er so von Niemanden entdeckt werden.
Er machte sich daran Teil Eins des Planes auszuführen. Seine Hand griff zum Seil, das mehrfach gewickelt um seine Schulter hang. Noch einmal prüfte er den Sitz des Hakens an dem einen und die Lederverkleidung am anderen Ende. Ging hier etwas schief, dann endete die Nacht schneller für ihn, als er sich gewünscht hätte. Er schwang das Seil probeweise hin und her, um das Gewicht in seiner Hand zu fühlen. Es war lang genug, das wusste er. Es würde ihn und seine Ausrüstung tragen, ohne Probleme, auch dies wusste er. Und es würde sich ohne einen Laut um den Schornstein wickeln, sich mit spitzen Eisen in bröckligen Backstein bohren und fest halten. Dies hoffte er.
Nicht, dass er sich nicht darauf vorbereitet hätte. Nur ein Narr glaubte, dass die Dinge aus den neuen Büchern auch in der Realität einfach so funktionierten. Victor hatte sich lieber auf sich selbst verlassen, mit dem Seil an anderen Schornsteinen geübt, immer und immer wieder, sogar einen Assassinen dafür bezahlt, dass er ihm einige Kniffe beibrachte. All dies ließ sich Victor durch den Kopf gehen bis er vollkommen von seinem Erfolg überzeugt war.
Erst dann warf er.
Während er seine Füße um die Leiste krümmte, das Gewicht verlagerte, um einen guten Stand zu haben, schleuderte er das Seil im richtigen Winkel über die Straße und den Garten bis hin zum Dach und mit Schwung um den Schornstein. Schabend kratzte der dreispitzige Haken über den Stein, dann verklang es abrupt und nichts war mehr zu hören. Victor atmete wieder ein. Gut, das Seil war schon einmal nicht heruntergekommen, dafür konnte er den Haken nicht entdecken. Erst ganz vorsichtig, dann etwas fester, zog Victor an dem Seil. Zentimeter für Zentimeter rollte er das Überschüssige zusammen bis sich das Seil immer mehr straffte und spannte. Plötzlich gab es einen Ruck, Victor keuchte entsetzt, der Haken kam wieder hervorgeholpert, klapperte über einige Dachpfannen. Victor zog, der Haken rollte ohne Halt weiter und es war allein einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass er sich diesen Moment in die Seilschnur klammerte, die sich fester um den Schornstein zog und hielt.
Mit der freien Hand wischte Victor sich über die nasse Stirn und wartete einige Augenblicke, ob sich etwas im Hause rührte. Er holte sogar sein Fernglas hervor, kontrollierte jedes Fenster und auch noch einmal den Sitz des Hakens, dann erst tänzelte er auf dem Dachfirst zum dortigen Schornstein. Dort schlang er das restliche Seil herum und herum bis sich die Leine federnd straffte, dass sie in der Luft regelrecht vibrierte.
Mit Bedacht legte er die Hände an das Seil, ging in die Hocke. Ein Moment des Mutes und es war vollbracht, sagte er zu sich selbst. Schließlich schwang er seine Beine empor und hakte sie unter. In dieser Position, mit dem Beutel auf dem Bauch, hangelte er sich Stück für Stück vorwärts. Noch trug ihn das Seil, beide Halterungen gaben nicht nach. Zuversicht überkam Victor. Bis sein Weg ihn über die Gasse zwischen den beiden Häusern führte. So hing er wohl einige Meter über einer zwar sehr manierlichen sauberen Straße mit Laternen in Sichtweite, aber auch über sehr hartem Kopfsteinpflaster. Wenn er erst einmal bei der Grundsteinmauer war, konnte er verschnaufen, redete sich Victor zu. Er hangelte sich hoffnungsvoll bis zur Mitte der Gasse.
In diesem Augenblick bogen die Trolle um die Ecke. Genauer gesagt war es eine richtig große Trollbande, sie schienen sehr betrunken, grölten laut und schlugen sich. Victor besaß nicht die geringste Ahnung, was sie in dieser Gegend zu suchen hatten. Er stellte sich tot und klammerte sich gleich einem Käfer an seinen Halm. Gewiss werden sie mich entdecken, es kann gar nicht anders kommen und wenn sie es tun, bin ich toter, als ich mich je stellen könnte.
"Un ich haben das O-o-o-graaaaaah", lallte und brüllte der linke Troll, während er den rechten neben sich mit seinen breiten Armen schubste. Noch sahen sie ihn nicht, noch waren sie mit sich selbst beschäftigt. Victor spürte wie das Seil an seiner Haut schabte. Herrje, das waren besoffene, blöde Trolle, sie würden einfach weitergehen und ihn in Frieden lassen.
Mit wankenden Schritten dröhnten sie das Kopfsteinpflaster entlang, näherten sich der Leine.
"Mein O-o-ograaaah, das ich dir hauen, ha, was?" Der Troll machte sich einen Spaß daraus "Sätze" zu bilden in denen das Wort Oograh vorkam, damit er es richtig laut herausdonnern konnte. Sie standen nun unter dem Seil, hatten immer noch nicht nach oben geschaut, waren aber aus irgendeinem Grund stehen geblieben.
Es ist Sommer, es ist unglaublich heiß. Sie sind noch dümmer als sonst, dachte Victor etwas weiter über ihnen. Er spürte, wie ihm der Schweiß unter dem schwarzen Stoffband, das seine Haare hielt, hervorquoll. Seine Arme wurden schwer, er hatte das Gefühl entweder würden seine Arme oder das Seil ausleiern und ganz zuletzt würde er immer tiefer sinken bis sein Rücken über den Staub strich.
Er atmete flach, wagte es sich keinen Millimeter in seiner Position zu ändern. Die Trolle wankten nach vorne. Victor atmete bereits erleichtert aus, als der letzte den Kopf hob und in den Nachthimmel stierte.
"He", stieß er langsam aus. Die anderen drehten sich wieder zurück, einer der drei kippte dabei krachend um. "Da hängen wer." Ein steinerner Arm reckte sich in die Luft. Die Trolle schauten.
"He! Du! Runterkommen!", forderte einer der Trolle, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte. Victor seufzte innerlich. Die Trollbande entpuppte sich als eine nicht einkalkulierte Variabel in seinem Plan.
"Das ist sehr schlecht möglich", hörte er sich sagen.
"Häh?", machte der Troll.
"Hört zu", sprach Victor von oben herunter, während er versuchte sich weiter festzuhalten, "ich bin der Seilstabilitätstester der Diebesgilde und es ist mir bestimmt hier zu hängen, sobald ich also herunter komme, kann ich nicht länger das Seil testen, ich könnte meinen offiziellen Bericht nicht anfertigen und ich wäre meine offizielle Arbeit als offizieller Seilstabilitätstester los. Ihr seht also, das ist völlig unmöglich." Was für eine bescheuerte Idee, dachte Victor im gleichen Moment. Leider hielten auch Trolle nicht viel von intellektuellem Gewitzel. Doch allein durch die Hitze waren sie weiter von geistigen Höhenflügen entfernt, als irgendjemand sonst.
"Also kommt nicht auf dumme Ideen", fügte Victor hastig hinzu. "Mit der Diebesgilde ist wirklich nicht zu spaßen."
"He, was du uns geben, wenn... wenn.." Der Troll überlegte, wie der Rest des Satzes wohl lauten mochte. "wenn wir gehen weiter?"
"Ähm, ich habe nichts, wenn ihr bloß bitte nicht den Apothekergarten aufsucht. Besonders nicht das linke rechte Kräuterbeet zwischen den Stachelbeersträuchern, wo ein Beutel Geld für schlechte Tage versteckt ist", erwiderte Victor mit Flehen im Ton. Er hatte natürlich nichts dergleichen dort, aber der Apothekergarten war weit genug weg, dass er endlich sicher im Haus verschwinden konnte. Er hangelte sich ein bisschen weiter.
"Nein, wir äh nie gehen dort hin", gab einer der etwas "schlaueren" Trolle zurück. Die anderen wollten noch etwas sagen, aber er schubste sie grob weiter. "Wir jetzt gehen müssen."
Victor unterdrückte ein "Hat mich sehr gefreut", stattdessen kletterte er rasch weiter. Er brauchte dringend die Pause auf der Mauer. Ein paar Minuten später hockte er leise keuchend mit Zehenspitzen auf der Mauer zwischen den Glassplittern und die Trolle waren weiter lärmend und laut lachend um die Ecke gebogen. Das lief ja gut, dachte Victor und sah zum Blumengarten, der finster unter ihm lag.
Der Grund, warum er nicht gleich von der Mauer hier angefangen hatte, war eng mit dem Garten verbunden. Er war groß, mit einigen Brombeerhecken, die sich irgendwie trotz der klebrigen Luft gehalten hatten, und mehreren Blumenbeeten, das Laster des Hausherren. Das Laster der Hausdame bereitete Victor jedoch mehr Sorgen.
In diesem Moment hörte er es bereits leise keuchen und an der Mauer kratzen. Der Dieb reckte den Kopf und sah nur noch einen dunklen schmalen Schatten über den Blumengarten huschen. Da es sich zwischen Glassplittern und Eisennägeln nicht gut saß, begann Victor vorsichtig am Seil weiterzuklettern, die juckenden Füße immer wieder gegeneinander reibend. Er konnte so nicht nach unten sehen, dafür funktionierte sein Gehör aber ausgezeichnet. Es schnaufte und hechelte unter ihm.
Schwitzend schob er seine Hände weiter vorwärts, die Augen in den Himmel gerichtet. Dann berührten seine Fußspitzen endlich die Dachpfannen und er ließ sich schwer atmend dort nieder. Teil Eins des Planes war beinahe geschafft. Victor robbte zur Holzklappe; als er zurückblickte sah er in der Luft das Seil schweben, kaum in der Finsternis zu erkennen, nur ein heller Strich, bloß eine Wimper, eine Irritierung in den Augen.

Wie ein gähnend schwarzes Rechteck stand es offen, als Victor die Klappe aufschlug. Geschickt und ohne jeden Laut ließ er sich hinab gleiten und sank auf einen staubigen Dachboden. Mit einer Kerze dünn wie ein knochiger Finger leuchtete er in die Finsternis. Zittriges Licht legte sich auf mit Spinnweben und Staubfäden überzogene Dinge. Victor kannte sich aus mit der Dunkelheit und als er in den Dachboden stierte, sah er viel davon. Schwarz wie die Unterseite einer Vogelschwinge, das Trauertuch einer Witwe, schwarz wie der Platz unter einem Stein, so verschleierte es jeden genaueren Blick auf die Objekte vor ihm. Der Dieb schlich behutsam vorwärts, vorbei an verhangenen Spiegeln und Bildern, an verbogenen Leuchtern, über umgestürzte alte Stühle und unter langen Querbalken hindurch.
Die Wilchesters wussten offenbar nichts mit alten und kaputten Dingen anzufangen, der Reichtum hatte sie wohl verlernen lassen wie man Sachen reparierte, dachte Victor, als er das Gerümpel sah. Sie kannten nur noch Dinge in denen sich kein Makel einschleichen durfte, da sie sonst unwiderruflich ihren Wert verlieren würden. Es wurde Zeit, dass sie sich wieder an den Wert der Erneuerung erinnerten. Erneuerung, Wiederherstellung...
Victor musste an tote Körper denken, die sich von fauligem Gras erhoben. Rasch schritt er weiter, als könne er dadurch seine Gedanken zurück lassen. Staub, dicht und in Mengen, hob sich bei jedem Schritt vom Boden, tanzte unsichtbar in der Finsternis und tauchte nur kurz am Rande des Lichtkegels auf. Das Wachs der Kerze lief in Tropfen über den bronzenen Halter und sammelte sich auf dem dazugehörigen kleinen Teller, den Victor zitternd hielt.
Licht brachte auch Schatten mit sich, er entdeckte seinen eigenen nur einen Fußtritt entfernt über einem mit Laken bedecktem Diwan schweben. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, musste auf der Hut sein. Gerade hier konnten schon Fallen für Assassinen lauern. Die Wilchesters waren so arrogant und empfanden sich selbst als so wichtig, dass sie sicher im Glauben lebten irgendwer trachte bestimmt nach ihrem Leben.
So tappte Victor mit der größten Vorsicht über den Speicher.
Bis er auf etwas kleines, Zerbrechliches trat. Eine Falle, Victor konnte das 'Schnapp' förmlich hören. Dieses 'Schnapp' und 'Klick' und 'Klack', das einem sagte: 'Haha, wir haben dich.' In solchen Fällen stieg nur ein schlechter Einbrecher von dem Mechanismus. Ein guter blieb ruhig stehen und dachte nach. Victor dachte sogar sehr angestrengt nach, aber es half nicht viel. Etwas Zerbrechliches... vielleicht ein giftiges Gas. Er schnüffelte, doch da war nichts. Nur alte, muffige Luft. Zu Ducken brauchte er sich nun auch nicht mehr, sirrende Pfeile und herab schwingende Beile hätten ihn bereits längst ereilt. Vielleicht hatte ihn ja... er tastete behutsam seinen Rücken entlang, so gut dies ging. Nein, alles in Ordnung (soweit man das behaupten konnte). Was blieb ihm da anderes übrig, als nach vorne zu treten?
Victor trat also nach einigem Zaudern nach vorne und auf die richtige Falle. Es machte leise 'Klick', dann 'Pflapp' und weil Victor es noch schaffte sich zu ducken, traf die winzige Nadel nicht seine Brust, sondern seinen Hals. Es war ein kleiner kaum bemerkenswerter Einstich, was noch für eine gewisse Lebensdauer sprach. Giftpfeile waren sehr höflich, dachte Victor, als er ihn langsam herauszog. Sie sagten einem schlicht, dass man nicht den Boden mit Blut besudeln und nach seinem Ableben Gerüche verbreiten, sondern lieber ruhig und entspannt woanders sterben sollte.
Victor jedoch ging unbeirrbar weiter. Natürlich hatte er damit gerechnet. Seine Vorbereitungen wären nicht einen Dreiviertelcent wert, wenn er sich nicht hierfür vorbereitet hätte. Ein sehr teures Gegenmittel aus dem Achatenem Reich, besorgt von dem Schmuggler sollte ihn für die Dauer eines Tages gegen jedes gebräuchliche Gift immun machen. Es bestand also kein Grund zur Aufregung, trotzdem wurde Victor leicht nervös. In diesem Geschäft konnte man kaum niemandem vertrauen außer sich selbst.

Dunkelheit lag in dem engen Flur. Drei Türen zweigten davon ab, doch sie waren allesamt geschlossen. Nichts rührte sich. Ein finstrer Schatten klebte in einer Ecke wie eine vielgliedrige Spinne. Lauernd. Dann hörte man leise Geräusche, ein Klacken und Ächzen, das von oben aus dem Gebälk drang. Der Schatten ruckelte und sprang dann plötzlich unvermutet auf, eine hölzerne Zunge schwang von oben herab, entrollte sich in einer metallenen dünnen Leiter, die ächzend und mit dem Geräusch von zahlreichen zitternden Stahlfedern ihre Standfüße in den dicken Teppich bohrte.
Eine Weile geschah nichts. Bis ein graziler weißer Schuh auf der obersten Stufe schwach zu erkennen war. Es folgte der zweite und Schritt für Schritt arbeitete sich eine ansonsten ganz in Schwarz gekleidete Gestalt nach unten, während die Leiter unter dem Gewicht leise ächzte und klapperte. Die letzten Stufen ließ die Gestalt aus und sprang federnd zu Boden, in der Hand plötzlich einen Dolch, ein bloßer metallisch schimmernder Strich im Dunklen. Die Person huschte hinter die Leiter, lugte in der Dunkelheit zwischen zwei Sprossen hindurch. Durch die Augen sah sie folgendes:
Drei Schatten, die sich tief in die Wände drückten. Ein dunkler glatter Strom, der über den Boden lief und weiter hinten nach unten floss. Einzelne Wellen huschten die Wände entlang, ein geducktes schwarzes Tier, die Hände über sich erhoben, eine ausgebreitete linke Handfläche und fünf rechte Klauenfinger, die nach oben deuteten.

Victor schlich an alten Gemälden vorbei, die in breiten mit Schnörkeln verzierten Rahmen steckten, bis er zur ersten Türe kam, wo er sein Ohr behutsam dagegen drückte und lauschte. Kein Laut. Sehr gut. Er selbst hatte für einen tiefen Schlaf gesorgt...
Jeder Mensch besaß ein Laster. Durch seine langwierigen Vorbereitungen wusste Victor, dass die Wilchesters alles daransetzten sich an die Leiter des Wohlstands zu krallen und jede nächste Sprosse verbissen zu erklimmen. Um die dabei hinderliche, ja schwerfällige Gewöhnlichkeit und Bürgerlichkeit abzuschütteln, hatte sich die Familie auf den Genuss von seltenen Delikatessen verlegt. Heute hatte es zum Abschluss des Abendmahls Sumpfdracheneierpunsch gegeben, serviert von der vollkommen ahnungslosen Hand des Butlers, denn Victor hatte bereits die Lieferung ins Haus mit Schlafmittel versetzen lassen und allein er und die Götter wussten wie teuer sein verschwiegener Gehilfe gewesen war. Er hatte vorsichtig vorgehen müssen, natürlich konnte man manche Diener und Zulieferer bestechen, aber wer konnte sagen, ob sie nicht doch plaudern oder im letzten Moment vor der Tat zurückschrecken würden. Letztendlich musste er das Küchenmädchen ein wenig necken, um heimlich zu erfahren, wo sein Ziel lag. Im Obergeschoß, in einem der Schlafzimmer, doch er hatte nicht erfahren können, in welchem. Victor hoffte, dass das Schlafmittel tatsächlich so gut wirkte wie man es ihm versichert hatte. Er fühlte sich ein wenig unwohl, in seinem Mund hatte sich ein schlechter Geschmack gesammelt. Vorsichtig ließ er sich in die Hocke sinken, um die Türe vor ihm zu überprüfen. Der Teppich schloss nicht ganz an der Schwelle ab, davor erkannte Victor ein schmales eingelassenes Holzbrett. Womöglich eine Falle?
Er schlich zur Tür dahinter. Hier gab es keine verbreitete Leiste und bei der dritten Türe ebenfalls nicht. Es war eine Falle. Was nun? Lag dahinter das Ziel? Angestrengt nachdenkend stützte sich der Dieb an der Kommode ab, seine Hände schwitzen in den Handschuhen, seine Füße ebenso. Ein leichter Schleier hatte sich über seine Augen gelegt, er griff nach dem Kerzenleuchter wie um sich daran festzuhalten. Unwillig schüttelte Victor seinen Kopf. Es galt weiterzumachen, wenn nicht an der ersten Türe, dann eben an der zweiten. Vielleicht waren sie miteinander verbunden.
Vorsichtig, ganz vorsichtig legte er die Hand auf die Klinke und stieß sie zitternd hinunter, dass die Türe vom leichten Stoß leise knarrend nach innen aufschwang.

***


"Verdammt ruhig." Ein paar vergilbte Karten flogen auf den Tisch.
"Du sagst es- hah, ich hab bessre als du." Eine Hand blätterte Karte für Karte auf das Holz, um die Spannung zu erhöhen.
"Eine Reihe. Du hast heute zu viel Glück." Jemand schubste zwei Rollen Garn an, dass sie klackend und sich selbst verfolgend über den Tisch kullerten.
"Vielleicht sollten wir doch auf die Straßen..." Zwei alte Hände rafften einige Münzen an sich.
"Bah, viel zu heiß heute Nacht."
"Als ob uns das noch etwas ausmachen würde." Ein Lachen ertönte. Ein Krug wurde hochgehoben, Schlürfen erklang, einige Spritzer landeten auf dem Tisch, wo sie sich direkt in das alte spröde Holz brannten.
"Irgendwie spürt man es doch noch manchmal in den Knochen."
"Was?"
"Die Kälte. Die Wärme" Der Gegenüber begann mit einer Hand unbeholfen die Karten neu zu mischen, flappend stapelten sie sich langsam ineinander. "Oder es ist nur die Erinnerung daran, wer weiß." Die Spielkarten sprangen aus der Hand. Darauf beugte sich der andere vor, nahm sie an sich und begann seinerseits geübt mit zwei Händen zu mischen. Die Kerze in der Mitte erzitterte eine Weile still.
"Meinst du nicht eine neue -"
"Die Knochen müssen ineinander greifen, das können nur die eigenen." Die Person erhob sich ächzend und sog die Luft schnuppernd ein. "Hmm, der Geruch von Knieweich... allein davon könnte man schon betrunken werden", sagte sie versonnen und reckte sich. Ein Knarren und Ächzen erklang. "Wie eine alte Fregatte." Heiser lachend wankte die Gestalt nach vorne, die andere folgte zögernd, legte noch die Spielkarten auf den Tisch, doch die meisten fielen unbemerkt daneben und verteilten sich auf dem Boden.
Irgendwo klappte eine Türe auf, ein Spalt breit schwappte das Licht des bleichgoldenen Mondes hinein. Es hatte sich über die ganze Stadt gelegt, über alte spitze Dächer, Mauerzinnen, Erker und rundbogigen Gängen in den alten Tempeln, es lagerte auf Türschwellen und Fenstersimsen, floss über hohe Gildentore und reglose Wasserspeier und zitterte letztendlich noch blässlich in den Tiefen einiger Regentonnen.

***


Einige weißgelbe Streifen und Lichtflecke fielen auch durch das vergitterte Fenster in einem ansonsten nur von einer Kerze erhellten Raum. Ein zittriger Schatten kroch in den Raum und schmiegte sich blass an die gegenüberliegende Wand. Der Schemen wurde kleiner, scharfkantiger, er beugte sich vor. In dem kleinen schmalen Bett lag ein schlafender alter Mann, die Furchen und Pusteln im Gesicht erhellt von der Kerze. Dünne krankengefärbte Haut über spitzen Knochen.
Der Raum roch nach Krankheit, nach Fäulnis und ungewaschenen besudelten Betttüchern. Der Schatten hielt sich die Hand vor den Mund, krümmte sich und wandte sich voller Grauen von dem Gesicht ab. Flucht.

Dann eben der dritte Raum, dachte Victor, während er seinen Atem zu beruhigen versuchte. Ein Toter oder zumindest einer auf der Schwelle dessen, wie entsetzlich anzusehen. Er begann die Wilchesters noch mehr zu verabscheuen.
Er ließ sich kaum Zeit mit dem Kontrollieren der Türe, sondern hastete direkt übereilt in das Zimmer. Kurzzeitig zog eine Schwärze an seinen Augen vorbei, als hätte ihn der Flügel eines Nachtfalters gestreift. Die Decken des Himmelbettes waren aufgeschlagen; keiner, der darin schlief. Zwei weiße Vorhänge bewegten sich sacht vor dem Bogen aus Stein, der zum Balkon führte, doch dort sah Victor niemanden stehen. Mondlicht fiel großzügig hinein, tauchte alles in gespenstischen Schein, nur nicht die Person im Bett. Aufmerksam achtete Victor auf jedes Geräusch. Grillenzirpen, Vorhangrauschen, Flügelschlagen, Flüsteratem.
Victor wandte sich nach rechts, von zwei Wandteppichen eingerahmt sah er eine dunkle schmale Türe. Vorsichtig pirschte er sich näher. Ja, da war es. Ein auf- und abschwellendes Flüstern, als spräche sich jemand unablässig Mut zu. Victor hatte ein gutes Gehör für so etwas. Zentimeter für Zentimeter öffnete er öffnete er die Türe, nichts knarrte, doch das Flüstern endete abrupt. Er konnte noch nicht einmal die letzten Silben erhaschen. Selbst der Mond fand nicht hierher, als er in undurchdringliche Finsternis blickte, wo jemand atmete, sich aber nicht bewegte. Starr vor Furcht, doch würde er nicht dann auch den Atem anhalten? War es wartend, gar lauernd?
Victor Tugelbend hatte keine Angst vor Schwarzen Männern, so zündete er seine Kerze an, es brauchte mehrere Versuche bis das Zündelholz endlich entflammte. Den Kerzenteller hochhaltend erkannte der Dieb, dass er in ein winziges Ankleidezimmer blickte, auf beiden Seiten die schwarzen Schatten von Gewändern. Und in der Mitte - Kleiderrascheln. Die Person erhob sich.
"Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du dich vielleicht über mich beugen und mich betrachten würdest, während ich versuchen würde mich schlafend zu stellen", hauchte das Mädchen, nachdem es nach vorne getreten war und sich aus der Dunkelheit geschält hatte.
"Warum hast du nichts von dem Sumpfdracheneierpunsch genommen?", brachte Victor etwas perplex hervor. In seinen Zehen kribbelte es seltsam.
"Er ist mir zu bitter. Sachen ohne Zucker esse ich nicht." Das Mädchen schob beinahe trotzig das Kinn vor, sie schien sich nicht zu fürchten. Victor erinnerte sich daran, dass auf den Lieferlisten, die er wegen dem Punsch hatte einsehen können, ungewöhnlich viel Zucker gestanden hatte, doch er hatte angenommen er wäre für den Wächter im Garten.
Die Augen der jungen Frau fragten 'Und was nun?', jedoch hatte Victor ihre Haare wieder entdeckt, die jetzt im Licht sichtbar waren. Als er seine Hand hob, zuckte das Mädchen kurz zusammen, aber der Dieb konnte ungehindert seine Finger auf ihr Haar legen. Weich, es streichelte die Haut unter seinen Fingerkuppen.
"Sagst du mir wo es versteckt ist?"
Kleine rote Lippen fragten nach dem 'Was'. Victor zwirbelte leicht ihre Haarspitzen, das Mädchen wippte allmählich beunruhigt auf ihren nackten Sohlen.
"Wo bewahrt dein Vater seine Wertsachen auf?"
"Du... meinst...?" Ihr Arm streckte sich zitternd zur Tür. "Im Schlafzimmer meiner Eltern."
Hatte er es doch geahnt. Zum ersten Mal in dieser Nacht formten sich die Lippen des Diebes zu einem kleinen zufriedenen Lächeln. Der Plan hatte einige neue Variabeln bekommen, dennoch konnte man ohne jeden Anflug von Zweifel oder Ungewissheit behaupten, dass alles nach Plan verlief.

***


Der Neue Flickschusterweg war eine schäbige kleine Gasse in einer der übleren Gegenden von Ankh-Morpork. An einer Hauswand hing schief ein altes Holzschild herab. Ging man ganz nah heran, kniff die Augen zusammen und stand das Licht günstig, so konnte man einen Salamander darauf erkennen, aber es war zurzeit viel zu düster, um mehr als die Umrisse des Schildes auszumachen. Die Türe des Geschäftes war ehemals eine Glastüre gewesen, nun jedoch mit Brettern zugenagelt und allein das Schild darüber wies darauf hin, dass sich hier im neuen Flickschusterweg 29 ein Geschäft befand. Sah es von außen tot aus, so herrschte innen in diesem Moment Leben.
Natürlich nur, wenn man es so nennen wollte.
"Ja, gutes Geld, gutes Geld." Dünne lange Finger griffen nach einem kleinen Lederbeutel. Ein Mann beugte sich gierig darüber und seine kleinen Augen zwinkerten kurz.
"Und meine Ware? Beeil dich, Hutt, wir von der Diebesgilde sind nicht deine üblichen Kunden, die du übers Ohr hauen kannst." Ein größerer drahtiger Mann legte ein Päckchen auf die Theke aus dem der Tabak bereits quoll und begann sich eine Zigarette zu drehen. "Ich habe ja schon einiges von dir gehört, Salamandergesicht. Mich legst du nicht herein."
"Gewiss, gewiss." Der Verkäufer griff unter die Theke und legte eine längliche Schachtel auf das Holz. "Fernaugen sind sehr begehrt geworden. Aber Thaddäus Hutt hat extra eines aufbewahrt für seine Freunde von der Gilde." Der Mann strich sich über seine ölig schwarzen Haare. Rauch wurde ihm ins Gesicht geblasen, doch er blinzelte nur.
"Was heißt das, begehrt geworden? Ich dachte, ich hätte hier etwas Seltenes." Der Dieb griff ruckartig nach dem Kittelkragen des Verkäufers. In den oberen Regalen hinter ihm begannen kleine Dämonen meckernd zu lachen.
"Natürlich... sehr selten, in der Stadt gibt es höchstens fünf... vielleicht sechs davon", würgte Hutt hervor. Eine spitze beinahe schwarze Zunge leckte hastig über seine schmalen Lippen. "Erst vorgestern verkaufte ich eines. Zu einem weit höheren Preis." Der Dieb hatte seine Neugier offenbar befriedigt, denn er ließ den Mann los. Nachdenklich zog er an seiner Zigarette.
"Ein Kollege also..." Der seltsame Verkäufer, der dabei war die Münzen zu zählen, schüttelte darauf den Kopf.
"Nein nein, ein Abtrünniger soweit iii-", sagte er wie beiläufig, da wurde er schon wieder heftig am Kragen gepackt, dass mehrere Münzen von der Theke rollten.
"Ein Unlizenzierter? Rede, Salamandergesicht, wer war es?"
"Nun, mein Gedächtnis ist alt... es wäre besser, wenn mich einige Münzen..."
"Münzen?! Habe ich dir nicht eben noch gesagt, dass wir von der Gilde nicht so leicht reinzulegen sind??" Der Dieb zerrte an Hutts Kragen, der seinen langen Hals hin und her wand. "Jetzt ist dein Leben bedroht und nicht dein Geld, also sag mir brav wer dieser Kerl war! Ich brauch nur noch einen Unlizenzierten, dann habe ich meine Quote erfüllt und bekomme einen Extra-Bonus", erklärte der Mann mit betont bedrohlicher Stimme, beim Sprechen klebte die Zigarette an seiner Unterlippe.
"Bedroh mich lieber nicht, sonst-", konnte Thaddäus Hutt noch hervorbringen ehe er entsetzt aufschrie. Ein Schrei wie das schrille Quietschen einer Ratte bei ihrem Tod.
"Sonst was?" Der Dieb zog seinen Dolch zurück, an dem nun Blut klebte. Auf der Theke lag eine dicke abgeschnittene Fingerkuppe. Der Verkäufer presste seine blutige Hand an sich und sprang zurück.
"Wahnsinniger! Ich hätte es dir doch gleich gesagt, warum seid ihr jungen Leute immer nur so ungeduldig?!", kreischte er am Rande der Hysterie. "Keiner versteht sich mehr auf gepflegte Spielchen, keine Tradition mehr." Über ihm kicherten einige Dämonen in ihren Ikonographenkästen.
"Jaja, ist ja gut", gab der Dieb etwas überrascht über den plötzlichen Gefühlsausbruch zurück. "Was ist denn nun?"
"Wenn du nur etwas Geduld hättest, dann würdest du ihn heute Nacht noch vor dem Morgengrauen hier antreffen", erklärte Hutt gereizt, während er einen Fetzen um seinen Finger wickelte und leise fluchte, er würde sich bei Boggis beschweren.
"Er kommt hierher zurück?", fragte der Dieb mit Stirnrunzeln.
"Oh ja, gewiss." Das ekelhafte selbstsichere Grinsen hatte wieder Platz im Salamandergesicht gefunden. "Er muss sozusagen hierher zurück kehren, vertrau mir."
Der andere Mann schien sich dessen aber nicht so sicher und der Verkäufer sah nach der letzten Person in der Stadt aus, der man vertrauen konnte.
"Ich lasse dir bescheid geben sobald er hier ist. Aber komm lieber mit zwei Männern, es ist ein kräftiger großer Bursche." Die spitze Zunge schnellte hervor und strich über eine gelbe Zahnreihe.
"Hm... schön, aber wehe du lügst mich an. Wenn die Sonne über den Dächern zu sehen ist, komme ich auf jeden Fall zurück. Mit den zwei Männern", erwiderte der Dieb, immer noch nicht ganz einsichtig. Er griff nach der Schachtel und schritt zur Türe. Kurz davor drehte er sich noch einmal um, im Schein einer verdreckten Laterne sah er den seltsamen Mann ihm unbewegt nachblicken. "Und dann geht es dir an den Kragen. Dann ist nicht nur dein Finger dran."
"Gewiss, gewiss."
Das grässliche Schellen einer Türglocke. Stille.

"Hörst du das?" Jemand legte eine Hand ans Ohr.
"Was denn?" Verständnisloses im Kreis Herumdrehen.
"Das kommt aus Richtung des Apothekergartens."
"Was sollte da schon sein außer ein paar Kultisten, die dort ihre verrückten Rituale abhalten? Der Versuch eines Lachens. Doch die andere Person war schon in die Richtung gegangen aus der undefinierbare Geräusche klangen. Wie dumpfe Stimmen und das Schlagen von Hämmern. Die zwei Gestalten hockten sich hinter einen dichten Ginsterbusch, schoben vorsichtig ein paar Zweige beiseite und lugten hindurch.
"Das gibt es doch nicht", entfuhr der einen.
Inmitten zerstörter Überreste von Kräuterbeeten, Hecken und geharkten Wegen standen mehrere Trolle und schienen sich gegenseitig wankend zu verprügeln und miteinander zu streiten.
"Das sieht nicht gut aus."

***


Verfluchte Zwergenwertarbeit! Sollte sie jetzt sein Untergang sein? Das Mädchen hatte ihn in das Schlafzimmer der Eltern geführt, über die Falle in der Türschwelle hinweg geholfen und den Sockel der Statue beiseite geschoben. Mehr hatte es nicht tun können und Victor war sich auch gar nicht sicher, ob es ihm recht gewesen wäre, hätte sie die ganze Arbeit für ihn getan. Er wollte die Früchte seiner eigenen Arbeit ernten. Das Schnarchen des Hausherrn holte ihn zu seiner eigentlichen Aufgabe zurück. Die Statue hatte direkt auf dem Boden gestanden, beiseite geschoben offenbarte sie eine runde Metallplatte. Mit Hilfe einer speziellen Puderquaste hatte Victor Fingerabdrücke erkennen können, die ihm nach einigem Gedrücke einen Punkt verrieten, wo man die Platte öffnen konnte, um sich vor fünf eingelassenen Schlössern, einer Handkurbel und einer eckigen Einkerbung zu sehen. Sonst nichts, keine Nieten, keine Schrauben und Muttern. Eines versprach dieser komplizierte Mechanismus jedoch. Victor erwartete ein unendlich kostbares Schmuckstück. Noch einmal sah er zu dem Doppelbett und er betete dafür, dass der Punsch seine Wirkung gut erfüllen würde. Nichtsdestotrotz musste er so leise wie eine Feder auf ihrem Sinkflug sein. Das Kerzenlicht mit der Statue abschirmend, streckte sich Victor bäuchlings auf dem Boden aus und griff nach seinen Instrumenten. Kurzzeitig hatte er das Gefühl, dass sich der Boden drehte, aber er schob das seiner Nervosität zu.
Fünf Schlösser also. Schlüssel hatte er natürlich nicht und etwas sagte ihm, es wäre Irrsinn nach so kleinen Dingen zu suchen, die wahrscheinlich im ganzen Haus verteilt waren oder Wilchesters an seinem Körper trug. Das Puder gab auch keinen Aufschluss über die Vorgehensweise, so probierte es Victor zunächst mit einem Dietrich und seinem guten Geschick.
Im ersten Schloss spürte er sofort die Widerstände der einzelnen Verschlussbolzen. Beim ersten Knacken zuckte Victor zusammen, jedes Drehen hörte sich für ihn unerträglich laut an. Sein Herz begann schneller zu schlagen, Schweißtropfen fielen auf die Metallplatte.
Es war ein einziges Schnapp und Klick und Klack bis alle Stifte vom Dietrich oben gehalten wurden und das Schloss einrastete. Was jetzt? Wieviel Zeit war vergangen? Victors Hände waren zittrig geworden, er hatte sogar die Handschuhe ausziehen müssen. Probeweise drückte er die viereckige Platte ein, diese zischte eigentümlich, worauf Victor heftig zusammenzuckte als er einen der Wilchesters sich im Bett wälzen hörte. Für eine Weile blieb er reglos liegen, wagte auch nicht zu atmen. Sein Herz hämmerte laut gegen den Holzboden und tat ihm richtig weh in seiner Brust.
Doch es wachte niemand aus seinem Schlaf. Victor arbeitete weiter. Das zweite Schloss fing an sich über ihn lustig zu machen. Sobald er den Stift ins Schloss gesteckt hatte und nach Widerstand suchte, stieß er immer wieder auf eine Feder, die seinen Dietrich regelrecht hinaus katapultierte, es war zum Haare raufen. Irgendwo in seinem Geist bohrte sogar die Lösung, stand in großen Buchstaben sichtbar vor ihm, aber schwarze Flecken begannen wieder sein Sichtfeld zu bevölkern. Ärgerlich und gereizt fächelte sich Victor Luft zu, doch sie blieb stickig und kratzte im Hals, als hätte er Schrauben geschluckt. Ein unbestimmtes Gefühl, dass ihm die Zeit unaufhörlich durch die Finger glitt, stellte sich ein.
Aber der Plan, der Plan...

***


"Na sieh mal einer an, die Trolle haben also nicht nur Blödsinn geredet." Eine der beiden Personen deutete auf ein straff gespanntes Seil, das sich dreist über den Straßen hielt.
"In der Nähe des Schlummerhügels, die Angaben dieser Dummköpfe waren ja sehr präzise", erwiderte die andere, blieb stehen und begann sich die Waden zu reiben vom vielen Umherlaufen. Eine Weile starrten beide in den Nachthimmel und zu dem Seil.
"Was meinst du?"
"Sieht ganz nach einem Dieb aus." Alte gelbliche Fingernägel kratzten über ein Kinn.
"Fragen wir mal in einem der Häuser nach, ob etwas beobachtet wurde."

***


Der Plan war dahin. Zwei Dietriche waren gebrochen. Mit dem dritten saß er nun immer noch am zweiten Schloss, es wollte und wollte sich ihm nicht erschließen. Vor Verzweiflung wünschte sich Victor am liebsten gegen das Metall zu hämmern, aber er musste weiterhin leise bleiben. Also von neuem. Mit einem gebogenen kleinen Haken begann er nun nach der Feder zu stochern, ob sie sich vielleicht herausziehen ließ.
...
Erst später, nachdem er lange an den fünf Schlössern gesessen hatte - eines raffinierter und trickreicher als das andere - kam er auf den verwegenen Gedanken einfach die Kurbel zu drehen. Sein Aufseufzen über diese Erkenntnis -und dass sie klappte- ging unter in lautem Geklopfe an der Haustüre und einem Ruf, der in letzter Zeit immer öfter durch die Straßen schallte:
"Aufmachen! Stadtwache!!"
Zuerst hielt es Victor für eine Einbildung seiner seltsam getrübten Sinne, aber das Klopfen wollte nicht aufhören und schon hörte er den Hausherren murren und sich im Bett aufrechten. Mit rasendem Herzen hob der Dieb die Metallvorrichtung an, ließ sie beiseite fallen und griff in die Mulde.
"He... was?!" Herr Wilchester sah verschlafen zu ihm herüber und rieb sich über das zerknautschte unrasierte Gesicht. Kurzzeitig verharrte Victor in seiner Kauerstellung, als wäre er bewegungslos auch unsichtbar, dann drückte er in einer Bewegung seine erbeuteten Schätze an sich, erhob sich taumelnd und rannte aus dem Schlafzimmer, vor ungläubigen Blicken der beiden Wilchesters fliehend.
Der Läufer im Flur erwies sich bei schnellem Rennen als Stolperfalle, so schlidderte Victor in das Zimmer mit dem Balkon wie ein gehetztes Tier. Er wusste selber nicht warum er so nervös war, normalerweise hätte er sich auch aus solch einer Situation mit Eleganz herauslaviert.
Im Zimmer stand die Tochter in ihrem weißen Stoffgewand und hatte die schmalen Hände an ihr bleiches Gesicht gedrückt. Wie im Vorbeigehen ergriff er ihre Hand, drückte sie an sich.
"Komm mit, mein Zuckermädchen", brachte er hervor. Sie presste ihren Leib fast wie in Angst eng an seinen und als er ihre Wärme und das Wogen unter ihrem dünnen Hemd spürte, ergriff ihn etwas wie ein Schwindel, beinahe eine leichte Erregung, doch die dröhnenden Schritte und das Klopfen holten ihn zurück aus diesem Taumel. Gemeinsam standen sie nun auf dem Balkon, noch immer war es heiß. Schwüle Sommerluft, die herüber trieb und ihre Haare in sein Gesicht wehen ließ.
Victor hatte bereits ein Bein über die Brüstung geschwungen, als er nach dem Mädchen griff. Er spürte unter seinen Fingern noch ihre weichen Hüften, ehe ihn ein plötzlicher Schwindelanfall überkam, er schwankte, den Halt verlor und vom Balkon stürzte.

***


"Seltsam, niemand öffnet. Mittlerweile müssten sie doch aufgewacht sein."
"Vielleicht haben sie den Dieb überrascht." Die beiden Personen standen unschlüssig vor der geschlossenen Haustüre und warteten.
"Es kann nur ein Unlizenzierter sein. Sieh." Ein Schatten legte sich kurz über eine goldene Plakette an der Hauswand. "Die Hundert Dollar Plakette. Kein Dieb in der Gilde würde sich auch nur auf einen Schritt diesem Haus nähern, es hat eine dreizehn Monate Freistellung."
"Vielleicht ein sehr dummer Dieb."

***


Er spürte trockene heiße Lippen auf seinen. Es sollte vermutlich ein lebensspendender Kuss sein, aber sie presste ihren Mund fest an seinen und ließ ihn nicht weg und Victor fühlte sich danach noch ausgelaugter und schwindliger als zuvor. Sein linker Arm schmerzte sehr, als er sich schwankend erhob.
"Hier nimm. Nimm das an dich." Er reichte ihr eine goldene Fibel mit einem roten Stein besetzt und das Mädchen steckte sie in ihren Ausschnitt. Ein wenig erregte Victor der Gedanke nachher mit seinen Fingern das Stück wieder zwischen ihrem Busen hervorzuholen, aber das Gefühl war flatterhaft und verschwand sofort wieder unter anderen Gedankenblitzen. "Gibt es... einen Ausgang?", brachte er unter Keuchen hervor. Vorne war kein Klopfen mehr zu hören. Das Mädchen deutete in eben jene Richtung.
"Nur vorne", sagte sie leise und zog ihn mit sich. An der anderen Seite schlenkerte sein Arm unkontrolliert hin und her. Während Dieb und Mädchen durch den Garten schlichen, kroch aus einer baufälligen Hütte am Ende des Gartens ein schwarzer Schemen und sog schnüffelnd die Luft ein.
Und nun? Zittrig lehnte er sich an glatte kühle Rinde und starrte nach oben, wo ein Gewölk aus bizarren Ästen ihn umfing. Mitten im Garten stand ein alter Baum, damals hatte Victor ihn zwar bemerkt, aber nicht in seine Pläne eingebaut, da er zu weit von der Mauer entfernt stand, doch das Mädchen begann bereits mit geübten Griffen am Stamm empor zu klettern. Er beobachtete wo sie ihre nackten Füße hin stemmte und wie sich ihre Sohlen in jede Unebenheit und Wölbung schmiegten. Victor versuchte es ihr nachzumachen, aber er glitt immer wieder ab und klammerte sich bald wie ein Ertrinkender an den Stamm. Oben hockte das Mädchen regungslos auf einem Ast, wie eine Wolke, die sich dort verfangen hatte. Die Blätter wirkten in der Finsternis schwarz und schienen sie bedecken zu wollen. Victor sah auch einige heranwachsende Birnen.
"Schnell, er ist nicht zahm. Nicht zu mir", drängte das Mädchen, aber Victor verstand den Sinn ihrer Worte nicht. Wie im Schlafwandel wandte er den Kopf und sah wie sich an der Häuserwand ein schwarzer Schatten entlang drückte. Kaum hatte ihn Victor bemerkt, verharrte er auch schon. Nun überkam plötzliche Eile den Dieb, er schabte an der Rinde entlang, griff fahrig bald hierhin und dorthin.
"Auf ein Wort", sagte da plötzlich jemand. Victor fuhr herum und sah tatsächlich in der Dunkelheit nahe beim Efeu zwei Personen stehen. Sie traten einen Schritt vor und so konnte Mondlicht ihre Konturen etwas erhellen. Bleiche, fahle Haut, schütteres Haar. Der Gestank hätte sie ihm schon vorher verraten müssen. Zombies! Was für Schrecken barg dieser Garten noch? Seine Hand zog beinahe ohne sein zutun den Dolch und er hielt ihn abwehrend vor sich.
"Zurück, ihr Leichenbewohner!", rief er. Es waren ein Mann und eine Frau. Der Mann hatte sich einen Arm abgerissen und hielt ihn wie ein Wurfgeschoss, während die Frau... das war doch keine Hand mehr.
"Herr Wilchesters ist über deinen Einbruch nicht sehr erfreut, er möchte gerne, dass du die Sachen wieder zurückgibst", begann die Frau in ruhigem Tonfall. Sie machten beide einen Schritt vorwärts.
"Ich... habe die Tochter!" Hilflos reckte Victor seinen Dolch in die Höhe.
"Hast du schon einmal von der Diebesgilde gehört?", fragte der Mann und zückte einen Block. "Bei uns in der Wache würdest du einmaligen Schutz genießen."
"Schreib zehn Dollar auf."
"Ja, ähm, Stadtwache Ankh-Morpork, wir verhaften dich wegen unlizenziertem Diebstahl und Anstiftung zu Vandalismus. Ein Bußgeld von zehn...", begann der untote Mann, brach jedoch ab, als seine Kollegin ihm etwas zuflüsterte. "von zwanzig Dollar."
"Anstiftung zu Vandalismus?" Victors Verwirrung steigerte sich noch. Er wusste nicht wohin er mit dem Dolch zeigen sollte, also zuckte er hektisch zwischen den Personen hin und her. Der weibliche Zombie kam näher, nun erkannte der Dieb auch das Ding an ihrem Arm. Etwas wie ein Haken oder so etwas. Er sah wohl auch die Uniformen, aber etwas sagte ihm, dass diese Toten ihm nicht gut gesonnen waren. "Zurück!", schrie er noch einmal und die Frau blieb stehen.
"Ja, einige Trolle haben den Apothekergarten klein gelegt. Aufgrund eingehender Befragung sagten die Trolle jedoch aus, dass ein Mann an einem Seil sie dorthin geschickt hatte", erklärte der Mann. "Es ist besser, wenn du mit uns zur Wache kommst."
"Ansonsten steht dir frei an einem sehr einsamen Ankhschlamm-Wetttrinken mit lustigen Gewichten an den Füßen teilzunehmen. Ein spezielles Angebot der Diebesgilde", fügte die Frau hinzu.
"Das willst du doch nicht oder?", versuchte es der Mann versöhnlicher und wog seinen Arm prüfend. Victor wusste nicht, was er wollte. Er wollte fliehen, aber seltsamerweise fühlte er nirgendwo die Kraft dazu in sich.
Und er sah auch nirgendwo eine Möglichkeit dazu.

***


Einige Minuten später schleppte sich Victor durch die Straßen Ankh-Morporks. Allein. Mit seiner Beute. Er wollte zurückdenken an das was gerade passiert war, doch es versank bereits alles in einem trüben Schleier von Unerklärlichkeit und er ließ sich mitziehen in eine wohlige abgeschaffte Mattigkeit. Kurzzeitig tauchte ein Gedanke aus dem Gewühl auf, wie ein Pfeil...
Victor dachte an den Moment auf dem Dach, dort wo noch alles vor ihm lag, wo er noch nicht absehen hatte können wie einmal alles enden würde. Etwas war schief gegangen. Nur wo? Immer noch umfangen von einem Nebel ließ er sich gegen eine Bordsteinkante sinken und befühlte die Fibel und das andere durch den Stoff seiner Tasche. Dann tastete er zaghaft nach seinem Arm, den eine dumpfe Taubheit ergriffen hatte. Irgendetwas hatte er übersehen in seinem Plan, nicht richtig bedacht. Er konnte dieses Puzzlestück auch vor sich sehen, eine sich immer wiederholende Sequenz.
Eine Schachtel, die über eine Theke geschoben wurde. Geöffnet. Hineingeschaut. Genickt. Wieder verschlossen. Ein breites Grinsen. Spitze Zunge.
Victor musste an den Schmuggler und an das Fernglas denken. Zum Abschluss probierte er es noch einmal aus, aber sobald er durchgeguckt hatte, wurde das Bild unklar und alles verschwamm und er fühlte sich von mal zu mal unwohler. Erst da dachte Victor an das Gift.
Dieser verlogene, hinterhältige, niederträchtige... er musste ihn betrogen haben, ihm irgendein Allerweltswässerchen gegeben haben, um ihm damit eine horrende Summe abzuknöpfen und ihn in sein Unglück ziehen zu lassen. Deswegen war er die ganze Zeit so unkonzentriert und zitterte. Das Gegenmittel, das er geschluckt hatte, wirkte nicht bei dem Giftpfeil. In Raserei über diese plötzliche Erkenntnis sprang der Dieb auf, wankte noch kurz auf seinen Füßen und stolperte dann nach vorne und Richtung Neuer Flickschusterweg.
Auf dem Weg dorthin begannen verschiedene Entschlüsse in ihm zu reifen. Er lebte noch, aber er fühlte wie er allmählich immer schwächer wurde und jetzt, in neuem Licht betrachtet, blickte er auf den Einbruch zurück und auf all seine Fehler, die ihm nun wie eine Folge des Giftes erschienen. Beim Seilwerfen, da war es noch gut gegangen und auch das Hangeln und Hineinklettern, lobte er sich selbst, während er schnell voranschritt. Über eine der Ankhbrücken, er wusste gar nicht mehr welche und durch weitere dunkle Gassen. In einigen sah er rötlichen und gelben Schein, zweimal war sogar Musik zu hören, dann wieder vor den Häusern einsame schwarze Schatten, die Victor streiften. Nach dem Speicher, da hatte es angefangen. Zuerst ein häufiges Augenblinzeln, dann das Zittern. Genauer überlegt, hatte er noch regelrecht Glück gehabt, dass nicht alles schief gegangen war.
Als er auf einer Anhöhe kam, blickte er kurz in die Ferne, wo er schon erste Ausläufer des sich langsam ausbreitenden Lichts sah. Der Morgen brach bald an.

Victor wollte gerade gegen die Türe des Ladens klopfen, als ihm aus dem Augenwinkel drei Männer in der Gasse auffielen. Er hatte sie schon vorher flüchtig bemerkt und sie ihn offensichtlich auch, denn sie starrten ihn an und kamen näher. Nun standen sie dicht hinter ihm und schienen etwa zu wollen.
"He, Abtrünniger! Die Gilde findet dein Verhalten gar nicht vorbildlich", schnarrte einer der drei.
"Oh ja, oh ja", fügte ein zweiter hinzu. Victor überlegte nicht lange.
Grässliches Türbimmeln ertönte, als er hastig in den Laden trat und die Türe so heftig hinter sich zuschlug, dass die Bretter wackelten.
"Oh", sagte er, als er in den Laden sah.
"Das bringt dir auch nichts mehr, der Verkäufer hat nämlich- oh", sagte auch einer der Diebe, als sie hinter Victor in den Laden schossen und abrupt stoppten. Der kleine Raum bot wesentlich weniger Platz als beim letzten Besuch. Sie sahen sich von mehreren Männern und Frauen in Wächteruniformen umringt.
"Stadtwache Ankh-Morpork", begann bereits ein Mann, als die Diebe schon versuchten aus dem Geschäft zu flüchten, doch die Türe war durch einen weiteren Wächter versperrt. Victor blickte sich mehrmals um, überall sah er Menschen stehen, gespannte Armbrüste und erhobene Schwerter. Noch ehe er irgendetwas machen konnte, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter, die ihn aus dem Kreis der Diebe zog. Dann ging alles irgendwie von selbst.
"Welcher war es denn nun?", wandte sich ein Wächter an Thaddäus Hutt.
Dieser zeigte auf einen der Diebe, der nun wegen schwerer Körperverletzung abgeführt wurde, zusammen mit seinen Kollegen. Zuletzt drehte sich der befehlshabende Wächter noch einmal um und deutete auf Victor.
"Was ist mit ihm?"
"Der gehört zu mir."
Und es waren kaum ein paar Minuten vergangen, da ging die Türglocke zum zweiten Mal und Victor stand wieder alleine mit dem Verkäufer im Laden. Der Mann legte einen bandagierten Finger an seine kleine Nase und schien das linke Ohr von Victor zu betrachten.
"Nuhuhun?", fragte er lang gedehnt.
"Ich..." Der lizenzlose Dieb musste sich erst einmal sammeln. "Du hast mich hereingelegt!", fiel ihm wieder ein.
"Ich habe dich gerettet."
"Gerettet? Gegen diese drei Gildenleute hätte ich... hätte ich." Victor suchte angestrengt nach etwas Passendes.
"Was? Du kannst ja kaum noch auf deinen eigenen Füßen stehen." Der Verkäufer strich sich über das schwarze glatte Haar und ein hämisches Lächeln hatte sich in seine Mundwinkel gelegt.
"Hast Du keine Ehre im Leib? Hab ich dir nicht genug Geld gegeben? Musstest du mich auch noch hereinlegen?" Victors Hand krampfte sich um den Thekenrand, als er spürte, dass über die lauten Worte und die Aufregung seine Knie weich wurden. "Gib mir das richtige Gegenmittel!"
Thaddäus Hutt wischte unbeeindruckt mit einem Lappen über die freie Theke.
"Sehr bedauerlich, dass es anscheinend nicht gewirkt hat. Ich hätte noch ein besseres Mittel." Er hielt kurz inne. "Natürlich auf einer etwas... höheren Preisstufe."
"Hol es!", keifte Victor, er versuchte mit der linken Hand nach der Theke zu greifen, aber er hatte das Gefühl, dass er mit den Fingern jedes Mal hindurch glitt. Hutt machte keine Anstalten sich zu bewegen, seine Zunge huschte kurz über seine Lippen.
"Es muss etwas Wertvolles gewesen sein für das du dir solche Mühe gegeben hast", bemerkte er. Victor verstand und fischte mit zittriger Hand die Fibel aus seiner Tasche. Sofort wurde sie ihm entzogen, als der Verkäufer es schon in seinen langen Fingern hielt und mit einem Monokel eingehend betrachtete. "Ja, schön gearbeitet, gutes Gold, guter Stein...", murmelte er vor sich hin, in den Augen einen habgierigen Glanz, den jeder Händler besaß.
"Das Mittel, mach jetzt rasch", drängte Victor. Endlich ließ Hutt von der Fibel und verschwand hinter einem zerschlissenen Vorhang. Als er wiederkam, trug er eine Karaffe bei sich. Es war edler Kristall, aber so verdreckt, dass das Innere nur noch als trübe Flüssigkeit zu erkennen war. Victor wettete darauf, dass Hutt sie irgendwem abgeluchst hatte.
"Natürlich verdünnt", erklärte der Schmuggler. "Ich kann nicht versichern, dass es keinen Dackelsaft enthält."
"Mach keine Scherze. Stell es dahin und ein Glas dazu." Die feste Stimme hatte Victor seine letzten Reserven gekostet, er atmete tief durch, zwischen seinen Fingern spürte er etwas spitzes. Kaum hatte Thaddäus Hutt ein Whiskeyglas auf die Theke gestellt und wollte seine Hand zurückziehen, warf sich Victor nach vorne, dass er schmerzhaft gegen das Holz stieß und beinahe die Karaffe umgeworfen hätte. Es war kein sauberer Stoß und er hatte dem Verkäufer mehr die Haut aufgeritzt, aber das Gift war drin. Kraftlos rollte der Pfeil aus seiner Hand und der Dieb sank zurück und auf den dreckigen Boden und starrte an die Decke, wo zwischen Staub und Spinnweben Düsternis herrschte.
"So, und jetzt trinken wir beide das richtige Gegenmittel", sagte er. Seine Augen fielen ihm zu, von fern hörte er Hutt auf alle Diebe, ob lizenziert oder nicht, fluchen. Das Misstrauen brachte Victor wieder auf die Beine und trotz den feindseligsten Blicken des Händlers bekam er eine kleine Ampulle ausgehändigt, aus der beide einen Schluck nahmen. Bittre Flüssigkeit schoss Victors Rachen hinunter, sein Magen krampfte sich so schmerzhaft zusammen, dass er in die Hocke gehen musste. Er legte den Kopf in den Nacken, obwohl ihm schwindelte, aber auch Hutt stand nicht mehr. Victor lehnte seine Wange an das Holz.
"Wenn du willst, dann erzähle ich dir von meinem Bruch", sagte er leise. Es kam keine Antwort, aber er fing trotzdem an.

***


Als er geendet hatte, fühlte sich Victor nicht wesentlich besser, hatte aber das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Die Fibel hatte er zwar verloren, aber er fühlte noch das beruhigende Gewicht seiner anderen Beute in der Tasche. Der Plan hatte ein paar Variabeln bekommen, doch nichts was ihn hätte es aus der Bahn werfen können. Langsam begann er sich wieder selbstsicherer zu fühlen und er klopfte gegen die Theke.
"Trotz Gift... trotz Gift hab ich das geschafft. Alleine", fügte er hinzu, ein wenig um Anerkennung heischend.
"Verrat mir nur wie du es geschafft hast aus dem Garten zu fliehen", tönte es von der anderen Seite.
"Nun, die Situation war natürlich wirklich miserabel. Die Wächter dicht vor mir, überall meterhohe Mauern, das Gift, das meinen Körper und Geist schwächte. Noch ein paar Sekunden mehr, dann wäre wirklich alles vorbei gewesen, ich kam ja nicht auf den Baum und auch nirgendwohin anders."
"Und dann?"
"Tja, und dann..." Victor spielte mit einem kleinen Gegenstand in seiner Tasche. "Dann stürzte der Hund von hinten heran wie ein geschärfter Blitz." Er hielt kurz inne. "Aber ich hatte ja meine weißen Ballettschuhe an."
Von der anderen Seite herrschte nur Stille bis sich Hutt räusperte.
"Hauptsache es ist gut ausgegangen."






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