Der Club der toten Richter

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von Spieß Harry (DOG)
Online seit 30. 07. 2003
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 Außerdem kommt vor: Ecatherina Erschreckja

Merkwürdige Gerichtsurteile sorgen dafür, dass Harry und Leo vom Patrizier auf einen Sonderauftrag geschickt werden.

Dafür vergebene Note: 12

Harry war noch nie hier gewesen, aber er kannte die Geschichten, die sich um diesen Ort rankten. Geschichten über die unregelmäßig tickende Uhr; über die Portraits an den Wänden, die einen mit durchbohrendem Blick ansahen, den man sogar spürte, wenn man ihnen den Rücken zuwandte; und viele weitere, die hinter vorgehaltener Hand von Wächter zu Wächter weitererzählt wurden.
"Hier", das war das Vorzimmer des Rechteckigen Büros des Patrizierpalastes - oder das "Fegefeuer", wie es unter Wächtern auch genannt wurde. Eigentlich waren es nur der Kommandeur, und in dringenden Fällen auch mal ein Abteilungsleiter, welche hierher zitiert wurden, aber die Nachricht, die an diesem Morgen im Taubenschlag der DOG gelandet war, ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

9 Uhr Rechteckiges Büro: Experte für Anwaltsgilde & Fähigster Observierer


Zumindest der zweite Punkt bereitete keine Probleme, da Harry der einzige Observierer mit Berufserfahrung bei den DOG war (auch wenn er sich in diesem Augenblick gewünscht hatte, einen anderen - irgendeinen anderen - Job zu haben - zum Beispiel Latrinenputzer, oder Zahnpfleger für Raubtiere). Die Sache mit dem Gildenexperten war schon schwieriger, weil es bei den DOG leider keinen solchen für die Anwaltsgilde gab. Natürlich wollte keiner der Wächter Vetinari diese bedauerliche Lücke mitteilen, deshalb fiel die Wahl schnell auf Leo von Leermach, einen der Neuzugänge, der sich ungeschickterweise den Posten "allgemeiner Gildenexperte" ausgesucht hatte ("Moment, das ist doch auch Daemons Job - und der hat einen höheren Rang als ich!" hatte Leo vergeblich protestiert, und Dae hatte unmissverständlich klar gemacht, dass die Wahl gerade deshalb auf Leo fiel, weil dieser einen niedrigeren Rang hatte).
Und so saß Harry jetzt im Warteraum auf Leos Schulter, während der Vampir nervös im "Cleynen Juristischen ABC für den interessierten Leyen" blätterte und versuchte, sich den Unterschied zwischen Einspruch und Revision einzuprägen.
"Du schaffst das schon", murmelte der Gnom und versuchte, zuversichtlicher zu klingen, als er war.
"Lord Vetinari empfängt euch jetzt." Drumknott, der Sekretär des Patriziers, war von den Wächtern unbemerkt durch die Tür getreten.
"Aaaaah!", schrie Leo auf, der schon unter normalen Umständen nicht der Mutigste war, und ließ das Buch fallen. Harry verlor auf der bebenden Schulter den Halt und landete auf dem Schoß des Vampirs.
Einen Moment schien Leos morphisches Feld zu flackern (der Vampir hatte die unglückliche Angewohnheit, sich bei Angst in eine Fledermaus zu verwandeln), doch er brachte sich wieder unter Kontrolle - manchmal ist der Selbsterhaltungstrieb eben stärker als die Angst. Harry war froh darüber: Es bedeutete, dass er nicht die undankbare Aufgabe hatte, Vetinari eine schlotternde Flugsauger als Gildenexperten vorstellen zu müssen.
Mit zitternden Händen klaubte Leo den Gnom auf, erhob sich, atmete tief durch und marschierte durch die Tür, die von Drumknott offen gehalten wurde.

"Harry und... Leopold von Leermach, richtig?", begrüßte der Patrizier die beiden Wächter von seinem Schreibtisch aus auf der anderen Seite eben dieser Tür. "Du bist also neuerdings Experte für die Anwaltsgilde? Hochinteressant. Wenn ich richtig informiert bin, war dieser Posten noch vor wenigen Tagen vakant, nicht wahr?"
Harry schluckte. Der Patrizier war immer richtig informiert.
"J-j-j-j-ja, Eure Eck-Eck-Exzellenz", stammelte Leo, und Harry fühlte, wie die Schulter unter seinem Hosenboden zitterte.
"Exzellent. Wirklich exzellent. Fachwissen über die Anwaltsgilde werdet ihr nämlich sicherlich gebrauchen können." Harry meinte, kurz ein amüsiertes Glitzern in den Augen des Herrschers der Stadt zu sehen. "Du weißt dann ja auch sicher, wie in Ankh-Morpork die Richterämter besetzt werden?"
Leo wurde noch blasser, wenn dies überhaupt noch möglich war. Im "Cleynen Juristischen ABC" war er nur bis zum Eintrag "Revision" gekommen.
"Äh... die... die... die Richter...", begann er stotternd.
"...werden von mir persönlich aus den Mitgliedern der Anwaltsgilde ernannt - und zwar auf Lebenszeit. Sehr gut, Gefreiter", unterbrach der Patrizier den verblüfften Vampir. "Straftaten, die in den Zuständigkeitsbereich einer Gilde fallen, werden natürlich von dieser Gilde selbst behandelt, und um Angelegenheiten von allgemeinem Interesse kümmere ich mich meistens persönlich, aber für zivilrechtliche Angelegenheiten - und in Einzelfällen von geringem Belang auch für Straftaten - werden Richter benötigt. Natürlich sorge ich dafür, dass es sich um Personen handelt, die in der Lage sind, ihre Urteile im... ähem... Interesse der Stadt zu fällen. Allerdings gibt es ein Problem: Vier der Richter sind in letzter Zeit durch... sagen wir mal, ungewöhnliche Urteile aufgefallen. Lest dies."
Er reichte Leo einen Zettel, und Vampir und Gnom lasen:

Sache: Huber, Erwin gegen Huber, Anton, um das Grundstück Schlossallee 18

Im Namen des Teiles des Volkes, der sich Anwälte leisten kann[1], ergeht folgendes Urteil:

Die streitenden Parteien werden aufgefordert, ihren Streit durch ein Ankhschlamm-Wettrinken beizulegen. Das fragliche Grundstück möge an die Person gehen, welche länger durchhält.


"Nun", ergänzte Vetinari, "dieser Wettstreit hat inzwischen stattgefunden, und die Zauberer räumen dem Sieger sogar noch eine gewisse Überlebenschance ein." Er faltete seine Hände und blickte die beiden Wächter ernst an. "Abgesehen von solchen exotischen Urteilen gab es mehrere Fälle, wo ganz offensichtlich Unschuldige verurteilt und Schuldige freigesprochen wurden." Er sah die beiden Wächter scharf an. "Einige dieser Urteile mögen ja einen gewissen Unterhaltungswert haben, jedoch sind sie nicht dazu geeignet, das Vertrauen in unser Rechtssystem zu fördern. Leider werden Richter jedoch, wie gesagt, auf Lebenszeit ernannt - und eine Abwahl ist im Gesetz nicht vorgesehen."
"Aber Ihr habt doch... äh... sicherlich andere Wege, Euch darum zu kümmern?", fragte Leo vorsichtig nach.
"Sicher - wenn es nur einer oder zwei wären. Drei Richter hätten das politische Fundament der Stadt schon erschüttert, aber vier? Das kommt einem politischen Erdbeben gleich! Vier Richter lassen sich nicht so ohne weiteres 'absetzen'."
"Absetzen?", unterbach Harry diese persönliche Richter-Skala des Patriziers. Der Gnom war in politischen Dingen naiver als Leo, der durch sein Studium der verschiedenen Gilden darin schon Erfahrung gesammelt hatte. "Ich dachte, Ihr hattet gerade gesagt, man kann..."
"Ich sagte 'absetzen', nicht absetzen, Harry", unterbrach ihn der Patrizier und zog eine Augenbraue hoch. "Ich bin sicher, ich habe die beiden Tüttelchen nicht vergessen."
Harry wich dem Blick des Patriziers aus und schwieg. Er verstand nicht, was Vetinari damit sagen wollte, aber er ahnte, dass es keine gute Idee war, nachzufragen. "Was kann denn die Ursache sein?", fragte er stattdessen. "Erpressung? Bestechung?"
"Das glaube ich kaum. Wer zum Richter berufen wird, bekommt genug Geld, um unbestechlich zu sein - und dafür, dass Richter keine Familien oder andere Ansatzpunkte für Erpresser haben, wird... ähem... gesorgt. Das ist der einzige Grund, weshalb das Rechtssystem einigermaßen funktioniert. Deshalb möchte ich, dass ihr herausfindet, welche Ursache das merkwürdige Verhalten der Richter hat, und diese Ursache, wenn es möglich ist, behebt. Ich erwarte, dass ihr diese Aufgabe innerhalb der nächsten 48 Stunden ausführt. Hier sind die Namen."
Mit diesen Worten überreichte er dem zitternden Leo ein Blatt Papier.
"Balthasar Kratzbaum?", entfuhr es Harry von Leos Schulter aus, als er einen Blick auf das Papier warf. "War das nicht der Richter, der..."
"Der Richter, der einen offensichtlich unschuldigen Kollegen von euch zu lebenslanger Haft verurteilt hat, genau. Das ist eines der Urteile, die ich meinte."
Harry und Leo sahen sich gegenseitig an. Sie sollten im "Fall Vinni" zwar keine Ermittlungen anstellen, aber wenn dieser Fall sie zufällig auf eine Spur bringen sollte...
Vetinari hatte sich inzwischen wieder seiner Arbeit zugewandt. Offensichtlich war die Audienz beendet.
Leo salutierte, und verließ dann, so schnell er konnte, das Büro.
"Übrigens, Gefreiter?", rief Vetinari ihm hinterher, als der Vampir schon draußen war. "Ich glaube, du hast dein kleines Büchlein im Vorraum vergessen. Denk daran, es mitzunehmen - vielleicht kann es dir ja noch einmal nützlich sein."

Das war gestern gewesen.
Jetzt kämpfte Harry sich, mit seinem Schwert in der Hand, das er als Machete verwendete, durch dichtes Unterholz, auf dem Weg zu seinem Ziel. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, und in einiger Entfernung konnte er das Rascheln wilder Tiere hören, die sich ihren Weg zu ihm bahnten.
Zugegeben, es war nur ein verwahrloster Blumengarten - aber für einen Gnom bedeutete dies dichtes Unterholz, gefährliche streunende Katzen und tödliche Wespenschwadrone. Eben war er in ein großes Spinnennetz hineingelaufen, und die Reste davon klebten ihm immer noch am ganzen Körper (eine Tatsache, die der Spinne noch weniger als ihm gefallen hatte - aber er hatte sie mit seinem Schwert in die Flucht geschlagen).
Der Gnom lehnte sich an einen Strauch, um kurz zu verschnaufen. Etwas brummte dicht über den Gras- und Blumenwipfeln im Tiefflug über ihn hinweg - wahrscheinlich nur eine Hummel, aber Harry ging kurz der Gedanke durch den Kopf, dass es irgendwelche exotischen Fluggeräte waren, in denen feindliche Gnome saßen und ein tödliches Gift auf das ihn schützende Blütendach herab ließen.
Das muss die Anstrengung sein, dachte er sich und verdrängte den Gedanken wieder.
Während Leo losgezogen war, um Informationen über die betroffenen Richter zu sammeln, hatte er hatte sich bei der Anwaltsgilde postiert und gewartet. Der Anschlag draußen am Gebäude sagte ihm, dass einer der Richter - ein Ignazius Regentanz - diesen Vormittag in einer Anhörung sitzen würde.
Er hatte zwei Stunden warten müssen, aber schließlich fuhr eine Kutsche vor, und kurz darauf kam Regentanz aus dem Gebäude und wechselte ein paar Worte mit dem Kutscher. Der Gnom schlüpfte schnell unter das Fahrzeug und kletterte in die Radaufhängung. Regentanz stieg ein, und die Kutsche fuhr los.
Nach 15 Minuten hielt sie mitten auf der Straße an, und Harry sah von seinem Platz aus, wie zwei Füße erschienen und zu einem streunenden Straßenköter wanderten. Zwei Hände gerieten in sein Blickfeld, welche den verblüfften Hund aufhoben. Dann stiegen die Füße, und mit ihnen wohl ihr Besitzer, wieder ein und die Kutsche fuhr weiter.
Die Fahrt dauerte noch eine weitere halbe Stunde. Die Kutsche verließ den Bereich der Stadtmauern und fuhr in die kleinen Vororte und Gebäudeansammlungen vor der Stadt. Ankh-Morpork war schon lange zu groß für seine Mauern geworden - und immer mehr Gebäude wurden außerhalb der Mauern gebaut. Ihre Bewohner waren der Ansicht, dass es hier sogar sicherer war als im Inneren, da die Gefahr heutzutage eher von Dieben, Mördern und Bränden ausging, als von eroberungslüsternen Barbaren. Außerdem roch es hier besser.
Nach kurzer Fahrt bog die Kutsche in einen Feldweg ab, und der Weg wurde merklich holperiger. Der Gnom klammerte sich ans Gestänge und sein Gesicht verfärbte sich langsam grünlich. Eine Weile konnte er sich noch festhalten, aber ein tiefes Schlagloch ließ ihn schließlich den Halt verlieren, und er stürzte kopfüber auf die Straße, während die Kutsche weiterfuhr. Als Harry sich mühsam wieder aufrichtete und sich den Kies von der Kleidung klopfte, sah er, wie die Kutsche etwa hundert Meter weiter in die Einfahrt eines verwahrlosten Hauses einbog. Regentanz stieg aus und wanderte mit ungelenken Bewegungen zum Eingang, während der Kutscher sich eine Zigarette anzündete, und es sich auf dem Kutschbock bequem machte. So, wie die Kutsche stand, konnte der Kutscher den Weg zum Eingang gut überblicken - die einzige Möglichkeit, wie Harry ungesehen
zum Haus kommen konnte, war also der Weg querfeldein.
So kam es, dass der Spieß sich jetzt fluchend und schwitzend mit dem Schwert einen Weg durch das Gestrüpp in Richtung Haus bahnte. Das Summen der Insekten, zusammen mit dem betäubend intensiven Geruch von Blumen und Erde, verursachte ihm Kopfschmerzen, und die
Anstrengung machte sich in Form von müden Beinen bemerkbar, aber schließlich war er an der Rückseite des Hauses angekommen.
Er kletterte auf ein schmales Fenstersims und stocherte mit seinem Schwert im Spalt der Fensterläden herum, bis er - mehr durch Zufall, als durch Geschick - den Riegel erwischte und das Fenster sich öffnete.
Auf der anderen Seite konnte er etwas sehen, was ihn an eine Garderobe erinnerte: Vor einem großen Spiegel stand ein Tischchen, auf dem sich mehrere Pinsel, Bürsten und eine große Puderquaste befanden, sowie ein großer Topf mit dem dazugehörigen Puder. Interessanterweise befanden sich auf dem Tisch außerdem mehrere Rollen Nähgarn.
Gedämpfte Stimmen waren aus dem Nebenzimmer zu vernehmen. Harry huschte zur Tür und lauschte.
"...verurteilen, verstanden? Und du, Ehrenwerter Richter Regentanz, wirst übermorgen den Klunker-Fall verhandeln, in den Chrysopras' Trollbande verstrickt sein soll. Du wirst den Prozess aus Mangel an Be... Ehrenwerter Richter Kratzbaum, nimm sofort deinen Finger aus der Nase des Ehrenwerten Richters Frohsinn und hör mir zu, verstanden?" Die Worte kamen von einer männlichen Stimme, die jetzt laut seufzte. "Ehrlich, ihr benehmt euch wie ein Haufen hirnloser Zo... ihr benehmt euch unmöglich! Ich sehe schon, ich muss die Dosis noch einmal erhöhen." Nach diesem letzten Satz hörte der Gnom schlurfende Schritte, die langsam leiser wurden.
Vorsichtig drückte er gegen die Tür, die einen Spalt aufsprang. In dem Raum auf der anderen Seite saßen vier Männer in Roben in einem Stuhlkreis beisammen - ein fünfter Stuhl war leer, und eine große Tafel hing hinter diesem an der Wand, auf der mehrere Stichworte aufgeschrieben waren.

- Tunichtgut: Juwelier verurteilen (300 AM-$ Entschädigung)
- Regentanz: Verfahren einstellen (Mangel an Beweisen)
- Kratzbaum: Herrn Schneider freisprechen


In diesem Moment stand Richter Regentanz, den Harry hierher verfolgt hatte, schlurfte zur Eingangstür und verschwand draußen. Die anderen Richter auf ihren Stühlen drehten ihre Köpfe und sahen ihm nach, wandten sich dann aber wieder ihren eigenen Beschäftigungen zu, die anscheinend größtenteils darin bestanden, an Fingern zu nuckeln (teilweise an denen anderer Leute), oder merkwürdige glucksende Geräusche zu machen. Was auch immer hier los war, entschied Harry, normal war es nicht.
Er hörte Schritte aus einem angrenzenden Raum und versteckte sich schnell hinter einer Kommode, die an der Wand stand. Durch eine Tür kam ein älterer, schwarzhaariger Mann mit Brille in den Raum. Er balancierte ein Tablett, auf dem vier Tassen standen.
"So, hier habe ich eur... wo ist Regentanz?"
"Dra-dra-dra", klärte ihn Richter Tunichtgut auf.
Der Mann sah zur angelehnten Haustür. "Draußen?" Mit einem Sprung war er an der Tür. "Ehrenwerter Richter Regentanz? Komm sofort wieder rein!"
"Komme schon, komme schon!", gackerte eine Stimme, und kurz darauf kam Regentanz wieder ins Haus. In den Armen hielt er den Straßenköter, den er auf dem Weg hierher aufgelesen hatte.
"Was ist denn das?" fragte der Schwarzhaarige irritiert.
"Das? Na, ein Dackel!" Regentanz gackerte erneut.
"Das sehe ich. Und jetzt...", seine Stimme nahm den Tonfall einer Krankenschwester an, die mit einem besonders störrischen Patienten redet, "jetzt setzen wir den Dackel hier draußen hin und nehmen dann unsere Medizin, ja?"
"Nee!" Von seinem Beobachtungsposten aus sah Harry, wie Regentanz angewidert seinen Kopf schüttelte. "Medizin schmeckt nicht."
"Doch, wirklich - die schmeckt guuuut!" Der Schwarzhaarige beugte seine Nase über das Tablett und atmete tief ein. "Hmmmmm,
lecker!"
"Will keine Medizin. Will..." - Regentanz sah auf den Hund in seinen Armen - "will Dackelsaft!"
"Dackelsaft?"
"Ja! Leckeren Dackelsaft!"
"In Ordnung. Setz den Dackel ab und setz dich zu den anderen, ja? Ich kümmere mich darum."
Regentanz sah ihn skeptisch an, setzte dann aber den Hund auf der Türschwelle ab und schlurfte wieder zum Stuhlkreis. Der Schwarzhaarige nutzte die Gelegenheit, um dem Tier einen kräftigen Tritt zu geben, so dass dieses jaulend nach draußen flog, und hinter ihm die Tür zuzuknallen.
Harry hatte das ganze mit großen Augen verfolgt. Anscheinend hatte dieser Mann die Richter völlig unter Kontrolle. Gab er ihnen Drogen? Was sonst konnte diese "Medizin" sein?
Was auch immer es war, der Mann setzte das Tablett vor den Richtern ab und gab ihnen der Reihe nach eine Tasse zu trinken, wobei er Richter Regentanz immer wieder versichern musste, dass es sich dabei wirklich um Dackelsaft handelte, ja, auch wenn es so schmeckte wie die Medizin, nein, es war wirklich frisch gepresster Dackelsaft.
Nachdem alle getrunken hatten, ging der Mann wieder zur Tafel und fuhr mit seinem "Unterricht" fort: "Also, Ehrenwerter Richter Regentanz, was wirst du morgen machen?"
Wieder einmal wünschte Harry sich eine Möglichkeit, Verstärkung anzufordern - eine Brieftaube, ein Kommunikationsdämon, irgend etwas. Ein menschlicher Observierer hätte jetzt FROG kontaktieren können, aber als Gnom war er auf sich allein gestellt. So weit, wie er von den Wachhäusern entfernt war, konnte hier schon alles mögliche passiert sein, bis er eine Botschaft zum Wachhaus gebracht hatte.

Die Augen aller Richter waren zur Zeit auf den "Lehrer" gerichtet, der dem Richter Regentanz, der jetzt um einiges aufmerksamer wirkte als zuvor, geduldig erklärte, wie dieser sich am nächsten Tag zu verhalten habe. Harry nutzte die Gelegenheit, um im Schutz von Schatten und Möbelstücken zum angrenzenden Raum zu schleichen, dessen Tür glücklicherweise nicht geschlossen war.
Der Raum auf der anderen Seite war eine Küche - allerdings eine, in der lange nicht mehr sauber gemacht worden war: Schmutzige Tassen und Becher stapelten sich auf jeder einigermaßen waagerechten Fläche. Nur eine Ecke war frei geräumt, um Platz für ein großes, fast leeres Bowleglas und einen kleinen braunen Lederbeutel zu schaffen. Am Boden des Glases waren Rückstände einer schwarzen Substanz zu erkennen.
Harry kletterte auf den Tisch und stieg vorsichtig in die Flüssigkeit, die ihm bis über die Knöchel reichte. Er nahm ein Taschentuch aus seiner Uniformhose und schöpfte etwas von der schwarzen Masse hinein. Danach gelang es ihm mit einiger Mühe, das Glas wieder zu verlassen, und er schlich sich - kleine, nasse Fußspuren hinterlassend - wieder zur Tür.
Der Lehrer war inzwischen mit Richter Kratzbaum in dem Raum verschwunden, durch den Harry das Haus betreten hatte. Durch die offene Tür konnte der Gnom sehen, wie der Richter mit der Puderquaste bearbeitet wurde, um so seine ausgesprochen blasse Hautfarbe zu überdecken. Richter Regentanz nutzte die gute Gelegenheit gerade aus und wankte in einem betrunkenen Schlendergang zur Tür.
Harry dachte nach. Dieser Kerl hatte die Richter ganz offenbar mit Drogen gefügig gemacht, um Urteile an den Meistbietenden zu verkaufen. Allein konnte er hier nichts mehr ausrichten - der Rest des Falles war eine Aufgabe für SEALS oder FROG.
Als Richter Regentanz die Haustür öffnete, schlüpfte der Gnom schnell hindurch - um im nächsten Moment etwas Warmes, Nasses und Stinkendes im Gesicht zu spüren.
"Dackel!", hörte er die Stimme des Richters. Als der Gnom die Augen wieder öffnete - was nicht leicht war, da eine zähe Flüssigkeit ihm die Augenlider und auch den Rest des Gesichts verklebte - sah er ein großes, neugierig dreinblickendes Hundesgesicht und eine riesige Zunge, die sich in diesem Moment wieder näherte...
Harry rollte sich in dem Moment ab, in dem er ein begeistertes Jauchzen hörte, gefolgt von Richter Regentanz' Ausruf: "Kleiner Mann!"
Mit dem Mut der Verzweiflung schwang der Gnom sich auf den Rücken des Hundes und presste ihm die Stiefel in die Flanken. Der Dackel jaulte auf und rannte los, während der Richter ihnen verständnislos nachsah.

***

"Das sind die Pollen der Oktarinen Orchidee", erklärte Ecatherina Erschreckja, Harrys Abteilungsleiterin. Die ehemalige GiGa war froh darüber, ihre Spezialisierung wieder zum Einsatz bringen zu können. Harry war nach einem langen und anstrengenden Ritt zum Boucherie Rouge zurückgekehrt und hatte seiner Schäffin die Proben zur Analyse übergeben.
"Sie enthalten ein sehr seltenes und exotisches Gift, das man "Hauch des Todes" oder auch "Flüsteratem" nennt. Dieses Gift ist sofort tödlich - allerdings mit einer Nebenwirkung."
"Tödlich mit einer Nebenwirkung?", fragte Leo verständnislos nach. Der Vampir hatte in der Zeit, in der Harry auf Observierung war, Informationen über die Richter zusammengetragen.
"Ja. Es verwandelt den, der es nimmt, in einen Zombie. Und nicht nur das: Wenn das Opfer nicht regelmäßig eine Dosis davon nimmt, dann lassen seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten immer mehr nach, bis es zu einem wankenden und sabbernden Idioten wird. Ihr kennt doch sicher die Vorurteile und Klischees über Zombies - nun, diese Vorstellungen stammen von diesem Gift."
"Moment", meinte Harry. "Die Richter wurden also zu Zombies gemacht und dann erpresst?"
"Ja", erwiderte Eca. "Das Gift wurde ihnen offenbar in einen Sumpfdracheneierpunsch gemischt - jedenfalls befanden sich Reste davon in dem Tuch, in das du die Pollen eingewickelt hattest."
"Das passt", sagte Leo. "In der Anwaltsgilde wurde mir erzählt, dass die betroffenen Richter gut befreundet waren und sich regelmäßig in einem Landhaus außerhalb der Stadt auf einen Umtrunk trafen."
"Aber ich verstehe das noch nicht ganz", sagte Harry. "Hätten die Richter sich das Gift nicht auch woanders besorgen können, wenn sie davon abhängig waren? Immerhin verdienen sie ja offensichtlich genug Geld. Wieso konnte dieser Kerl sie so kontrollieren?"
"Ganz einfach", meinte Leo. "Richter werden auf Lebenszeit eingestellt. Wenn sich herausgestellt hätte, das sie tot waren, dann hätten sie ihren Job verlieren können."
"Damit dürfte alles geklärt sein", sagte Eca und erhob sich. "Ich sage FROG Bescheid, die können die Verhaftung vornehmen."

***

"...und als die Wächter am Landhaus ankamen", schloss Harry seinen Bericht, "waren alle tot, auch die Untoten. Richtig tot, meine ich. Den Zombies hatte jemand mehrere Armbrustbolzen durchs Gehirn geschossen. Der fünfte Mann wurde identifiziert als der Butler, der die Richter dort regelmäßig bedient hatte. Eine Quittung der Assassinengilde wurde ebenfalls am Tatort gefunden."
Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Patriziers. "Du meine Güte - alle tot? Nun, wie dem auch sei, damit ist der Fall wohl abgeschlossen. Exzellente Arbeit, meine Herren."
"Aber... habt Ihr nicht gesagt, dass es ein politisches Erdbeben auslösen würde, wenn diese Leute sterben würden?"
"Jetzt, wo dank des hervorragenden Einsatzes der Wache bekannt ist, dass diese Personen erpresst wurden?" Der Patrizier legte die Hände zusammen. "Ich denke nicht. Einen kleinen Erdstoß vielleicht, aber ohne Sachbeschädigung, um einmal bei dieser Analogie zu bleiben."
Er sah auf ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch herab. "So, meine Herren - ich fürchte, die Pflicht ruft. Ich werde mich bei euren Vorgesetzten lobend über euch äußern. Und jetzt möchte ich euch nicht länger aufhalten."
Der Patrizier schwieg und betrachtete das Gespräch offensichtlich als beendet. Leise schlichen sich die beiden Wächter (genauer gesagt: Einer der beiden, der andere ließ schleichen) aus dem Raum. Nach einem Gespräch mit Vetinari hatte man immer das Gefühl, gerade noch einmal davon gekommen zu sein - ganz egal, worum es in diesem Gespräch konkret ging.

"Weißt du", meinte Harry auf dem Rückweg, "diese politischen Fälle sind nichts für mich. Man hat immer das Gefühl, dass man nicht weiß, wer hinter der ganzen Angelegenheit steckt und warum das alles passiert."
Leo nickte. "Ich glaube, noch so ein Gespräch mit dem Patrizier würde ich nicht überstehen. Ich habe mir überlegt, ob..." Er stockte.
"Ob was?"
"Ob ich nicht besser die Abteilung wechsle. Dieser ganze Gildenkram ist einfach nichts für mich. Als Gildenexperte fehlt mir einfach die Erfahrung. Wie du selbst gesagt hast: Diese ganze Politik, die bei DOG mit drinsteckt, ist nicht mein Fall - ich hatte mir den Job anders vorgestellt. Irgendwie klarer und strukturierter."
"Und was willst du dann machen?"
"Ich habe mich mal umgesehen... bei SUSI ist noch eine Stelle als Spurensicherer frei. Meinst du, das könnte was für mich sein?"
"Wieso nicht? Aber wenn du da nicht zurecht kommst - im Boucherie Rouge wird immer ein Platz für dich frei sein", antwortete der Gnom.
Schweigend wanderten beide (ja, okay, einer), jeweils ihren eigenen Gedanken nachhängend, weiter in Richtung DOG-Hauptquartier - natürlich stilecht der untergehenden Sonne entgegen.

[1] das war eine übliche Phrase in Gerichtsurteilen, die von der Anwaltsgilde durchgesetzt worden war




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