Rekruten sollen lernen, richtig Berichte zu schreiben. Gehört das etwa in die Rekrutenausbildung? Zwei Stunden langweiliger Unterricht mit Sillybos.
Dafür vergebene Note: 13
Für meine Rekruten
"
Ihn?" fragte Daemon und richtete sich in seinem Sessel auf, als hätte er etwas nicht richtig verstanden.
Der Sessel stand vor dem Schreibtisch der Ausbildungsleiterin, hinter dem wiederum Rina Lanfear sich in ihrem Chefsessel zurücklehnte und leicht hin- und herschaukelte. Sie schaute den Oberleutnant erwartungsvoll an.
"Warum nicht?", meinte sie. "Ich habe im Moment keine Zeit dazu, du ebenso wenig. Und Larius, nun, er ist eher der Mann für die praktische Ausbildung. Ich halte Sillybos für eine gute Lösung."
"Aber er ist
Philosoph!" betonte Daemon.
"Er ist der geborene Theoretiker."
"Aber er
ist Philosoph!"
"Er hat schon oft bewiesen, dass er sich mit der Theorie gut auskennt, sogar besser als viele seiner Vorgesetzten."
"
Aber er ist Philosoph!"
"Ich habe volles Vertrauen in ihn."
"Rina, wenn dieser Mann sich vor die Rekruten stellt und versucht, ihnen irgendwelche Regeln vom Verfassen von Berichten zu erklären, wird das ein hoffnungsloses Unterfangen! Er wird scheitern, und die Rekruten werden nur noch verwirrter sein als sie es ohnehin schon sind."
"Wie kommst du denn da drauf? Er ist ein guter Wächter mit hervorragenden didaktischen Fähigkeiten. Nimm doch Hegelkant als Beispiel."
"Es ist ein großer Unterschied, ob man einen Einzelnen unterrichtet oder eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Leuten", meinte Daemon. "Sein Problem ist, dass er zu hohe Ansprüche stellt, denen die meisten Rekruten nicht gewachsen sein werden. Er hat neulich versucht, mir irgendein Gesetz von vor hundert Jahren zu erklären, das angeblich noch immer Bestand hätte, und die Konsequenzen für unsere Arbeit als Wächter." Daemon machte eine rhetorische Pause und lehnte sich zurück. "Ich habe kaum ein Wort verstanden, und dass, obwohl ich mit der Materie einigermaßen auskenne."
Rina überlegte kurz und nahm dann ein Blatt Papier in die Hand, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
"Das ändert aber nichts an der Situation", meinte sie, als sie es las. "Wenn Rince der Meinung ist, dass unsere Rekruten mehr Theorie lernen müssten, dann müssen wir uns wohl oder übel daran halten."
"Ja, aber man muss es ja nicht übertreiben. Würden eine Stunde über Recht und eine Stunde über die Struktur der Wache nicht reichen? Wozu auch noch Unterricht über das Verfassen von Berichten? Dass die Rekruten schreiben können, darf man doch wohl verlangen, oder?"
"Das denkst
du", antwortete Rina ernst und beugte sich vor, "und auch viele andere mögen so denken. Das ändert aber nichts an der Realität, und die sieht anders aus. Neulich haben sich Eca, Veni und Pismire unabhängig voneinander bei mir beschwert, dass ihre neuen Gefreiten keine Berichte schreiben können, orthografisch ungebildet sind und zudem kreuz und quer schreiben, ohne auf eine gewisse einheitliche Formatierung zu achten." Sie lehnte sich mit dem Papier in der Hand kurz zurück, holte dabei Schwung, drehte sich in ihrem Sessel und nutzte den Schub, um sich elegant aus dem Sessel zu erheben.
"Und sie haben recht", fuhr sie fort. "Sie haben verdammt recht. Mir würde es auch auf die Nerven gehen. Wir müssen den Rekruten beibringen, vernünftige Berichte zu schreiben, und zwar noch ehe sie sich etwas Falsches angewöhnen."
Daemon blieb ruhig in seinem Sessel sitzen und sah zu ihr auf. "Aber warum wir? Kann man das nicht als Aufnahmekriterium festsetzen, dass man in der Lage sein muss, Berichte zu schreiben?"
Rina seufzte. "Ehe wir uns auf eine solche Diskussion mit Rince einlassen, sollten wir es erst mal so versuchen. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm? Und wenn's nicht klappt..." – Sie zuckte mit den Schultern. – "tja, dann müssen wir halt sehen. Heute Nachmittag wird Sillybos zumindest seinen ersten Unterricht halten, und dann werden wir sehen, wie es gelaufen ist."
***
Aufgeregt, nein, aufgeregt war Sillybos nicht. Er saß in der Kantine des Wachhauses Kröselstraße und las einen handgeschriebenen Zettel. Dabei versuchte er, an zwei Sachen gleichzeitig zu denken: an den Inhalt des Geschriebenen und an den Zettel selbst. Dann schweifte sein Blick kurz zu seinem Aktenordner hinüber, der auf dem Tisch lag.
"Ich denke, ich werde ihn nicht brauchen", sagte er, warf einen letzten Blick darauf und legte den Zettel beiseite.
Sein Sklave Hegelkant saß ihm gegenüber und löffelte eine Suppe.
"Wenn ihr meint, Herr?"
"Ich glaube schon. Kleine Zettel mit Notizen lenken mich dabei eher ab, als dass sie mir nützlich wären. Es sind ja auch nur zwei Stunden. Ich weiß im Groben, was ich zu tun habe, und ein bisschen Improvisation muss schließlich auch dabei sein. Und im Grunde habe ich so etwas ja auch schon oft gemacht."
Der Philosoph dachte zurück an seine Zeit in Ephebe. Er war damals Stammgast in einer der wichtigsten Tavernen des Landes, führte viele hitzige Diskussionen mit vielen Philosophen und war auch recht gut im Streiten. Und er hatte früher auch oft längere philosophische Vorträge gehalten vor einer großen Anzahl kritischer Philosophen, die zudem allesamt nicht mehr nüchtern waren. Sillybos dachte an seine großen Erfolge. Sie lagen zwar schon eine Weile zurück, aber dennoch erinnerte er sich gern daran.
Im Vergleich dazu war das heute ein Kinderspiel.
Hegelkant schaute von seiner Suppe auf.
"Aber es sind Rekruten, Herr."
Sillybos überlegte kurz. "Sicher, Hegelkant. Es sind angehende Wächter. Vernünftige Wesen. Warum sollte das einen Unterschied machen?"
"Nun, Herr", sagte Hegelkant, "ich meine nur, dass ihr und die Rekruten vielleicht mit, äh, unterschiedlichen Erwartungen aufeinander treffen könnten."
"Das wäre sicherlich möglich" Sillybos schaute kurz zur Uhr. "Was denkst du, erwarten die Rekruten von mir?"
"Um ehrlich zu sein, Herr", begann Hegelkant, "ich vermute, sie erwarten einen langweiligen theoretischen Vortrag über Paragraphen und Regeln."
"
Langweilig, Hegelkant?"
"Äh, ja, Herr", antwortete der Sklave mit einem Zögern in der Stimme. "Ich, äh, halte es durchaus für möglich, dass manche Rekruten einen solchen Vortrag langweilig finden."
Sillybos dachte über die Bemerkung nach, während Hegelkant seine Suppe weiteraß. Der Sklave hatte nicht Unrecht, die Rekruten mochten einen solchen Vortrag erwarten. Sillybos überlegte, ob sie Recht haben würden.
"Angenommen, ich würde nun einen
langweiligen Vortrag halten, Hegelkant", überlegte er, "wäre denn das so schlimm?"
"Nun, Herr, ich würde sagen, es kommt ganz auf die Alternative an."
"Was wäre die Alternative?"
"Das kann ich euch nicht sagen, Herr. Schließlich seid Ihr der Vortragende, nicht ich."
"Hmm." Vor Sillybos geistigem Auge stand er im Unterrichtsraum an der Tafel und erklärte den Rekruten, wie man Berichte schreibt. Er würde einige Hinweise hinsichtlich Stil und Format bringen, auf die richtige Gewichtung des Inhalts hinweisen und vielleicht – aber nur wenn er noch Zeit haben würde – das Gesagte noch an einem Beispiel verdeutlichen. Im Moment fiel ihm nicht ein, wie er seinen Vortrag anders gestalten sollte.
Er schaute zu Hegelkant, der sich wieder seiner Suppe widmete. Hegelkant war sein Schüler, und die Rekruten waren in gewissem Sinne auch Schüler. Konnte man das miteinander vergleichen?
"Wie würdest du dir einen solchen Vortrag
wünschen, Hegelkant?"
Hegelkant blickte von seiner Suppe auf, sein Blick verriet eine leichte Unsicherheit.
"Ich, Herr?"
"Ja, es interessiert mich."
Der Sklave tauchte den Löffel abermals in die Suppe und schlürfte ihn nachdenklich aus. Er ahnte, was jetzt auf ihn zukommen würde, er hatte mit der Zeit ein Gespür für solche Situationen gewonnen. Es würde in einem Streit enden.
"Ich bin nicht vorbereitet, Herr."
"Traust du es dir noch nicht zu?"
"Um ehrlich zu sein... nein, Herr. Obwohl es ein schönes Thema ist."
"Zweifellos."
"Vielleicht später, Herr."
"In Ordnung, Hegelkant. Ich muss gestehen, ich bin im Moment auch nicht in der Stimmung zu streiten, außerdem fühle ich mich ziemlich außer Form. Lass uns statt dessen nur eine kleinere Diskussionsübung machen."
"In Ordnung, Herr", sagte der Sklave und widmete sich wieder seiner Suppe.
"Ich habe zwei Möglichkeiten, Hegelkant", meinte er und kraulte seinen Bart, als würde er etwas darin suchen. "Entweder biete ich ihnen das, was sie erwarten, nämlich ein monotones Referat, oder ich versuche, eine lebhafte Unterrichtsstunde mit Interaktionen mit den Rekruten zusammen zu gestalten."
Hegelkant dachte darüber nach, während er seine Suppe fertig aß und sich dann mit einer Serviette den Mund abwischte. "Nun Herr", begann er, "ich würde mir ein paar Aufgaben wünschen, die ich im Unterricht selbst bewältigen kann. Wenn ich immer nur passiv aufnehme, aber selbst nicht aktiv bin, wird der Geist träge, Herr."
"Das sehe ich durchaus ein, aber dadurch wird das Tempo stark verlangsamt, und die Lernmenge wäre ungenügend."
"Aber wenn mit fortlaufender Zeit die Aufnahmefähigkeit sinkt, wäre die Lernmenge zwar hoch, aber die Kapazität der Rekruten nähme ab, und die ist doch entscheidend für den Lernerfolg, oder, Herr?"
Sillybos nickte anerkennend. Was begrenzte Themen anging, schien sein Sklave schon recht gut diskutieren zu können, außerdem hatte er sich schon einen gewissen Grad an Sturheit angeeignet, eine sehr wichtige Eigenschaft für einen angehenden Philosophen. Der Lance-Korporal entschloss sich, die Diskussion um eine Komponente zu erweitern, um zu testen, wie Hegelkant darauf reagieren würde.
"Das ist wohl wahr, Hegelkant. Aber wenn man eine Gruppe unterrichtet, gibt es wesentlich mehr Variablen als beim Einzelunterricht, nämlich die Lernkapazität eines jeden einzelnen Schülers. Und wenn die dann noch Aufgaben lösen müssten, würde sich die Zahl der Variablen vervielfachen, nämlich um das Arbeitstempo, das Vorwissen und die motorischen Fähigkeiten eines jeden Rekruten. Als Referent muss es jedoch mein Ziel sein, die Anzahl der Variablen möglichst gering zu halten, um so den Unterrichtsablauf optimal planen zu können. Und durch einen optimalen Ablauf würde der Lernerfolg auch steigen."
Hegelkant fühlte sich in der Defensive. Es wusste nicht genau weshalb, aber er war definitiv in der Defensive. Obwohl er ahnte, dass das Argument seines Herrn kein sehr gutes war, so hatte Sillybos doch die Fähigkeit, es recht überzeugend darzulegen. Bei einem philosophischen Streit hätte er in seiner jetzigen Situation schlechte Karten. Hegelkant musste das Argument entschärfen, er hatte aber eine Ahnung wie. Er entschied sich, beharrlich bleiben und irgendwie auf sein Territorium zurück steuern, um dadurch die Initiative wiederzugewinnen.
"Aber wenn ihr eingesteht, Herr, dass die Lernkapazität entscheidend für den Lernerfolg ist, so muss es doch das oberste Ziel sein, diese Kapazität entsprechend hoch zu halten", sagte Hegelkant und war zunächst zufrieden, doch dann spürte er, dass etwas fehlte. Sein Herr würde kontern können. "Und dies geht nur über geistige Stimulierung der Rekruten", ergänzte er noch schnell.
Sillybos war gleichzeitig beeindruckt und enttäuscht von diesem Argument. Er war beeindruckt, dass Hegelkant sich seine Unsicherheit nicht anmerken ließ und nicht hektisch wurde. Andererseits war er aber auch etwas enttäuscht, dass sein Sklave sich wieder auf sein Gebiet zurückzog. Der Philosoph wusste zwar, dass sein Schüler sicherlich noch so manche Anmerkungen in der Hinterhand hatte, aber ein Argument sofort zu wiederholen, darf sich ein guter Philosoph nicht erlauben. Zwar weckt man damit den Anschein, sein Argument sei besonders stark und fordere ein ebenso starkes Gegenargument (und das von Sillybos war eindeutig schwächer), verrät allerdings auch Unsicherheit und weckt den Anschein, als handele es sich hierbei um das stärkste Argument. Ein erfahrener ephebianischer Philosoph würde das sofort ausnützen.
Sillybos schaute auf seine Uhr, es wurde langsam Zeit. Jedoch wollte er seinem Sklaven zunächst noch eine weitere Chance geben, dann aber auch das Gespräch zum Ende führen, denn sein Unterricht sollte in zehn Minuten beginnen.
"Aber wenn dadurch die Lernmenge weniger wird und womöglich die Lernkapazität unterschreitet, werden einige Rekruten in dieser Stunde weniger lernen als sie eigentlich könnten. Das wäre für sie verschwendete Zeit und ein unbefriedigendes Ergebnis, meinst du nicht auch, Hegelkant?"
Eine Steilvorlage. Das wussten beide.
"Vielleicht nicht, Herr. Denn durch die erhöhte Kapazität wird der Lernerfolg der Rekruten am Ende höher sein als bei einem Vortrag und geringerer Aufnahmefähigkeit."
Sillybos nickte. In Anbetracht der Zeit verzichtete er darauf, die Möglichkeit zu erwähnen, dass die Lernkapazität auch durch andere Methoden gesteigert werden könnte. Außerdem würde er Hegelkant bestimmt eine Freude machen, wenn er ihn gewinnen ließe. "Aber muss es nicht das Ziel des Referenten sein, das Lernangebot möglichst hoch zu halten? Um so ein Maximum des Lernerfolg zumindest nicht von vorneherein auszuschließen?"
Der Endspurt war eingeläutet, für Hegelkant schneller als erwartet. Und dann auch noch durch eine solche Bemerkung. Sein Herr wollte ihn gewinnen lassen.
"Ich denke, Herr, dass es vielmehr darum geht, das Verhältnis zwischen Lernkapazität der Rekruten und angebotener Lernmenge zu optimieren. Nur dadurch bekäme man größtmöglichen Lernerfolg."
Sillybos lehnte sich lächelnd zurück und nickte zufrieden. Die kleine Übung war vorüber. "In Ordnung, Hegelkant, dann werde ich das mal in meinem Vortrag versuchen."
Hegelkant schaute mit einem zweifelnden Blick zu seinem Herrn. "Warum habt Ihr mich gewinnen lassen, Herr?"
"Weil ich nicht mehr Zeit habe und du dich außerdem im Grunde ganz gut geschlagen hast. Vielleicht hättest du ja gewonnen, wenn wir das Gespräch fortgesetzt hätten."
"Wenn Ihr meint, Herr?"
"Vielleicht", betonte der Philosoph. "Allerdings musst du auch mutiger werden."
"Ich werde es mir merken, Herr."
Sillybos stand auf und nahm den Ordner in die Hand. "Bis später, Hegelkant. Ich werde dir dann sagen, wie es gelaufen ist. Mal sehen, wer richtig lag mit seiner Theorie."
"Ja, Herr", antwortete der Sklave. "Die Suppe schmeckt ganz ausgezeichnet, ich glaube, ich werde mich in der Küche mal nach dem Rezept erkundigen."
Der Ausbilder nickte zustimmend und bereitete sich in Gedanken auf die nächsten zwei Stunden vor. Er fühlte sich gewappnet und ging frohen Mutes zum Unterrichtsraum. Im Prinzip hatte er solche Vorträge schon oft gehalten. Ein Kinderspiel.
Aber es sind Rekruten, hatte Hegelkant gesagt. Pah!
***
Der Unterrichtsraum war nicht gerade ein angenehmer Ort für einen Vortrag, fand Sillybos. Die Scheiben waren verdreckt und ließen keinen optimalen Lichteinfall zu, die Luft war verbraucht und vermittelte ein unangenehmes Schwindelgefühl.
Luft, war sein erster Gedanke.
Sillybos war zu früh und das freute ihn. So hatte er noch ein wenig Zeit, sich die Unterlagen anzuschauen und sich geistig in die richtige Stimmung zu bringen. Er marschierte durch den Raum zu seinem Pult und ließ seinen Ordner darauf plumpsen, danach ging er sofort zum Fenster, riss es mit einem Ruck auf und genoss den frischen Wind, der von draußen in den Raum strömte. Es gab nicht viele Dinge, die weniger angenehm waren als die Stadtluft von Ankh-Morpork, aber der Philosoph würde ansonsten den Unterricht nicht durchstehen, und an den Gestank Ankh-Morporks hatte er sich zumindest gewöhnt.
Dann drehte er sich um und ließ seinen Blick kurz durch den Raum schweifen. Die Tafel war recht oberflächlich gewischt, im Kasten daneben lagen mehrere Kreidestücke in verschiedenen Farben. Die drei Reihen mit jeweils vier Plätzen waren aufgeräumt, überhaupt war der Raum – abgesehen von einer recht dicken Staubschicht – relativ sauber, es lag kein Müll oder sonstiger Unrat herum. Was die Staubschicht betraf, nun, nach ein paar Monaten bei der Wache gewöhnte man sich daran.
Der Ausbilder ging zum Pult und prüfte seinen Stuhl, der dahinter stand, ein robuster Holzstuhl mit Armlehnen. Nachdem er das Kissen, das auf dem Stuhl lag, ausgeklopft hatte, setzte er sich zufrieden hin, schob sich seinen Ordner zurecht und öffnete ihn. Nach kurzem Blättern stellte Sillybos fest: das meiste davon würde er nicht brauchen. Es waren viele so genannte "Muster-Berichte", die den Rekruten verdeutlichen sollten, wie ein Bericht auszusehen hat. Außerdem fand der Philosoph auch noch ein Abschnitt über Orthografieregeln sowie eine Anleitung über das korrekte Führen eines Stiftes beim Schreiben.
Er nahm nur die handgeschriebene Notiz seiner Chefin sowie die Rekrutenliste aus dem Ordner, schloss diesen wieder und schob ihn auf dem Pult zur Seite. Dann las er die Notiz.
Sillybos,
Rince hat noch einmal betont, wie wichtig ihm eine vernünftige Berichterstattung seiner Wächter ist und dass er die diesbezüglichen Ausbildungserfolge in den nächsten Wochen sehr genau verfolgen wird. Da wir mit diesem theoretischen Unterricht bisher nicht viel Erfahrung haben, wissen wir nicht, was uns dabei erwartet, insbesondere, was die Vorbildung der Rekruten angeht.
Daher lasse ich dir zunächst völlig freie Hand, was die ersten Stunden angeht. In der Nachbesprechung werden wir dann unsere Schlüsse daraus ziehen und notfalls die Ausbildung etwas umstellen.
Viel Erfolg!
Irina Lanfear
Leutnant
Sillybos nickte. Auch er war gespannt, wie diese erste Stunde verlaufen würde, wie die Rekruten den Stoff aufnehmen würden. Er dachte an das Gespräch mit Hegelkant, verdrängte es aber schnell wieder. Er war Sillybos, ein Philosoph aus Ephebe. Auch wenn ihm vieles in Ankh-Morpork fremdartig und neu vorkam, dieses Mal hatte er das Gefühl, als wüsste er, was ihn erwartet, und als wüsste er auch, wie er damit umzugehen habe. Er fühlte sich in seinem
Metier.
Zufrieden stützte er seine Ellenbogen auf das Pult, ließ seine Hände in seinen Bart versinken, bis sie das Kinn fanden, und stützte es auf ihnen auf. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen begann er zu warten.
Kurz darauf hörte Sillybos ein Rumpeln aus dem Gang, begleitet von mehreren Stimmen, die er aber nicht zuordnen konnte. Noch ehe er länger darüber nachdenken konnte, marschierte auch schon der erste Rekrut in den Raum, nickte Sillybos mit einem mürrischen Gesicht zu, schaute sich kurz die Sitzreihen an und setzte sich dann auf den zweiten Platz von links in der mittleren Reihe. Nach und nach füllte sich der Raum, zuerst die mittlere Reihe, dann die hintere und zuletzt setzten sich die Rekruten auf die vorderen Plätze, bis schließlich keiner mehr kam und alle Plätze besetzt waren. Unterdessen setzten die Rekruten ihre Gespräche untereinander ungehindert fort.
Sillybos hatte während des Geschehens seine Haltung nicht geändert und schwieg. Er musterte die Rekruten und versuchte, einen ersten Eindruck zu gewinnen. Es war kein Troll dabei, das war schon mal sehr gut. Ansonsten war die Gruppe aber dennoch sehr heterogen: Von alt bis jung, von Zwerg über Wasserspeier bis zu Untoten, alle möglichen Arten waren vertreten. Und Sillybos hatte ein weiteres Problem, wie er bemerkte: er kannte ihre Namen nicht.
Etwas verunsichert nahm er die Rekrutenliste zur Hand und überflog sie. Er las die Namen der Rekruten, die im Moment bei ihm Unterricht erhalten sollten, die meisten hatte er noch nie gehört. Diejenigen Namen, die er kannte, waren seine Rekruten, aber auch da fiel ihm das Zuordnen der Gesichter schwer.
Er wollte Ruhe ausstrahlen, in der Hoffnung, dass sich die Rekruten davon anstecken lassen würden und ebenfalls ruhig werden würden.
Vergeblich.
Sillybos räusperte sich. Und noch etwas lauter. Und dann stand er auf und schwieg wieder.
Das Aufstehen schien gewirkt zu haben, die Rekruten drehten sich nach und nach zu ihm um und wunderten sich wohl über den stehenden schweigenden Mann und fragten sich, was diese seltsame Figur mit ihrem langem grauen Bart wohl zu sagen hatte.
"Rekruten", begann Sillybos, als es einigermaßen ruhig geworden war. "In den nächsten zwei Stunden werdet ihr im Verfassen eines Berichts unterrichtet. Mein Name ist Lance-Korporal Sillybos, und ich werde diesen Unterricht halten. Aber zunächst", sagte er mit einem Blick auf seine Liste, "werde ich eure Namen mal durchgehen." Dann setzte er sich wieder und nahm seinen Stift zur Hand. "ich werde euch jetzt namentlich aufrufen, damit ich euch auf meiner Liste abhaken kann und sicher sein kann, dass niemand fehlt.", erklärte Sillybos und sagte mit fester Stimme: "Rekrut Dreibein."
Der Zwerg vorne links sprang sofort auf und brüllte: "Hier, Sir!"
Sillybos schaute ihn sich kurz an und versuchte, sich das Gesicht zu merken. Dann machte er ein Häkchen hinter dem Namen und schaute zum nächsten.
"Rekrut Weufolt Garnichtgut."
"Hier, Ssssir!"
"Rekrut Khai el Sali."
"Hier!"
Einige Rekruten später gab Sillybos den Versuch auf, sich die Namen zu den entsprechenden Gesichtern zu merken, er hatte die ersten schon wieder vergessen. Es lief nicht unbedingt so, wie er sich das vorgestellt hatte.
"Habe ich jemanden nicht aufgerufen?" fragte Sillybos, als er alle Namen vorgelesen hatte, und schaute erwartungsvoll in die Runde. Er wusste, dass er jemanden nicht aufgerufen hatte, denn es waren nur elf Namen auf der Liste. Und er wusste auch, wen.
Ein recht unscheinbarer Wächter spielte scheinbar gedankenverloren an seiner Uniform herum und vermied jedweden Blickkontakt mit dem Ausbilder. Er hatte sich ganz hinten rechts hingesetzt und bemühte sich recht auffällig, nicht aufzufallen.
"He, Rekrut", sprach Sillybos ihn an. Keine Antwort, kein Blickkontakt.
"Du da hinten rechts, wie ist dein Name", hakte Sillybos nach.
Die Person erschrak und schaute den Ausbilder unsicher an. "Ich... äh... ich muss mich im Raum vertan haben. Ich bin schon wieder weg", stammelte sie.
Sillybos bedachte den Wächter mit einem erwartungsvollen Blick. "Trotzdem hätte ich gerne deinen Namen gewusst."
"Äh, Obergefreiter Thymian Pech, Sir", antwortete die Person verlegen.
"Und weshalb bist du hier, Obergefreiter?" fragte Sillybos, der Thymians Eingangsbemerkung überhört hatte. "Möchtest du deine Kenntnisse auffrischen?"
"Ich... Äh... ja, Sir. Ist schon eine Zeitlang her, seit ich meinen letzten Bericht geschrieben habe."
"In Ordnung, kein Problem", sagte Sillybos und legte die Liste beiseite. "Freiwillige Zuhörer sind immer willkommen."
Thymian erntete ein paar verwunderte und auch missbilligende Blicke von den Rekruten und versuchte angestrengt, sich noch unauffälliger zu verhalten.
Sillybos stand wieder auf und schaute in die Runde. Die Formalitäten waren erledigt, er konnte beginnen.
"Rekruten", sprach er, "einen Bericht zu schreiben ist eine der wichtigsten und grundlegendsten Fähigkeiten eines Wächters. Jedes Mal, wenn ihr einen Fall bearbeitet, wird von euch verlangt werden, dass ihr eurem Vorgesetzten einen Bericht dazu vorlegt, und aus diesem Grunde gehört das richtige Schreiben eines Berichts zu eurer Ausbildung. Bei einem Bericht handelt es sich um eine schriftliche Zusammenstellung aller wichtiger Informationen bezüglich eines bestimmten Sachverhalts mit einer entsprechenden Formatierung sowie Angaben zu Datum, Absender, Adressat, Abteilung und beteiligte Personen und deren Aufenthaltsort. Ich werde in dieser Unterrichtseinheit euch die einzelnen Punkte erläutern und euch am Ende eventuell einige Beispiele zeigen, um das Gesagte zu verdeutlichen." –
Ein Rekrut gähnte, andere folgten.
– "Beginnen wir mit der Formatierung", fuhr Sillybos fort, aber leichte Unsicherheit wollte sich in seine Stimme schleichen. Er hatte nicht erwartet, dass sie gähnten. Der Philosoph schüttelte die Unsicherheit ab und schrieb das Wort
Formatierung an die Tafel. "Dabei kommt es nicht nur auf ein gepflegtes Schriftbild an, nein, auch die Rechtschreibung zählt dazu." Er drehte sich wieder zur Klasse um. "Ich kann doch wohl davon ausgehen, dass alle von euch mit den allgemein bekannten Regeln der hiesigen Orthografie vertraut sind?" fragte er und schaute in die Gesichter der Rekruten. Er erblickte Desinteresse, Unverständnis, Unsicherheit und Irritation. Ein Rekrut gähnte demonstrativ und erntete dafür Lacher von den anderen.
Aber warum, fragte sich Sillybos. Er hatte doch noch gar nicht richtig angefangen, die trockenen Themen kamen doch erst noch. Er schaute auf die Wanduhr, die über der Tür hing, erst zehn Minuten waren um..
"Oder frage ich andersrum", fuhr er fort. "Gibt es jemanden, der sich auf diesem Gebiet unsicher fühlt?"
"Äh, Sir...", begann ein Rekrut in der zweiten Reihe, Sillybos erinnerte sich, dass er Ortbe hieß.
"Ja, Rekrut Ortbe?"
"Was ist eigentlich dieses Orthogradingsbums?"
"Oh, wenn euch dieses Fremdwort nichts sagt... nun, es bedeutet einfach nur Rechtschreibung."
"Ach, so was, was der Patrizier macht?" fragte ein anderer dazwischen.
"Nee, Rechtschreibung ist so wie Rechtsprechung, nur eben mit Papier und so", sagte wieder ein anderer.
Unruhe kam auf, und die Rekruten diskutierten eifrig, was denn diese Rechtschreibung denn nun eigentlich sei. Sillybos war schockiert ob der Sachen, die er da hören musste, das durfte doch einfach nicht wahr sein.
"Aber in Ankh-Morpork ist es doch so, dass nur der Patrizier Recht schreiben kann. Wieso müssen wir das denn können?" – "Aber wenn der Patrizier was seinem Sekretär diktiert, muss der das doch auch können." – "Ich bin aber kein Sekretär, sondern Wächter, bitteschön." – "Also, ich glaube ja, das hat irgendwas mit der Anwaltsgilde zu tun, oder, Sir? Sir?"
Sillybos überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Die Rekruten hatten wirklich keine Ahnung, was es mit Rechtschreibung auf sich hatte. Konnte man das von ihm verlangen, ihnen
das beizubringen? Aber er musste das wohl oder übel durchstehen. Eine Viertelstunde erst.
"So, jetzt mal wieder Ruhe hier!" rief Sillybos und wartete, bis sich die Rekruten wieder gezügelt hatten.
"Also", begann er zu erklären, "Rechtschreibung bedeutet einfach, dass man Wörter richtig schreibt."
Und wenn jetzt jemand fragt, was ein Wort ist, dann lach' ich aber, fügte er in Gedanken hinzu. Um dieser Peinlichkeit zu entgehen, fuhr er fort: "Ein Wort ist eine Kombination von Buchstaben, so wie zum Beispiel hier an der Tafel." Er deutete auf das Wort
Formatierung an der Tafel. "Soweit klar?" fragte er und musste tatsächlich innerlich lachen. Er konnte nicht glauben, was er da gerade erzählte und dass er zudem noch fragte, ob sie es denn auch verstanden hätten.
Die Rekruten nickten stumm.
"Jedes Wort kann nur auf eine Art richtig geschrieben werden", sagte Sillybos weiter. "Jedes Wort ist also eindeutig. Ja, Rekrut, äh... du, ja?"
"Äh, Sir, woher weiß ich, welche Art denn richtig ist, wo es doch nur eine gibt?"
"Nun, dafür gibt es bestimmte Regeln, und diese Regeln nennt man die
Rechtschreibregeln. Dieses Wort hier zum Beispiel" – Sillybos deutete erneut zur Tafel – "wird so geschrieben, weil es dafür richtige Regeln gibt. Zunächst einmal entspricht jeder Buchstabe davon einem Laut, den man spricht. Der erste Buchstabe hier steht für das F", erklärte der Lance-Korporal und betonte das F bei seiner Aussprache sehr. "Dann kommt das O und danach das R. Und so weiter."
Der Ausbilder hörte, wie jeder Rekrut das Wort leise und sehr langsam vor sich hin sprach und dabei konzentriert zur Tafel schaute. Sillybos wartete auf...
"Da ist aber ein Buchstabe zu viel, Sir."
Genau darauf.
"Ja, das ist eine Besonderheit. Das E hier wird nicht mitgesprochen, sondern gehört zu dem I und macht es in der Aussprache länger. Das ist aber nur so, wenn das E hinter einem I steht."
"Mann, ist das kompliziert", sagte ein Rekrut irgendwo in der mittleren Reihe.
"Äh, Sir, aber da stimmt was nicht. In meinem Namen habe ich auch ein O, aber meins schreib ich immer viel größer, Sir."
"Wie ist dein Name, Rekrut?"
"Rekrut Ortbe, Sir", kam die zackige Antwort.
Sillybos musste lächeln. Er hätte nie gedacht, was für Fragen man zu dieser Sache stellen könnte. Er deutete wieder auf das Wort an der Tafel.
"Es handelt sich bei diesem O um einen Kleinbuchstaben, dein Name fängt mit einem Großbuchstaben an. Großbuchstaben stehen nur am Anfang von Wörtern, nie in der Mitte oder am Ende. Aber nicht alle Wörter fangen mit einem Großbuchstaben an, nur manche. Nämlich Hauptwörter wie zum Beispiel Namen und Wörter am Satzanfang", erklärte Sillybos und bereute es sofort.
"Äh... Satz... an... fang...?" – "Haupt... Wörter...?"
Sillybos seufzte. "Das hat nichts mit Köpfen zu tun, sondern bezeichnet lediglich eine Gruppe von Wörtern. Man teilt die Wörter in verschiedene Gruppen ein, je nach struktureller..." – ein kritischer Blick in die Runde – "... Bedeutung des Wortes."
"Und woher wissen wir, in welche Gruppe ein Wort gehört, Sir?" fragte ein Rekrut.
"Und welche Gruppen gibt es überhaupt?" fragte ein anderer.
"Nun, äh...", begann die Person, die an der Tafel stand, aber in diesem Augenblick war es war nicht Sillybos. Der Philosoph war im Geiste aus seinem Körper geflüchtet, aus dem Leben gestiegen. Er stand neben sich und beobachtete sich, wie er, Lance-Korporal Sillybos, Ausbilder der Stadtwache von Ankh-Morpork, der größten Stadt auf der Scheibenwelt, wie er, Sillybos, Philosoph aus Ephebe, der bereits mit den hellsten Köpfen des Landes gestritten hat, wie er, Sillybos, vor einem Dutzend Rekruten stand und ihnen was von Großbuchstaben und Satzanfängen erklärte. Er fragte sich, wer wohl Schuld an seiner Situation sei. Er selbst vielleicht?
Der Lance-Korporal merkte, dass ihm die Sache aus der Hand lief. Der Unterricht hatte keine Struktur mehr, es war nur noch ein unkoordiniertes Frage-Antwort-Spiel. Der Ausbilder wollte etwas Ordnung hineinbringen, er ging zu seinem Pult, setzte sich und öffnete den Ordner.
"Äh, wir machen jetzt am besten Folgendes", sagte er mit einer scheinbar selbstbewussten Miene. "Ich habe hier ein paar Beispiele mitgebracht, die wir uns nun gemeinsam anschauen. Da können wir nun die verschiedenen Fälle durchsprechen."
Er entnahm den Stapel mit den Musterbeispielen dem Ordner und blätterte sie durch. Es waren 16 Kopien desselben Berichts, sehr gut. Der Bericht selbst war ein "Zur Kenntnisnahme" von Daemon an Rina, dass er schon vor drei Monaten festgestellt hätte, dass der Abort des Wachhauses Kröselstraße dringend gereinigt werden sollte und dass er dafür eine Freisetzung entsprechender Mittel aus dem Budget gefordert hatte. Sillybos beschloss, Rina bei Gelegenheit zu fragen, ob sie nicht vielleicht hygienisch ansprechendere Beispiele finden könnte.
"Rekrut, ähm..." Sillybos suchte nach einem Namen, "Ortbe, ja, verteil doch mal bitte an jeden ein solches Blatt hier."
Ortbe stand mit einem "Ja, Sir" auf und marschierte zum Pult, wo er den Stapel mit den Berichten entgegen nahm. Dann ging er durch die Reihen und gab jedem ein Blatt Papier.
Sillybos schrieb derweil den Text des Memos an die Tafel:
Rina,
obwohl mir unsere kritische Haushaltslage durchaus bewusst ist, erinnere ich dich erneut daran, dass ich dich bereits vor drei Monaten darauf hingewiesen hatte, dass der Abort für die männlichen Wächter dringend sanierungsbedürftig ist.* Ein entsprechender Antrag von mir wurde bei den Budgetverhandlungen abgelehnt (was mich nicht sonderlich überrascht, schließlich sitzen die noblen Herren ja auch alle am Pseudopolisplatz und scheren sich einen feuchten Dreck um uns).
Allerdings stinkt der Abort inzwischen zum Himmel, und auch wenn du selbst da vielleicht nicht hingehst, so dürftest du dennoch bald selbst den Gestank bemerken. Ich wollte dich nur davon in Kenntnis setzen, dass meiner Schätzung nach inzwischen die Kosten für eine Reinigung auf 40 AM-Dollar angestiegen sein dürften.
Bevor du auf falsche Gedanken kommst: es stinkt wirklich bestialisch, und kein Rekrut könnte eine so schlimme Tat begehen, dass er eine solche Strafe verdient hätte.
Daemon
* siehe Ak-Z 13-D-7043-A-32
Zwischendurch überlegte Sillybos, ob er den Ausdruck in der Klammer auch mit an die Tafel schreiben sollte. Aber da die Rekruten den Bericht sowieso in Händen hielten, würden sie es auch so lesen können, und außerdem hätten sie ansonsten nur noch mehr Fragen gestellt. Die Fußnote schrieb er auch mit an die Tafel, weil er hoffte, den Rekruten nebenbei auch noch ein paar Hinweise zur Formatierung zu geben. Er begutachtete kurz sein Werk, prüfte es auf Rechtschreibfehler und Zeichensetzung, war zufrieden und drehte sich zur Klasse um.
Ein kurzer Blick in die Gesichter der Rekruten verriet schon eine Menge. Die meisten Rekruten schienen sich über den Inhalt des Memos zu amüsieren, was bedeutete, dass sie es lesen konnten. Aber es gab auch einige, die mit Falten auf der Stirn auf das Blatt starrten und scheinbar nicht so recht wussten, was sie damit anfangen sollten.
"So. Ist jemand hier in der Lage, diesen Text vorzulesen?" fragte Sillybos. Keine Antwort, aber das irritierte den Philosophen nicht sonderlich. Bei einem philosophischen Vortrag in Ephebe hätte sich auch niemand gemeldet. Vorlesen (zumindest das Vorlesen fremder Texte, selbstverfasste las man
natürlich selbst) war eine Arbeit für Sklaven.
Da keine Sklaven anwesend waren, musste Sillybos jemanden bestimmen, von dem er aber auch sicher sein konnte, dass er den Text lesen kann.
"Obergefreiter Pech, würden Sie den Text vorlesen?"
Thymian bekam einen hochroten Kopf und blickte mit leicht geöffnetem Mund unsicher, aber möglichst unauffällig umher. "I-Ich... äh... Sir... ich... äh...", stammelte er, unter seiner Uniform folgte ein Schweißausbruch dem anderen.
"Alles in Ordnung, Obergefreiter?"
"Äh, Sir... ich... äh... ich kann das nicht tun." Thymian hielt die Luft an.
"Und warum nicht?"
"Ähm", begann Thymian, als würde er nach den richtigen Worten suchen. Oder nach der richtigen Idee. "I-Ich bin doch nur als Gast hier, Sir. Ich denke, das sollte ein Rekrut machen, Sir." Beinahe ängstlich schaute er den Ausbilder aus den Augenwinkeln an.
"In Ordnung, wenn sich denn jemand findet", antwortete Sillybos. Thymian atmete tief aus.
Der Lance-Korporal deutete wahllos auf einen Rekruten in der ersten Reihe: "Wie steht es mit dir?"
"Jawohl, Sssir", antwortete Rekrut Weufolt zackig, räusperte sich, und begann langsam- sehr langsam – zu lesen: "Rina..." – "Damit ist Leutnant Lanfear gemeint", warf Sillybos kurz in die Runde, leises Kichern folgte. – "obwohl... mir... unsssere..."
Sillybos beobachtete Weufolt, wie er das Blatt Papier an seine Nasenspitze hielt und versuchte, die Wörter korrekt zu entziffern. Dann ließ er seinen Blick über die ganze Klasse schweifen, alle lasen konzentriert mit (oder taten zumindest so), Sillybos' Blick wanderte weiter zur Uhr, schon 35 Minuten. Nach einer Dreiviertelstunde wollte Sillybos eine Pause machen, nur noch zehn Minuten.
"Sir, da ist ein kleines Sternchen im Text, Sir. Soll ich das mitlesen?", fragte Weufolt.
"Wie?" fragte Sillybos, aus seinen Gedanken gerissen. "Ach so, das Sternchen. Weiß jemand, was es damit auf sich hat?"
"Das ist doch eine Fußnote, oder, Sir?" meinte eine Rekrut in der mittleren Reihe. Sillybos bemühte sich gar nicht erst, sich an die Namen zu erinnern.
"Das ist richtig", meinte Sillybos. "Und wie funktioniert eine Fußnote?"
Allgemeines Schulternzucken.
"
[1]", erklärte Sillybos, "
[2]"
"Wozu soll das denn gut sein?" war ein abfälliger Kommentar von irgendwo vorne links.
"
[3]", antwortete Sillybos. "
[4]"
"Aber Sir, ist das nicht umständlich, jedes Mal bis ans Ende des Textes zu blättern, um die Fußnoten zu lesen?"
"So ist es", meinte der Ausbilder. "Darum sollte man Fußnoten auch wirklich nur dann setzten, wenn es unbedingt erforderlich ist. Es gibt auch viele andere Möglichkeiten, eine Information von einem Text abzuheben. Man kann die Information zum Beispiel einfach in Klammern setzen."
Sillybos schaute erneut in die Runde. Alle schienen es verstanden zu haben.
"Rekrut..."
"Weufolt, Sssir."
"Ah ja, Rekrut Weufolt, fahre fort. Überspringe die Fußnote, sie ist für uns nicht wichtig."
"Jawohl, Sssir", sagte Weufolt und las (wieder sehr langsam) weiter. "Ein... entsprechender... Antrag... "
Derweil überlegte der Lance-Korporal, wie er weiter vorgehen würde. Er dachte an Hegelkant. Zwar konnte Hegelkant schon lesen und schreiben, als er Sillybos' Sklave wurde, aber alles weitere hatte sein neuer Herr ihm beigebracht. Und der Philosoph war sich ziemlich sicher, dass er dabei nicht alles falsch gemacht haben konnte. Im Moment aber hatte er keine Idee, wie er weiter vorgehen sollte. Warum hatte er den Text vorlesen lassen? Der Lerneffekt dabei war gleich null. Aber er hatte zu dem Zeitpunkt halt keine andere Idee gehabt. Sillybos bemerkte, dass man als Ausbilder einen gewissen Grad an Spontaneität aufweisen musste, aber er wusste auch, dass er selbst in keinem großen Maße mit ihr gesegnet war.
"Sssir? Sssir!"
"Hm?"
"Ich bin fertig, Sssir", sagte Weufolt.
"Oh, ja, sehr gut", meinte Sillybos und wurde etwas unsicher. Die Rekruten erwarteten eine Aufgabe, aber was? Er brauchte ein Konzept. Und dazu brauchte er Ruhe.
Ohne auf die Uhr zu schauen, verkündete Sillybos: "In Ordnung, wir machen jetzt erst mal eine kleine Pause von fünfzehn Minuten."
Sillybos schaute er zur Uhr, Fünf Minuten zu früh.
Dann war Pause. Eher als geplant.
***
Pause! Die Rekruten atmeten tief durch und verließen unter hohem Lautstärkepegel den Raum. Sillybos setzte sich an das Pult und holte seinen Notizblock heraus. "Ach, Obergefreiter Pech?" fragte er in den Raum, als er bemerkte, dass der Anwerber den Raum noch nicht verlassen hatte.
Thymian überlegte kurz, ob er den Ausbilder gehört hatte oder lieber nicht, blieb dann aber langsam stehen. Er schloss die Augen und schickte ein leises "Bittebitte" zum Himmel, bevor er sich mit einem schüchternen "Ja, Sir?" umdrehte.
Sillybos stand auf und stellte sich neben das Pult. "Ich wollte noch kurz mit dir über die Stunde reden, denn ich glaube kaum, dass du dich sehr wohl gefühlt hast, nicht wahr?"
Sillybos war verwundert, als Thymian einen hochroten Kopf bekam. Hatte er was Falsches gesagt?
"Ja, äh, i-ich...", stotterte der Obergefreite und wusste anscheinend nicht, was er noch sagen sollte.
"Ich meine", fuhr Sillybos fort, "ich war schon überrascht, als du als Obergefreiter in meine Stunde gekommen bist, und habe mich dadurch auch sehr geehrt gefühlt. Aber später dann, nun ja..."
Thymians Gesichtsfarbe wechselte von rot zu bleich. Leider konnte er das nicht steuern, es wäre sicherlich für den ein oder anderen Scherz gut gewesen. "Äh, w-wie meinen Sie das, Sir?"
"Na, du musst dich doch sehr gelangweilt haben. Ich meine, ich habe den Rekruten etwas über Rechtschreibung und Großbuchstaben erklärt und sie einen Text vorlesen lassen." Sillybos lachte. "Das dürfte wohl kaum deiner Vorstellung von einem Unterricht über Berichterstellung entsprochen haben."
Thymian atmete durch. "Oh, also das ist kein Problem für mich, Sir. Ich finde Ihren Unterricht sehr interessant, wirklich. Ich meine, wenn die Rekruten noch nicht das entsprechende Vorwissen haben, so müssen sie es eben hier lernen, denke ich."
"Tja, sieht so aus", meinte der Lance-Korporal und lehnte sich an das Pult an. "Und ohne diese Kenntnisse werden sie die Grundausbildung wohl kaum überstehen."
Der Anwerber murmelte irgendwas, das Sillybos überhörte.
"Und selbst wenn", redete der Philosoph weiter, "sie würden sich nicht ewig vor dem Berichte Schreiben drücken können. Irgendwann kommt das auf jeden von uns zu, das könnte ich den Rekruten sogar schriftlich geben." Er lächelte ob dieses Bonmots.
"Aber mal angenommen, Sir", begann Thymian, "sie würden es schaffen, die Grundausbildung zu bestehen, ohne lesen und schreiben zu können, und müssten dann einen Bericht schreiben. Wäre das denn sehr schlimm?"
Sillybos lachte. "Mal abgesehen davon, dass es Bestandteil von fast jeder Spezialisierung in der Wache ist, wie ich ja eingangs erwähnte, und man dadurch seinen Beruf nicht ordnungsgemäß ausführen kann, was natürlich entsprechende Folgen hätte, abgesehen davon kann ich mir auch persönlich nichts Schlimmeres ausmalen, als nicht über diese Fertigkeiten zu verfügen. Ein Leben ohne solches Wissen stelle ich mir einfach furchtbar vor. Du nicht auch, Obergefreiter?"
Thymian schwieg und schien darüber nachzudenken.
"Naja, was ich eigentlich sagen wollte", meinte Sillybos, "wenn dir der Unterricht zu langweilig ist, weil das natürlich alles schon ein alter Hut für dich ist, so kann ich es durchaus verstehen, wenn du in der zweiten Hälfte fern bleiben möchtest. Es ist ja eigentlich auch nur verschwendete Zeit."
"Ja, Sir, ich werde es mir überlegen."
"Gut", sagte der Ausbilder und setzte sich wieder hinter das Pult. "Ich muss dann noch die zweite Stunde vorbereiten, bis später vielleicht. Ach, kennst du eigentlich meinen Sklaven Hegelkant? Falls du ihn draußen siehst, könntest du ihn zu mir schicken? Das wäre nett."
"Nein, leider hatte ich noch nicht das Vergnügen", sagte Thymian.
"Wenn du ihn siehst, fällt er dir bestimmt auf. Er ist recht groß, hat Schwarze Haare, dunkle Haut, breites Grinsen. Und ist in zivil. Also wenn du ihn siehst..."
"... werde ich ihn zu Ihnen schicken. Verstanden, Sir", beendete Thymian den Satz und verließ den Raum.
Sillybos überlegte. Er überlegte nicht, was er den Rekruten in der zweiten Unterrichtsstunde beibringen sollte, sondern vielmehr,
wie er es tun sollte.
Eine Stunde würde nie und nimmer reichen, dessen war er sich sicher. Was also dann? Sollte er mehr Zeit investieren? Waren die Rekruten das überhaupt wert? Sillybos beschloss, dies erst am Ende des Unterrichts zu entscheiden, ob er noch eine Zusatzstunde zum Thema Rechtschreibung anbieten sollte, je nachdem, wie gut die Rekruten mitarbeiten.
Jetzt aber brauchte er einen Plan für die nächste Stunde. Nun überlegte er doch, was er den Rekruten beibringen sollte, denn schließlich hatte er nur begrenzt Zeit und musste die wichtigsten Themen aussortieren. Aber welches waren die wichtigsten Themen? Der Ausbilder versuchte, sich in die Lage eines Rekruten zu versetzen, der weder lesen noch schreiben konnte. Dies gelang ihm zwar, half ihm aber in keiner Weise weiter. Wenn er nicht wusste, was ihm gelehrt werden sollte, woher sollte er dann auch wissen, welche Weise dafür am besten geeignet wäre.
Sillybos schrieb "Wortarten" auf seinen Notizzettel. Dann las er das Wort mehrmals und versuchte, gedanklich eine Art Gerüst um diesen Begriff zu bauen. Er dachte an Hauptwörter, Tu-Wörter, Wie-Wörter. Was mussten die Rekruten noch wissen? Er dachte an Zeichensetzung, Kommaregeln. Und dazu brauchte er Satzarten, Hauptsätze, Nebensätze, Infinitive. Ob er das in einer Stunde schaffen würde? Sillybos dachte wieder an das Gespräch mit Hegelkant. An das Verhältnis zwischen Lernmenge und Lernkapazität.
Nein, sagte sich der Philosoph. Er musste das jetzt durchziehen, für Experimente war es zu spät.
Der Ausbilder notierte sich noch kurz "Satzarten" auf seinem Zettel und stand auf. In Gedanken ging er verschiedene Erklärungsweisen durch. Er drehte sich zur Tafel um und prüfte sein Beispiel dazu.
Währenddessen marschierte ein großer schlanker Mann durch die Tür und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Obwohl Sillybos mit dem Rücken zu ihm stand,
spürte er, wie der Mann ein verlegenes Grinsen aufsetzte. Der Philosoph drehte sich erneut um und schaute seinen Sklaven fröhlich an.
"Ihr habt mich rufen lassen, Herr?"
"Ah, Hegelkant, sehr gut", begann er. "Ja, besorge mir aus meinem Büro doch bitte den 'TUTEN'-Sprachführer. Ich möchte den Rekruten ein paar Beispiele erklären. Und beeil dich bitte."
"Ja, Herr. Ich fliege, Herr."
Der Lance-Korporal schaute den Sklaven streng an. "Was tust du?"
"Äh, ich meine, ich bemühe mich, so schnell wie möglich wieder hier zu sein", sagte Hegelkant schnell und lief hinaus.
Sillybos setzte sich wieder. Sobald Hegelkant wieder da war, konnte die zweite Stunde beginnen.
***
Die zweite Stunde begann vorher. Die Rekruten (und Thymian Pech) saßen bereits alle auf ihren Plätzen, aber Hegelkant war immer noch nicht da. Der Ausbilder beschloss, ohne ihn anzufangen; in erster Linie deswegen, weil er befürchtete, dass die Laune der Rekruten sinken würde, je länger er wartete.
"Folgendes", begann Sillybos die zweite Unterrichtsstunde. "Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ihr ohne die fundamentalsten Grundkenntnisse der schriftlichen Kommunikation nicht geeignet seid, den Wachdienst in angemessener Weise auszuführen. Aus diesem Grunde werde ich versuchen, euch diese Kenntnisse in der zweiten Stunde nun zu erklären."
Es dauerte eine Weile, bis die Rekruten begriffen, was Sillybos eigentlich gerade gesagt hatte.
"Es gibt zwei wichtige Punkte bei der Rechtschreibung: die richtige Schreibung eines einzelnen Wortes, und die richtige Bildung eines Satzes. Für die einzelnen Wörter gibt es ein spezielles Buch, in dem geschrieben steht, wie jedes Wort, dass in unserer Sprache auftritt, geschrieben wird." Sillybos dachte über seine unglückliche Wortwahl nach, verdrängte diese Gedanken aber schnell wieder. "Zum ersten Punkt sage ich am Ende der Stunde kurz etwas, darum soll es uns im Moment nicht gehen. Ziel dieser Stunde wird es sein, dass ihr wisst, wie ihr einen Satz zu bilden habt und wie ihr mehrere Sätze miteinander verbindet. Beginnen wir mit dem absolut Grundlegenden: den Wörtern", fuhr der Ausbilder fort. "Ich hoffe, ihr wisst, dass es verschiedene Wortarten gibt, und ich hoffe auch, dass ihr die Wichtigsten von denen kennt. Wir werden uns in dieser Stunde nur mit der wichtigsten Wortart beschäftigen: dem Tu-Wort. Weiß jemand von euch, was ein Tu-Wort ist?"
Schweigen. Entweder wussten sie es nicht, oder sie trauten sich nicht. Sillybos schaute enttäuscht zu Boden und dachte über die Situation nach.
Rekruten, dachte er.
"Ein Tu-Wort besagt, dass jemand etwas tut", sagte schließlich jemand aus der letzten Reihe.
Sillybos war überrascht und schaute verwundert hoch, ein erwartungsvolles Lächeln einer jungen Rekrutin schaute ihn an; der Ausbilder lächelte zurück. "Ganz recht", sagt er. Das Tempo des Unterrichts war zwar unerträglich langsam, aber immerhin schienen die Rekruten so noch einen Funken Motivation zu behalten. Und Motivation, so wusste Sillybos, war die Grundvoraussetzung für Lernerfolg.
"Tu-Wörter sind die wichtigsten Wörter überhaupt, denn sie beschreiben, was geschehen ist", erklärte Sillybos. "Aber nicht nur das: sie beschreiben auch, was gerade geschieht oder sogar erst noch geschehen wird." Sillybos hob die Stimme, als würde er etwas ganz Außergewöhnliches behaupten. Die Wirkung war die erwünschte: die Rekruten witterten irgend etwas Geheimnisvolles in der Luft und fragten sich, was es denn wohl mit diesen Tu-Wörtern auf sich hatte.
Sillybos beschrieb die verschiedenen Zeiten, Gegenwart, Vergangenheit, Perfekt, Mehr-als-Perfekt, Zukunft und – als kleines Extra – noch die Konjunktive. Er war überrascht, wie gut die Rekruten auf einmal mitarbeiteten.
Ein Rekrut meldete sich: "Wenn die Gegenwart beschreibt, was gerade geschieht und sonst nichts, dann dürfte man es doch eigentlich gar nicht verwenden, oder? Wenn man es nämlich ausspricht, ist das Gesagte ja schon wieder vorbei."
Sillybos war überrascht, das erste Mal in dieser Unterrichtsstunde hatte er so etwas wie eine
intelligente Frage gehört. "Nicht unbedingt", antwortete er. "Mit der Gegenwartsform beschreibt man nämlich auch Prozesse, die über einen längeren Zeitraum anhalten, wie z.B. 'Heute ist schönes Wetter'." Er schaute aus dem Fenster. "Das ist nur ein Beispiel."
"Aber wenn ich beginne, diesen Satz zu sagen, wie kann ich dann wissen, dass noch immer schönes Wetter ist, wenn ich mit dem Satz fertig bin?"
"Im Prinzip hast du recht", gab der Ausbilder zu. "Aber es ist eine allgemeine Übereinkunft, dass wir den Zeitpunkt zu Beginn eines Satzes mit der Gegenwartsform beschreiben."
Ein anderer Rekrut meldete sich: "Aber ich kann doch auch sagen 'Morgen gehe ich in den Eimer und saufe mir die Birne dicht', nicht wahr?"
Gelächter folgte, aber Sillybos blieb ernst. "Leider ja", seufzte er. "Das ist ein Zeichen des Verfalls unserer Sprache, denn man verwendet die Zukunftsform nur noch ganz selten, meistens wird auch für zukünftige Geschehnisse die Gegenwart verwendet. Gleiches gilt übrigens auch für das Perfekt mit vergangenen Handlungen." Er schaute in die Runde. "Aber ich möchte betonen, dass ihr euch doch um die richtige Zeitenbildung bemühen solltet, wenn ihr einen Bericht schreibt. Wie die Zeiten von jedem Tu-Wort richtig gebildet werden, steht auch in dem speziellen Wörterbuch."
Es klopfte leise an der Tür.
"Herein", rief Sillybos in Erwartung seines Sklaven, er kannte das Klopfen. Ebenso schüchtern wie Hegelkant geklopft hatte, öffnete er dann die Tür und steckte zaghaft seinen Kopf hindurch.
"Ich bringe das Buch, Herr. Es war gar nicht so leicht zu finden, bis ich mich erinnerte, dass ihr euch ja beschwert hattet, dass der Schreibtisch immer so wackelte..."
"Ist in Ordnung, Hegelkant", antwortete Sillybos. "Danke." Er nahm das Buch entgegen und musterte es kurz. Dann schaute er zu seinem Sklaven, der sich gerade zum Gehen wendete. "Ach Hegelkant, da wäre noch was. In der letzten Reihe ist noch ein Platz frei. Sei doch so gut und setze dich dort hin und nimm an dem Unterricht teil."
"Oh, sehr gern, Herr", sagte Hegelkant fröhlich. Er hatte sich nicht getraut, selbst darum zu bitten, aber er war sehr neugierig, wie der Unterricht seines Herrn bei den Rekruten wohl ankommen würde. Rasch setzte er sich an einen Tisch in der hintersten Reihe musterte kurz die Rekrutin links und den Obergefreiten rechts von ihm und schaute dann erwartungsvoll zu Sillybos, der sich inzwischen wieder dem Rechtschreibbuch widmete.
"Dieses Buch meine ich", verkündete der Lance-Korporal und hielt den TUTEN hoch., "Dieses Buch ist euer wichtigstes Werkzeug bei der Erstellung eines Berichtes. Neben Papier und Stift natürlich. Jedes Wort, das ihr verwendet, steht in seiner richtigen Schreibweise hier drin. Am Ende der Stunde werde ich noch mal darauf zu sprechen kommen." Er legte das Buch auf sein Pult. "Aber zunächst wollen wir mit etwas Anderem fortfahren: mit dem Satzbau." Der Ausbilder drehte sich um und ging zur Tafel. "Der Satzbau teilt einen Text in kleine Teilabschnitte ein, in Sätze. Ein Satz besteht also aus mehreren Wörtern. Weiß jemand, wie man verschiedene Sätze voneinander trennt?"
Der Ausbilder schaute in viele fragende Gesichter, nur eines wirkte sehr aufgeweckt, und dessen Besitzer reckte aufgeregt den Arm in die Höhe.
Sillybos seufzte. "Nein, Hegelkant, lass die Rekruten antworten."
Enttäuscht senkte der Sklave seinen Arm. Dann flüsterte er seiner linken Sitznachbarin etwas in Ohr, die ihn daraufhin fragend anschaute und unsicher ihren Arm hob.
Sillybos schmunzelte. "Ja?"
"Äh, durch Satzzeichen?"
"Genau", antwortete Sillybos. "Und kannst du mir auch sagen, wie diese Satzzeichen aussehen?"
"Äh...."
Sillybos wartete und schaute zu Hegelkant. Dieser flüsterte seiner Sitznachbarin erneut etwas ins Ohr.
"Das sind diese kleinen Punkte und Striche zwischen den Wörtern", antwortete die sichtlich irritierte Rekrutin.
"Das ist richtig", entließ der Ausbilder die Rekrutin aus der allgemeinen Aufmerksamkeit. "Diese kleinen Zeichen hier sind Satzzeichen, und sie trennen einzelne Sätze voneinander. Beim Lesen betrachten wir jeden Satz als eine Einheit und lesen ihn ohne Pause durch, während wir zwischen den Sätzen eine Pause machen und Luft holen. Kann mir jemand von euch verraten, was das Charakteristische an einem Satz ist?" Er schaute in die Klasse. "Kann mir
ein Rekrut sagen, was das Charakteristische an einem Satz ist?" verbesserte er sich. Hegelkant nahm seinen Arm wieder runter.
Niemand (außer Hegelkant) schien es zu wissen. Sillybos nutzte die Gelegenheit, um kurz zur Uhr zu schauen. Was lief die Zeit! Er musste sich beeilen. Das bedeutete: weniger fragen, mehr erklären.
"Jeder Satz enthält eine Handlung. In jedem Satz steht, dass etwas passiert ist", erklärte der Philosoph. "Das wiederum bedeutet, dass jeder Satz ein Tu-Wort enthält. Das Tu-Wort ist also das wichtigste Wort in einem Satz. Und das Tu-Wort bestimmt auch, um was für eine
Satzart es sich handelt." Sillybos nahm ein Stück Kreide in die Hand und zeichnete ein Schema an die Tafel neben den Beispieltext. Währenddessen sprach er weiter: "Zunächst einmal unterscheiden wir Haupt- und Nebensätzte." Er zeichnete zwei Kästchen mit den entsprechenden Bezeichnungen. "Man kann allein an Hand des Tu-Wortes des Satzes erkennen, ob man einen Hauptsatz oder einen Nebensatz vor sich hat."
Hegelkant beobachtete mit gewissem Interesse und auch etwas Verwunderung, wie sich die Rekruten während der Ausführungen seines Herrn immer mehr langweilten und sich abwendeten. Der Unterricht seines Herrn war im Prinzip so wie immer, die Sprache klar und deutlich, und auch das Tempo empfand er als angenehm. Sillybos' Blick war offen und nicht zu ernst, und mit seiner aktiven Gestik brachte er mehr Leben in seine Ausführungen. So wie Sillybos es bei Vorträgen immer machte, und nach Hegelkants Meinung auch durchaus erfolgreich. Doch die Rekruten schien das nicht zu interessieren. Hegelkant hatte überhaupt kein Verständnis dafür, denn der Satzbau war doch nun wirklich eines der interessantesten Themen der Sprachwissenschaft überhaupt.
Die Blicke des Philosophen und des Sklaven trafen sich. Hegelkant vermochte den Blick seines Herrn nicht zu deuten, aber er empfand so etwas wie Mitleid für ihn, denn eine solche Zuhörerschaft hatte er nicht verdient. Sein Herr war ein großartiger Philosoph, und die Rekruten wussten das überhaupt nicht zu schätzen. Sillybos hingegen las aus Hegelkants Blick sein typisches Kann-ich-euch-irgendwie-helfen-Herr?, und er wusste genau, was sein Sklave im Moment dachte. Und dadurch dachte auch er an das Gleiche.
Beide dachten an ihr Gespräch in der Kantine, an den Verlauf des Gesprächs, an das Ergebnis. Aber dann trennten sich die Gedanken. Sillybos überlegte, wie er die Rekruten besser motivieren könnte. Hegelkant überlegte, ob er auch alle Zutaten für die Gemüsesuppe zu Hause hatte.
"In Ordnung", sagte Sillybos schließlich. "Wir machen jetzt Folgendes: wir schauen uns unseren Beispieltext an und unterstreichen alle Tu-Wörter. Dann werden wir prüfen, ob wir dabei irgendein Schema erkennen können." Und mit gehobener Stimme ergänzte er: "Dabei werde ich auch euren kriminalistischen Spürsinn überprüfen. Denn es ist eine wichtige Aufgabe eines Wächters, aus einer Vielzahl von Hinweisen ein Prinzip zu erkennen und logische Schlüsse zu ziehen. Und hier könnt ihr nun beweisen, dass ihr das auch draufhabt."
Auf einmal waren die Rekruten wieder voll bei der Sache und nahmen wieder ihre Textkopien zur Hand. Viele wünschten sich, sie hätten auch vorher genauer zugehört, in der Hoffnung, es würde ihnen nun Vorteile bringen. Sillybos wollte diese Aufmerksamkeit noch für etwas Theorie nutzen.
"Zuvor lasst mich noch auf verschiedene Arten von Tu-Wörtern eingehen. Es gibt drei Arten, die für uns im Moment wichtig sind: zum einen die normale Form, die in jedem Satz enthalten ist, man nennt diese Form auch das Prädikat, weil sie dem Satz ein besonderes Prädikat verleiht." Sillybos hielt kurz inne. Sein Sklave Hegelkant musste ob dieses Wortspiels lachen, aber er war der einzige. "Dann gibt es noch die Grundform eines Tu-Wortes, die dann auftritt, wenn eine Handlung eine andere impli-" Sillybos verbesserte sich rechtzeitig. "Wenn eine Handlung eine andere nach sich zieht. 'Planen' ist ein solches Beispiel: 'Ich plane, später etwas zu essen.' Dann ist 'plane' das Prädikat des Satzes und 'essen' ist die nachfolgende Handlung, die von dem 'planen' abhängt. Die Grundform endet übrigens meistens mit den Buchstaben '-en' und steht oft in Verbindung mit dem Wörtchen 'zu'. Und drittens gibt es die Hilfs-Tu-Wörter, die uns etwas über die näheren Umstände verraten, also ob eine Handlung ausgeführt werden soll, muss, kann und so weiter. Auch das 'haben' und 'sein' beim Perfekt und Mehr-als-Perfekt, was ich vorhin erklärte, sind Hilfs-Tu-Wörter. Ein Hilfs-Tu-Wort tritt nur in Verbindung mit einem richtigen Tu-Wort auf, wobei das richtige Tu-Wort dann aber in der Grundform steht, aber ohne das 'zu' dabei. In diesem Fall wird dann das Hilfs-Tu-Wort zum Prädikat des Satzes."
Ein stillschwiegendes (und manchmal auch lautes) Stöhnen ging durch den Raum. Sillybos überhörte es mit zweifelnder Miene.
"Es ist aber insgesamt viel einfacher, als sich das alles anhört", ergänzte Sillybos. "Meistens macht man es intuitiv richtig. Am Besten kommt jetzt einer von euch vor an die Tafel und unterstreicht die Prädikate in dem Text hier, damit alle Texte auf dem gleichen Stand sind." Sillybos schaute die Rekruten an. Er brauchte jemanden, von dem er sicher sein konnte, dass er die Thematik auch beherrschte. Aber bei wem konnte er sich sicher sein? Hegelkant, klar, aber das wollte er nicht. Hegelkant sollte den Unterricht verfolgen und nachher eine Einschätzung geben, und das konnte er von hinten, wo er jetzt saß, besser. Wer könnte sonst...?
"Obergefreiter Pech, würdest du bitte vortreten?" sprach der Lance-Korporal den Anwerber an.
Thymian Pech schreckte hoch und schaute sich unsicher um. Röte schoss ihm ins Gesicht und er begann zu stottern. "Äh... äh... ich, Sir?"
"Ja, genau dich meine ich", sagte Sillybos.
"Aber ich, äh, was soll ich denn überhaupt machen?"
"Keine Angst, ich möchte nur, dass du mir hilfst, den Rekruten etwas zu verdeutlichen."
"Ich, äh, Sir, soll den Rekruten etwas
verdeutlichen?" Schweiß trat aus Thymians Poren.
"Das ist keine große Sache, Obergefreiter. Komm nach vorne, dann erkläre ich es dir."
Thymian spürte die Blicke der Rekruten über sich hinweg streifen. Er schaute starr auf sein Notizblock. Nach einigen schweigsamen Sekunden stand er langsam auf und begab sich auf den Weg zum Pult und zur Tafel. Während seines Marsches hielt er seinen Kopf geradeaus, aber aus den Augenwinkeln konnte er die Rekruten beobachten, wie sie ihm teils skeptische, teils irritierte, teils belustigte Blicke zuwarfen. Seine Gedanken rasten.
Als er am Ende seines Marsches angelangt war, ergriff Sillybos wieder das Wort: "So, ich werde unseren Beispieltext jetzt Wort für Wort vorlesen. Ihr nehmt einen Stift zur Hand und unterstreicht, während ich vorlese, die Prädikate in diesem Text. Zur Erinnerung: Prädikate sind diejenigen Tu-Wörter, die nicht in Verbindung mit dem Wort 'zu' stehen." Sillybos biss sich auf die Zunge, aber eine andere Definition konnte er hier nicht bringen. Zum Glück enthielt der Beispieltext keine Partizipialkonstuktionen oder Ähnliches. Für dieses Beispiel reichte diese äußerst schwammige Definition aus. "Falls ein Tu-Wort aber in Verbindung mit einem Hilfs-Tu-Wort steht, wird dieses zum Prädikat, und ihr müsst das Hilfs-Tu-Wort unterstreichen, das andere Tu-Wort aber nicht. Obergefreiter Pech wird dies parallel an der Tafel vorführen." Der Ausbilder schaute zu Thymian hinüber und drückte ihm ein Stück Kreide in die Hand. "Wenn ihr unsicher seid, könnt ihr im Anschluss Fragen stellen. Oder ihr schaut einfach zum Obergefreiten Pech, wie er es macht." Sillybos hob seinen Beispieltext und begann zu lesen. "'Rina, obwohl mir unsere kritische Haushaltslage durchaus bewusst ist, ...'"
Thymian klammerte sich an sein Stück Kreide und schaute gebannt zur Tafel. Sein Herz pochte; jeder im Raum konnte es hören, ganz bestimmt. Der Ausbilder begann schon zu lesen! Thymian hatte den Einsatz verpasst und kam beim Mitzählen der Wörter nicht mit, warum las der Ausbilder auch nur so schnell? Aber was sollte er tun, er hatte keine Wahl. Wahllos und mit zitternder Hand begann Thymian, irgendwelche Wörter
zu unterstreichen. Er hörte Sillybos gar nicht mehr zu. Er unterstrich einfach
diejenigen Wörter,
die für ihn wie
ein Tu-Wort aussehen könnten. Was war
das Besondere an den Tu-Wörtern? Waren das
die Worte,
die besonders kurz waren? Oder
die an
einer bestimmten Stelle hinter
diesen komischen Strichen und Punkten standen? Lance-Korporal Sillybos
meinte, es gäbe
ein Prinzip dabei, und Thymian bemühte
sich, es
zu finden. Er fand Wörter in dem Text,
die zuvor schon mal aufgetreten waren, er überprüfte, ob er sie zu jener Zeit unterstrichen hatte und unterstrich sie gegebenenfalls erneut. Zwischendurch blickte er immer ängstlich zu Lance-Korporal Sillybos hinüber, bis...
"Ähm, Stopp",
sagte der Ausbilder schließlich. Thymian
schaute den Philosophen mit großen Augen ängstlich an.
Sillybos'
blickte irritiert zur Tafel. Danach
wanderte sein Blick zu Thymian, der mit hochrotem Gesicht vor ihm
stand. Schließlich
schaute er zu Thymians Hand, die die Kreide inzwischen nur noch sehr locker in sich
hielt. Dann
schaute Sillybos erneut zur Tafel.
"Obergefreiter Pech?"
fragte er.
"Äh, ja, Sir?" Thymian
versuchte, gerade zu stehen, aber seine Beine
zitterten. Dann
riss er plötzlich den Arm in die Höhe und
salutierte.
"Du
brauchst nicht zu salutieren, Obergefreiter."
"Äh, ja, Sir." Der Anwerber
nahm den Arm wieder runter.
Sillybos
schaute wieder zur Tafel. "Obergefreiter Pech, was
soll das hier darstellen?"
"Nun, Sir, ich... ich... ",
stotterte der Obergefreite, "ich wollte nur etwas
verdeutlichen, Sir."
"Und was, wenn ich
fragen darf?"
"Dass es... nun... sehr viele verschiedene Wörter
gibt, Sir." Thymian
zitterte am ganzen Körper.
"Und weiter?"
fragte Sillybos geduldig. Sein Blick
durchbohrte den Obergefreiten geradezu, so dass dieser kurz wegschauen
musste. Thymian
blickte zu den Rekruten, die teils belustigt, teils gespannt auf ihren Plätzen
saßen und gebannt
warteten, was weiter
passierte. Schnell
lenkte Thymian seinen Blick zu Boden, als
würde er ein Loch darin suchen, in dem er versinken
könnte.
"Ich, äh,
w-weiß nicht, Sir",
begann er und
sah zu Sillybos. "I-Ich
habe halt angefangen zu unterstreichen...." Er
sagte diesen Satz sehr langsam, weil er
hoffte, Sillybos
würde ihn unterbrechen und er
würde nicht weiterreden müssen. Doch der Philosoph
schwieg. Auch Thymian
sprach nicht weiter und
schaute wieder zu Boden.
"
Was zu unterstreichen?"
fragte Sillybos nach einer endlosen Pause.
Thymian
vergaß fast zu atmen. "I-Ich... ich
weiß nicht, Sir." Er
atmete tief durch und
erwartete die Dinge, die nun kommen
würden. Er
ließ das Stück Kreide fallen.
Sillybos
überlegte, wie er nun weiter vorgehen würde. Er
fühlte sich von dem Obergefreiten regelrecht
veralbert, weil dieser seine Anweisungen vorsätzlich und auf geradezu infame Weise missachtet
hatte. Wobei der Ausbilder zugeben
musste, dass Thymian Pech es
verstand, das Unschuldslamm zu spielen. Damit sich die Rekruten kein Beispiel an dem Obergefreiten
nahmen,
müsste Sillybos ihn eigentlich bestrafen, aber das
wollte er nicht. Da
kam Sillybos auf einmal ein anderer Gedanke.
Wäre es vielleicht auch möglich, dass es gar keine Absicht
war? Dass Thymian es einfach nicht besser
wusste? Seine Körperhaltung
würde zumindest dafür sprechen. Aber im Moment
hatte Sillybos keine Zeit, sich darüber weiter Gedanken zu machen. Er
hatte einen Unterricht zu leiten.
"
Setz dich wieder, Obergefreiter. Am Ende der Stunde
kommst du noch mal zu mir, ja?"
"Ja, Sir",
antwortete Thymian und
ging wieder auf seinen Platz. Sillybos
schaute ihm nach und
blickte dann zur Uhr. Schnell drehte er sich zur Tafel um,
wischte Thymians falsche Unterstreichungen weg und
markierte die richtigen Wörter.
"Wir haben nur noch wenig Zeit",
verkündete Sillybos, "also
müssen wir uns etwas beeilen. Wie ich eingangs gesagt
habe,
gibt es zwei verschiedene Arten von Sätzen, Haupt- und Nebensätze, die durch Satzzeichen voneinander getrennt
werden.
Schauen wir uns zunächst die Hauptsätze an. Man
erkennt einen Hauptsatz daran, dass das Prädikat (also die Wörter, die unterstrichen sind) an erster oder zweiter Stelle des Satzes
steht. Kann mir jemand einen Hauptsatz an unserem Beispiel an der Tafel
zeigen? Rekrut Ortbe?"
"Ähm,
'erinnere ich dich erneut daran'?"
"Sehr gut, Rekrut",
sagte Sillybos. "So
sieht ein Hauptsatz aus. Bei den Nebensätzen hingegen
steht das Prädikat stets an letzter Stelle, wie beim ersten Satz 'obwohl mir unsere kritische Haushaltslage durchaus bewusst
ist'. In der Regel
werden Nebensätze mit einem speziellen Wort
eingeleitet, in diesem Fall mit 'obwohl'. Je nachdem, was dieses Wort
bedeutet,
teilt man die Nebensätze in bestimmte Klassen ein. Nebensätze, die mit 'obwohl'
beginnen, heißen
Einräumungssätze, weil das Wort 'obwohl' eine Bemerkung
einräumt."
Sillybos
merkte, wie nach und nach mehr und mehr Rekruten
abschalteten, aber darauf
konnte er gerade keine Rücksicht nehmen. Solange sie den Unterricht nicht
behinderten, sondern sich lediglich ruhig mit anderen Sachen
beschäftigten,
störten sie ihn nicht, und so ließ er sie
gewähren. Er
freute sich, dass zumindest einige Rekruten
mitarbeiteten, aber zugleich
ärgerte er sich auch darüber, dass er seine Ansprüche in der bisherigen Unterrichtszeit sinken lassen
musste.
"Das Besondere an diesen Worten
ist, dass sie immer einen Nebensatz
ankündigen. Also jedes Mal, wenn ihr ein solches Wort
lest,
wisst ihr, dass ihr es mit einem Nebensatz zu tun
habt, und
könnt dann entsprechende Folgerungen für die Satzzeichen ziehen, die ihr zu setzen
habt. Ich
schlage vor, ich
markiere solche Einräumungssätze an der Tafel mit einer besonderen Farbe – " Er
prüfte die verschiedenen Kreidestücke. "
Nehmen wir mal grün für die Einräumungssätze."
Der Ausbilder
nahm ein Stück grüner Kreide und
unterstrich den ersten Satz. Dabei überschrieb er sozusagen die Linie unter dem Prädikat, aber er hoffte, die Rekruten würden inzwischen wissen, was ein Prädikat ist und wozu es gut ist, und so verzichtete er auf eine weitere besondere Markierung des Prädikats.
Obwohl diese Verdeutlichung mit den Farben eigentlich nicht seinen Vorstellungen von Unterricht entsprach, schien es bei den Rekruten zu wirken. Aufmerksam beobachteten die Rekruten das Geschehen an der Tafel, zumindest die, die noch zuhörten.
"Dann gibt es noch die
Folgesätze, die ich blau kennzeichnen werde. Ein Folgesatz besagt,
dass auf eine Handlung eine andere Handlung folgt, darum nennt man sie in der alten Sprache auch Konsekutivsätze. Dann gibt es noch die
Grundsätze, für die nehmen wir – welche Farbe haben wir noch nicht? – für die nehmen wir gelb. Grundsätze geben den Grund für eine Handlung an..." Sillybos stand vor der Tafel und suchte nach einem solchen Satz. "Ich merke gerade,
dass es in diesem Text gar keinen Grundsatz gibt. Aber 'Der Rekrut wurde bestraft,
weil er im Unterricht nicht aufpasste' wäre so ein Beispiel. Dann gibt es noch die Zeitsätze; diese beschreiben einen zeitlichen Zusammenhang." Sillybos schrieb die einzelnen Nebensatzarten neben den Text an die Tafel,
während er vortrug. "Schließlich gibt es noch die Absichtssätze, die inhaltlich eng mit den Grundsätzen zusammenhängen, und die Bedingungssätze, die eine Bedingung beschreiben, in unserem Text haben wir '
auch wenn du selbst da vielleicht nicht hingehst'."
Sillybos schaute zur Uhr. Es war nun wirklich höchste Eisenbahn. Er ging einen Schritt in die Klasse hinein und drehte sich zur Tafel um,
damit er einen Überblick bekam. Welche Satzarten fehlten noch? Schnell ging Sillybos den Rest gedanklich durch.
Nachdem Sillybos noch die Frage- und Modalsätze erklärt und mit jeweils einer eigenen Farbe versehen hatte, hatte er noch drei farbige Kreidestücke zur Verfügung. Die ganze Spielerei mit den Farben kostete zwar eine Menge Zeit, aber der Ausbilder musste zugeben,
dass er eine Menge Spaß dabei hatte. Es war ein merkwürdiges Gefühl für den Philosophen.
"Zum Schluss kommen wir zu den Relativsätzen", fuhr Sillybos fort. "Das sind Nebensätze,
die sich auf ein bestimmtes Wort des vorangehenden Satzes beziehen. Ich markiere sie orange." Er tat es. "Damit hätten wir die wichtigsten Nebensätze aufgelistet, es gibt zwar noch ein paar weitere, aber die sind für uns im Moment nicht von Belang. Schauen wir uns nun an,
wie die Sätze miteinander verbunden sind: wir haben Kommata und Punkte. Ein Punkt ist wesentlich stärker als ein Komma, er bedeutet einen richtigen gedanklichen Abschluss,
während ein Komma (oder auch ein Doppelpunkt) nur eine Art Zwischenstopp darstellt. Die Sätze, die zwischen zwei Punkten stehen und lediglich durch ein Komma getrennt sind, gehören also zusammen und bilden ein
Satzgefüge. Bei der Betrachtung eines solchen Satzgefüges kommen wir zum wichtigsten Unterschied zwischen Haupt- und Nebensätzen: ein Satzgefüge enthält immer mindestens einen Hauptsatz. Das bedeutet also,
dass ein Hauptsatz sozusagen alleine stehen kann,
während ein Nebensatz immer von einem anderen Satz abhängt."
"Aber 'erinnere ich dich erneut daran' kann doch nicht alleine stehen, oder Sir? Höchstens als Frage", meinte ein Rekrut.
"Das ist richtig, normalerweise steht das Prädikat in Hauptsätzen an zweiter Stelle, nur bei Fragen (die auch Hauptsätze sind) an erster Stelle. In diesem Fall allerdings steht ein Nebensatz davor, und der zählt sozusagen mit. Der Nebensatz steht an erster Stelle, das Prädikat an zweiter."
"Aber Sir, bei vielen Hauptsätzen steht das Prädidingsbums gar nicht an zweiter Stelle, sondern erst an vierter oder fünfter."
Diese Bemerkung hatte Sillybos befürchtet.
Schon als er die Sache vorhin erklärt hatte, wusste er,
dass er für eine solche Definition noch eine ganze Menge anderer Sachen erklären müsste. Er konnte aber jetzt nicht ausführlich antworten.
"Nun, die zweite Stelle bezieht sich nicht unbedingt nur auf das zweite Wort, vielmehr ist damit der zweite inhaltliche Block gemeint. Ich kann das aus Zeitgründen im Moment nicht weiter erklären, nur soviel: man teilt einen Satz in inhaltliche Blöcke ein,
die Informationen darüber enthalten,
wer etwas tut und was geschieht. Und oftmals werden auch noch Informationen vermittelt,
wo und wann etwas geschehen ist. Wir haben uns heute nur mit der Frage beschäftigt,
was geschieht. Und mit zweiter Stelle ist gemeint,
dass das Prädikat der zweite Block in einem Satz ist."
Der Rekrut schaute seinen Ausbilder fragend an. Er hatte offensichtlich kein Wort verstanden.
"Wie dem auch sei", meinte Sillybos, "jetzt möchte ich noch kurz auf einige kleine Gemeinheiten bei der Zeichensetzung hinweisen,
die sich in erster Linie auf die Kommata beziehen. Man setzt Kommata nämlich nicht nur, um Sätze voneinander zu trennen, sondern auch, um generelle gedankliche Inhalte miteinander zu verbinden und auch zu trennen. Zum Beispiel wird bei einer Aufzählung jedes Element,
das aufgezählt wird, durch ein Komma abgetrennt,
wobei auch hier ein Element aus mehreren Worten bestehen kann. Oder auch die vorhin erwähnte die Grundform eines Tu-Wortes mit dem Wörtchen
'zu' kann man mit einem Komma abtrennen, man nennt diese Konstruktion 'erweiterte Grundform mit
zu'. Ich sage 'man kann es abtrennen',
weil man es nicht machen muss. Ich mache es trotzdem,
weil ich finde,
dass es dem Satz mehr Struktur verleiht." Der Philosoph hatte sich noch eine Farbe aufgehoben. "Und es gibt auch noch eine Möglichkeit,
die Kommasetzung zu reduzieren,
indem man nämlich statt eines Kommas einfach das Wort 'und' schreibt. Aber aufgepasst, das geht nicht in allen Fällen, sondern nur bei gleichwertigen Sätzen, also bei zwei Nebensätzen oder zwei Hauptsätzen. In einer Aufzählung kann man übrigens auch Kommata durch 'und' oder auch 'oder' ersetzen, je nachdem,
wie 's passt. Dazu gibt es einen Merksatz: '
und verbindet Gleichwertiges'.
"Gibt es denn noch mehr Regeln,
an die man sich nicht halten muss, Sir?" kam eine Frage auf.
Sillybos lächelte. "Als Wächter sollte man stets wissen,
was erlaubt ist und was nicht. Das gilt sowohl für Gesetze als auch für Rechtschreibregeln. Ich gestehe,
dass ich selbst nicht alle Regeln kenne, und das,
was ich euch heute erklärt habe, ist ja auch nur die Spitze des Eisberges. Die Regeln sind insgesamt recht verworren, und ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht,
welche Regeln nun verbindlich sind und welche nicht. Aber ich weiß,
dass es Regeln sind. Viele vertrauen darauf,
bei der Zeichensetzung sozusagen nach Gefühl vorzugehen,
indem sie nämlich bei jedem gedanklichen Schritt ein Komma setzen. Ich halte davon wenig,
weil diese gedanklichen Schritte unterschiedlich groß ausfallen, und schon wird 's uneinheitlich.
Wenn wir schon Kommaregeln haben, sollten wir sie auch befolgen,
und bevor wir unsere eigenen Regeln erfinden, müssten die anderen erst einmal abgeschafft werden. Aus stilistischen Gründen sind aber die verschiedensten Satzkonstruktionen möglich: man kann Einschübe einbauen, Sätze verschachteln, Wörter absichtlich weglassen und so weiter. Daher ist es nicht immer möglich,
eine genaue Regel zu finden,
die auf die jeweilige Situation passt.
Und wenn euch keine entsprechende Regel einfällt und ihr euch bei euren Berichten nicht sicher seid,
ob an einer bestimmten Stelle ein Komma stehen sollte oder nicht, könnt ihr mich jederzeit fragen, mein Büro ist die vierte Tür rechts im Gang.
Falls ich auch keine weiß, müsst ihr euch an einen Offizier wenden, die wissen sowieso immer Bescheid. Oder aber,
wenn ihr darauf keine Lust habt, schreibt es nach Gefühl und lasst euch im Nachhinein verbessern, es wird euch dafür schon niemand den Kopf abreißen."
Der Ausbilder schaute zur Uhr. Noch fünf Minuten. Er hatte einen schönen Abschluss gefunden und rechtzeitig ein Resümee gezogen. Die Stunde ging zwar wesentlich schneller rum als erwartet, aber es blieb noch Zeit für die andere Sache,
die er nicht unter den Tisch fallen lassen wollte.
"So, zum Schluss widmen wir uns noch ein wenig der Rechtschreibung von einzelnen Wörtern. Dazu hat mir mein Sklave Hegelkant dieses Buch mitgebracht." Er ging zum Pult und hob den TUTEN hoch. "Hier stehen alle Wörter unserer Sprache in ihrer richtigen Schreibung in alphabetischer Reihenfolge drin. Ich gebe es mal rum, dann könnt ihr mal drin stöbern." Der Philosoph legte es dem Rekruten vorne links auf den Tisch,
der (also der Rekrut) sofort begann,
aufgeregt darin zu blättern. Ab und an kicherte er.
"Was ist denn so lustig?" fragte der Philosoph.
"Nichts, Sir, hier stehen nur so ulkige Wörter drin."
"Ach ja? Lies mal ein paar 'ulkige Wörter' vor."
"Hier steht zum Beispiel: 'Eichhörncheneid'", las der Rekrut vor.
"Was ist denn das für ein unsinniges Wort? Das steht wirklich da drin?" fragte Sillybos.
"Ja, Sir, hier steht es. Oder hier: 'Dackelsaft'.
"Diese Worte machen überhaupt keinen Sinn", sagte der Lance-Korporal. "Sie sind totaler Blödsinn."
"Die hat sich bestimmt jemand ausgedacht,
um uns arme Wächter zu ärgern,
wenn wir Berichte schreiben müssen, Sir."
Sillybos lachte. "Ha, na ja, zum Glück kann euch niemand zwingen,
in euren Berichten dieses oder jenes Wort zu verwenden. Zumal es keinen Sinn hat,
wenn niemand weiß,
was dieses Wort denn überhaupt bedeutet. Aber es sind gute Beispiele dafür,
dass es jede Menge überflüssige und sinnlose Wörter in unserer Sprache gibt.
"Gibt es denn viele solcher sinnloser Wörter, Sir?"
"In dem Buch ganz bestimmt", meinte Sillybos. "Lasst das Buch mal rumgehen und jeder schlägt eine x-beliebige Seite auf und sucht dort ein komplett sinnloses Wort." Er wollte sich und den Rekruten zum Abschluss noch ein bisschen Spaß gönnen, unter anderem auch,
damit ihr Eindruck von dem Unterricht kein ganz schlechter war. Es ist nicht der erste Eindruck,
der zählt, sondern der letzte.
"Käsemobile", las der nächste Rekrut.
"Oder das hier: Todessymphonie", fand der nächste.
"Ähm, Öl...teppich...auffang...netz", las jemand,
der Schwierigkeiten mit dem langen Wort hatte.
"Kunstturmattrappe", war ein weiteres Beispiel.
"Oder Ankhschlamm-Wetttrinken. Ist ja ekelhaft."
Das Buch gelangte nun zu Hegelkant. Der hatte sich über die ganzen Beispiele köstlich amüsiert (und hatte noch immer ein breites Grinsen im Gesicht), aber er hielt es für angebracht,
sich selbst zurückzuhalten. Er gab das Buch an seinen rechten Sitznachbarn weiter. Dieser war ebenfalls kein Rekrut mehr, sondern Anwerber bei der Abteilung RUM.
Alle im Raum sahen ihn an: alle Rekruten, alle Ausbilder, alle Sklaven. Die Rekruten schauten fröhlich, neugierig und erwartungsvoll. Der Ausbilder schaute nachdenklich und ein bisschen skeptisch. Der Sklave schaute nur und grinste.
Thymians Kopf sah aus wie eine Tomate. Eine reife Tomate. Und eine saftige Tomate mit großen Poren,
aus denen überschüssiger Saft tropfte.
So in etwa fühlte Thymian sich auch.
Das Buch lag vor ihm. Was für Optionen hatte er? Ein beliebiges Wort sagen und hoffen,
dass es auf der aufgeschlagenen Seite steht? Lieber nicht, der Sklave saß neben ihm. Schnell aufstehen und weglaufen? Macht vermutlich auch keinen guten Eindruck.
"Warum solltest du das tun? Du brauchst einfach nur ein Wort vorlesen, mehr verlangt mein Herr gar nicht", sagte eine Stimme neben ihm. Erschrocken sah der Obergefreite Hegelkant an. Er hatte alles gehört...
"Nimm doch zum Beispiel das Wort hier", sagte Hegelkant fröhlich. "Anfängerkochbuch. Das finde ich lustig."
Thymian schaute Hegelkant erstaunt an. "Äh, Anfängerkochbuch?"
"Ja", antwortete Hegelkant. "Wie man bloß ein ganzes Buch darüber schreiben kann, wie man mit dem Kochen anfängt? Man macht einfach den Herd an, stellt einen Topf rauf, nimmt sich ein Rezept und die Zutaten und los geht's. Ein ganzes Buch darüber ist sinnlos." Der Sklave grinste breit.
Thymian war froh,
dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit nun wieder auf Hegelkant richtete.
***
Der Unterricht war vorbei. Sillybos saß an seinem Pult und sah zufrieden den Rekruten nach, wie sie relativ munter und gut gelaunt den Raum verließen.
Nicht der erste, sondern der letzte Eindruck ist entscheidend, dachte sich der Philosoph nickend.
Nachdem der letzte Rekrut gegangen war, stand Sillybos auf und schaute sich um. Thymian Pech war noch da, er erhob sich gerade von seinem Stuhl und packte seinen Notizblock ein. Und Hegelkant war noch da, der Sklave hatte den TUTEN in die Hand genommen und war bereits auf dem Weg zum Pult.
"Ihr Buch, Herr."
"Danke, Hegelkant. Bring es doch bitte in mein Büro und warte dort auf mich. Ich möchte nachher noch mit dir über den Unterricht sprechen."
"In Ordnung, Herr", sagte der Sklave und verließ den Raum.
Sillybos nahm den Tafellappen zur Hand und begann die Tafel zu wischen.
Doch gleich darauf drehte er sich um und schaute zu Thymian. Dieser stand noch immer hinter seinem Tisch und wusste offenbar nicht so recht, was er machen sollte.
"Obergefreiter Pech?"
"Äh, ja, Sir?"
"Was stehst du da hinten? Ich wollte noch etwas mit dir besprechen."
"Ja, Sir, ich... ich wollte Sie nur nicht stören." Thymian ging langsam zum Pult. Sillybos drehte sich zur Tafel um und wischte.
"Was war denn das vorhin für eine Aktion an der Tafel, Obergefreiter?" fragte der Lance-Korporal.
"I-Ich weiß auch nicht, Sir. Ich dachte... ich meine... ", stammelte der junge Mann.
"Ich habe dich an die Tafel geholt, damit du recht zügig die von mir geforderte Aufgabe erledigst...", begann Sillybos
"Ja, Sir. Das weiß ich, Sir." Thymian war froh, dass der Ausbilder im Moment keinen großen Wert auf Augenkontakt legte.
"Ich meine", fuhr der Ausbilder fort, "ich habe nichts gegen ein bisschen Spaß in meinem Unterricht..."
"Sir?"
"Nun, Obergefreiter, wenn deine falschen Unterstreichungen an der Tafel vorhin ein Spaß sein sollte, muss ich dir leider sagen, dass dir dafür ein bisschen der Instinkt fehlt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass irgend jemand im Raum das lustig fand. Nicht einmal du selbst."
"Nun ja, Sir, es ist nicht leicht, andere Leute zum Lachen zu bringen...", sagte Thymian kleinlaut.
Sillybos drehte sich um. "Andererseits... wenn es jedoch kein Spaß sein sollte..." Er hielt inne und schaute Thymian in die Augen. Thymian schaute schnell weg, aber Sillybos konnte noch so etwas wie Angst in ihnen erkennen. Sillybos drehte sich wieder zur Tafel um. Er überlegte kurz und fasste einen Entschluss.
"Ich weiß nicht, ob die Sache von dir als Spaß gemeint war oder nicht. Aber es ist auch nicht meine Aufgabe, dies zu wissen. Du hast dich freiwillig in meinen Unterricht begeben, und das freut mich." Er nahm ein Stück Kreide und schrieb etwas auf die Tafel. Dann drehte sich wieder zu Thymian um, mit freundlichen Augen und einem Lächeln auf den Lippen. "Wenn ich an unser Pausengespräch denke, hoffe ich, dass du den Unterricht nicht allzu langweilig fandest und es dir vielleicht sogar ein bisschen Spaß gemacht hat. Dein Ehrgeiz ist lobenswert, Obergefreiter, in dieser Hinsicht bist du ein Vorbild für alle Rekruten."
In dieser Hinsicht? fragte sich Thymian und prüfte den Satz auf eine Zweideutigkeit.
"Wie dem auch sei", meinte Sillybos, "ich wünsche dir für deine weitere Wächterkarriere alles Gute! Du hast sicher noch eine Menge zu tun, wie ich auch. Ich will dich nicht aufhalten."
"Ja, Sir. Danke, Sir." Thymian wandte sich zum Gehen.
"Ach, Obergefreiter?" fragte Sillybos, als Thymian schon fast an der Tür war.
Das Herz des Anwerbers pochte wieder etwas schneller. Er drehte sich zum Pult um. "Ja, Sir?"
"Ich habe einen Satz an die Tafel geschrieben. Ich möchte, dass du ihn dir zu Herzen nimmst."
Thymian schaute zur Tafel. Einige Wörter standen dort.
"Ich werde ihn mir zu Herzen nehmen, Sir", sagte er.
Nachdem Thymian Pech gegangen war und Sillybos seinen Ordner gepackt hatte, ging der Ausbilder noch ein bisschen im Raum umher. Erst jetzt fiel ihm auf, wie verbraucht die Luft doch ist, er musste lüften.
Am offenen Fenster lehnte er sich zurück und schaute zur Tafel. Er las den Satz, den er geschrieben hatte. Er dachte an Thymian Pech. Entweder hatte der Obergefreite keinen Humor, oder er hatte allen Grund, keinen Humor zu haben.
Auf der Tafel stand: Wer nicht Lesen kann, muss fühlen.
Sillybos ging zum Pult und prüfte, ob er alles eingepackt hatte. Zuerst musste er zu Rina zur Nachbesprechung. Sie legte großen Wert darauf, dass die Eindrücke, die er selbst hatte, noch frisch waren. Er nahm den Ordner unter den Arm und verließ den Raum.
Beim Hinausgehen bemerkte er, dass einer der Rekruten etwas auf einen Tisch gekritzelt hatte. Er versuchte, sich zu erinnern, wer dort saß. Normalerweise interessierte ihn das nicht weiter, aber in diesem Fall handelte es sich nicht um das typische Geschmiere, sondern um einen konkreten Satz. Auf dem Tisch stand: "Wie schlägt man ein Wort im Wörterbuch nach, wenn man nicht weiß, wie es geschrieben wird?" Sillybos schmunzelte. Zumindest ein Rekrut hatte verstanden, um was es bei der ganzen Sache ging.
***
Langsam trottete Sillybos mit dem Ordner unter dem Arm zum Büro von Leutnant Lanfear. Er war müde. Die schlechte Luft in dem Raum, die teilweise recht anstrengenden Rekruten gingen ganz schön auf die Substanz. Er freute sich bereits auf sein Bad heute Abend. Es überraschte ihn, dass das Gefühl der Müdigkeit erst jetzt aufkam, als er wieder einigermaßen frische Luft atmete und zudem durch die Bewegung auch seinen Kreislauf wieder in Gang brachte. Vor dem Büro der Ausbildungsleiterin stoppte er und wog den Ordner in seiner Hand.
"Herein", erklang Rinas Stimme aus ihrem Büro, nachdem der Philosoph geklopft hatte.
Sillybos trat ein und salutierte.
Die Ausbildungsleiterin erhob sich aus ihrem Drehstuhl, salutierte ebenfalls und lächelte. "Du siehst ja ganz schön fertig aus. War's so schlimm?" Sie bot Sillybos den Sessel vor ihrem Schreibtisch an und setzte sich wieder.
"Schlimm würde ich nicht unbedingt sagen", antwortete der alte Mann und ließ sich in den Sessel fallen. "Aber anstrengend."
"Wenn ich nicht wüsste, dass du keinen Kaffee trinkst, würde ich dir welchen anbieten", meinte Rina und schenkte sich noch eine Tasse ein. "Möchtest du sonst irgendwas?"
"Eine Badewanne mit heißem Wasser, darüber würde ich mich freuen."
"Ja, ja, du hast ja gleich Feierabend", schmunzelte der Leutnant. "Aber lass uns vorher noch über den Unterricht reden, solange die Eindrücke noch frisch sind." Sie schaute auf einen Zettel, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. "Ich habe hier einige Punkte notiert, die ich mit dir besprechen will. Die gehen wir aber später durch, zunächst will ich von dir einen kurzen, zusammenfassenden Eindruck von der Unterrichtsstunde haben." Sie schaute Sillybos erwartungsvoll an.
Der Philosoph ließ die zwei Stunden in seinem Kopf Revue passieren und kraulte seinen Bart. "Das ist nicht leicht", meinte er, "es gibt viele Eindrücke, und sie sind zur schwer zusammenzufassen. Darum will ich dir nur kurz vom chronologischen Ablauf berichten, dann kannst du vielleicht spezifischere Fragen stellen."
Der Leutnant nickte.
"Also, ich begann mit der Überprüfung der Anwesenheit und erklärte den Rekruten dann grundlegend, worum es in dem Unterricht gehen soll. Doch schon bei der kurzen Einführung fiel mir auf, dass ich zu viele Vorkenntnisse seitens der Rekruten voraussetzte, denen sie größtenteils nicht gerecht werden konnten. Es hätte meiner Meinung nach also nichts gebracht, über die einzelnen Facetten der Berichterstattung zu unterrichten,
wo die Rekruten doch nicht mal die grundlegendsten Regeln der Orthografie beherrschen." Den letzten Nebensatz betonte der Ausbilder nachdrücklich. "Also beschloss ich, den Unterricht umzustellen und Orthografie zu lehren. Ich begann ganz vorne, bei den Wörtern. Ich verteilte den Beispieltext aus dem Ordner und besprach die meisten der weiteren Unterrichtsinhalte an Hand dieses Beispiels. Ich erläuterte dann die Zeitformen, die Wortarten, die besondere Funktion des Prädikats in einem Satz und ging so zum Satzbau über. Am Ende erklärte ich ihnen noch den Umgang mit dem TUTEN." Er überlegte kurz. "Das war der Ablauf im Groben."
Rina hatte sich ein paar Notizen gemacht und blickte nun zu Sillybos. "Gut. Ich gehe jetzt erst mal die allgemeinen Fragen durch, und danach besprechen wir konkrete Einzelheiten zum Unterricht." Sie schaute wieder auf ihren Zettel. "War der Raum in Ordnung?"
"Von der Größe her ja. Helle, wenn auch schmutzige Fenster, die Tafel war angenehm groß und bot viel Platz, es waren auch genügend Tische und Stühle vorhanden. Allerdings könnte der Raum öfters mal gelüftet werden."
"Damit die wunderbar frische und aromatisch duftende Stadtluft von Ankh-Morpork durch unsere Gemäuer weht?"
"An jenen Gestank hat man sich zumindest gewöhnt, aber die Luft in dem Raum ist bei einer so großen Gruppe wirklich schnell verbraucht."
Rina notierte sich etwas.
"Wie war die Ausstattung mit Unterrichtsmaterialien? Alles Nötige ausreichend vorhanden?"
"Das war in Ordnung", antwortete der Ausbilder. "Kreide war reichlich vorhanden, in allerhand bunten Farben. Und aus dem Ordner – " Bei der Gelegenheit hob er die schwere Mappe mit leisem Ächzen an und ließ sie auf den Schreibtisch plumpsen. "Aus dem Ordner benötigte ich nur das Textbeispiel von Daemon. Wobei ich noch erwähnen wollte, dass man eventuell ein hygienisch ansprechenderes Beispiel finden könnte." Er sagte dies mit einem Schmunzeln.
"Wieso, was ist denn das für ein Text?" fragte Rina.
"Konkret geht es um einen Kostenvorschlag für eine Renovierung im Wachhaus."
"Und was ist daran 'unhygienisch'?"
"Das zu sanierende Objekt. Der Abort."
Jetzt dämmerte Rina etwas. "Ah, ich verstehe. Dieser Witzbold hat den Text doch tatsächlich als Beispiel in den Ordner gelegt. Wenn er meint, er würde so schneller bekommen, was er will, wird er sich aber wundern. Darüber werde ich noch mit ihm sprechen müssen." Sie schaute kurz zur Seite und schien über etwas nachzudenken. "Gut, aber das soll uns hier im Moment nicht beschäftigen." Sie schaute wieder auf ihren Zettel. "Meine zunächst letzte Frage: reichte die Zeit aus, um die geforderten Inhalte zu vermitteln?"
"Keineswegs. Zu den geforderten Inhalten bin ich ja überhaupt nicht gekommen."
"Ja, das hattest du angedeutet", meinte die Ausbildungsleiterin und notierte sich was. Dann legte sie den Zettel beiseite und beugte sich vor. "Lass uns da etwas näher drauf eingehen: Wie sieht's aus mit den Kenntnissen der Rekruten?"
"Teilweise ist die orthografische Situation bei den Rekruten katastrophal", antwortete der Philosoph. "Teilweise, muss ich betonen, nicht bei allen. Aber die Entdeckung hat mich schon etwas schockiert."
"Und als du das bemerkt hast, was hast du dann gemacht?"
"Ich hielt es für nicht möglich, dass ein Wächter ohne Kenntnisse der Rechtschreibung die Ausbildung besteht. Also begann ich, ihnen das Wichtigste darüber beizubringen. Wobei die Zeit natürlich überhaupt nicht ausreichte und es letzten Endes wohl nur ein Tropfen auf den heißen Stein war."
Rina lehnte sich zurück und überlegte. "Ich muss gestehen: ich habe diesen Gedanken bisher immer verdrängt. Wenn ich mal ab und zu einen Bericht von einem Rekruten bekomme und der übersät mit grammatikalischen Fehlern ist, dann dachte ich mir, das bekommt der schon noch hin, bis er Gefreiter wird."
"Ohne dir zu Nahe treten zu wollen", meinte Sillybos, "aber
du bist diejenige, die den Ausbildungsplan erstellt."
"Ja, aber das Problem erschien mir als zu vage, zu unsicher, als dass ich mich eingehend damit beschäftigen wollte. Bis ich dann von Rince die Meldung bekam, dass ich doch bei der Ausbildung mehr Gewicht auf die Berichterstattung legen soll."
"Es spricht zumindest für ihn, dass er das mit den mangelhaften Berichten bemerkt hat."
Rina lächelte. "Unter uns: ich glaube gar nicht, dass ihm das aufgefallen ist. Ich nehme eher an, dass sich da gewisse Abteilungsleiter bei ihm beschwert haben."
"Wobei uns das auch ziemlich egal sein dürfte", meinte Sillybos. "Der Befehl kam vom Chef und wir müssen ihn befolgen."
"Aber was soll ich den Rekruten denn noch alles beibringen?" klagte Rina und holte ein Blatt Papier aus einer Schublade hervor. "Das hier ist der Ausbildungsplan. Es steht alles drin, Festnahme, Nahkampf, Grundzüge der Spurensicherung, Gilden, Umgang mit Schwertern, Verdeckte Ermittlung, Verkehrskontrollen, Kneipenschlägereien, Verfolgungsjagden..." Rina seufzte. "Es ist so schon kaum zu schaffen. Wir machen ja jetzt schon überall Abstriche. Wenn jetzt noch Theorie hinzukommt..." Rina sprach nicht weiter, denn sie hoffte, Sillybos würde verstehen.
"Hm", machte Sillybos. "Auch wenn ich als eher theoretisch orientierter Wächter das vielleicht etwas einseitig sehe, so denke ich doch, dass die Fähigkeit, einen vernünftigen Bericht zu schreiben, wichtiger ist als zum Beispiel das Verhalten bei Kneipenschlägereien. Zumindest was die Ausbildung zu einem Wächter der Stadtwache betrifft."
"Ich sehe ja auch ein, dass Theorie wichtig ist", gab Rina zu und schaute weiter auf ihren Plan. "Aber wo soll ich sie unterbringen? Ich müsste irgendwas rausschmeißen. Wenn ich die Gilden weglasse, beschwert sich DOG, wenn ich die Verkehrskontrollen weglasse, beschwert sich SEALS, bei der Spurensicherung SUSI..."
"... und wenn du das Schreiben von Berichten weglässt, beschweren sich alle." Sillybos dachte an den Unterricht. "Das Schreiben von Berichten ist meiner Meinung nach wirklich
grundlegend für die Arbeit eines Wächters. Andererseits habe ich noch nie an einer Kneipenschlägerei teilgenommen, und mit einem Schwert kann ich auch nicht wirklich umgehen."
"Hm." Rina schaute zu Sillybos und trank einen Schluck Kaffee. "Was denkst du, wie viele Unterrichtsstunden würden wir brauchen?"
Der Philosoph kraulte seinen Bart. "O je, schwer zu sagen. Bei den Härtefällen eine ganze Menge. Durchschnittlich würde ich für eine gute Berichterstattung mit allen Feinheiten so..." Er neigte den Kopf zur Seite und schien zu rechnen. "... 20 Stunden, vier Stunden die Woche, fünf Wochen lang."
"
Zwanzig Stunden?" rief Rina. "Das ist unmöglich!"
"Eine vernünftige Ausbildung braucht seine Zeit", behauptete Sillybos. "Ich meine, ich habe während meiner Ausbildung gerade mal zwei Stunden Schwertunterricht gehabt, heute kann ich praktisch nichts mehr davon. Aber ich brauche es auch nicht. Berichte schreiben muss jeder können, und zwar von Anfang an. Und es gibt beim Schreiben von Berichten viel zu beachten, zum Beispiel, dass man stets einen vollständigen Bericht abgibt, keine halben Sachen, dass man nicht zu knapp schreibt, wichtige Aspekte klar herausarbeitet und nicht nur so eben in einem Nebensatz unterbringt und so weiter. All das habe ich heute nicht einmal
ansatzweise ansprechen können. Lediglich die Verwendung von Fußnoten war das einzige Thema, das sich nicht mit Rechtschreibung beschäftigte."
"Du kennst den Ausbildungsplan", sagte Rina, trank und stellte die Tasse ab. "Was wäre denn dein Vorschlag dazu?"
"Ich frage mich, warum zum Beispiel die Grundzüge der Spurensicherung in der Grundausbildung gelehrt werden. Ich bin selbst Spurensicherer und die Kenntnisse aus der Grundausbildung waren im Prinzip überflüssig, weil ich danach bei SUSI sowieso eine ausführlichere Ausbildung zum Spurensicherer erhalten habe. Gleiches gilt für die Verkehrskontrollen, die verdeckten Ermittlungen... Das sind alles kleine zwei- oder vierstündige Unterrichtseinheiten, die meiner Meinung nach nichts bringen. Die könnten wir alle rausstreichen und sie summieren sich. Dann hätten wir wieder Platz im Ausbildungsplan."
"Mein lieber Sillybos", sagte Rina ernst. "Es geht bei GRUND nicht nur darum, Wächter auszubilden, die perfekt lesen und schreiben können. Wir sollen auch – und es geht sogar in erster Linie darum – die Rekruten auf ihr späteres Leben als Wächter vorbereiten. Und die Aufgaben eines Wächters bestehen nun mal nicht nur darin, ordentliche Berichte zu schreiben, auch wenn du das anders siehst, ich habe deinen Aufsatz darüber gelesen. Da sich die Rekruten nach der Ausbildung für eine Abteilung entscheiden müssen, wollen wir den Rekruten auch zeigen, was in den einzelnen Abteilungen für Arbeit geleistet wird."
"Wo am meisten Kaffee getrunken wird?"
"Sei nicht so zynisch", sagte Rina und schenkte sich eine neue Tasse ein.
"Ich habe die Entscheidung nicht zu treffen", meinte Sillybos. "Ich habe dir nur meine Sicht der Dinge erklärt. Und ich möchte dich zudem darauf hinweisen, dass auch noch eine gewisse Anstrengung aufgewendet werden muss, die Ausbilder selbst in den theoretischen Inhalten zu schulen. Ich selbst habe während des Unterrichts mehr als einmal gemerkt, dass ich mir bei vielen Sachverhalten nicht sicher war."
"Auch das noch", stöhnte Rina. "Woher soll ich nur immer die Zeit und das Geld nehmen? So ein Aufwand nur wegen so ein paar Berichten?"
Sillybos sah Rina mit ernster Miene an. "Du kennst meine Einstellung dazu."
"Ich sehe ja ein, dass es wichtig ist, dass Rekruten Berichte schreiben können. Aber wenn die Situation so aussieht, wie du es beschreibst, dann ist es eine verdammt schwere Aufgabe und fast nicht zu bewältigen."
"Vielleicht würden auch achtzehn oder sechzehn Stunden reichen", meinte der Lance-Korporal.
"Ich biete maximal vier", antwortete Rina.
"Hm", überlegte der Philosoph. "Wenn wir weniger Zeit für die Ausbildung zur Verfügung haben, sollten wir vielleicht überlegen, ob wir die Einstellungskriterien für Wächter nicht etwas höher ansetzen."
"Das hat Daemon heute morgen auch schon vorgeschlagen. Das ist aber ein politisch heikles Unterfangen, schon alleine deswegen, weil dann der Trollanteil in der Wache stark zurück gehen würde. Bevor wir uns auf solche Diskussionen mit Rince und dem Patrizier einlassen, sollten wir es lieber erst einmal so versuchen."
Sillybos schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. "Wie du meinst. Aber ich versichere dir, dass du bei vier Stunden Unterricht keine großen Erfolge erwarten darfst. Ich kann dir nur meinen Rat geben, alles Weitere liegt bei dir."
"Ich denke, ich werde noch mal mit Rince reden, wie er sich das genau vorstellt. Solange er nicht konkreter wird, machen wir erst mal so weiter wie bisher." Sie lächelte zu Sillybos. "Ich wünsche dir einen schönen Feierabend."
***
Auf dem Weg zu seinem Büro dachte Sillybos über das Gespräch mit seiner Vorgesetzten nach. Was sollte er davon halten? Er hatte seinen Standpunkt nicht überzeugend genug vertreten, er hatte Rina nicht von der Wichtigkeit des Berichte Schreibens überzeugen können. Einerseits lag es an ihm, er war müde und freute sich auf den Feierabend. Aber andererseits hatte er auch nicht das Gefühl, als würde sie sich besonders für das Thema interessieren. Sie hatte ihre Standardfragen abgearbeitet und Sillybos nach seiner Einschätzung der Kenntnisse seitens der Rekruten gefragt, aber sie hatte nicht versucht, sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Sillybos beschloss, das Thema bei Gelegenheit noch einmal zur Sprache zu bringen.
Als Sillybos sein Büro betrat, saß Hegelkant auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch und drehte sich zur Tür um. Er lächelte.
Sillybos ging zu seinem Sessel hinter dem Schreibtisch, warf beim Vorübergehen am Fenster ein Blick auf die Blumen und prüfte, bevor er sich hinsetzte, den Schreibtisch. Er erinnerte sich, in welchem Zustand er das Büro hinterlassen hatte. Hegelkant hatte aufgeräumt, die Blumen gegossen und Staub gewischt.
"Da seid ihr ja, Herr", grüßte Hegelkant und lächelte. Sein heiteres Gemüt war ärgerlich ansteckend. "Ich habe hier ein bisschen aufgeräumt. Die Akten, von denen ich nicht wusste, wie ich sie ablegen sollte, habe ich nach dem Eingangsdatum sortiert und dorthin gelegt." Er deutete auf einen Stapel Papier in einer Ecke des Schreibtisches. "Und ich habe statt des TUTENs nun ein anderes Buch unter den Schreibtisch gelegt, den 'Dialektischen Monolog' von Sekratos."
Sillybos schaute kurz zum Bein des Schreibtisches, nickte und lehnte sich dann in seinem Sessel zurück. "Was für ein Tag, Hegelkant", sagte er und atmete tief durch. "Der Unterricht war anstrengender als erwartet."
"Tatsächlich, Herr?"
"Oh ja, kein Vergleich zu den Vorträgen, die ich sonst halte."
"Aber es waren doch nur Rekruten", meinte Hegelkant.
Sillybos musste lächeln, obwohl er es gar nicht wollte. "Ich gebe zu, dass ich sie falsch eingeschätzt habe. Ich erkenne, dass es nicht einfach ist, Rekruten zu unterrichten, schon gar nicht zu einem solchen Thema."
Hegelkant hörte eine solche Selbsteinschätzung seines Herrn sehr selten, aber er unterließ einen Kommentar dazu. "Aber ihr habt euch doch ganz gut geschlagen, Herr."
Sillybos schaute Hegelkant zweifelnd an.
"Nun,", ergänzte der Sklave, "zumindest den Teil des Unterrichts, den ich verfolgen konnte."
"Hm", grübelte der Philosoph und kraulte seinen Bart. "Ich bin nicht zufrieden, der Unterricht hätte sehr viel besser laufen können, besonders vor der Pause. Die erste Unterrichtsstunde war das reinste Missverständnis. Ich bin davon ausgegangen, dass ich eine Gruppe interessierter und halbwegs vorgebildeter Rekruten antreffe, die mir zuhören und mich auch verstehen, wenn ich etwas erkläre."
"Wovon sind die Rekruten ausgegangen?" fragte Hegelkant.
"Das kann ich dir nicht sagen", antwortete der Philosoph. "Ich kann nur ihr Verhalten interpretieren. Sie wirkten irritiert, einige schienen neugierig, andere aber desinteressiert. Sie erfüllten zumindest nicht meine Erwartungen."
"Das könnte auf Gegenseitigkeit beruhen, Herr", bemerkte der Sklave vorsichtig.
Sillybos blickte kritisch zu Hegelkant rüber. "Fest steht, dass zwei Parteien aufeinander trafen, die sich erst aufeinander einstellen mussten."
"Wer auf wen?"
Sillybos überlegte. "Damit wären wir wieder bei unserer Diskussion von heute Mittag, aber die brauchen wir nicht wiederholen. Ich sagte, es handelte sich bei dem Unterricht um ein Missverständnis, und mit dem mussten die Rekruten und ich erst mal klar kommen. Ich denke, wir haben es am Ende ganz gut hinbekommen."
"Welche Schlüsse zieht ihr daraus, Herr?"
"Nun, einerseits", begann Sillybos, griff zum Regal hinter sich und stellte ein Glas auf den Schreibtisch. Dann öffnete er eine Schreibtischschublade und holte eine Flasche ephebianischen Weines hervor. "Einerseits werde ich mich in Zukunft besser über das Vorwissen meiner Zuhörerschaft informieren. Ich kann es immer noch nicht wirklich glauben, was ich heute erlebt habe. Sie wussten nicht, was ein Nebensatz ist. Und wir sind hier immerhin bei der Stadtwache von Ankh-Morpork."
Hegelkant räusperte sich. "Ja, bei der Stadtwache." Sillybos entkorkte die Flasche und schenkte sich ein Glas Wein ein.
"Was ich heute gesehen habe, war auch in anderer Hinsicht erschreckend", ereiferte sich der Philosoph. "Es kommt mittlerweile jeder Dahergelaufene zur Wache. Bei vielen davon kann man schon bei der ersten Begegnung feststellen, dass sie es in der Ausbildung sehr schwer haben werden." Er trank sein Glas aus.
"Aber sie sind freiwillig hier", warf Hegelkant ein. "Niemand zwingt sie, Herr."
"Wie wir alle", meinte Sillybos. "Aber eine hohe Motivation garantiert noch keinen Erfolg."
"Ihr denkt an eine Art Eignungstest?"
"Es wäre eine Überlegung wert. Es gibt viele Möglichkeiten." Der Ausbilder schenkte sich erneut Wein ein. "Aber es ist nicht meine Aufgabe, mir darüber Gedanken zu machen. Diese Gedanken haben keinen philosophischen Gehalt."
Hegelkant suchte nach einem verlorenen Faden in dem Gespräch und fand ihn. "Und andererseits, Herr?"
"Zweitens", fuhr Sillybos fort. Er hatte den Faden nicht verloren. "Zweitens werde ich in Zukunft eine solche Aufgabe wie die heutige nicht mehr übernehmen. Vor vier Tagen habe ich mich mit zwei Philosophen im "Fass" über die Konsequenzen der narrativen Kausalität hinsichtlich der mittelfristigen Zukunft von Groß-A'Tuin gestritten. Und heute erzähle ich einem Dutzend Dahergelaufener, wie ein Tu-Wort aussieht. Fällt dir was auf, Hegelkant?" Er trank.
"Ihr seid auch freiwillig bei der Wache, Herr."
Sillybos lachte. "Versteh' mich nicht falsch, ich bin gern Wächter, und ich bilde auch gerne neue Wächter aus. Und ich halte es auch für außerordentlich wichtig, dass die Rekruten in dieser Sache ausgebildet werden. Es ist nur so, dass ich meiner Meinung nach nicht gerade der am besten Geeignete für diese Art von Unterricht bin. Zumindest, was diese Lerninhalte angeht."
"Könnte das nicht aber eine neue Herausforderung für Euch sein, Herr? Den Unterricht zu optimieren?"
Sillybos schaute seinen Sklaven an. Hegelkant hatte seinen typischen naiv-schüchternen Gesichtsausdruck und erwiderte Sillybos' Blick mit fragenden Augen.
"Wir könnten es auch gemeinsam versuchen", schlug der Philosoph vor. "Oder du hältst mal eine Stunde und ich beobachte, wie du dich schlägst."
Hegelkants Pupillen weiteten sich. "Wenn ihr meint, Herr?"
Es klopfte. Hegelkant hob den Kopf und lauschte aufmerksam, Sillybos ließ schnell das Glas und die Flasche Wein unter den Schreibtisch verschwinden, dann setzte er sich gerade hin und atmete durch. "Herein."
Irina Lanfear trat ein. "Gut, ihr seid noch da. Ohne Salutieren." Sie trat ein und schloss die Tür. "Folgendes: Rince war gerade hier, und ich habe ihn prompt in mein Büro geschleppt und mit ihm die Sache besprochen. Ich habe ihn davon überzeugen können, dass wir keinen Spielraum für eine solche theoretische Ausbildung haben."
Sillybos schaute seine Chefin mit großen Augen an. Er ahnte, was jetzt kommen würde.
"Und schlussendlich", fuhr Rina fort, "haben wir uns darauf geeinigt, dass es bisher ja schließlich auch irgendwie funktioniert hat, und deswegen werden wir so weitermachen wie bisher und keine zusätzliche theoretische Ausbildung ansetzen."
Sillybos war sprachlos.
"Ist wahrscheinlich auch am Vernünftigsten", meinte Rina. "Es hätte einen immensen Organisationsaufwand erfordert, einen solchen Unterricht einzurichten."
Sillybos schaute zu seiner Vorgesetzten und schwieg. Er war furchtbar enttäuscht.
"Du brauchst also nicht weiter darüber nachzudenken", sagte die Ausbildungsleiterin. "Alles bleibt wie gehabt."
Die Gedanken des Philosophen schwirrten gerade orientierungslos im Raum umher, nachdem seine Vorgesetzte sie zuvor wie ein Kartenhaus umgepustet hatte.
Alles umsonst, dachte er.
"Aber das Problem ist damit doch nicht aus der Welt, oder?" meinte er.
"Schon", gab Rina zu. "Aber solange es nicht
akut wird, kommen wir schon damit klar."
Sillybos hatte erlebt, wie akut das Problem war. Wie dringend sollte es denn noch werden? Nachdenklich schaute der Ausbilder zu Boden, sein Blick fiel auf die Weinflasche neben seinem Stuhlbein. Sehnsüchtig dachte er an seine Badewanne.
"Ach, noch etwas", fügte Rina hinzu. "Das hier soll ich dir von Rince geben." Sie holte ein Buch hinter ihrem Rücken hervor. "Nachdem mir einige Rekruten eine positive Rückmeldung von deinem Unterricht gegeben haben, habe ich dich gleich Rince weiter empfohlen. Nächste Woche ist nämlich Offiziersfortbildung." Sie reichte Hegelkant das Buch, der einen kurzen Blick drauf warf und es dann mit fragendem Blick an Sillybos weitergab.
Der Philosoph las den Titel. "Ich soll Offiziere
darin unterrichten?" fragte er erstaunt.
"Nächsten Freitag", sagte Rina. "Ich bin schon gespannt, was du uns erzählen wirst. So, ich will nicht weiter stören. Also, schönen Feierabend noch."
"Danke, dir auch", sagte Sillybos geistesabwesend und schaute weiter auf das Buch. Hegelkant nickte höflich grinsend zu Rina, die daraufhin den Raum verließ.
Der Philosoph suchte einen klaren Gedanken. Seine ganze heutige Arbeit war nutzlos. Er hatte seinen Finger auf einen wunden Punkt der Wache gelegt, aber niemand hatte ihn beachtet.
Seufzend blickte er zu Hegelkant. Sein Sklave schien ihn zu verstehen.
Sillybos holte die Flasche und das Glas hervor und schenkte neu ein, nachdem er das Glas beim Hinunterstellen umgekippt hatte.
Er schaute auf das Buch. 'De grammaticis linguae Latinae'.
Er musste lachen. Dann trank er auf das Wohl der Rekruten.
* * *
[1] Sie funktioniert so:
[2] man macht ein Sternchen, und unter dem Text macht man auch eines, hinter das man dann die gewünschte Information schreibt.
[3] Man verwendet sie, um zusätzliche Informationen zum Text zu geben, die für das Verständnis nicht unbedingt erforderlich sind.
[4] In diesem Fall verweist die Fußnote auf das Aktenzeichen einer vorigen Meldung. Das ist ein vernünftiger Gebrauch einer Fußnote. Es gibt aber auch weniger gute Beispiele.
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