Das Schweigen der Eichhörnchen

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von Leutnant Venezia Knurblich (FROG)
Online seit 31. 01. 2003
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RUM ist vollkommen überlastet... ob es trotzdem ratsam ist, das püschologische FROG-Team auf die Menschheit loszulassen?

Dafür vergebene Note: 13

"...tja, und so war meine Reise nach Überwald um meinen Vater kennenzulernen alles andere als von Erfolg gekrönt und ich habe beschlossen, nach Ankh-Morpork, der Heimat meiner Mutter, zu gehen", schloss Araghast eine wohl etwas länger gewesene Ausführung.
Er sass in einem Sessel im Büro seiner Schäffin, auf seinem Schoß lag zusammengeklappt der neueste Eddie Wollas, dessen Buchrücken balancierte eine volle Kaffeetasse, aus der es verlockend dampfte.
Venezia, die auf ihrem Schreibtisch an eine Kaffeekanne gelehnt sass, nickte ernst und kaute ein bisschen an einem Bleistiftstummel herum. Araghasts Bemühungen, fesselnde Geschichten zu erzählen mochten zwar nicht unbedingt ein Ausbund an Spannung sein, aber interessanter als Aktenberge durch Hin- und Herschieben auf dem Schreibtisch zu sortieren, war es alle Male.
"Und was hast du dann hier gemacht? Bist du gleich in die Wache..." begann Venezia, wurde jedoch von einem lautstarken "Täterätätätätäääääää" aus der Nachrichtenröhre unterbrochen.
"Aaaaachtung", konnte man danach die Stimme von Reggie hören, gefolgt von einem leisen Plopp und einem Nachrichtenbehälter, der mit einem Affenzahn aus dem Loch sauste, gegen die gegenüberliegende Wand krachte, sich noch ein-, zweimal lustig drehte und dann zum Stillstand kam.
"Sie haben Pohost", flötete der Dämon und blies kleine Rauchkringel in das Büro der FROG-Abteilungleiterin, dann waren schnelle Schritte zu hören; der Dämon hatte sich entfernt, bevor Venezia sich darüber auslassen konnte, was sie von Nachrichtenbehältern als gemeingefährliche Wurfwaffen hielt.
"Direkt vom Schäff", kommentierte Araghast, der aufgestanden war um den Behälter aufzuheben.
"Mach auf und sag mir was drinsteht, Rince macht sich nie die Mühe, auf kleinem Papier zu schreiben, das ist für mich immer so anstrengend."
"In Ordnung."
Leises Rascheln kündete davon, dass Araghast der Aufforderung nachkam, dann folgte ein Moment der Stille, als der Halbvampir den Inhalt überflog.
"Hm, es geht um einen Mord, Rince fordert FROG auf, sich sofort an den Tatort zu begeben, eine Villa im besseren Teil der Stadt. SUSI ist wohl schon da und sichert den Tatort", fasste er knapp zusammen.
"Mord? Bist du dir sicher, dass die Nachricht nicht in der falschen Abteilung gelandet ist? Das ist doch eigentlich RUM-Gebiet."
"Nein, hier steht ganz deutlich dein Name. Und noch ein PS vom Schäff: Wegen Auslastung von RUM und da es sich bei dem Toten um eine reiche Persönlichkeit handelt, weitergeleitet an FROG."
"Na, dann wollen wir mal los."
"Wir?"
"Klar, könnte ja sein, dass ich püschologische Unterstützung brauche."
"Du BIST Püschologe."
"...ausserdem glaubst du doch wohl nicht, dass ich den ganzen Weg zu Fuß gehe!"
"Das ist ein Argument, wenn auch ein sehr faules."
Die beiden machten sich auf den Weg zu der angegebenen Adresse, Araghast zu Fuß und Venezia auf ihrem Lieblingsplatz, einer Schulter.

Das Haus von Herrn Viktor Kordel, reichem Geschäftsmann in Ankh-Morpork und am heutigen Tage Mordopfer, war groß, sauber und ordentlich ausgestattet. Beeindruckend umgab ein Garten, der eher an eine Parkanlage erinnerte, das hochherrschaftlich-alt aussehende Gebäude, er war gut gepflegt, als habe jemand viel Zeit damit verbracht, ein Kiesweg führte an einem Teich mit Parkbänken vorbei zu einem Steingarten und dann zur Rückseite des Hauses.
"Na das kann ja heiter werden. Ich mag diese großen Anwesen und ihre Besitzer gar nicht", murmelte Venezia, während Araghast schnellen Schrittes auf die große Haupttür zuschritt.
"Stadtwache Ankh-Morpork, es tut mir leid, aber Sie können hier nicht herein", war von drinnen Charlie Holms Stimme zu hören, als der Püschologe die Tür aufdrückte.
"Oh, ihr seid es", fuhr der Spurensicherer fort, als er die FROGs erblickte. "Folgt mir bitte, wir untersuchen gerade die Leiche und den Tatort. Ich denke, Pismire kann euch einiges erzählen."
Charlie führte die beiden in ein üppig aber recht dunkel ausgestattetes Arbeitszimmer, der weinrote Teppich schluckte jedes Geräusch, Bücher stapelten sich auf Regalen bis unter die Decke, schwere samtene Vorhänge sorgten für diffuses Licht.
Dominiert wurde der Raum von einem fast schwarzem bulligen Schreibtisch, auf dem wohl einst penible Ordnung geherrscht hatte, der jedoch jetzt blutbespritzt war.
Auf einem Ohrensessel dahinter sass eine Person, männlich, gesetztes Alter, eingedrückter Kopf.
Leutnant Pismire stand hinter ihm und bohrte ihm mit einem schrecklich lang und dünn aussehenden Gegenstand im Hinterkopf herum.
Angsthase verteilte kleine Kärtchen mit Nummern darauf an den verschiedensten Blutflecken und Alice kroch auf dem Boden herum, um sich dort eine etwas andere Perspektive zu verschaffen.
"Guten Morgen, Kollegen", grüßte Venezia und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
"Oh, Leutnant Knurblich", erwiderte Pismire. "Darf ich vorstellen: Leutnant Knurblich, Stadtwache, Viktor Kordel, Mordopfer", fuhr er mit dem typisch trockenen Humor eines Gerichtsmediziners fort.
Araghast hielt sich etwas im Hintergrund und presste wegen des starken Blutgeruches (und auch, um keine unpassenden Bemerkungen von sich zu geben) die Lippen aufeinander, während Venezia erst seine Schulter verließ und dann den großen Schreibtisch erklomm, um sich ein besseres Bild machen zu können.
"Pass auf, dass du keine Spuren verwischst", ermahnte Pismire, ließ die Gnomin jedoch gewähren.
"Hm, was ist das für gelblich-graues Zeug hier überall auf der Schreibtischplatte. Hab ich noch nie bei einem Mord gesehen, eine verwertbare Spur?" erkundigte Venezia sich interessiert.
"Nein, das Hirn", antwortete Pismire, ohne aufzublicken.
Die Gnomin hustete.
"Schlauer Mörder, verspritztes Hirn gewährleistet, dass der Tote nicht wieder aufsteht", kommentierte Araghast spitz. Mit Toten, welche die Frechheit besaßen, als Zombies wieder aufzustehen, hatte er mehr als genug Erfahrung.
"Also, was wir bis jetzt haben", schaltete Charlie sich ein und der Püschologe zückte sofort einen Notizzettel um mitzuschreiben.
"Das Opfer ist Viktor Kordel, 52, sehr wohlhabend, verdient sein Geld mit einer Schnapsbrennerei, "Fauler Apfel" heißt die, leichte Straße 26. Victor scheint verheiratet zu sein, wir haben Hochzeitsgemälde gefunden, und desöfteren ist bei unserer Durchsuchung der Name Cordelia Kordel aufgefallen, wahrscheinlich seine Frau. Sie scheint aber nicht hier zu leben, das Schlafzimmer weist nicht die Benutzung von zwei Leuten auf und der Kleiderschrank gibt auch keine Frauenkleider her. Es gibt eine Putzfrau namens Eulalie, Adresse hab ich hier aufgeschrieben." Charlie reichte Araghast einen kleinen Zettel. "Desweiteren einen Sekretär, Jochen Brunn, Wohnort nicht bekannt. Er scheint Urlaub zu haben. Der Geschäftsführer der Brennerei heißt Dominik Drömmerl. So, das war es fürs erste, hoffentlich genug Stoff für erste Ermittlungen."
"Wir haben Tauben hier, wir werden euch über den Stand vor Ort regelmässig in Kenntnis setzen", fügte Pismire der Zusammenfassung Charlies hinzu.
"Ähm ja. Dann... dann können wir ja jetzt gehen... und anfangen und so." Venezia war leicht irritiert über so eine Fülle von Informationen in so kurzer Zeit.
"Schulter?" fragte Araghast seine Schäffin.
"Schulter", kam prompt die Antwort.
Der Halbvampir hob die Gnomin wieder hoch und beeilte sich, den Tatort zu verlassen.

Vor der Tür atmeten die Beiden erst einmal tief durch.
"Igitt, ich wusste gar nicht, dass Hirn aussieht wie abgestandener Eiter", kommentierte Venezia.
"Tja, man lernt nie aus. Die Beschreibung in den Wollas-Büchern geht schon in die Richtung, aber bildlich vorstellen konnte oder wollte ich mir das bis jetzt auch nicht", seufzte Araghast.
"Und? Dein erster Eindruck?" erkundigte die Gnomin sich.
"Naja, der Schädel wurde fest eingeschlagen, das Blut ist verdammt hoch gespritzt. Daraus lässt sich schließen, dass jemand mit höchstmöglicher Aggression zugeschlagen hat, er oder sie muss sehr wütend oder sonstwie erregt gewesen sein. Ausserdem muss Kordel den Täter gekannt haben, er wurde in seinem Arbeitszimmer von hinten erschlagen, Versteckmöglichkeiten gab es dort keine. Der Schuldige muss also wissentlich genau hinter ihm gestanden haben."
"Sehr gut gemacht", lobte Venezia. "Und wo gehen wir als erstes hin?"
"Zu der Putzfrau natürlich."
"Warum ausgerechnet zu ihr?"
"Sie wohnt am Nächsten dran."
"Gut Araghast, sehr gut!"
Die beiden FROGs machten sich auf den Weg.

Der Mann sass mit angezogenen Knien und langsam vor- und zurückschaukelnd auf dem kahlen Steinboden im Zwielicht der Lagerhalle.
Der Schreibtischplattenpoliturlappen in seiner Hand war inzwischen blutgetränkt und trotzdem wurde der Mann nicht müde, mit ihm über seine Hände zu reiben, ein sinnloses Unterfangen.
Direkt vor ihm auf einer Kiste stand der Schädel, ihr Schädel, blutverschmiert, und starrte sie an. Grinste er? Dankte er ihm? Oder war das ein Vorwurf, den er in den Tiefen der Augenhöhlen erblickte?
Und die Eichhörnchen schwiegen. Das war das Schlimmste! Seit drei Jahren jetzt schon, seit diesem Vorfall, starrten die Viecher ihn nur an und schwiegen. Oh, wie er sie hasste!!!
Was hätte er denn tun sollen? Er hätte es doch nicht verhindern können. Und er hatte damals geschwiegen, und jetzt schwiegen sie auch.
Es war als hätten die Tiere einen Eid geleistet, um ihn seine Schuld vor Augen zu führen, ihn immer daran zu erinnern... als wenn er vergessen könnte!
Einen Eichhörncheneid...
Humorlos lachte er auf.
"Ich werde wahnsinnig", krächzte er mit tonloser Stimme. "Ich dachte, wenn ich es tue, dann wäre es vorbei, dann würden sie aufhören zu schweigen, aber sie machen weiter. Sie treiben mich in den Wahnsinn!"
Tränen liefen über sein Gesicht, als er den Lappen fester packte, weiter schaukelte und sein Blick sich in den Tiefen der Augenhöhlen ihres Schädels verlor...

"Oh nein, wie schrecklich! Er ist tot?" fragte Eulalie nun schon zum fünften Mal, als sie die Wächter in ihr Wohnzimmer führte, ihnen Tee und Kekse anbot und die Katze fütterte.
"Ja, er ist tot, mausetot", antwortete Venezia gereizt, ebenfalls zum fünften Mal.
"Ach herrjemine, wie konnte das nur passieren... Zucker?"
"Nein, mit Zucker hatte das nichts zu... oh, ach so, in den Tee? Nein danke", erwiderte Araghast irritiert.
Eulalie war in erster Linie eins: Sehr viel Eulalie. Ihre Ausmasse waren so gewaltig, dass Rince sich bequem hinter ihr hätte verstecken können, und das Rot ihres Gesichtes konkurrierte stark mit Venezias Haarfarbe, letztere verlor.
Sie schnaufte wie ein asthmakrankes Nilpferd während sie um die Wächter herumscharwenzelte und der Geruch von Schweiss lag in der Luft... aber ihre Kekse waren köstlich.
"Setzen Sie sich doch einfach hin, dann können wir uns in Ruhe über Viktor Kordel unterhalten", versuchte Venezia jetzt schon zum wiederholten Male dazu zu bringen, ruhig zu sein. Araghast entging der scharfe Tonfall seiner Vorgesetzten nicht.
"Frau Eulalie, wir von der Stadtwache sind sehr auf Ihre Mithilfe in diesem Fall angewiesen. Es liegt uns am Herzen, das Ganze so gut wie möglich aufzuklären, aber ohne Sie ist die Sache hoffnungslos", schaltete der Halbvampir sich mit püschologischem Feingefühl und zuckersüß triefender Stimme ein.
Es wirkte. Offensichtlich fühlte sich die Frau ob ihrer Wichtigkeit so geschmeichelt, dass sie bereit war, sich einem Gespräch zu stellen.
Der Sessel, in den sie sich fallen ließ, ächzte und er hatte Venezias vollstes Mitgefühl.
"Erzählen Sie uns von Herrn Kordel. Wie war er so, was hat er den ganzen Tag gemacht? Wie sah sein Leben aus?" Araghast zückte wieder seinen Notizblock, bereit, wichtige Informationen zu filtern und aufzuschreiben.
"Nun ja, im Grunde genommen war er ein verbitterter Mann, trotz allem Wohlstand. Aber ich sag's ja immer, Geld macht nicht glücklich." Eulalie schüttelte den Kopf und biss erst einmal herzhaft in einen Keks.
"Darum hat die kleine süsse Cordelia ihn wohl auch verlassen. Ich meine, er hatte Geld, aber mehr hatte er dem hübschen Ding nicht zu bieten. Ich an ihrer Stelle hätte es wohl auch nicht anders gemacht. Sie war ja noch so jung, und ihr Leben an so einen Griesgram zu verschwenden... nein, nein, das konnte ja keiner von ihr erwarten." Krümel flogen wie kleine Geschosse aus ihrem Mund, während sie redete, verletzten aber glücklicherweise niemanden lebensgefährlich.
"Moment, sie hat ihn verlassen? Wann war das und wo ist sie hingegangen?" hakte Venezia nach.
"Naja, zurück zu ihrer Familie nach Llamedos. Er war auf einer Geschäftsreise, und sie hat ihn Hals über Kopf verlassen. Nur eine Nachricht hinterlassen, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will und dass er mit seinem Geld glücklich werden soll. Das war... Moment, lasst mich überlegen. Drei Jahre muss es her sein."
"Gibt es einen Mädchennamen? Ich meine, wir müssen sie informieren, immerhin ist ihr Mann tot, ob sie nun etwas mit ihm zu tun haben wollte oder nicht." Araghast malte kleine Männchen an den Rand seines Notizblocks.
"Ja, Kneipp. Cordelia Kneipp."
"Kneip wie Kneipe ohne e?", erkundigte der Püschologe sich.
"Neinnein, Kneipp mit zwei p. Sagen Sie bloß, Sie kennen die Familie Kneipp aus Llamedos, genauer gesagt, Lloch, nicht?"
Zweiköpfiges Schütteln eben dieses Körperteils war die Antwort.
Eulalie rümpfte leicht die Nase, als hätte sie für einen kurzen Moment ihren eigenen Schweiss gerochen.
"Nun ja, ursprünglich waren die Kneipps eine Bauernfamilie, aber Sie müssen wissen, dass Llamedos ein sehr feuchtes Land ist."
Venezia dachte kurz an Daemon und nickte.
"Naja, eines Tages, es war gerade Regenzeit, versuchte Bauer Kneipp, seinen Weg nach Hause über eins seiner Felder abzukürzen. Er musste knietief durch Wasser waten. Der Weg war zwar kürzer, aber er brauchte viel länger so. Aber die Sache hatte einen Nebeneffekt, als er zu Hause ankam, war er zwar sehr müde, aber seine Beine fühlten sich seltsam warm und entspannt an. Er hat dieses Phänomen noch weiter beobachtet und festgestellt, dass dieses Wasser waten sehr gesund ist. Es hilft zum Beispiel gegen Krampfadern."
Noch ehe die Wächter widersprechen konnten, lüftete sie ihr Zeltkleid und entblösste ihre Schenkel.
"Sehen Sie? Keine einzige Krampfader. Und ich kneippe seit Jahren!"
"Sehr spannend, Cordelias Vater hat also dieses ominöse kneippen erfunden. Können wir dann jetzt zurück zum Thema Viktor Kordel kommen?" brach Venezia dieses Gespräch abrupt ab.
"Nun ja, was gibt es noch zu erzählen? Oh, Herr Wächter, Ihr Tee ist ja alle, soll ich noch nachschenken?" Ohne eine Antwort abzuwarten, füllte die Dame Araghasts Tasse erneut bis zum Rand. Der Püschologe schenkte Venezia über den kontinentalen Rücken der Dame hinweg einen gequälten Blick.
"Dass ihm die Brennerei "Fauler Apfel" gehört, wissen Sie mit Sicherheit schon. Sein Geschäftsführer dort ist Herr Drömmerl, ein furchtbarer Mann, so... billig! Er bringt... brachte Herrn Kordel täglich die Unterlagen aus dem Geschäft. Ich meine, der Mann hätte es bestimmt nicht nötig gehabt, sich weiter um diesen ganzen Geschäftskrempel zu kümmern, aber was hatte er groß anderes außer seinem Garten? Also, die meiste Zeit war er mit den Büchern beschäftigt. Er und sein Sekretär Jochen. Jochen Brunn."
"Oh, gut, dass Sie ihn ansprechen: Sie wissen nicht zufällig, wo Herr Brunn wohnt?" horchte Araghast auf.
"Oh, natürlich, er wohnt im Anwesen von Herrn Kordel. Im Schuppen, sozusagen. Hat ihn aber schön zurechtgemacht, muss man schon sagen." Eulalie lächelte verträumt als das Gespräch auf den Sekretär kam und es schien, als würden ihre Wangen aller farbwissenschaftlichen Regeln zum Trotz noch einen Tuck roter werden.
"Aber im Moment hat er Urlaub, seit zwei Tagen. Ich kann ihnen leider nicht sagen, wo er ist. Aber noch einmal zurück zu Herrn Kordel. Haben Sie den Schädel gesehen?"
"Schädel?" fragten Araghast und Venezia wie aus einem Munde.
"Ja, dieser Schädel, der in seinem Arbeitszimmer im Regal steht. Ich erwähne das nur, weil ich das schon sehr morbide finde und das sehr gut deutlich macht, was für ein merkwürdiger Kerl der Herr doch war." Eulalie seufzte tief.
"Was für ein Schädel ist das? Wo ist er her?" Araghast brannte darauf, weitere verwertbare Informationen zu notieren.
"Was weiss denn ich? Ein Schädel eben, steht inmitten der Bücher, auf Augenhöhe hinter dem Schreibtisch. Ich musste da doch immer Staub wischen, Bücher abzuwischen ist gar nicht so leicht, wissen Sie? Noch Tee?"
"Ähm, nein danke. Ich denke, das war es fürs erste. Wenn wir noch Fragen haben, wissen wir ja, wo wir Sie finden", beeilte Venezia sich zu sagen.
"Oh, Sie müssen schon gehen? Wie schade, dabei könnte ich noch so viel erzählen, über die Hochzeit von Cordelia und Herrn Kordel vor fünf Jahren zum Beispiel. Oder von..."
"Es tut uns wirklich leid, aber wir müssen noch andere Leute vernehmen. Und Sie wollen doch bestimmt auch, dass Cordelia über den Tod ihres Mannes informiert wird", unterbrach Araghast schnell.
Beinahe fluchtartig verließen er und Venezia die Wohnung Eulalies.

"Redet mit mir... bitte, bitte, redet mit mir!" jammerte der Mann, sein Gesicht war inzwischen rot und aufgequollen von den Tränen.
"Ich war es nicht. Er war es. Was hätte ich denn tun sollen? Jetzt habe ich etwas getan. Ich habe ihm etwas angetan, reicht das nicht? Ist euch das noch nicht genug? Was wollt ihr noch? WAS?!?" Seine Stimme überschlug sich und endete in einem krächzenden Wimmern.
Zitternd richtete er seinen Zeigefinger auf den Schädel vor ihm.
"DU!" Das Pronomen peitschte dem Kopf entgegen, welcher sich allerdings gänzlich unbeeindruckt zeigte.
"Warum? Warum hilfst du mir nicht? Ich hab es doch auch für dich getan? Ich hätte dir gerne geholfen, damals, so gerne. Aber was hätte ich denn tun sollen? Was?!?"
Ein tiefes Schluchzen erschütterte den Mann.
"Ich... ich habe dich doch geliebt!"

"Ich habe keinen Schädel gesehen, du etwa?" nahm Venezia das Gespräch mit ihrem Kollegen aus, nachdem sie erst einmal still um drei Straßenecken geflohen waren, damit Frau Eulalie nicht auf die Idee kommen konnte, ihnen Tee, Kekse oder ähnliche Dinge hinterher zu werfen.
"Doch, einen sehr matschigen und eingedrückten, er befand sich an Kordels Körper."
Venezias Blick würgte Araghasts Zynismus ab, ehe er sich voll entfalten konnte.
"Aber ich nehme an, du meinst den im Regal, von dem Frau Eulalie geredet hat", beeilte der Püschologe sich zu sagen. "Nein, den habe ich auch nicht gesehen."
"Könnte eine Spur sein, wir sollten uns diese Schädelgeschichte auf jeden Fall merken."
"Und was jetzt?" Araghast war ohne es zu merken in das typische Schlendern von Wächtern auf Streife gefallen.
"Jetzt gehen wir erst mal zum nächsten Nachrichtenturm, um dieser Cordelia eine Nachricht nach... wie hieß das? Lloch? Naja, da hin zu schicken. Und danach schauen wir uns die Brennerei und vor allem diesen Drömmerl mal genauer an."
Venezias Kollege nickte und schlug den Weg zum nächsten Turm ein.
"Hast du ein Taschentuch bei dir?" unterbrach Venezia nach einigen Minuten das Schweigen.
"Ich glaube schon, warum?" entgegnete Araghast überrascht.
"Weil du noch wenige Sekunden Zeit hast, es aus deiner Tasche zu nehmen und über deiner Schulter auszubreiten, um ein Unglück zu verhindern."
Der Halbvampir musste einen Moment überlegen, was Venezia ihm damit wohl sagen wollte... einen Moment zu lange.
Die Taube landete, gurrte einmal herzhaft und entleerte ihren Darm.
"Scheiße", kommentierte Araghast.
"Genau", antwortete Venezia fröhlich.
"Gib das Ding her und verschwinde, du dummes Ding", fuhr der Püschologe die Taube an, entfernte schnell die Nachricht von ihrem Fuß und scheuchte sie dann weg.
"Was steht drin?"
"Moment, zuerst der Fleck." Araghast zog das Taschentuch, welches er tatsächlich bei sich hatte aus der Tasche und versuchte, so viel wie möglich des Darmhinhaltes der Taube im Tuch und gleichzeitig so wenig wie möglich davon auf seiner Schulter zu verteilen, ein schwieriges Unterfangen, zumal Venezias ungeduldiges Gehibbele auf der anderen Schulter die Sache nicht unbedingt einfacher machte.
"Und? Und? Und? Und?" zappelte die Gnomin, nachdem Araghast das verdreckte Taschentuch seufzend zusammengefaltet und wieder eingesteckt hatte.
"Ja, kleinen Moment." Schnell war die Nachricht entfaltet.
"Sie ist von Leutnant Pismire: Sind ins Wachhaus zurückgekehrt, haben die Untersuchungen fürs Erste abgeschlossen. Detaillierter Bericht liegt im Wachhaus."
"Mist, dann müssen wir nach dem Nachrichtenturm noch einmal in der Wache vorbei, uns den Untersuchungsbericht genauer angucken", grummelte Venezia.
"Was regst DU dich auf? MEINE Füsse laufen wir hier gerade platt!", entgegnete Araghast.
Schweigend gingen sie weiter.

Vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück schaukelte der Mann dort auf dem kalten Lehmfußboden, ohne den Schädel auch nur den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. Wann hatte er das letzte Mal geblinzelt? Er wusste es nicht mehr, aber er wusste sowieso nicht mehr viel, nur, dass er alles ihm Mögliche getan hatte und dass sie immer noch schwiegen, diese furchtbaren Tiere.
Ab und zu spürte er, wie kalter Speichel von seinem Kinn auf seine Hand tropfte. Er sabberte, aber er konnte es gar nicht verstehen, sein Mund war doch so trocken. Andauernd musste er sich über die Lippen lecken, weil die sich so ausgedörrt anfühlten.
Und immer noch starrten die leeren Augenhöhlen des Schädels ihn an...

Die Nachricht am Turm für Frau Cordelia Kordel, wohnhaft in Lloch, Llamedos war schnell aufgegeben. Anfänglich hatte Araghast sich noch über den knappen Inhalt beschwert, der da lautete: Verehrte Frau Kordel, ihr Mann ist tot. Für nähere Rückfragen, Leutnant Venezia Knurblich, Stadtwache Ankh-Morpork.
Einen püschologischen Patzer und nicht besonders feinfühlig hatte er es genannt, aber als Venezia ihn aufforderte, das Ganze doch umzuschreiben und die Differenz zwischen seinem und ihren Text aus eigener Tasche zu bezahlen, war die ursprüngliche Nachricht dann auf einmal doch nicht ganz so unmöglich.
Jetzt sassen die Beiden im Aufenthaltsraum der Wache, jeder hatte einen mehr oder weniger großen Becher Kaffee vor sich stehen und sie warteten auf das Eintreffen von Pismire mitsamt dem Bericht, um sich weiter abzusprechen.
"Und? Wer war es?" unterbrach Venezia die sich hinterhältig eingeschlichene Stille.
"Wer war was?" schreckte Araghast aus seinen Gedanken gerissen hoch.
"Naja, wer war der Mörder? Wer hat Viktor Kordel erschlagen? Was ist sein Motiv und wo finden wir denjenigen?"
"Woher soll ich das denn wissen?"
"Na hör mal, du bist Püschologe! Du solltest eigentlich an einen Tatort kommen, dich da ein bisschen umgucken und schon ist alles klar!"
"Oh, na ja dann..." Der Angesprochene grinste. "Weißt du, ich bin ja gerade erst aus meiner Ausbildung raus und habe noch nicht so viel praktische Erfahrung gesammelt. Vielleicht möchte die dienstälteste Püschologin der Wache dem grünen Horn Einblick in die tiefsten Tiefen der püschologischen Betrachtungen schenken und mir ihre Gedankengänge mitteilen?"
"Öh, was ist ein grünes Horn?"
"Ach, nur so eine Redensart für einen blutigen Anfänger." Der Halbvampir schlürfte einen Schluck von seinem Kaffee und blickte seine Schäffin dann auffordernd an.
"Und?"
"Was und?"
"Wer war es?"
Venezia runzelte die Stirn und versenkte ihren Blick im abgrundtiefen Schwarz des Kaffees.
"Tja... ich habe keine Ahnung, nur eins weiß ich sicher, diese Eulalie war es nicht!"
"Glauben tue ich es auch nicht, sie machte einen überraschten Eindruck, als du das erste Mal erwähntest, dass Herr Kordel tot ist, aber wie kannst du dir so sicher sein?"
"Wenn sie es gewesen wäre, dann wäre Herr Kordel nicht erschlagen worden, dann hätte sie ihn entweder mit ihrem Busen erstickt, oder sie hätte ihn so lange mit Tee und Keksen gefüttert, bis er geplatzt wäre."
Araghast schaute Venezia vorwurfsvoll an. "Das war nicht gerade eine professionelle püschologische Betrachtung!" mahnte er.
"Entschuldigt, dass ihr so lange warten musstet", hörten die beiden FROGs von der Tür die zu den Labors führte, Pismire sagen. Der Gerichtsmediziner lächelte den beiden zu und begab sich mit einem kleinen Umweg über den Kaffeedämon an ihren Tisch.
Als er seine Tasse abstellte und eine Akte unter seinem Arm hervor fischte, konnten die beiden Püschologen sehen, dass seine Fingerspitzen über und über mit schwarzer Farbe getränkt waren.
"Musstet ihr die Leiche des Schneevaters aus einem rußigen Kamin bergen oder hat SUSI Putzdienst?" konnte Araghast sich mal wieder einen Kommentar nicht verkneifen.
"Weder noch, wir haben eine vollkommen neue Entwicklung zugeschickt bekommen, mit der die Tatortsicherung und vor Allem die Wiedererkennung schon einmal straffällig gewordener Individuen um einiges vereinfacht werden soll. Dummerweise hat bis jetzt noch niemand von uns herausgefunden, wie es funktioniert, die Anleitung ist auf klatschianisch. Alles, was es bis jetzt gemacht hat sind schwarze Finger!" Nicht besonders glücklich über den Inhalt seiner Ausführungen aussehend, liess Pismire sich in den zweiten Sessel am Tisch fallen (Venezia sass auf dem Tisch), seufzte und nahm erst einmal einen großen Schluck Kaffee.
"Aber kommen wir zurück zu unserem Fall. Unsere ersten Untersuchungen im Anwesen sind abgeschlossen, die Leiche liegt im Labor und wurde auch auf erste Spuren untersucht. Erst einmal: Es gibt tatsächlich eine Ehefrau, Cordelia Kordel, aber auch nach langem Suchen haben wir bis auf die Hochzeitsurkunde keine Spuren ihrer Anwesenheit entdeckt."
"Sie ist schon vor einiger Zeit zurück zu ihren Eltern nach Llamedos gegangen", unterbrach Araghast den Gerichtsmediziner. "Vermutlich hat Herr Kordel ihr ihre Sachen hinterher geschickt oder sie weggeschmissen oder so."
"...desweiteren wohnt noch jemand auf dem Anwesen, wir haben eine Art Bedienstetenwohnung gefunden. Die betreffende Person ist männlich..."
"...und heißt Jochen Brunn. Das ist der Sekretär von Herrn Kordel", führte Araghast Pismires Satz zu Ende.
"Gut, gut." Der Gerichtsmediziner schien ein bisschen aus dem Konzept geraten zu sein.
"Öhm... was haben wir noch? Ach ja, bei der Mordwaffe handelt es sich um einen rundlichen stumpfen Gegenstand, mehr konnten wir noch nicht herausfinden, aber wir arbeiten dran.
"Hm, könnte es ein Schädel gewesen sein?" schaltete sich jetzt auch Venezia in das Gespräch ein.
"Ein Schädel?" Pismire blickte die Gnomin interessiert an.
"Ja, ein menschlicher Schädel. Man erzählte uns, dass so einer eigentlich hätte im Regal stehen müssen, aber da war keiner. Wenn der Mörder hinter Herrn Kordel stand, dann hätte er einfach nur ins Regal greifen müssen und hätte ihn gehabt, und Schädel und rundlicher stumpfer Gegenstand weist gewisse Parallelen auf."
"Naja, weißt du, ein Schädel wäre keine besonders zuverlässige Tatwaffe. Immerhin hätte der Mörder dann versucht, Knochen mit Knochen zu brechen und die Chance, dass der... ähm... naja, der andere Schädel, damit meine ich nicht den von Herrn Kordel, gebrochen wäre, wäre immens groß gewesen", führte Pismire aus.
"Und wenn der andere Schädel schon älter gewesen wäre? Bei Eddie Wollas habe ich gelesen, dass Knochen, wenn er Luft ausgesetzt wird, sich härtet. Stimmt das?" Araghast freute sich, dass seine sonst so verschrieenen Romane etwas zur Diskussion beitragen konnten.
"Hui, da hat der gute Herr Wollas ausnahmsweise einmal Recht. Ja, das stimmt, wenn der Schädel älter war, dann war er auch härter als der in Herrn Kordels Kopf. Dann ist es möglich. Ich sage nicht, dass es definitiv so ist, aber es ist möglich. Ich werde gleich veranlassen, dass die Leiche auf Spuren einer Bestätigung eurer Theorie untersucht wird." Pismire stand auf.
"Ich schicke euch eine Taube, wenn wir das Ganze bestätigt oder widerlegt haben. Wundert euch nicht über eventuelle schwarze Flecken auf der Nachricht, die kommen dann von diesem bescheuerten Fingerabdrucksystem." Pismire nickte den FROGs noch einmal zu und verschwand dann in Richtung Labors.
"Tja, dann wollen wir mal wieder..." setzte Venezia an, wurde aber von einem schüchternen "Entschuldigung, Ma'am?" unterbrochen.
Thymian Pech, der gerade Tresendienst hatte, war unmerklich an den Tisch der Püschologen herangetreten.
"Obergefreiter Pech, nicht wahr?" begrüßte Venezia ihn. "Was gibt es denn?"
"Ich... wollte nicht stören, aber da ist eine Nachricht gekommen. Vom Nachrichtenturm."
"Oh, wunderbar, das ging schnell", lächelte Venezia. Auf einen Wink hin nahm Araghast dem Obergefreiten die Nachricht ab.
"Danke schön. Du kannst gehen." Die Gnomin nickte dem jungen Mann aufmunternd zu.
Leises Rascheln von Papier erklang, als Araghast das Dokument entfaltete.
"Und? Was schreibt die gute Cordelia?" fragte Venezia und blickte Araghast interessiert an.
"Es ist gar nicht von ihr, es ist von einem Konrad Kneipp. Hier steht: Nachricht ungelesen zurück. PS: Verehrte Wächter. Meine Tochter Cordelia befindet sich schon seit Langen nicht mehr hier in Lloch, jedoch haben Sie Glück, Sie finden sie direkt vor Ihrer Nase. Vor fünf Jahren heiratete sie Herrn Victor Kordel, wohnhaft in Ankh-Morpork. Sollten Sie sie suchen, dort werden Sie fündig. Mit freundlichem Gruß, Konrad Kneipp."
"Hm...", machte Venezia.
"Hm...", schloss sich Araghast an.
"Was soll das heißen, sie ist nicht in Lloch? Aber man hat uns doch gesagt, sie wäre vor drei Jahren zurück nach Hause gegangen...", fing Venezia an.
"Wenn sie nicht zu ihren Eltern gegangen ist, wo verflucht noch eins ist sie dann?" machte Araghast weiter.
"Ich habe keine Ahnung." Die Gnomin seufzte. "Mist, und was machen wir jetzt?"
"Ist ja eigentlich erst mal egal. Laß uns trotzdem zu dieser Brennerei gehen und mit Herrn Drömmerl sprechen. Vielleicht weiss der ja, wo dieser Sekretär zu finden ist."
"Gut, aber dieses Mal nehmen wir eine Taube mit."
Wieder einmal machten sich die beiden auf den Weg.

"Kann... nicht... mehr...! Was... soll... ich... tun?" Die Stimme des Mannes war nur noch ein leises tränenersticktes Flüstern, er hatte keine Kraft mehr... er hatte einfach keine Kraft mehr, dem Schweigen der Eichhörnchen zu lauschen...

"Schönen guten Tag, Stadtwache Ankh-Morpork, Leutnant Knurblich mein Name, wir haben einige Fragen an Sie in Bezug auf ihren Arbeitgeber Herrn Kordel", begrüßte Venezia den grobschlächtigen unheimlich großen und rotnasigen Mann vor ihr.
"Komm se rein", murmelte dieser mürrisch und besass immerhin genug Höflichkeit, einen Schritt beiseite zu treten, auch wenn er das weitere Öffnen der Tür Araghast überlies.
"Tjaja, der Schäff. Ham wa ja immer jesacht, wird nen böses Ende nehmen", murmelte er vor sich hin, als er die beiden Wächter durch eine Halle dirigierte in der es erstens furchtbar heiß von den vielen zischenden und dampfenden Kesseln war, zweitens ganz mächtig nach Alkohol in seiner hochprozentigsten Form stank und in der drittens überall dort, wo sich kein Kessel oder eine Person befand, die diesen überwachte, Kistenweise Obst herumstanden, und zwar in so gut wie allen Varianten von leicht angeditscht abwärts zu vor Schimmel nicht mehr als Obst zu erkennen.
"Igitt, daraus wird also ihr Schnaps gebrannt?" fragte Venezia und musterte interessiert eine Kiste besonders angeschlagener Früchte, darauf gefasst, dass das Leben darin sie jeden Moment ansprechen würde, warum sie es so anstarre.
"Genial, wa?" antwortete Drömmerl, blieb stehen und fischte einen mehr braun als roten Apfel aus einer Kiste. "Dat is des Jeheimnis vom Jeschäft. Darum läuft es so jut." Er warf die Frucht in die Luft und fing sie wieder auf. Das heißt, er wollte sie auffangen, doch als sie auf seiner Hand aufkam, gab sie ihrem innersten Wunsch nach Verfall nach und zermatschte mit einem saugenden Geräusch.
Seufzend zog Araghast sein schon mit Taubendreck beschmutztes Taschentuch hervor und begann, klebrige Saftflecken und kleine braune Bröckchen von seiner Kleidung zu wischen, während Drömmerl weiter redete: "Det is alles Fallobst von de Ebenen. Wissen Se, det is billijer, darum is des Jeschäft so erfolchreich. Wenn se Schnaps draus brennen, denn isses eh ejal."
'Ob Atera das weiss?' dachte Venezia still in sich hinein. 'Wenn nicht, sollte man ihr das hier mal vorführen, das würde mit Sicherheit zu einer Wunderkur in Sachen Entziehung führen, wer das hier sieht, rührt doch nie wieder einen Tropfen Alkohol an.'
"Hochinteressant, Herr Drömmerl. Wirklich hochinteressant", unterbrach Araghast den Geschäftsführer der Brauerei, deren Name Programm war. "Aber haben Sie nicht ein Büro in das wir uns zurückziehen können, um über die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu sprechen wie zum Beispiel ihren Schäff?"
"Ja, natürlich, natürlich. Mit Laien isses eh schwer, sich über juten Schnaps zu unterhalten. 's jibt so wenich Leute, die da echt Ahnung ham." Drömmerl nickte zufrieden als hätte er soeben die absolute Wahrheit verkündet.
"Nich ma der Kordel wusste was von jutem Schnaps, nur von jutem Jeschäft. Hat mich einjesetzt deswejen. Brauchte ja jemanden, der Ahnung hat. Nich so wie diese Flasche vor mir. Hat keenen Tropfen Alkohol anjerührt, müssen se wissen." Drömmerl lachte auf.
"Stellen Se sich dat ma vor. Is 'n Schnapsbrenner und trinkt keenen Alkohol! Kann ja nüscht werden, so was."
"Worüber redet er?" wisperte Venezia Araghast zu.
"Ich habe keine Ahnung", flüsterte dieser zurück.
"So, da wärn wa. Willkommen in meinem bescheidenem Arbeitsplatz. Hier is die Zentrale von alles, was mit jutem Schnaps ausser Stadt zu tun hat." Herr Drömmerl öffnete eine Tür und trat in ein zwar großes aber schäbiges - kurz: genau zu ihm passendes - Büro ein.
"Setzen Se sich. Wolln se nen Schnaps?" Er ließ sich auf einen abgewetzten Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen und sein erster Griff ging zu einer dort stehenden Flasche ohne Etikett. Den Umweg über ein Glas machte er nicht, um sich sein Gebräu zu genehmigen.
"Nein danke, wir sind im Dienst", lehnte Venezia mit einem Lächeln, welches ihr schwer von den Lippen kommen wollte, ab.
Auch ihr Begleiter schüttelte den Kopf.
"Tja, da isser nu hin, der jute Herr Kordel", eröffnete Drömmerl das Gespräch genau in die richtige Richtung und befeuchtete weiter seine Kehle.
"Ja, er ist erschlagen worden, wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?" Araghast zückte wieder seinen Notizblock und blickte den Geschäftsführer aufmerksam mit seinem einen Auge an.
"Det war jestern. Ick bringe ihm jeden Tach die Unterlagen von de Brennerei. Immer so um Mittach rum, die jute Eulalie kocht so jut und meistens kann ich dann ne Portion mitessen. Aber heute war ick nich da. Hab ja ne Nachricht von Eulalie bekommen, dat Wächter da waren und dass der Schäff tot ist. Wäre ja umsonst jewesen, der Wech, und jekocht hat se ja och nich."
"Erzählen Sie uns doch ein bisschen was über Herrn Kordel. Wie war er so, was hat er den ganzen Tag gemacht?" unterbrach Venezia den Redefluss des Mannes, der in eine gänzlich uninteressante Richtung zu gehen schien.
"Och ja, der Viktor war nen janz passabler Kerl. Hatte ja nich mehr viel, seine Olle is ihm ja wechjelaufen. Aber det wa vor meiner Zeit. Is bestimmt durchjebrannt mit diesem Hermann, der Flasche."
"Entschuldigung, wer ist Hermann?" schaltete Araghast sich ein.
"Hab ick doch vorhin schon jesacht. War mein Vorjänger. Son Schönling, keene Ahnung von Schnaps und ordentlich mit anpacken konnte der och nich."
"Hermann wie weiter?" fragte der Halbvampir ungeduldig. Notizen zu machen wäre leichter, wenn die Befragten nicht immer so weit ausholen würden.
"Seine Eltern waren janz besondere Spassvöjel. Hieß Hermann, der Jute, und zwar vorne und hinten. Is dat nich 'n Witz?" Drömmerl lachte und klopfte sich auf den Schenkel.
"Sie wissen nicht zufällig, wo wir diesen Hermann und beziehungsweise oder Cordelia finden können?" Venezia hatte sich auf den Schreibtisch gestellt. Sie war ja nicht empfindlich, aber hier würde sie sich nicht mal hinsetzen, wenn ihr Leben davon abhinge.
"Nee, ick hab die ja och kaum jekannt. Waren ja ejentlich vor meiner Zeit. Sind halt wechjelaufen."
"Hm, schade. Naja, kommen wir zurück zu Herrn Kordel. Was können Sie uns über ihn sagen?" riß Araghast sich von den kleinen Männchen los, die er schon wieder auf seinen Notizblock gekritzelt hatte.
"Is ja witzich, ham Se das jelernt in Ihrer Ausbildung? Immer abwechselnd zu frägen?" Wieder lachte Drömmerl laut.
"Nein, haben wir nicht, das ist ein Naturtalent", brach Venezia diesen informativ absolut unfruchtbaren Gesprächsstrang gleich wieder ab. "Herr Kordel?"
"Naja, kannte sich nich aus mit Schnaps, der Jute. War aber nen klasse Jeschäftsmann. Hat das Janze mit dem Jeld und dem Einkauf jeregelt. Wollte jeden Tach die Unterlagen für seine Bücher. War wohl das Einzije, wat ihn noch interessiert hat, seine Bücher. Naja, und sein Jarten. Und böse Zungen behaupten, sein Sekretär, der Jochen, die Knalltüte." Er grinste.
"Ist sowieso der bessere Ansprechpartner, wenns um den ollen Kordel jeht, hing ja jeden Tach mit ihm rum."
"Wir würden auch gerne mit Herrn Brunn über Herrn Kordel sprechen, aber man sagte uns, der hat Urlaub. Sie wissen nicht zufällig, wo er zu finden ist?" hakte Araghast nach.
"Wat? Der hat Urlaub? Davon wees ick nüscht. Der weiss doch jar nich wat Urlaub is. War och erst heute morjen hier, wollte die Lajer inspizieren."
"Was? Sie haben ihn heute schon gesehen? Wo ist er?" In Venezias Stimme schwang ein Hauch von Aufregung mit. Mit diesem Brunn wollten sie doch unbedingt sprechen!
"Keene Ahnung, denk ma, der is noch innen Lajern. Hat mir auf jeden Fall noch nich die Schlüssel wiederjebracht."
"Und wo finden wir diese Lager?" Araghast war aufgestanden, bereit, sofort loszugehen, sobald diese einzige Information von Herrn Drömmerl ausgesprochen war, die für die Wächter wichtig war.
"Na, da müssen Se einfach die Strasse runter, direkt am Fluss. Is Block C, Nummer zwo bis fünwe."
Araghast blickte Venezia an und wartete auf das leichte Nicken, um sie dann auf die Schulter zu heben.
"Vielen Dank, Herr Drömmerl, Sie haben uns sehr geholfen. Sollten wir noch Fragen haben, wissen wir ja, wo wir Sie finden", reif Venezia noch, während sie rausgingen.

Irgend etwas kam. Der Mann spürte es genau, und er konnte es auch in den Augenhöhlen ihres Schädels sehen.
Langsam drückte er sich an einer der Kisten hoch, ein unangenehmes Kribbeln ging durch seine Beine, als sie mit seinem Gewicht belastet wurden, doch das merkte er kaum.
Fahrig wischte er sich mit dem Lappen in seiner Hand über die aufgequollenen Augen und das speichelnasse Kinn.
"Warte hier, ich gehe nachgucken", krächzte er dem Schädel zu und taumelte zwischen die Kisten. In Deckung blieb er stehen und lauschte in die ihm seit Jahren so wohlbekannte Stille, in der kein Eichhörnchen einen Laut von sich gab. Ja, er konnte es genau hören, da war jemand am Tor!

"Mist, die ist auch zu. Wir hätten vielleicht an der zwei anfangen sollen, fünf, vier und drei sind dicht", gummelte Araghast, und ließ von der dritten Lagerhallentür ab.
"Naja, sei lieber froh, dass es nicht Halle zwei bis fünfZEHN war" antwortete Venezia.
"Los, die Letzte noch."
Seufzend stiefelte Araghast zur Halle Nummer zwei, Block C, ergriff die Klinke und zog; die Tür schwang mit einem leisen Quietschen auf.
Aufmerksam spähten die beiden Püschologen in den zwielichterfüllten Raum, Kisten stapelten sich in verschiedenen Höhen quer durch den Raum, schmale Gänge führten durch das Gebilde hindurch. In der linken Ecke von der Tür hatte jemand allerlei Unrat und Gerümpel gestapelt.
"Herr Brunn?" fragte Venezia leise in den großen Raum, als ihre Augen sich an das wenige Licht gewöhnt hatten.
Araghast machte einen Schritt in die Halle hinein und blickte sich um.
"Herr Jochen Brunn?" Die Gnomin rief etwas lauter, doch sie bekam keine Antwort.

"Herr Brunn?" drang leise an das Ohr des Mannes. Panik wallte in ihm auf. Sie hatten ihn gefunden!
"Herr Jochen Brunn?" hörte er noch einmal die Stimme, dieses Mal lauter und ganz in der Nähe!
Er unterdrückte einen Aufschrei und schob sich langsam mit schreckgeweiteten Augen tiefer in das Kistenlabyrinth hinein. Er musste hier raus, er musste fliehen!

"Hm, keine Antwort", flüsterte Venezia ihrem Kollegen zu.
"Aber hier ist jemand, merkst du das nicht?" Araghast schaute sich angestrengt um. Bei dem Licht und den ganzen räumlich versetzten Kisten war nur ein Auge ein echtes Handicap.
"Doch, natürlich spüre ich das", wisperte die Gnomin zurück. "Los, gucken wir uns ein bisschen um, aber leise."
Langsam und vorsichtig und so leise wie möglich tauchten die beiden Wächter ein in das Kistenlabyrinth.

Der Mann blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte den Schädel vergessen, ihren Schädel! Er hätte ihn mitnehmen müssen, wie konnte er nur!
Unschlüssig blickte er zurück. Er kannte die Wege durch das Labyrinth, er kannte sie genau. Konnte er es wagen, zurückzugehen, um sie mitzunehmen?
Er musste! Er konnte sie doch nicht einfach zurücklassen. Dann würden die Eichhörnchen nie aufhören zu schweigen!
Gerade wollte er sich in Bewegung setzen, da hörte er ein: "Aha, was haben wir denn da?" aus der Richtung kommen, wo sie auf ihn wartete.
Zu spät! Er hatte zu lange gezögert und jetzt war es zu spät, jetzt würde er sie nie wieder bekommen!
Er drehte sich um und lief, der Eingang war ganz nahe.

"Aha, was haben wir denn da?" Araghast war um eine Kistenecke gebogen, welche in eine kleine Nische führte. Auf dem Boden lag eine alte, zerknitterte und teilweise blutbespritzte Decke, davor stand eine einzelne Kiste, auf der sich ein Schädel befand, ebenfalls rot vor Blut und auch gelbgräulich von Etwas, was Venezia das erste Mal auf Kordels Schreibtisch gesehen hatte und was sie jetzt als Gehirn identifizieren konnte.
Der Schädel stand genau so, als würde er eine imaginäre Person ansehen, die sich auf der Decke niedergelassen hatte.
"Da ist er. Das nenn ich mal eine in Szene gesetzte Mordwaffe", wisperte Araghast.
"Wenn die Waffe hier ist, wird der Mörder wahrscheinlich nicht weit sein. Wir müssen ihn..."
Ein lautes BAMM unterbrach Venezia, als die Tür der Lagerhalle zufiel.
"Verflucht!" brüllte die Gnomin, doch Araghast war schon losgelaufen, zurück durch die kleinen Wege zwischen den Kisten hindurch und so blieb Venezia nichts, als sich gut festzuhalten.

Wo sollte er hin? Weg! Weg, einfach nur weg! Weg von denen, die ihn fassen wollten. Sie würden es nicht verstehen. Er könnte es ihnen erklären, die Schuld, die Viktor auf sich lasten hatte, das Schweigen der Eichhörnchen, die Schuld auf ihm, weil er nichts getan hatte, all das, aber sie würden es nicht verstehen.
Er riss die Tür auf und stolperte ins Freie. Sofort erfasste brennender Schmerz seine Augen. So hell, hier draussen war es so hell!
Er hob den Arm vor das Gesicht, doch dabei entglitt ihm die Türklinke. Mit einem lauten BAMM fiel diese ins Schloss.
Einsperren, ich muss sie einsperren!
Wild kramte er in seinen Hosentaschen, hier irgendwo musste doch der Schlüssel... nein, er hatte ihn rausgenommen. Er lag neben der Decke...
Der Mann drehte sich um und lief.

Nach zwei Sackgassen hatte Araghast es endlich geschafft, das Kistenlabyrinth zu überwinden. So schnell er konnte, steuerte er auf die Tür zu, doch Venezias Aufschrei stoppte ihn.
"Da, da, da!" brüllte die Gnomin und als der Blick des Halbvampirs ihrem ausgestreckten Finger folgte, sah er inmitten des Gerümpels in der Ecke etwas stehen, ein... Ding mit zwei Rädern dran war dort achtlos an die Wand gelehnt.
"Was ist das?"
"Ich habe keine Ahnung, aber es hat Räder, es wird wohl ein Transportmittel sein. Und Räder rollen schneller als Beine laufen. Wir müssen ihn einholen!"
"Wie bedient man es?"
"Es hat einen Sitz, vielleicht, wenn man sich da drauf setzt?" Die Gnomin klang zwar nicht überzeugt, aber sie hatte wohl recht, das Knallen der Tür lag schon viel zu weit zurück, und ohne Hilfsmittel würden sie den Mann wohl nie einholen.
Beherzt griff Araghast sich das Gebilde, schob es zur Tür und öffnete diese.
"Da ist er!" brüllte Venezia, als die beiden sich einen kurzen Moment umgeguckt hatten.
"Worauf wartest du noch? Er ist an der Brücke! Looooooooos!"
Der Halbvampir warf noch einen letzten zweifelnden Blick auf das Gebilde, dann jedoch wischte er den Zweifel beiseite, schwang ein Bein über das Ding, nahm auf dem Sitz Platz und rollte los, dem Mann so schnell wie er konnte, hinterher. [1]

Der Mann schaute sich nicht um, er wusste nicht, wohin er rannte, vorwärts, immer nur vorwärts, weit weg!
Sein Atem ging keuchend und seine Beine fühlten sich an wie Gummi, doch er rannte weiter. Würden sie ihn kriegen, würde es nie aufhören, dieses grausame Schweigen, dessen war er sich sicher!

Zuerst schlingerte das Ding gefährlich, als Araghast los rollte. Um ein Haar wäre er mit einer Lagerhallenwand kollidiert, doch er konnte die Stange zum Lenken des Dinges gerade noch rechtzeitig herum reissen, was dazu führte, dass es zu der anderen Seite hin ausbrach.
Er hatte alle Hände voll zu tun, die Kontrolle nicht zu verlieren, da zwickte Venezia ihm zu allem Überfluss noch in die Schulter.
"Los, schneller, so kriegen wir ihn nie!" brüllte sie.
"Schneller? Bist du wahnsinnig?!? Ich kann das Ding ja so schon kaum gerade halten!"
"Schneller, das ist ein Befehl!" erklang die Stimme der Gnomin im Offizierston.
Ohne es wirklich zu wollen, trieben seine Beine das Gefährt an. Immer abwechselnd links und rechts knallten seine Füsse auf das Pflaster und langsam geriet das Ding in Fahrt.
Erstaunlicherweise fuhr es sicherer, je schneller es wurde... schon bald hatte Araghast den Dreh raus und lenkte sich und die Gnomin sicher und schnell über die Brücke, dem Mörder hinterher.

Der Mann drehte sich nicht um. Er brauchte sich nicht umzudrehen, er wusste genau, dass die aufholten. Panik machte sich noch breiter, nackte, erbitterte Panik.
Sie durften ihn nicht kriegen, nein, niemals!
Mit einem verzweifelten Manöver bog er rechts in eine Seitenstraße ab.

"Wir haben ihn gleich! Ein bisschen noch, dann haben wir ihn!" feuerte Venezia Araghast an, der verbissen das Ding antrieb.
Zwischen ihnen und dem Mann lagen nur noch wenige Meter, als dieser plötzlich nach rechts abbog und in einer kleinen Gasse verschwand.
"Rechts, er ist rechts", brüllte die Gnomin ihrem Kollegen ins Ohr, welcher sich allmählich fragte, ob er die Behandlung des davongetragenen Gehörsturzes als Wachespesen absetzen konnte, oder ob das auf eigene Rechnung ging.
Inzwischen hatte er genug Kontrolle über das Ding, dass er sich um die scharfe Rechtskurve vor ihm keine großen Sorgen machte... das Gefährt war toll, das Fahren machte großen Spaß und ging verdammt schnell!
Er passte die Kurve vor ihm ab und riss dann die Lenkstange herum...
...leider ist da Augenmass von Leuten mit nur einem Auge nicht besonders genau, immerhin kommt ja schon im Wort Augenmass die Mehrzahl dieses Organs drin vor.
Die Wand, die Araghast sah, und um die er geschickt drum herum steuern wollte, befand sich in der allgemeingültigen Realität ein Stückchen weiter vorne als im Geist des Halbvampirs, und die Realität war stärker.
Mit einem lauten Krachen von splitternden Holz raste das Gefährt mitsamt seiner Besatzung gegen die Wand, ein Rad löste sich, rollte noch ein Stück die Strasse herunter, kippte dann auf die Seite, drehte sich noch ein wenig auf der Stelle und kam dann zum Erliegen.
"Oooooooooooooooh", murmelte Araghast und versuchte, die kleinen bunten Sternchen und Vögel vor seinen Augen wegzuwedeln.
"Autsch!" hörte er Venezia irgendwo neben sich aus den Trümmern jammern.
Suchend tastete seine Hand in den Haufen, der einst das Ding war, zog sich ein bis mehrere Splitter ein und erwischte dann die fluchende Gnomin.
Vorsichtig zog er sie heraus.
"Der Mörder! Wo ist der Mörder?" krähte diese.
Araghast blinzelte und blickte die Strasse hinunter. Dort vorne, ja, da war er. Er war stehengeblieben und blickte in ihre Richtung.
Der Püschologe versuchte sich aufzurappeln, doch ein stechender Schmerz fuhr durch sein Bein.
"Mist, ich glaub, ich hab mir was gebrochen", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Wir müssen hinterher!" Blut lief Venezia aus einer kleinen Platzwunde auf der Stirn, als sie sich mühsam aufrappelte.
"Ich kann nicht... mein Bein... ich glaub, es ist gebrochen!"
Der Mann am Ende der Strasse machte keine Anstalten, sich weg zu bewegen. Er schien zu verstehen, dass die Wächter ihm nicht folgen konnten, und selbst wenn sie jetzt damit anfangen würden, hätte er noch genug Zeit zu laufen.
Mit blutverschmiertem Gesicht und wahnsinnigem Blick schaute er sie an.
"Dann musst du mich werfen, wisperte die Gnomin.
"Dich werfen? Hör mal, ich bin nicht Püschologe geworden, weil ich so eine Sportskanone bin... ich würde alles treffen nur nicht diesen Mann. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, ich habe nur ein Auge, ich weiss nicht mal, wie weit er weg ist!"
Venezia schien nicht zugehört zu haben.
"Na los, wirf mich schon", forderte sie Araghast noch einmal auf.
"Ich kann das nicht!"
"Dann musst du es wohl schnell lernen!"
Araghast seufzte und nahm die Gnomin hoch. Sie war leicht, das wusste er ja schon, und jetzt, wo sie sich klein zusammenrollte, lag sie wirklich gut in der Hand.
Bevor diese Sache mit dem Auge passiert war, war er bestimmt einmal ein passabler Werfer gewesen, aber jetzt... zweifelnd schaute er in Richtung des Mannes, der immer noch wie angewurzelt dort stand.
"Worauf wartest du noch?" riss Venezia ihn aus seinen Gedanken.
"Na gut, aber auf deine Verantwortung."
"Ich fliege immer auf meine Verantwortung, was glaubst du denn?!?"
Araghast wog sie noch ein paar Mal hin und her und schwang prüfend den Arm. Er wusste genau, dass das hier reines Glücksspiel war, und zwar mit einer beschissenen Quote.
"Bereit?"
"Schon ewig!"
Der Halbvampir holte aus und warf...
Die Richtung stimmte, zumindest in Etwa. Naja gut, vielleicht wäre etwas weniger nah an der Hauswand und dafür etwas näher an dem Schurken besser gewesen, aber er hatte ja nie behauptet, dass er das konnte, ganz im Gegenteil.
Womit er sich vollkommen verschätzt hatte war allerdings der Schwung; so, wie er geworfen hatte, würde Venezia bis ans Ende dieser und auch noch der nächsten Gasse fliegen.

Der Mann rührte sich nicht von der Stelle. Überrascht verfolgte er das Geschoss in seiner Flugbahn, die an keinem Punkt mit seinem Standort übereinstimmte.

"Zu weit, viel zu weit!" schoss es Venezia durch den Kopf, als Araghast sie in die Luft schleuderte und ihr Blickfeld sich in bunte Schlieren verwandelte.
Links neben sich konnte sie die ihrem Geschmack nach viel zu nahe Wand spüren, aber sie wusste, sie würde weit über das Ziel hinaus schießen.
Sie musste ihre Geschwindigkeit drosseln und möglichst auch weiter von der Wand wegkommen!
Plötzlich hatte sie ihren Säbel in der Hand.
Mit einem widerlichen Quietschen, das in den Zähnen wehtat, stieß sie ihn gegen die Wand um sich so zu bremsen, dann rollte sie sich herum und stieß mit dem Füssen gegen den Stein. Sie hatte keine Ahnung, wo sich der Kerl befand, aber sie musste immerhin versuchen, ihn zu treffen!
Dann schlug sie auf irgend Etwas auf, mit dem Kopf zuerst.
Einige Gedanken drängten sich ihr noch auf, bevor ein schwarzer Schleier sie umfasste.
Erstens: Es hatte nicht gescheppert.
Zweitens: Ihr war nicht der Kopf aus dem Pflaster zerplatzt.
Drittens: Sie hatte so etwas wie ein: "Gngh!" vernommen.
Viertens: Sie war erstaunlich weich gelandet.
Fünftens: All das sprach sehr dafür, dass sie getroffen hatte.
"...verhaftet..." brachte sie noch hervor, bevor der Schleier sie vollends umhüllte und Ohnmacht sie umfing.

Auch Araghast war kurz vor der Ohnmacht. Jetzt, wo er gesehen hatte, dass die Gnomin den Schurken niedergestreckt hatte, ließ der Adrenalinfluss auf einmal nach und der Unfall mit dem Ding forderte seinen Tribut. Mit letzter Kraft kritzelte er eine Nachricht an die Wache, zog die zum Glück unbeschadet gebliebene Taube aus seiner Tasche und schickte sie los...

"...zumindest sagt Rogi, es ist nur angebrochen, und wenn ich es ruhig halte, wird es in ein paar Tagen wieder so gut wie neu sein", schloss Araghast seine Ausführung.
Er sass in einem Sessel im Büro seiner Schäffin, auf seinem Schoß lag zusammengeklappt der neueste Eddie Wollas, dessen Buchrücken balancierte eine volle Kaffeetasse, aus der es verlockend dampfte.
Venezia, die auf ihrem Schreibtisch an eine Kaffeekanne gelehnt sass, nickte ernst und kaute ein bisschen an einem Bleistiftstummel herum, als es leise klopfte.
"Herein", rief sie, und Leutnant Pismire trat in den Raum.
"Herzlichen Glückwunsch, ihr zwei. Das war wirklich saubere Arbeit. Das Geständnis soll ja sehr umfassend sein, habe ich gehört?"
"Setz dich doch." Venezia deutete auf den letzten freien Stuhl. "Ja, Herr Brunn hat die Tat in vollem Umfang gestanden, den Bericht haben wir auch schon fertig. Ich nehme an, ihr müsst ihn noch mit euren Ergebnissen abgleichen?"
Pismire kam der Einladung nach und rückte sich den Stuhl zurecht.
"Ja, genau, müssen wir, dann sind wir mit dem Fall auch fertig."
"Nein, das glaube ich nicht, ihr habt noch eine Menge mehr zu tun." Araghast lächelte.
Pismire schaute auf. "Moment, was soll das heißen?"
"Ihr müsst noch zwei Leichen aus dem Steingarten von Herrn Kordel fischen, eine davon sollte kopflos sein." Araghasts Lächeln wurde zu einem Grinsen, anderen mitteilen, dass Arbeit auf sie wartete, machte Spass.
"Ehm, Entschuldigung? Dürfte ich das vielleicht im Zusammenhang erfahren?" Pismire lehnte sich in seinem Sessel nach vorne und nagelte Venezia mit seinem Blick fest.
"Weißt du, das ist so: Herr Brunns Motiv war Vergeltung. Die Frau von Herrn Kordel hatte eine Affäre mit Herrn Hermann, dem damaligen Geschäftsführer der Brauerei. Als Herr Kordel zusammen mit Herrn Brunn etwas früher von einer Geschäftsreise wiederkam, erwischte er die beiden in Flagranti, holte seine Armbrust und erschoß sie. Die Leichen brachte er in seinen Garten und bedeckte sie mit einem Steinbeet. Herr Brunn musste für Herrn Hermann eine Kündigung fälschen und von Frau Kordel hieß es danach, sie habe ihren Mann verlassen."
Venezia nippte an ihrem Kaffee, bevor sie fortfuhr: "Das alles hatte schon sehr an Herrn Brunns Nerven geknabbert, aber etwa vor einem halben Jahr brachte Herr Kordel das Fass zum Überlaufen. Als makaberen Scherz auf Kosten seiner Frau holte er ihren Schädel aus dem Steingrab, putzte ihn und stellte ihn in das Bücherregal. Nun musste Herr Brunn nicht nur mit der Schuld leben, einen Doppelmord gedeckt zu haben, er wurde auch noch jedes Mal daran erinnert, wenn er das Büro betrat. Naja, und dann sind ihm die Nerven durchgegangen und er hat Herrn Kordel mit der einzigen Waffe erschlagen, die er für angebracht hielt: Den sterblichen Überresten von Cordelia Kordel."
"Na wunderbar. Das heißt, wir können jetzt losziehen und die Leichen aus dem Grab schaufeln, um die Geschichte zu überprüfen... prima, dann kümmere ich mich besser gleich darum." Seufzend erhob sich Pismire und verließ den Raum, nicht ohne sich noch ein: "Viel Spass" von beiden FROGs aus einem Munde anhören zu müssen.

Jochen Brunn sass auf seiner Zellenpritsche, blickte durch das kleine Fenster hinaus auf einen Baum, auf dem ein Eichhörnchen tollte, lauschte den Geräuschen, die dieses von sich gab und war glücklich.
Jeder musste für seine Taten bezahlen. Er hatte Viktor mit seinem Leben zahlen lassen, aber das war nicht genug. Auch er musste seine Schuld ableisten, und genau das tat er hier, in dieser Zelle, wenn es sein musste, für den Rest seines Lebens.
Sie schwiegen nicht mehr.
Er hatte verstanden.

[1] Bei dem "Ding" handelte es sich um ein Gestell-mit-zwei-Reifen-dran-zum-durch-die-Gegend-rollen, einer frühen Jugenderfindung von Leonardo da Quirm, aus einer Zeit, in der noch nicht alles, was er entwickelte, automatisch für kriegerische Zwecke zu gebrauchen war. Damals hielt er es für eine tolle Idee, etwas zu entwickeln, womit man schneller vorankam als zu Fuß, aber schon bald stellte er fest, dass diese Gerätschaft zu anstrengend für ihn war, und so schenkte er sie an einen Verwandten dritten Grades weiter, der sie dann an seinen Großneffen zum Schneevaterfest weitergab. Da auch er keine Freude daran fand, gab er es weiter an einen guten Bekannten, da er dachte, der könne in seinem großen Garten damit durch die Gegend rollen. Dieser Bekannte hieß Viktor Kordel, hatte kein Interesse, durch den Garten zu rollen und stellte das Gerät mit einigem weiteren Unrat in einer von ihm angemieteten Lagerhalle ab, wo es lange Zeit später eine Gnomin und ein Halbvampir fanden, um einen Mörder zu jagen. Von all dem wussten Araghast und Venezia allerdings nichts, und so blieb diese Erfindung des großen Meisters für sie weiterhin ein "Ding"




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