Der Tag, an dem alles so war wie sonst auch

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von Spieß Harry (DOG)
Online seit 19. 01. 2003
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 Außerdem kommt vor: Mückensturm

Ein Tag im Leben eines Gnoms

Dafür vergebene Note: 12

6:30 Uhr


Ein Klopfen weckte Spieß Harry aus seinen Träumen. "Aufstehen!" rief die dazugehörige Stimme.
Schlaftrunken tastete der Gnom nach der Schnur, die neben seinem Bett hing, und zog daran. Der Vorhang, der am Puppenhaus, in dem er wohne, befestigt war, hob sich und ließ die ersten Strahlen des Tageslichts in Harrys unaufgeräumtes Schlafzimmer fallen.
Der Spieß setzte sich im Bett auf und sah Richtung Tür. "Gnomenschinder!" rief er nach draußen.
Die Tür öffnete sich und Fähnrich Mückensturm grinste ihn an. "In einer Stunde ist Einsatzbesprechung - oder willst du Eca warten lassen?" Er zwinkerte dem Gnom zu, der schlagartig errötete.
"Hier, ich habe dir dein Frühstück und dein Wasser gebracht." Mücke stellte ein Tablett mit einem Viertel eines Brötchens, einer Tasse heißem Kaffee und einem mit warmem Wasser gefüllten Becher auf den Tisch, der zusammen mit einem Stuhl und einem großen Blumenkübel mit einem kleinen Bäumchen darin die einzige Einrichtung des Büros (abgesehen von der, die sich in der Puppenstube befand) darstellte.
"Danke." Harry begann mit dem qualvollen Morgenritual des Aus-dem-Bett-Steigens, während Mückensturm den Raum wieder verließ und die Tür hinter sich zu zog.
Die Toilette war ein Problem gewesen, als er hier eingezogen war. Die DOG-Räume lagen bekanntlich über denen der Boucherie Rogue, und sanitäre Anlagen gab es hier nur im Erdgeschoss[1]. Harry hatte es rundweg abgelehnt, immer, wenn er ein Geschäft zu erledigen hatte, einen Fußmarsch von über 20 Metern (in Gnomenschritten das Zehnfache) zu machen, der zudem noch fünfzehn Treppenstufen beinhaltete, die alle jeweils so hoch waren wie er selbst. Zwar war die Treppe inzwischen für ihn um eine schmale hölzerne Rampe ergänzt worden, aber auch das machte die drei Meter Höhenunterschied nicht viel angenehmer.
Bei einer Brainstorming-Sitzung der DOG waren einige Vorschläge gemacht worden, von denen die meisten (wie beispielsweise das Katzenklo) von Harry strikt abgelehnt wordern waren. Schließlich jedoch kam einer der Wächter auf den bereits erwähnten Blumenkübel als Lösung. Ein kleiner hölzerner Abort wurde gezimmert und Harry musste nur alle paar Wochen ein neues Loch im Kübel graben und das Holzhäuschen um wenige Zentimeter verschieben.
Der Baum wuchs und gedieh prächtig.
Auch an diesem Morgen verrichtete der Gnom so sein Geschäft. Dann legte er sich seine Uniform bereit und kletterte mit einem Handtuch in der Hand den Stuhl hoch, um von dort an das Tischchen zu kommen[2]. Er schälte sich aus der Unterhose, in der er geschlafen hatte, und sprang in den Wasserbecher.
Das Wasser hatte genau die richtige Temperatur. Daemon hatte ihm einmal einen Streich gespielt und den Becher mit eiskaltem Wasser gefüllt, aber Harry hatte daraufhin den ganzen Tag über getobt und randaliert, und zudem gedroht, Daemons Lieblings-Kaffeebecher zu zerstören, wenn er noch einmal etwas so "Barbarisches", wie der Gnom sich ausdrückte, tun würde.
Harry wusste, dass es Leute gab, die jeden Tag mit einer eiskalten Dusche begannen, aber ihm reichte lauwarmes Wasser vollkommen aus. Und dank der Kaffeemaschine war er auch einer der wenigen Bewohner der Stadt, die den Luxus hatten, stets warmes Badewasser bekommen zu können.
Erfrischt und munter kletterte er aus dem Becher und zog sich an. Die Unterhose kam in eine große Tüte, die langsam drohte, voll zu werden. Irgendwann demnächst musste er dringend mal wieder Wäsche waschen. Die Alternative wäre es gewesen, einfach neue Kleidung zu kaufen, aber diesen Luxus konnte er sich langsam nicht mehr leisten. Noch vor wenigen Jahren war Puppenkleidung in Ankh-Morpork spottbillig gewesen, aber durch die gestiegene Nachfrage von immer mehr Gnomen, die in die Stadt zogen, waren die Preise seitdem stark angestiegen. So stark, um genau zu sein, dass viele kleine Mädchen langsam merkten, dass ihr Taschengeld nicht mehr ausreichte.
Harry kämmte sich noch kurz das Haar und holte sich dann eine kleine Puppentasse aus einem der Schränke. Zeit fürs Frühstück. Mückensturm brachte morgens immer ein belegtes Brötchen zur Arbeit mit, und gab Harry stets ein Stückchen davon ab, das dem Gnom problemlos für einen ganzen Tag reichte.

7:25 Uhr


Harry biss ein letztes Stück vom Brötchen ab, kaute und spülte das ganze mit einem Schluck aus seiner Tasse herunter, die er aus der großen Tasse vollgeschöpft hatte. Kaffee... allein dieses Getränk machte das Leben als Wächter schon lebenswert.
"Harry, das Meeting fängt gleich an!" Das war Pigeon, die Kommunikationsexpertin der DOG.
"Komme!" Harry leerte die Tasse, sprang mit ihr in der Hand vom Tisch und trat durch die Gnomenklappe in der Tür nach draußen.
Die DOG hatten keinen Besprechungsraum, aber traditionsgemäß fanden die morgendlichen Einsatzbesprechungen im Büro des Abteilungsleiters - oder, wie zur Zeit, im Büro der Abteilungsleiterin - statt. Vor kurzem hatte die Leitung turnusmäßig gewechselt und war von Fähnrich Mückensturm auf Spieß (Spießin?) Ecatherina Erschreckja übergegangen. Das war etwas, was Harry stark zu schaffen machte.
"Hallo, Harry", begrüßte ihn seine Vorgesetzte von ihrem Schreibtisch aus, als der Gnom durch die angelehnte Tür das Büro betrat. "Dann sind wir ja komplett."
Der Gnom kletterte auf den Schreibtisch, füllte sich seine Tasse aus Ecas Becher, machte es sich an einem Aktenstapel bequem und musterte die Anwesenden.
Die Zahl der alteingesessenen DOGs hatte stark abgenommen in der letzten Zeit: Daemon bildete bei GRUND Rekruten aus, Valeriaa hatte auf unbestimmte Zeit Urlaub genommen, Ikari hatte zu den SEALS gewechselt und Vinni saß wegen eines Verbrechens, das er unmöglich begangen haben konnte, im Gefängnis. Kommandeur Rince hatte allen Wächtern zunächst verboten, in dieser Sache Nachforschungen anzustellen, da das ganze, wie er sich ausdrückte, "hochpolitisch" war.
So war es nur ein kleines Grüppchen, welches sich zur Zeit um die Gilden der Stadt kümmerte: Außer ihm saßen in diesem Raum jetzt Mückensturm, sein Ex-Schäff; Pigeon; Steingesicht, der Abteilungsgeist; Robin Picardo, frisch gebackener Experte für die Alchimistengilde; Hatscha, eine verdeckte Ermittlerin; und einige Neuankömmlinge, die gerade ihre Grundausbildung geschafft hatten und noch nicht eingearbeitet waren.
Und dann natürlich noch Ecatherina, die Abteilungsleiterin.
Eca...
Harry sah in ihre Richtung und schenkte ihr ein kurzes Lächeln, als er sicher war, dass sie nicht in seine Richtung sah.
Eca...
Die Gedanken des Gnoms schweiften in sehr private Regionen ab. Niemand sonst in der Wache konnte so gut kraulen wie sie... nun, zumindest kraulte ihn außer ihr niemand in der Wache. Seit einiger Zeit jedoch war seine Chefin sehr zurückhaltend ihm gegenüber geworden. Wahrscheinlich hielt sie es für unangebracht, als Vorgesetzte einen Untergebenen zu kraulen... häufig hatte er sich schon überlegt, dass er, wenn er einmal einen Wunsch freihaben sollte, sich wünschen würde, dass Eca auf Gnomengröße verkleinert werden würde. Dann hätte sie zu ihm in die Puppenstube ziehen können, und sie könnten... nun ja, eben Dinge tun, die man schlecht machen kann, wenn der Größenunterschied anderthalb Meter beträgt.
Es war wie ein Fluch: Die Frauen, zu denen er sich hingezogen fühlte, verwandelten sich entweder plötzlich in Untote oder waren acht Mal so groß wie er.
Ein pieksender Zeigefinger schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah, dass die versammelten DOGs ihn amüsiert betrachteten.
"Harry?" fragte Eca, die Besitzerin des erwähnten Zeigefingers.
"Äh... ja? Was ist denn?"
"Ich habe dich gefragt, wie du in der Sache mit der Malergilde vorankommst."
"Oh... äh... entschuldige. Ich war gerade etwas abwesend."
"Das habe ich gemerkt." Die DOG-Leiterin grinste.
Malergilde[3]... das war sein aktueller Job. Verschiedene Bürger hatten sich beschwert, dass sie in ihren frisch gestrichenen Zimmern unter Kopfschmerzen litten, und die DOG sollte herausfinden, ob die Malergilde vielleicht ihre Unkosten auf illegale Art niedrig hielt, indem sie gepanschte und gesundheitsschädigende Farbe verwendete. Seit Tagen observierte er die Gilde schon, in der Hoffnung, eine Lieferung...
"Harry?"
"Ja?"
"Was ist denn jetzt mit der Malergilde?"

8:10 Uhr


Mit einer Mischung aus Tagträumerei (80%) und Zuhören (20%) überstand Harry den Rest der Besprechung. Anschließend kehrte er zurück in sein Büro und bereitete sich auf seinen Einsatz vor.
Draußen begann es zu regnen. Es regnete eigentlich immer, wenn Harry einen Job als Observierer hatte. Er hatte gehofft, dass sich das ändern würde, als Daemon zur Kröselstraße versetzt worden war, aber das war nicht der Fall - langsam fürchtete er, dass etwas von Daes "Regenmagnetismus" auf ihn abgefärbt hatte.
Ächzend zog er sich seinen Regenmantel über[4]. Er schnürte sich sein Schwert um, schulterte seinen Bogen (nicht dass er glaube, eines davon zu benötigen, aber das Schwert war Vorschrift, und mit dem Bogen konnte er die Zeit für ein paar Schießübungen nutzen) und seinen Rucksack, den er mit einer Miniaturkanne Kaffee und einigen Brötchenstücken gefüllt hatte, ging aus seinem Büro, kletterte die Treppe herunter, merkte, als er schließlich unten war, dass er seinen Köcher vergessen hatte, fluchte herzhaft, kletterte die Treppe wieder hoch, stand zehn Minuten später erneut in seinem Büro, nahm den Köcher, trank einen Schluck - mittlerweile kalten - Kaffee, verzog angewidert das Gesicht und ging wieder nach unten.
Fortbewegung war ebenfalls ein Problem. Die Malergilde zum Beispiel lag acht Kilometer von der Boucherie entfernt. Für einen Menschen war das ein strammer Fußmarsch von etwas über einer Stunde, aber ein Gnom brauchte für dieselbe Strecke beinahe einen ganzen Tag. Zwar gab es inzwischen die Gilde für öffentlichen Verkehr, aber die bediente zur Zeit nur drei verschiedene Strecken und half einem bei den meisten etwas abseits gelegenen Zielen nicht weiter. Außerdem waren sie unverschämt teuer - jedenfalls nach Harrys Meinung, da er genausoviel zahlen musste wie ein Mensch, ein Zwerg oder ein Troll. Deshalb hatten die Gnome der Stadt schon lange ihre eigene Methode entwickelt, um von A nach B zu kommen: Sie suchten sich einen Wagen oder Karren, der ungefähr in die richtige Richtung fuhr, und kletterten während der Fahrt unbemerkt auf die Achse, um sich ein Stück mitnehmen zu lassen. Dieser Platz hatte zudem den Vorteil, dass man vor Regen geschützt war.
Mit etwas Erfahrung konnte man schon aus Art und Ladung der Karren schlussfolgern, wohin der Fahrer unterwegs war. Harry hatte als Observierer schon sehr viel Erfahrung gesammelt, und war so häufig schneller als ein menschlicher Fußgänger.

9:20 Uhr


Harry sprang in Sichtweite der Malergilde von seinem "Taxi". Über eine Woche observierte er jetzt schon dieses Gebäude und hatte sich einen gemütlichen Beobachtungsposten in einem verlassenen Vogelnest eingerichtet, welches sich in der Regenrinne des Nachbarhauses befand.
Er war ein ziemlich guter Kletterer - als Gnom in einer Menschenstadt blieb einem auch nicht viel anderes übrig, und seine klienen Füße konnten so ziemlich jede Unebenheit im Mauerwerk als Halt nutzen. So kletterte er die Mauer hoch und machte es sich in dem Nest bequem. Einige Tage vorher hatte er dort bereits ein Puppenkissen, einige Kekskrümel und ein Miniaturfernglas (eine ziemlich teure Sonderanfertigung) untergebracht. In der Nestwand steckte außerdem ein kleiner Schirm, so wie man ihn in Cocktailgläsern fand[5], so dass er auch vor Regen einigermaßen sicher war.
Er machte es sich bequem und das Observieren begann.

11:15 Uhr


Harry öffnete sein Notizbuch und schrieb mit einer Bleistiftmine sorgfältig den Satz: "Kurz nach 11: Habe wegen eines dringenden Geschäfts die Observierung für fünf Minuten unterbrochen" hinein.
In der Stadt gab es keinen Uhrmacher, der in der Lage gewesen wäre, so feine Uhren zu bauen, dass ein Gnom sie hätte nutzen können. Und die billige Uhrenvariante mit einem Zeitdämon scheidete ebenfalls wegen des Größenproblems aus - es sei denn, er hätte sich einen dieser unverschämt teuren Nanodämonen leisten können, was bei seinem Wächtergehalt natürlich nicht der Fall war. Deshalb war Harry für seine Berichte auf sein Zeitgefühl und die stündlichen Schläge der Glockentürme angewiesen.
Er konnte sich kaum einen langweiligeren Job als den des Observierers vorstellen. Aber das war auch genau der Grund, weshalb er ihn gewählt hatte: Man musste nichts tun, außer herumzusitzen und alles zu notieren, was sich ereignete. Keine Verfolgungsjagden, keine Lebensgefahr, keine Schießereien. Einmal, als er wegen des Regens besonders gefrustet gewesen war, hatte er Mückensturm überreden können, ihn als verdeckten Ermittler einzusetzen - als Resultat hatte er sein Gedächtnis verloren und beinahe einen Kollegen umgebracht (wenn dieser nicht schon tot, bzw. untot, gewesen wäre). Diese Erfahrung wollte er nicht wiederholen.
Erneut sah er durch das Fernglas. Er hatte von hier aus sowohl den Eingang des Gebäudes als auch das Büro von Herrn Großkopf, dem Gildenleiter, im Blick. Seine Aufgabe bestand im Prinzip nur darin, die nächste Farblieferung abzuwarten, die angeblich irgendwann in diesen Tagen fällig sein musste, um herauszufinden, von wem die Gilde ihre Farben bezog. Ein reiner Routinejob also - einer von der Sorte, wie der Gnom sie am liebsten hattte.
Zur Zeit tat sich am Eingang nichts, und Großkopf saß an seinem Schreibtisch und erledigte irgendwelchen Papierkram.
Harry seufzte und legte das Fernglas wieder weg. Dann griff er in seinen Rucksack und holte ein Stück Brötchen heraus.
Der Regen hatte nachgelassen, und die ersten schüchternen Sonnenstrahlen spähten zaghaft zwischen den Wolken hervor. Pflichtbewusst hatte er aufgeschrieben, wann das Gebäude betreten oder verlassen wurde, aber kein Lieferant war unter den Ankommenden gewesen. Eigentlich war er ganz froh darüber, denn dieser Beobachtungsposten war von allen, die er kannte, so ziemlich der gemütlichste. Er hoffte nur, dass nicht ein Vogel auf den Gedanken kam, das Nest für sich zu beanspruchen. Bauten Tauben eigentlich Nester? Harry wusste es nicht, aber er wusste, dass man Tauben nicht über den Weg trauen konnte.
Apropos Tauben... eigentlich könnte er ja... Suchend glitt sein Blick über die Dächter und Straßen in seinem Blickfeld. Tatsächlich saß eine fette Taube nicht weit von seinem Aussichtspunkt entfernt auf der Straße und pickte an etwas herum. Das war doch eine gute Gelegenheit!
Er nahm seinen Bogen in die Hand und tastete nach seinem Köcher. Er besaß noch fast alle Pfeile, die er von seinem "Ausflug" auf die Insel der Kannibalengnome mitgebracht hatte. Er wollte sie für echte Notfälle aufbewahren, da er sicher war, dass in Ankh-Morpork niemand so kleine und dennoch scharfe Pfeilspitzen schmieden konnte. Aus diesem Grund hatte er sich Übungspfeile aus Zahnstochern gebastelt, deren Flugeigenschaften leider stark zu wünschen übrig ließen[6]. Einen solchen Pfeil nahm er sich jetzt und legte ihn in seinen Bogen ein. Man musste ja schließlich jede Gelegenheit zum Üben nutzen...
Er spannte den Bogen, zielte auf die Taube schräg unter ihm und ließ los...
...der Zahnstocher-Pfeil landete klackernd im Rinnstein, etwa einen Meter von der Taube entfernt, die unbeeindruckt weiterpickte.
Nicht schlecht, dachte Harry sich. Wenn man bedenkt, dass es vor einem Monat noch mindestens drei Meter gewesen wären...
Er steckte den Bogen zufrieden zurück, nahm einen Schluck Kaffee aus der Kanne und lehnte sich zurück...

14:40 Uhr


Der Gnom schreckte hoch. War er eingeschlafen? Musste er wohl... Mit seinem Fernglas überprüfte er Großkopfs Büro, aber niemand war zu sehen.
Harry dachte kurz nach. Was tun?
Das gleiche wie immer, entschied er sich, und fügte seinem Notizbuch nach einem prüfenden Blick auf den Sonnenstand die Zeile "ca. 15 Uhr: Immer noch keine Vorkommnisse" hinzu. Schließlich konnte zwar niemand ernsthaft von ihm erwarten, dass er ständig aufpasste (das war jedenfalls seine Meinung), aber andererseits wollte er gerne bei Eca einen guten Eindruck machen, und dafür war ein Eintrag "12 bis 15 Uhr: Mittagsschlaf" wahrscheinlich denkbar ungeeignet.
Er füllte sich neuen, inzwischen nur noch lauwarmen, Kaffee aus seiner Kanne ein und observierte weiter.

17:00 Uhr


Kaum hörte er den ersten Schlag der ersten Glocke der Stadt, packte Harry im Rekordtempo seine Sachen zusammen. Wenn bis jetzt keine Lieferung gekommen war, dann würde den Rest des Tages wohl auch nichts mehr passieren. Feierabend! Eines der liebsten Worte des Gnoms.
Mit geschultertem Rucksack rutschte er die Regenrinne herab und sah sich nach einer Mitfahrgelegenheit Richtung Boucherie um. Natürlich (wie sollte es auch anders sein? dachte der Spieß sich) hatte es inzwischen wieder zu regnen begonnen. Er warf noch einen prüfenden Blick zur Malergilde, entschied sich, dass nichts auffälliges zu sehen war, und sprang dann auf die Achse eines mit Heu beladenen Wagens, der höchstwahrscheinlich in Richtung der Mietställe unterwegs war und damit beinahe an der Boucherie vorbeifahren würde.

17:45 Uhr


"Komisch", grinste Ilona-Verona, die am Eingang der Boucherie stand, als Harry triefnass in seinem Keinesorge-Regenmantel angetrabt kam. "Immer, wenn ich dich so sehe, verspüre ich den Drang, dich kräftig abzurubbeln."
Harry errötete und lief wortlos an ihr vorbei.
Kurz darauf hatte er Ecas Büro erreicht, und betrat, nach einem kurzen Klopfen, durch die Katzen- bzw. Gnomenklappe den Raum.
"Ah, Harry!" begrüßte ihn Eca, nachdem sie sich kurz suchend umgesehen hatte. "Wie war dein Tag?"
"Keine besonderen Vorkommnisse", meinte der Gnom und hielt ihr seinen Bericht hin.
Eca stand hinter ihrem Schreibtisch auf, ging um ihn herum und nahm die vollgekrakelten Miniatur-Zettel entgegen. "Alles klar, danke." Sie legte die Zettel auf den Tisch und wandte sich wieder ihrem Papierkram zu. Nach kurzer Zeit merkte sie, dass der Gnom immer noch im Büro stand und sie in Gedanken versunkten anblickte. "Ist noch etwas?"
Harry sah auf und wurde wieder rot. "Äh... nein, nein. Alles in Ordnung." Er drehte sich um, wollte aus dem Büro gehen, und knallte dabei gegen die Klappe, die dummerweise nur nach innen aufging.
"Äh... 'tschuldigung", murmelte er, hob die Klappe an und floh aus dem Büro.
Eca sah ihm grinsend hinterher.

18:20 Uhr


Nach und nach waren die meisten DOG in ihren (mehr oder weniger) wohlverdienten Feierabend gegangem. Im Gegensatz zu den Wachhäusern in der Kröselstraße und am Pseudopolisplatz, wo nach dem offiziellen Feierabend meistens noch viel los war und die Wächter stundenlang am Wachetresen miteinander über alles mögliche redeten, war in der Boucherie abends für gewöhnlich schnell Schluss, da hier einfach nicht so viele Wächter arbeiteten wie in den beiden "echten" Wachhäusern. Robin Picardo, einer der beiden DOG, die außer Harry auch noch in der Boucherie wohnten, hatte sich schon verabschiedet und war in Richtung Pseudopolisplatz gezogen, um sich mit seinen Freunden aus anderen Abteilungen zu treffen. Harry stand mit denen, die noch da waren, auf dem Flur im ersten Stock und plauderte mit ihnen über die Ereignisse des Tages.
"So, ich gehe dann auch mal", meinte Dyn Amit, ein angehender Ermittler, gerade und winkte in die Runde. "Bis morgen!"
"Moment, Herr Amit, ich begleite Sie." Vico van Vermeer, einer der "Azubis" der DOG, und so ziemlich der merkwürdigste Mensch, den Harry je gesehen hatte[7], hauchte Harry und Ecatherina, den beiden letzten noch anwesenden Wächtern, Küsschen zu und trippelte dann hinter Dyn her. Vico übernachtete zwar ebenfalls für gewöhnlich in der Boucherie, war aber abends für gewöhnlich lange unterwegs - Harry wollte gar nicht wissen, wo.
"Stimmt, langsam wird es Zeit." Eca warf einen Blick auf ihre Uhr. "Schönen Abend noch, Gnömchen - und geh nicht zu spät ins Bett, hörst du?" Sie kicherte, beugte sich zu ihm herab und gab ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. "Bis morgen!"
Harry errötete erneut und verfluchte sich innerlich dafür. Aber glücklicherweise war Eca schon auf dem Weg zur Treppe und bekam davon nichts mit.
"Gute Nacht..." murmelte er leise.

Draußen ging die Sonne unter, und ein Stockwerk unter ihm begann die Hauptgeschäftszeit. Harry ging zurück in sein Puppenhaus, zündete eine winzige Kerze an, und setzte sich auf einen der Puppenstühle. Diese Abende waren etwas, worauf er gerne verzichtet hätte. Langeweile tagsüber bei der Arbeit war schön und gut, und ab und zu kam ja auch etwas Abwechslung dazu (dann allerdings zugegebenermaßen meistens mehr, als ihm lieb war), aber die Langeweile und die Einsamkeit am Abend machten ihm immer schwer zu schaffen. Früher war er abends mal im Fuchsbau, dem Etabliehsmang von Krimpik Knurblich gewesen, aber die anwesenden Gnome hatten ihm freundlich klar gemacht, dass er nicht sonderlich willkommen war. Außerdem erinnerte ihn das nur an Veni und die Zeit, bevor diese gebissen worden war... Wieder einmal wünschte er sich, dass er ihr damals gesagt hätte, wie er für sie empfand. Vielleicht wären sie dadurch beide in ein anderes Hosenbein der Zeit gerutscht, und all das wäre nie passiert... aber dafür war es jetzt zu spät.
Anscheinend war er schon wieder in seine typische Abenddepression verfallen. Er seufzte und versuchte, an etwas fröhlicheres zu denken, aber es gelang ihm nicht. Wenn er in diese Stimmung geriet, dann half ihm meistens nur eines...
Er ging zum Regal, das im Puppenzimmer an der Wand montiert war. Er hatte es selbst angebracht, und seine kostbarsten Besitztümer darauf gestellt. Er hatte sie schon besessen, lange bevor er in die Stadt kam.
Es waren drei zerfledderte und verschmutzte Bücher, die er schon so oft gelesen hatte, dass er viele Passagen auswendig kannte. Er nahm das vorderste, setzte sich wieder auf den Stuhl, und schlug das Buch dort auf, wo ein Lesezeichen darin steckte.

"Freddy, hilf mir!" Die Prinzessin wand sich in ihren Fesseln, doch die Banditen verstanden ihr Handwerk und hatten sie so fest gefesselt, dass sie keine Chance hatte.
Freddy sprang auf den nächsten Zweig. Er musste Yorina erreichen, bevor es die Elster tat, doch er konnte die Flügelschläge des Monsters schon hören. Er schwor sich, dass er diesen Räuberbaron finden und töten würde. Niemand, der so barbarisch war, ein wehrloses Mädchen einfach dem Tode zu überlassen, verdiente etwas anderes.
Ein Klimmzug brachte ihn auf den Ast, auf dem sich das Nest befand, als Yorina auf einmal schrie: "Freddy! Hinter dir!"
Freddy Frettchentöter drehte sich blitzschnell um und sah sich der Todeselster Auge in Auge gegenüber, die gierig ihren Schnabel aufsperrte und ihn mit ihren dunklen Augen böse anblickte.
Freddy zog sein glänzendes Schwert und ging in Angriffsstellung.


20:30 Uhr


Die Kerze war fast herunter gebrannt, und die Geschichte war zu Ende. Freddy hatte die Bösen besiegt, wie er es auch die zwanzig Mal zuvor getan hatte, die Harry das Buch schon gelesen hatte.
Früher... früher hatte er noch geglaubt, dass es wirklich solche Helden gab. Er hatte gehofft, in Ankh-Morpork Heldentaten vollbringen zu können, und - mit etwas Glück - eine Prinzessin zu finden. Aber das war lange her.
Er seufzte erneut und stellte das Buch zurück ins Regal. Zeit zum Schlafengehen.

21:05 Uhr


Erst als er im Bett lag, und dem Quietschen der Bettfedern in der Etage unter ihm lauschte, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, seine Wäsche zu waschen. Aber morgen war auch noch ein Tag...
[1] Wie eigentlich überall in der Stadt. Die ersten Versuche der Klempnergilde, mit Rohren auch in höheren Stockwerken entsprechende Einrichtungen zu bauen, waren auf ziemlich unangenehme Arten gescheitert.

[2] Es gab wahrscheinlich nicht viele Stühle in Ankh-Morpork, bei denen ein Bein durch geschickte Zimmermannsarbeit in eine kleine Leiter umfunktioniert worden war

[3] Meistens nannten sie sich "Anstreichergilde", weil sie immer mit den Malern der Künstlergilde verwechselt wurden. Aber Malergilde war der offizielle Name.

[4] Ilona-Verona, eine Näherin der Boucherie Rouge, die ihn wohl irgendwie niedlich fand und tatsächlich im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen einigermaßen mit Nadel und Faden umgehen konnte, hatte ihn ihm als Silvestergeschenk aus einem Keinesorge XXL angefertigt

[5] Nur dass dieser mit Gummi überzogen war - ebenfalls ein Geschenk von Ilona-Verona, die anscheinend einen unerschöpflichen Vorrat an Gummi besaß

[6] allerdings fiel das bei seinen miserablen Schießkünsten nicht weiter ins Gewicht

[7] Er konnte sich auf ihn einfach keinen Reim machen - jedenfalls benahm Vico sich nicht so, wie Harry es bisher von seinen Kollegen gewohnt war




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