Die Geister die er nicht rief

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von Gefreiter Araghast Breguyar (FROG)
Online seit 23. 12. 2002
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Ein Silvesterlied in Prosa, einiger Spuk und ein hartherziger Mann- Die etwas andere Geistergeschichte der Silvesternacht

Dafür vergebene Note: 14

Es treten auf:
Ein hartherziger, verbitterter Mann
Harleys Geist
Der Geist des vergangenen Silvesterfestes
Der Geist des heutigen Silvesterfestes
Der Geist des zukünftigen Silvesterfestes
Johnny Klawitter, Alchimistenlehrling und zeitweiliger Mietschneevater
Der Schneevater, Bringer von Geschenken und Festtagsfreude
Gevatter Tod, die letzte Realität
Major Contessa, Lebkuchenmann und Anführer der Wache des Knochenschlosses
Herr Wollsocke, Laden- und Kaminbesitzer
Julius Herr, Schriftsteller
Hermione Vanderby, seine Verlobte
Binky, Tods Pferd
Der Junge mit dem Buch
Die dicke Frau deren ganze Rolle in dieser Geschichte darin besteht, Schritte auf einem Flur zu erzeugen und einmal kurz in einen Schlafsaal hereinzuspähen
Und einige Wächter der Stadtwache Ankh-Morporks
(Die diversen Alarme mußten aufgrund einiger Beschwerden der Nachbarn der Autorin leider gestrichen werden)


PROLOG

In diesem Jahr schienen sich die Wettergötter zum Silvesterfest besondere Mühe gegeben zu haben. In dichten weißen Flocken rieselte der Schnee zu Boden und verlieh Ankh-Morpork ausnahmsweise einmal ein wirklich postkartenwürdiges Aussehen. Die gesamte Stadt schien sich in Festtagsstimmung zu befinden. Familien trafen sich zum geselligen Beisammensein vor dem Kamin und in den Gildenhäusern fanden Festbankette statt. [1] Der amtierende Patrizier hatte die oberen Zehntausend zu einem prunkvollen Silvesterball in den Palast geladen und selbst die Bettler und Obdachlosen trafen sich zu einer kleinen Feier an den besser befeuerten brennenden Mülltonnen und begossen das Silvesterfest mit einer Runde fermentiertem Terpentin aus einer zur Feier des Tages extra rostigen Dose.
Das strenge, düstere Backsteingebäude in der Nähe des Hide Park wirkte wie ausgestorben. Die Vorhänge hinter den dunklen Fenstern waren zugezogen und der Schornstein blies nicht die geringste Rauchwolke in den frühen Abend. Über der schweren Eichenholztür stand in schlichten Lettern:

Robert M. Cratchit

Knabeninternat


Doch Moment...
An einem Fenster im zweiten Stock bewegte sich die Gardine. Jemand hauchte gegen die Eisblumen und ein Ärmel wurde über die betreffende Stelle gerieben. Das blasse, hagere Gesicht eines etwa zehnjährigen Jungen erschien in der so entstandenen Lücke und zwei ernste, wache Augen blickten sehnsüchtig nach draußen in den Schnee. Er schien auf etwas zu warten. [2]
Er mochte wohl eine halbe Stunde reglos dort gestanden haben während seine Füße langsam kalt wurden. Doch plötzlich drehte er den Kopf und schien angestrengt zu lauschen. Nach kurzer Zeit war es auch für den ungeübten Zuhörer zu vernehmen- Das Geräusch sich nähernder Schritte. Lautlos schlich der Junge auf Zehenspitzen durch den kalten, leeren Schlafsaal und kroch in sein Bett, das in der hintersten Ecke stand. Dort lauschte er weiter angestrengt in die Dunkelheit. Mittlerweile hatte sich den Schritten ein leises Schnaufen hinzugesellt.
Der Junge seufzte beinahe unhörbar. Wenigstens war er nun zur Abwechslung einmal wirklich allein. Seine Mitschüler, deren Lieblingsbeschäftigung es zu sein schien, ihm das Leben schwer zu machen, waren über Silvester nach Hause zu ihren Familien gereist. Nur er war zurückgeblieben. Aber wo hätte er auch hinsollen. Soweit er wußte besaß er keinen einzigen lebenden Verwandten mehr. Und Freunde hatte er ebenfalls nicht. Jemand der bereits im Alter von zehn Jahren in der Lage war, den Mathematiklehrer beim Schachspiel in fünfzehn Zügen matt zu setzen hatte keine Freunde.
Die Schritte hielten vor der Tür zum Schlafsaal inne und die Klinke wurde heruntergedrückt. Eine dicke Frau sah herein, stellte fest, daß kein Licht mehr brannte und schloß die Tür wieder. Ihre Schritte mit der gelegentlichen Schnaufeinlage verhallten im Korridor.
Der Junge wartete noch einige Minuten und schob dann seine Hand unter das Kopfkissen. Seine tastenden Finger fanden, was sie gesucht hatten: Eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer. Der Junge entzündete die Kerze und steckte sie auf einen Nagel der aus der Nachttischplatte ragte. Geschmeidig glitt er aus dem Bett und hob die Matratze an, worunter sich sein geheimes Bücherlager befand. Nicht auszudenken wenn seine ignoranten Mitschüler diese Fülle an Druckerzeugnissen in die Hände bekommen hätten...
Zwischen 'Die Partie von Egin Tiefblau und Oleg Poppoff Schritt für Schritt erklärt', dem 'Achatenen Standardwörterbuch' und 'Tante's Fegefeuer' fand er schließlich, was er gesucht hatte. Einen schmalen, grünen Band mit goldener, verschnörkelter Schrift auf dem Umschlag, die den Titel und den Autor verkündete: Ein Silvesterlied in Prosa. Eine Geistergeschichte der Silvesternacht von Karl Dickmann.
Der Junge breitete seine Matratze wieder sorgfältig über seine Schätze und setzte sich im Schneidersitz auf das Bett. Er zog sich die Decke eng um die mageren Schultern, strich sich das schwarze Haar aus den Augen und schlug das Buch auf...

Harley war tot- Soviel zum Anfang.
Darüber konnte auch nicht der geringste Zweifel herrschen. Sein Beerdigungsschein war von dem Priester, dem Anwalt, dam Leichenbestatter und dem Hauptleidtragenden unterzeichnet. Snootch hatte seine Unterschrift darunter gesetzt und Snootchs Name war gut in der Kaufmannsgilde für alles was er mit seiner Handschrift zu versehen beliebte.
Der alte Harley war so tot wie ein Sargnagel.


1. KAPITEL: JOHNNYS GEIST

Am gleichen Abend an einer anderen Stelle Ankh-Morporks.
Johnny Klawitter kniff die Augen zusammen und versuchte, nicht nach unten zu blicken. Er stand auf dem Dach eines Hauses in einem der vornehmeren Viertel der Stadt und der Wind zerrte an seinem Schneevaterkostüm. Dankbar umklammerte er den Schornstein und spähte hinein. Unten im Kamin schien kein Feuer zu brennen. Wenigstens daran hatten die Leute gedacht, überlegte Johnny als er sich langsam in die enge, ascheverklebte Röhre gleiten ließ. Er hatte nicht die geringste Lust, sein Ziel gebraten zu erreichen.
Mittlerweile bereute der angehende Alchimist aus ganzem Herzen, das Angebot als Mietschneevater angenommen zu haben. Doch nach dem er bei einem ziemlich vielversprechenden Versuch einen Großteil des Gildengebäudes gesprengt hatte, schuldete er der Gilde plötzlich ziemlich viel Geld, daß er sich auf irgendeine Weise beschaffen mußte.
"So ein Mist", brummelte er in seinen falschen Rauschebart als einer der Trittsteine mit einem leisen Klicken nachgab und Johnny Klawitters Körper von diversen Klingen aufgespießt wurde, die urplötzlich aus den Wänden schossen. Sein Auftraggeber hatte ihm sowohl den Sack mit den Geschenken als auch eine genaue Beschreibung des Weges auf das Dach gegeben. Dummerweise hatte er jedoch vergessen, die Assassinenfalle im Kamin zu deaktivieren.

Johnny atmete erleichtert auf. Da wäre er doch beinahe abgestürzt...
Vorsichtig kletterte er ein Stückchen weiter nach unten, mußte jedoch feststellen, daß seine Hände die Trittsteine einfach durchdrangen. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Irgend etwas stimmte da gar nicht...
Er riskierte einen Blick nach oben. Über ihm klemmte etwas im Kamin das verdächtig nach seinem... Vor Schreck über die plötzliche Erkenntnis ließ Johnny die Trittsteine los. Aber anstatt den Gesetzen der Schwerkraft zu gehorchen und den Kaminschlot hinunterzusausen schwebte er einfach auf der Stelle.
"ES IST EIN WENIG VERWIRREND, NICHT WAHR?" fragte eine Stimme neben seinem Ohr.
Eine hochgewachsene, dürre Gestalt in einem schwarzen Kapuzenmantel stand...nein, das war doch unmöglich...in der Soliden Mauer des Schornsteins. Über ihre Schulter ragte eigewisses landwirtschaftliches Gerät, daß an der Identität der Erscheinung keinen Zweifel mehr ließ.
Johnny seufzte.
"Dann bin ich also tot?" vergewisserte er sich.
"ES SIEHT GANZ SO AUS", antwortete Tod und schwang die Sense.
Der Kamin verflüchtigte sich und Johnny Klawitter, beziehungsweise der Geist Johnny Klawitters, stand auf einer weiten weißen Fläche, die sich in alle Richtungen geradewegs in die Ewigkeit zu erstrecken schien. Der einzige Anhaltspunkt war eine Art Turm der sich an der Grenze des Wahrnehmbaren erhob und den Eindruck erweckte, geradewegs aus einem einzigen Eisblock herausgemeißelt worden zu sein.
Johnny sah sich verwirrt um.
"Und was soll ich hier?" fragte er den Schnitter, der immer noch neben ihm stand. "Ich dachte immer nach dem Tod würde man vor einem Gericht der Götter oder so was Ähnlichem landen."
Ein knöcherner Zeigefinger wies auf den Turm aus Eis.
"DU STARBST ALS SCHNEEVATER, JOHNNY KLAWITTER. SOMIT FÄLLT DEIN GERICHT IN SEINEN ZUSTÄNDIGKEITSBEREICH. ER ERWARTET DICH DORT DRÜBEN UND WIRD DIR SAGEN WAS DEINE AUFGABE SEIN WIRD."
"Aufgabe?" wunderte sich Johnny. "Was für eine Aufgabe?"
Tod zuckte mit den knöchernen Schultern.
"EHRLICH GESAGT WEISS ICH ES NICHT. ICH BIN NUR FÜR DEN TEIL VERANTWORTLICH DER DAS ABLEBEN BETRIFFT."
Er schnippte mit den Fingern und ein prächtiges, weißes Pferd erschien wie aus dem Nichts und trabte auf seinen Herrn zu. Als es vor ihm stehen blieb ergriff Tod die Zügel und schwang sich in den Sattel. Er nickte Johnny zu.
"UND TROTZ ALLER UNANNEHMLICHKEITEN WÜNSCHE ICH NOCH EIN FROHES SILVESTERFEST."
Im Nullkommanichts waren von Tod und Binky nur noch zwei leuchtende Hufabdrücke im Schnee geblieben, die langsam verblaßten.
Nicht so sehr weil der Turm aus Eis den Tod ihm gezeigt hatte besonders einladend erschien sondern weil ihm eigentlich gar nichts anderes übrig blieb begann Johnny, in seine Richtung zu stapfen. [3] Es würde dauern, bis er dort ankam. Doch Zeit spielte für Johnny nun keine Rolle mehr.
Tot, dachte er betrübt. Einfach so, von einer Sekunde auf die andere. Eben noch ein an Höhenangst leidender Alchimistenlehrling in Ausübung eines Nebenjobs und nun ein Geist, verstorben und vermutlich auch bald vergessen. Er fragte sich seine Leiche überhaupt jemals gefunden werden würde, dort oben im Kamin, vergessen von allen außer den Tauben und den Raben, die sich bestimmt über eine anständige Mahlzeit mitten im Winter freuen würden. Es war einfach deprimierend.
Langsam kam der Turm näher und Johnny war in der Lage, Einzelheiten zu erkennen. Das Gebäude schien wirklich komplett aus Eis zu bestehen. Allerdings wirkte es nicht gerade besonders einladend, sondern eher kalt und abstoßend. Die vielen spitzen Eiszapfen paßten einfach nicht zur Behausung einer Person wie dem Schneevater.
Ehrfurchtsvoll trat der Geist Johnny Klawitters durch das gewaltige Portal und sah sich verblüfft um. Eine ganze Legion von Wichtelmännchen eilte geschäftig durch einen riesigen Saal, dessen Boden über und über mit Spielzeugsoldaten und Puppen bedeckt war. Verstohlen und sich wie ein Eindringling vorkommend drang Johnny ein wenig weiter in den kathedralenartigen Raum vor- und erschrak plötzlich. Hinter ihm hatte sich die Flügel des Portals mit einem lauten Krachen geschlossen.
Beunruhigend schwere Schritte näherten sich ihm von hinten und eine prankenartige Lebkuchenhand wollte auf seiner Schulter landen und fiel geradewegs hindurch.
"Im Namen des Schneevaters, du bist verhaftet!" bellte eine Stimme neben seinem Ohr, die keine Widerrede zu dulden schien.
"Wie bitte?" Johnny glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. "Man hat mich hierhergeschickt! Ich wollte nichts stehlen, falls ihr das denkt!"
"Order vom Schäff persönlich", schnarrte der Lebkuchenmann. "Du sollst sofort zu ihm gebracht werden."

"Ah ja." Der Schneevater musterte Johnny über den Rand seiner Lesebrille hinweg. "Du bist also der junge Monopolverletzer."
"Was soll ich sein?"
Johnny verstand die Welt nicht mehr. Erst starb er, dann schleppte er sich durch eine Schneewüste zu diesem Schloß, wurde gefangengenommen, von einem grimmigen Lebkuchenmann durch endlose Gänge aus Eis geschleift und sah sich nun einem Schneevater gegenüber dessen finstere Miene und herrische Stimme so gar nicht zu dem Bild des Schneevaters passten das er zu Lebzeiten gehabt hatte.
"Wie ich sehe hast du versucht, mein Aussehen zu imitieren", erläuterte der Schneevater ungeduldig.
Johnny sah an sich herunter. Tatsächlich: Sein durchsichtiger Ektoplasmakörper trug noch immer eine Geisterversion des Schneevaterkostüms in dem er gestorben war.
"Äääh..., aber ich...", brachte er nicht besonders geistreich hervor, "Aber ich meine, äh, es ist gewissermaßen... Tradition, verstehen Sie? Viele Menschen verkleiden sich zum Silvesterfest als Schneevater."
Dieser wies jedoch nur auf ein uraltes, in schweres Leder, dessen Ursprung Johnny lieber nicht wissen wollte, gebundenes Buch auf seinem Schreibtisch.
"Nach dem Abkommen von Würdentracht hat jeder Gott oder sonstige antropomorphe Personifizierung das Recht auf eine eigene, unverwechselbare Gestalt. Und du, Johnny Klawitter, hast es heute Abend gebrochen."
"Aber, ich..." versuchte Johnny es noch einmal.
"Es tut mir leid, aber es ist Gesetz", erklärte der Schneevater streng. "Und was deine Bestrafung betrifft..."
Er beugte sich über seinen Schreibtisch und reichte Johnny eine kleine Kristallkugel. Wider Erwarten fiel sie nicht durch seine Hand hindurch sondern blieb auf der Handfläche liegen.
"Schau hinein." befahl der Schneevater, "Und sag mir was du siehst."
Johnny starrte auf das schimmernde Etwas in seiner Handfläche. Die kleine Kugel schien von innen zu glühen und goldene Nebelschwaden zogen hindurch.
"Ich sehe nichts, Herr", klagte Johnny. "Es ist alles vernebelt!"
"Konzentrier dich!" drang der Schneevater.
Johnny versuchte es. Und plötzlich spürte er etwas.
"Es ist...als ob etwas auf mir lasten würde", teilte er dem Schneevater mit. "Eine... Mischung aus Einsamkeit und Enttäuschung."
"Na Bitte." Der Schneevater schien zufrieden. "Es geht doch."
Langsam wurde die kleine Kugel klarer. Das Bild zeigte ein dunkles Zimmer, in dem eine einzelne Kerzenflamme vergeblich versuchte, sich gegen die Schatten zu behaupten. Das Licht schien auf Johnny zuzufliegen bis er in dessen flackerndem Schein einen etwa zehnjährigen Jungen erkennen konnte, der auf seinem Bett saß und in einem Buch las.
"Wer ist er?" fragte Johnny. "Und warum zeigst du mir gerade ihn, Herr?"
"Dieser Junge," erklärte der Schneevater, "Hat weder Eltern noch Freunde, noch sonst jemanden der ihn wirklich gern hat. Es ist bereits das vierte Silvesterfest das er allein im Schlafsaal dieser Knabenschule verbringen muß."
"Oh."
Einige flüchtige Erinnerungen an die Silvesterfeste seiner eigenen Kindheit streiften Johnny und zeigten ihm unter anderem einen prächtig geschmückten Tannenbaum, ein Festmahl, eine Menge Feuerwerk und seinen Onkel Gustav der alle Jahre wieder darauf bestanden hatte mit Hilfe von Papierhüten und Scherzartikeln über die nur er selbst lachte Stimmung zu verbreiten.
"Aber was hat das mit mir zu tun?" wollte er wissen.
"Johnny, du kannst dich doch daran erinnern, daß ich vor wenigen Minuten das Wort 'Bestrafung' erwähnt habe."
Ein Lächeln spielte um die Lippen des Schneevaters und plötzlich wirkte er wieder so wie Johnny ihn sich immer vorgestellt hatte- Ein gütiger alter Mann mit einem langen, weißen Rauschebart, der nun über den Schreibtisch wischte als sein Träger sich vorbeugte.
"Kennst du die Geschichte von Snootch und Harley, Johnny?"
Johnny nickte. Natürlich kannte er die Geschichte des geizigen Kaufmanns Ebenezer Snootch, der in der Silvesternacht Besuch von drei Geistern erhielt, die ihn Güte und Barmherzigkeit lehrten. Jedes Jahr zu Silvester hatte er sie von seinem Vater vorgelesen bekommen.
"Also gut", sagte der Schneevater. "Meine Aufgabe an dich ist folgende: Du hast den Jungen in der Kugel gesehen. Erscheine ihm und zeige ihm, daß das Silvesterfest nicht zwangsläufig Einsamkeit bedeuten muß. Nimm ihn an die Hand wie die Geister der verschiedenen Silvesterfeste es mit Mister Snootch gemacht haben und nimm ihn mit in die Teekuchenstraße. Dort wohnt ein kinderloses Ehepaar namens Hoskins das sich schon lange einen Sohn wünscht. Mache den dreien das größte Geschenk das mein Segen zu vergeben
hat: Glück. Ich gebe dir Zeit bis der alte Tom in der Neujahrsnacht zweimal schlägt. Schaffst du deine Aufgabe, gebe ich dich frei. Versagst du hingegen..." Der Blick des Schneevaters wurde wieder streng. "Versagst du hingegen, werden die Dämonen im Pandämonium wohl bald einen neuen Gast begrüßen dürfen."
"Äh, erlaubst du mir noch eine Frage, Herr?" fragte Johnny schüchtern und schluckte. Die Hölle. Das hörte sich gar nicht gut an...
"Was gibt es?" wollte der Schneevater wissen.
"Also wenn ich es vermassele", versuchte Johnny sich zu artikulieren, "Was wird dann aus dem Jungen?"
"Wenn du es nicht schaffst," erklärte der Schneevater, "Wird er als der skrupelloseste Mann Ankh-Morporks enden."
"Oh jemine..." Johnny wirkte ehrlich erschrocken. "Und das kan ich wirklich verhindern?"
Der Schneevater nickte.
"Geh jetzt, Johnny. Denk daran, deine Zeit ist knapp. "
"Ja, Herr", brachte dieser noch hervor und schwebte aus dem Raum. Langsam bekam er heraus, worauf es dabei ankam.
Draußen auf dem endlosen Flur aus Eis öffnete Johnny seine transparente Hand und blickte auf die Kugel. Das Bild hatte sich nicht geändert.
Armer Junge, dachte Johnny mitfühlend und drückte eine metaphorische Träne ab. Ich werde dir helfen und dir ein unglückliches Leben ersparen. Wenn ich nur wüßte wer du bist...
Plötzlich blickte der Junge auf schien geradewegs in den Focus der Kugel zu sehen. Johnny erschrak. Einen derartigen Blick hatte er bei einem Kind noch nie gesehen. Kinder sollten doch eigentlich automatisch mit ihren Augen lachen können, dachte sich Johnny. Doch der Blick der eisblauen Augen war hart und kalt.
Aus irgendeinem Grund beschlich Johnny das Gefühl, daß er sich beeilen mußte. Wie war das gleich noch mal gewesen? Konzentrieren...
Johnny Klawitter konzentrierte sich. So fest wie es einem Geist nur möglich war umklammerte er die kleine Kugel.
Schließlich riß ihn etwas mit aller Macht seitwärts und er wurde von den Wirbeln des Raum-Zeit-Kontinuums verschluckt......

In genau diesem Augenblick setzte sich eine Fliege auf die Nase eines Mannes. Was an sich ein völlig belangloses Ereignis war. Beinahe...

.......und nach einer Sekunde und einer Ewigkeit mitten in einem brennenden Kaminfeuer wieder ausgespuckt.
Nachdem Johnny sich fürchterlich erschrocken, seinen Verstand bemüht, der ihm sagte, daß es ihm als Geist egal sein konnte, und sich wieder gesammelt hatte, spähte er heimlich in den angrenzenden Raum.
Es war eine große Küche, die mit einigen Girlanden festlich geschmückt war. Eine rundliche Frau stand am Herd, rührte in einem großen Topf und unterhielt sich mit einer jüngeren Frau. Durch das Prasseln des Feuers konnte Johnny einen Teil des Gespräches mitbekommen.
"...und Bill will seine Gitarre mitbringen."
"Und was ist mit Rufus?" fragte die junge Frau und spähte in den Topf.
"Der geht heute woanders feiern. Du weißt ja, was man über ihn munkelt..." Die Köchin verfiel in verschwörerisches Flüstern.
"Ach Edna", seufzte die Jüngere, "Laß ihn doch. Wir leben in modernen Zeiten. Was ich aber wirklich seltsam finde ist, daß Er überhaupt nicht feiert.
Die Köchin schnaubte verächtlich.
"Er gehört zu der Sorte Personen die das Wort Silvesterfest in einem Lexikon nachschlagen müssen. Wirklich erstaunlich, daß solch ein Mensch überhaupt noch ein Herz in der Brust hat und keinen Eisblock." Sie rührte heftig im Topf. "Aber das soll nicht unsere Sorge sein." Ihre Stimme schaltete wieder auf den Vertraulich-Modus. "Übrigens, hast du schon gehört, daß Mildred schwanger sein soll?"

Johnny war ein wenig verwirrt. Natürlich hatten Internate Küchen, aber daß ausgerechnet am Silvesterabend dort so viel Betrieb herrschen sollte schien ihm schon ziemlich seltsam. Er blickte nach oben. Über ihm stieg ein Kaminschlot senkrecht einige Stockwerke in die Höhe. Na wunderbar, dachte er, nicht schon wieder so ein Ding. Erst starb man in einem, nur um festzustellen, daß das Leben nach dem Tode nur noch aus weiteren Kaminschloten bestand. Aber was sollte er machen. Er beschloß, einfach Stockwerk für Stockwerk nach oben zu schweben, bis er entweder den Jungen oder jemanden anderen gefunden hatte der ihm weiterhelfen konnte. Mühelos, wie er zu seinem Erstaunen feststellte, schwebte er aufwärts.
In seiner Hand ruhte vergessen die kleine Kugel des Schneevaters. Hätte er hineingeblickt, hätte er festgestellt, daß sich das Bild darin geändert hatte...

Als Johnny meinte, ungefähr in der Höhe des ersten Stockwerkes angekommen zu sein hielt er inne. Vorsichtig, als ob er sich etwas heißem nähern würde, hob er einen Zeigefinger und stieß behutsam gegen die Wand. Der Finger durchdrang das Mauerwerk als würde es gar nicht existieren. Zufrieden schob Johnny seinen Kopf hinterher-
und blickte in ein kleines Schlafzimmer. Ein junger Mann, auf dessen Stirn nur noch der Stempel mit der Aufschrift 'Beamter' fehlte, stand vor einem Spiegel und summte fröhlich vor sich hin. Er trug Abendkleidung, doch einige Details erschienen Johnny ein wenig seltsam, zum Beispiel die rosarote Federboa, die der junge Mann sich um den Hals geschlungen hatte. Außerdem schienen seine Gesichtszüge ein wenig... intensiver zu sein. Solch rote Lippen hatte Johnny bei einem Mann noch nie gesehen. Zufrieden musterte der mutmaßliche Beamte sich ein letztes Mal im Spiegel, warf sich das eine Ende der Federboa neckisch über die Schulter, spazierte mit leichten Schritten aus dem Zimmer und pfiff dabei die Quirminaise.
Interessant, dachte Johnny. Was sich in den Ferien nicht so alles in Internaten herumtrieb...
Langsam kam ihm das Gebäude ein wenig seltsam für eine Schule vor.

Das nächste Zimmer entpuppte sich als eine Art Klassenraum.
Mehrere Schreibtische standen Rücken an Rücken und die Wände wurden von wuchtigen Aktenschränken fast komplett verdeckt. Ein fremd aussehender Apparat stand mit einer Haube versehen in einer Ecke. Allerdings wies der Raum einen entscheidenden Mangel an für Klassenzimmer normalerweise notwendigen Einrichtungsgegenständen wie eine Wandtafel oder einen Lehrerkatheder auf. Johnny zuckte mit den Ektoplasmaschultern. Vermutlich legte man hier nicht so viel Wert auf formalen Unterricht. Er erinnerte sich vage, irgendwann einmal von gewissen pädagogischen Konzepten in jener Richtung gehört zu haben. Antitotalitäre Erziehung oder so ähnlich hate es geheißen. Aber wer war dieser Mann den die Frauen in der Küche erwähnt hatten? Die Bedeutung des Silvesterfestes in einem Lexikon nachschlagen. Aber das traf eigentlich nur auf Mister Snootch zu. Und der war doch lediglich eine Erfindung des Schriftstellers Karl Dickmann. Kopfschüttelnd machte sich Johnny wieder auf den Weg. Durch die Feuerstelle der Küche drangen langsam die ersten Geräusche einer fröhlichen Feier zu ihm herauf.

Und so arbeitete sich Johnny langsam durch den Schornsteinschacht nach oben und entdeckte außer einigen weiteren Klassenzimmern der gleichen sonderbaren Art unter anderem einen mit Portraits älterer, meist würdevoller (und gelegentlich auch irre grinsender) Männer dekorierten Flur, ein Lager für Akten und Formulare aller Art (vermutlich das Schularchiv), eine Besenkammer und, zu seinem Erstaunen, mehrere Eisengitter, die den Schacht für Individuen die noch einen Körper besaßen unpassierbar machten. Seinen Überlegungen nach mußte er sich mittlerweile im sechsten Stock befinden und er hatte immer noch nicht die geringste Spur eines Schlafsaales gefunden. Vermutlich befand er sich im falschen Teil des Gebäudes.
In die Wand des Schachtes war ein weiteres Eisengitter eingelassen, hinter dem ein waagerechter Gang vermutlich zu weiteren Kaminen führte. In Ermangelung anderer kreativer Vorschläge seitens seines Verstandes beschloß Johnny, ihm zu folgen. Er durchdrang das Gitter und gewahrte einen schwachen Lichtschimmer vor sich. Schwebend näherte er sich der Lichtquelle und stellte erstaunt fest, daß sie erstens ein gutes Stück näher war als erwartet und zweitens aus lediglich drei vor sich hinglimmenden Kohlen bestand. Das Zimmer, in dessen Kamin er sich befand schien dieses Mal eine Art Büro zu sein. Ein wuchtiger Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes, dessen Einrichtung auf Johnny erstaunlich edel für eine Schule wirkte. Vermutlich war dies das Büro des Rektors. Was ihn jedoch wirklich verwunderte war die Tatsache, daß jemand anwesend war. Eine einzelne Kerze verwandelte den Schreibtisch in eine trübe beleuchtete Insel auf einem Ozean der Dunkelheit. Ein Mann saß über einem Stapel Dokumente und schien eifrig zu lesen. Eine langfingerige, schmale Hand spielte dabei wie abwesend mit einem Brieföffner. Verrückt, dachte Johnny. Es gab doch tatsächlich Leute die am Silvesterabend noch arbeiteten. Nun, vielleicht wußte der Mann ja, wo der Schlafsaal war. Doch irgend etwas an ihm wirkte vertraut. Johnny betrachtete den Lesenden genauer. Das schwarze, an den Schläfen bereits ergrauende Haar war streng aus dem blassen, hageren Gesicht gekämmt. Überhaupt zeichnete sich die gesamte Erscheinung durch eine gewisse kühle Härte aus. Die Raubvogelnase und die dünnen Lippen vervollständigten das Bild. Ebenezer Snootch, dachte Johnny. So hatte er sich den hartherzigsten Mann Ankh-Morporks als Kind immer vorgestellt.
Er nahm all seinen Mut zusammen und schwebte vor.
"Äh Hallo?" fragte er schüchtern, "Wissen Sie vielleicht wie ich hier zum Schlafsaal komme?"
Der Mann sah auf und eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Johnny hatte das Gefühl, daß ihn der Blick aus den eisblauen Augen gleich zwei Dolchen durchbohrte.
Diesen Moment nutzte jene Kraft, die auch als die siedendheiße Erkenntnis bekannt ist, um ihren metaphorischen eisenbeschlagenen Stiefel mit voller Wucht gegen Johnnys Hinterkopf zu rammen.
Etwas war fürchterlich schiefgelaufen.
Er hatte den Jungen tatsächlich gefunden.
Dummerweise hatte ihn irgend etwas um schätzungsweise vierzig Jahre in die Zukunft katapultiert.


2. KAPITEL: DIE LEICHE DES VERGANGENEN SILVESTERFESTES

"Also, es fing damit an, daß ich das Feuer anzünden wollte und der ganze Qualm ins Zimmer zurückzog." erklärte Herr Wollsocke den beiden SUSI-Mitgliedern, die sich um den Kamin gescharrt hatten. "Daraufhin bin ich in die Feuerstelle gestiegen und habe gesehn, daß dort was festklemmt. "Als ich dann mit dem Schürhaben nachgestochert habe, fiel das da herunter."
Er wies auf den skelettierten Fuß, der unübersehbar inmitten der Überreste eines hastig gelöschten Feuers lag.
"Daraufhin habe ich Sie natürlich sofort verständigt." Er seufzte. "Und das am Silvesternachmittag..."
Clara Bienchen befestigte ihr Auge an einer Kamingabel und schob die Konstruktion vorsichtig in den Schornstein.
"So weit ich es erkennen kann, hängt da etwas auf ungefähr halber Höhe fest. Kann mir mal jemand Licht geben?"
Alice reichte ihr eine Kerze.
"Meine Güte," bemerkte die Gerichtsmedizineranwärterin, als die Flamme den Kaminschlot erhellte. "Von dem ist ja wirklich nicht mehr viel übrig."
"Was ist los?" wollte Alice wissen.
"Der Tote der da drinhängt ist quasi schon skelettiert." berichtete Clara und zog ihr Auge zurück. "Außerdem steckt da noch was im Schacht, es könnte eine Art Sack sein. Kann mal jemand aufs Dach klettern und sich das Ganze von oben mal angucken?"
"Jemand? Du bist witzig", seufzte Alice. "Jemand heißt in diesem Falle wohl ich. Wenn Herr Wollsocke so nett ist, mir einen Weg aufs Dach zu zeigen?"
"Es ist ganz einfach", erklärte dieser, sich Mühe gebend, möglichst hilfsbereit zu erscheinen. "Im Stall steht eine Leiter und mit der gelangen Sie ganz leicht aufs Dach. Der Schornstein dürfte der ganz rechts sein."
Immer noch vor sich hinbrummelnd machte Alice sich auf den Weg. Im Stall angekommen fand sie die Leiter in der Sattelkammer und zerrte sie nach draußen.
Zu ihrer Erleichterung erwies sich das Dach als vergleichsweise flach. Schnell hatte sie in der Dämmerung den richtigen Schornstein gefunden und entzündete ihre Laterne. Dann schwang sie ihre Beine in den engen Schacht und begann mit dem Abstieg.
Dieser Kamin scheint ja schon eine halbe Ewigkeit außer Betrieb zu sein." beschwerte sie sich laut. "Hier scheint im Sommer eine ganze Spinnenarmee zu wohnen!"
"Und, siehst du schon was?" kam Claras Stimme von unten.
Alice schielte an ihren Füßen vorbei. Unter ihr war es stockfinster.
"Moment!" rief sie zurück und senkte die Laterne. "Also ich sehe...huch!"
"Alice?"
"Jaja, alles in Ordnung, ich hab mich bloß ein bißchen erschrocken. Also, zur Zeit sehe ich hier einen mich angrinsenden halbverfallenen Totenschädel mit den Fetzen einer Schneevatermütze auf dem Kopf. Sekunde..."
Clara konnte genau beobachten wie Herr Wollsocke eine Spur blasser um die Nase wurde.
Ein Scharren kam aus dem Kamin und ein wenig Staub rieselte in die Feuerstelle herab.
"Du hattest recht, hier steckt wirklich ein Sack." tönte Alice' Stimme ein wenig hohl zu ihnen herunter. "Mit ein paar ziemlich verfaulten Geschenken. Iiih, das ist ja widerlich..." Ein Schnaufen war zu hören. "Unser Opfer hier scheint in eine Assassinenfalle geraten zu sein. Sein ganzer Brustkorb steckt voller Klingen!"
Herr Wollsocke schüttelte sich.
"Sowas..." brachte er hervor. "Davon hat mir der Vorbesitzer nichts gesagt."
"Wie lange leben Sie denn schon hier?" hakte Clara nach.
"Etwa ein halbes Jahr. Es war heute das allererste Mal, daß ich diesen Kamin hier überhaupt geheizt habe."
"Bin gleich wieder bei euch!" rief Alice und einige herabfallende Partikel verkündeten, daß sie den Schornstein wieder nach oben kletterte. Kurze Zeit später kam sie ins Zimmer geschlendert und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
"Ich glaube, ich muß gleich erstmal duschen." stöhnte sie und zerrte einen Notizblock aus ihrer Manteltasche. "Ich gebe Larius Bescheid. Wenn er schon tatenlos im Wachhaus rumsitzt kann er uns auch genausogut helfen, unseren Schneevater aus dem Kamin zu kratzen."

Araghast Breguyar stapfte mit einem Buch unter dem Arm die Treppe zur Wachstube hinunter und summte dabei leise vor sich hin. Nach einigem zähen Ringen mit viel zu großen Bögen Geschenkpapier und widerspenstigen Klebestreifen waren endlich alle Geschenke verpackt und nur noch sieben Stunden Bereitschaftsdienst trennten ihn von einer gemütlichen und punschseligen Silvesterfeier bei Julius. [4] Aber bis dahin galt es noch, die Langeweile totzuschlagen. Von seinen Kollegen hatte Bregs gehört, daß am Silvesterabend abgesehen von ein paar eskalierenden Familienstreitereien eigentlich nie viel los war. Und deshalb hatte er vorgesorgt. Ein Silvestermärchen würde die Zeit wie im Fluge vergehen lassen. Zärtlich strich Bregs über den Rücken des schmalen Bandes. Da hatte er in der vergangenen Woche in Korianders Antiquariat einen wahren Glücksgriff gemacht. Dieses Buch wurde schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr gedruckt.
Durch die Eisblumen auf der Fensterscheibe sah er Alice und Larius unter der Last einer zugedeckten Bahre auf den Eingang zuwanken, während Clara den Eselskarren in Richtung Fuhrpark lenkte. Schnell lief er zur Tür und hielt sie auf.
"Schon wieder ein Selbstmörder?" fragte er und hoffte inständig, daß dem nicht so war.
"Dieses Mal nicht", schnaufte Larius. "Kannst du uns auch noch mal eben die Kellertür aufhalten?"
"Sicher!"
Araghast legte seine kostbare Lektüre hinter den Tresen und sprintete zum Eingang des Kellers, in dem sich die Labors von SUSI befanden. Wenigstens hat sich nicht schon wieder jemand umgebracht, dachte er erleichtert. Je näher das Silvesterfest rückte, desto mehr Leute schienen entschlossen zu sein, ihrem Leben durch eigene Hand ein Ende zu setzen. Bregs erinnerte sich nur ungern an die anderthalbstündige Diskussion die er vier Tage zuvor mit einer Frau geführt hatte, die sich vom Dach des Opernhauses in den Tod stürzen wollte. Es waren die Einsamen und die Hoffnungslosen, die nicht mehr weiterwußten. Wenn alle um einen herum in Festtagsstimmung waren wog der eigene Kummer doppelt schwer. Immer wenn wieder jemand einen Suizid meldete dankte Araghast den Göttern dafür, daß er seine Freunde und Kollegen hatte. Einsam und allein am Silvesterabend, das war vermutlich das Schlimmste, was einem passieren konnte.
Mit einem lauten Klonk stellten Alice und Larius die Bahre auf den Untersuchungstisch und rissen ihren Kollegen so aus seinen Gedanken. Anschließend zog Larius die Plane beiseite.
"Was hältst du davon?" fragte er.
Araghast starrte auf das bereits halbzerfallene Skelett, an dessen Knochen die ausgebleichten, zerfetzten Reste eines Schneevaterkostüms hafteten.
"Wo habt ihr den denn her?" staunte er.
"Er steckte in einem Kamin." erläuterte Clara, die gerade vom Stall zurückkam und Bregs' Frage mitgehört hatte. "Vermutlich ein Mietschneevater der in eine Assassinenfalle geraten ist."
Sie wies auf die teilweise zersplitterten Rippen. "Eine von denjenigen bei denen plötzlich eine Menge Klingen aus der Wand schießen."
"Ist ja widerlich." Araghast schüttelte den Kopf. "Der arme Mann. Wollte nur die Geschenke abliefern und dann... zack, das wars. Na ja, so wie er aussieht scheint er schon eine ganze Weile drin festgehangen zu haben."
Interessiert beobachtete er, wie sich Clara an den Knochen zu schaffen machte.
"Na dann will ich euch auch nicht weiter stören, der Tresen ruft. Kommt ihr nachher hoch wenn ihr fertig seid? Ich habe ein kleines Weihnachtsmärchen mitgebracht."
"Öhm...ein selbst ausgedachtes?" erkundigte sich Alice vorsichtig. Sie war noch nie in den Genuß eines geschichtenerzählenden Bregs gekommen, doch gewisse Gerüchte verbreiteten sich bekanntlich schnell...
"Nein, es ist ein Buch." Ein leicht verletzter Unterton schwang in Araghasts Stimme mit. "Und auch keins von Eddie Wollas. Kennt ihr Karl Dickmanns 'Silvesterlied in Prosa'?"
Gemeinsames Kopfschütteln bei den SUSI-Mitgliedern.
"Wie dem auch sei, es wird schon lange nicht mehr gedruckt. Es war auch ein reiner Glücksgriff. Und ich verrate nur soviel- es wird gruselig..."

Der letzte Schlag der Glocke der Assassinengilde verklang über der Stadt.
Acht Uhr. [5] Die letzten Händler und Kaufleute schlossen ihre Geschäfte und Kontore und eilten durch den Schnee nach Hause zu ihren Familien und Freunden. Die ersten mit Geschenken und mehr oder weniger glücklichen Personen auf dem Weg zu Familienfeiern vollgepackten Kutschen rollten durch die Straßen. Silvestersänger zogen von Haus zu Haus, um Almosen für die Armen [6] oder Süßigkeiten und Obst abzustauben.
Und auf dem Dachboden einer halbverfallenen Villa regte sich etwas.
Das Gebäude mochte einst ein Prunkstück gewesen sein, doch nun ließen nur noch die imposanten Mauern und die halbverwitterten Marmorfriese einstige Größe erahnen. Ein halb abgerissener Fensterladen schwang knarrend in seiner verbliebenen Angel, als ein Windstoß wirbelnde Flocken durch ein zerbrochenes Fenster ins Innere des Hauses blies. So lange sich die meisten Bewohner Ankh-Morporks erinnern konnten, hatte dort niemand mehr gelebt. Genaugenommen konnte eigentlich keiner sagen, wem die Villa derzeit überhaupt gehörte.
Doch wenn die Staubkörnchen, die in der muffigen, feuchten Stille des Dachbodens träge auf- und abtanzten ein Bewußtsein besessen hätten, hätten sie folgendes beobachtet:
Die holzwurmzerfressene, völlig verstaubte Truhe, die das ganze Jahr über friedlich und von den Göttern und der Welt vergessen in einer besonders dunklen Ecke gestanden hatte, begann ohne ersichtlichen Grund, leicht zu vibrieren, was die verrosteten Angeln mit einem protestierenden Knirschen kommentierten. Dann, ebenso plötzlich wie es begonnen hatte, verschwand dieses sonderbare Phänomen, und die Truhe erschein wieder völlig normal. Doch dann wurde zwischen Klappe und Truhenkörper ein schwaches bläuliches Glühen sichtbar, dessen Intensität langsam zunahm. Ein dumpfes Geräusch war zu hören, wie das ferne Rasseln einer schweren Kette. Und langsam, als ob eine ziemlich unschlüssige Person vorsichtig an einem dünnen Faden ziehen würde, klappte der Deckel der Truhe auf, so daß das blaue Leuchten, das anfangs nur ein schwacher Schimmer in einem düsteren Raum gewesen war, im Verlaufe der Zeit zu einem regelrechten Gleißen anwuchs. Und mitten darin schwebte die Gestalt eines alten Mannes. Seine Erscheinung ließ sich am Besten der Kategorie 'alter, verbitterter Knochen' zuordnen: Die dürre Gestalt, der verkniffene Gesichtsausdruck und der Zwicker, der auf der langen, spitzen Nase klemmte, sprachen Bände. Doch das seltsamste an der Erscheinung war ihr Schmuck, wenn man denn überhaupt von Schmuck sprechen konnte: An seinem Fuß festgekettet und dreimal um die Taille gewickelt, trug das Gespenst eine lange, schwere Kette, die aus einer langen Reihe aneinandergebundener Schatztruhen, Geldsäcke, Rechnungsbücher und Aktenordner zu bestehen schien.
Suchend sah die Erscheinung um.
"Wie ich es hasse!" brach sie plötzlich mit keifender Stimme die Stille. "Dieselbe verdammte Prozedur wie jedes Jahr!"

Etwa zur selben Zeit schloß sich die Tür des SUSI-Labors hinter Clara Bienchen. Muckel fest an sich gepreßt betrat sie auf der Suche nach einer Tasse Kaffee die Kantine- und wurde von einer Wolke Plätzchenduft beinahe rückwärts wieder herausgedrängt. Kanndra stand lächelnd vor ihr, in den Händen ein mit ofenfrischen Keksen überladenes Tablett balancierend.
"Oh." Clara lächelte. "Darf ich eins probieren?"
"Sicher." Kanndra hielt ihr das Tablett hin. "Kommst du gleich auch hinter den Tresen, es uns ein wenig gemütlich machen? Bregs hat eine Silvestergeschichte mitgebracht."
"Ich weiß", antwortete Clara kauend. "Es wurde mir schon angedroht. Apropos, wenn man vom Dämonen spricht..."
"Clara!" Araghast erschien mit einer randvollen Kaffeekanne hinter Kanndra. "Und, was war nun mit der Leiche?"
Die Angesprochene schluckte das letzte Stück Keks herunter.
"Nichts Besonderes. Wie wir bereits vermutet haben: Irgendein armer Teufel der vor einigen Jahren als Schneevater verkleidet in eine Assassinenfalle geraten ist. Schätzungsweise dreißig bis vierzig Jahre her. Männlich, zirka eins fünfundachtzig, vermutliches Alter Mitte zwanzig. Tja, nun müssen wir nur noch herausfinden wer er ist. Aber das kann bis morgen warten. Nun wird erstmal gefeiert. Übrigens, die Kekse sind wirklich lecker."
"Rezept von meiner Mutter", erklärte Kanndra und schob sich an ihrer Kollegin vorbei. "Ach ja, und vorhin war Hauptmann Ohnedurst hier und hat das da drüben aufgehängt."
Claras Blick wanderte zum schwarzen Brett. Zwischen Dienstplänen, von sich im Urlaub befindenden Wächtern geschriebenen Postkarten und diversen Notizzetteln und Karikaturen war ein feuerrotes Blatt Papier aufgehängt worden.
"Wer es wagt, innerhalb dieser Mauern noch ein einziges Mal 'Am letzten Silvesterfest' von RUMMS! zu singen darf unverzüglich mit zwei Wochen Tresenfrühdienst rechnen. Gezeichnet R. Ohnedurst, Hauptmann." las die Obergefreite laut vor. "Na ja, wenn er meint..."
"Tresenfrühdienst ist doch eigentlich noch ganz zivil", bemerkte Araghast. "Er hätte auch damit drohen können, den Sänger eine seiner Knollen schlucken zu lassen."
"Aber recht hat er." Clara strich Muckel über die Ohren, was dieser mit einem erschrockenen Quieken kommentierte. "Langsam kann ich das Lied wirklich nicht mehr hören. An jeder Ecke wird es gesungen. Und das zwölf Jahre nachdem es geschrieben wurde."
"Dann doch lieber die Pilzköpfe." Vorsichtig, damit nichts überschwappte, wechselte Araghast die Kannenhand. "Wenn du Kaffee willst, wir haben vorne welchen. Der Dämon ist mittlerweile auch ziemlich genervt. So patzig wie er eben war als ich die Kanne wieder vollmachen wollte..."
"Bregs! Kommst du jetzt oder nicht?" rief Ombia vom Tresen. "Gleich sind die Kekse alle!"
Araghast grinste schief.
"Das ist eine Drohung", erklärte er und balancierte die Kanne zum zur Feier des Tages mit einer roten Decke geschmückten Tresen, die Gerichtsmedizineranwärterin im Schlepptau, wo Ombia zusammen mit Gralon Banks, Kanndra, Rogi Feinstich, Alice, Cim Bürstenkinn und Larius de Garde saß und fleißig Kanndras Keksen zusprach.
"Oh ja, fang mal an zu lesen." bat Alice. "Ich hab um elf Feierabend und ich würde noch gerne den Schluß mitbekommen."
"Keine Angst, das schaffen wir schon." Bregs ließ sich auf einen freien Stuhl fallen und griff nach seinem kostbaren Buch. "So lang ist die Geschichte nicht."
Er schlug die erste Seite auf.
"Psssst!" zischte Gralon. "Es geht los!"
Das allgemeine Gespräch verstummte.
Araghast rückte ein wenig näher an die nächste Kerze heran und begann zu lesen:
"Harley war tot- Soviel zum Anfang.
Darüber konnte auch nicht der geringste Zweifel herrschen. Sein Beerdigungsschein war von dem Priester, dem Anwalt, dam Leichenbestatter und dem Hauptleidtragenden unterzeichnet. Snootch hatte seine Unterschrift darunter gesetzt und Snootchs Name war gut in der Kaufmannsgilde für alles was er mit seiner Handschrift zu versehen beliebte.
Der alte Harley war so tot wie ein Sargnagel..."


3. KAPITEL: DER GEIST DES HEUTIGEN SILVESTERFESTES DER EIGENTLICH DER GEIST EINES VERGANGENEN SILVESTERFESTES SEIN SOLLTE, JEDOCH EINEM KLEINEN TEMPORALEN UNFALL ZUM OPFER FIEL

Johnny Klawitter war verzweifelt.
Alles, wozu er ausgesandt worden war es zu verhindern, war geschehen. Was hatte er bloß falsch gemacht, so daß es ihn vierzig Jahre in die Zukunft verschlagen hatte? Deprimiert warf er einen Blick in die kleine Kugel, die er immer noch mit sich herumtrug. Sie zeigte das Bild, das sie in sich getragen hatte seitdem Johnny sich im Kamin des Gebäudes, das sich letztendlich doch nicht als Schule herausgestellt hatte, materialisiert hatte: Einen hochgewachsenen, schwarz gekleideten Mann hinter einem Schreibtisch. Ein Winseln entfleuchte Johnnys Ektoplasmakehle als er weiter ziellos durch die mittlerweile fast menschenleeren Straßen schwebte. Im Geiste sah er sich schon auf immer und ewig in einer Feuergrube sitzen, verdammt dazu, für einen Regelverstoß zu büßen von dem er nicht das Geringste gewußt hatte. Panisch sah er sich um. Hatte sich hinter der Regentonne die er soeben passiert hatte nicht etwas bewegt? Waren sie vielleicht schon unterwegs um ihn zu holen? Vor Johnnys geistigem Auge zog eine Armee grimmig blickender, zuckerstangenschwingender Lebkuchensoldaten vorüber. Nein, er mußte sich irgendwie retten. Bloß wie? Flucht schied als Möglichkeit völlig aus. Wo sollte man sich vor einer übernatürlichen Entität verstecken die in der Lage war, fast sämtliche Kamine der Scheibe in einer einzigen Nacht zu besuchen? Unwillkürlich blickte Johnny nach oben, fast schon damit rechnend, einen aus rohen Holzbalken gezimmerten Schlitten über sich schweben zu sehen. Doch alles was er erkennen konnte war der Mond, dessen trübes Licht durch die dünne Wolkendecke schimmerte, deren wellige Strukturen weiteren Schnee ankündigten.
Vierzig Jahre. Wo waren sie bloß hin?
Und selbst wenn es so sein sollte, daß er wirklich trotz dieser ungeheuerlichen Verspätung noch eine Gnadenfrist bis zwei Uhr Morgens gewährt bekommen hatte, erschien ihm die Erfüllung seines Auftrages nur noch undurchführbarer als vorher. Der Mann in der Kugel sah nicht danach aus, als ob ihn selbst die gesamte Leibgarde des Schneevaters dazu bewegen könnte, glücklich lächelnd um einen Silvesterbaum zu tanzen. Johnny seufzte leise. Warum war er auch bloß so feige gewesen, einfach Hals über Kopf durch die nächste Wand zu fliehen als der Mann in Schwarz ihn angesehen hatte. Unglücklicherweise hatte er sich daraufhin urplötzlich auf der Höhe von sechs Stockwerken in völlig leerer Luft wiedergefunden und hatte wie am Spieß geschrien bevor ihm klargeworden war, daß er immer noch auf derselben Höhe schwebte. Es war schon ziemlich gewöhnungsbedürftig, die Existenz als Geist.
Aber das half ihm immer noch nicht weiter. Wie bekehrte man bloß einen potentiellen Doppelgänger Ebenezer Snootchs?

" 'Ich sagte dir, es seien nur die Schatten vergangener Dinge.' versetzte der Geist. 'Daß sie so sind wie du sie siehst, kannst du mir nicht zum Vorwurf machen.'
'Bring mich fort!' rief Snootch. 'Ich kanns nicht ertragen!'
Er wandte sich an den Geist, und als er bemerkte, daß sich auf seinem Gesicht Bruchstücke all der Gesichter, die er ihm gezeigt hatte, in seltsamer Weise miteinander mischten, rang er mit ihm.
'Verlaß mich! Bring mich zurück. Verwirre mich nicht länger.'
Während des Kampfes- wenn es ein Kampf genannt werden konnte, da der Geist, ohne von seiner Seite irgendeinen sichtbaren Widerstand zu leisten, durch alle Anstrengungen seines Gegners ungestört blieb- bemerkte Snootch, daß sein Licht hoch und hell brannte. Da er eine unklare Vorstellung hatte, daß das irgendwie mit seinem Einfluß über ihn in Verbindung stehe, ergriff er die Löschhornmütze und drückte sie dem Geist hastig auf den Kopf.
Der Geist sank darunter zusammen, so daß das Löschhorn seine ganze Gestalt bedeckte; aber obwohl Snootch aus Leibeskräften drückte, konnte er doch das Licht, das in einer ununterbrochenen Flut darunter hervor auf den Boden strömte, nicht verdecken.
Er fühlte sich erschöpft und eine unüberwindliche Schläfrigkeit übermannte ihn. Er merkte, daß er in seinem Schlafgemach war und fand kaum noch Zeit, zu seinem Bett zu taumeln, ehe er in einen tiefen Schlaf versank."
Araghast klemmte ein Lesezeichen zwischen die Seiten und schloß das Buch mit einem Knall.
"So", erklärte er. "Jetzt brauch ich erstmal einen Kaffee."
"Puh, war das spannend." Alice warf einen bedauernden Blick auf den schnell zusammengeschmolzenen Keksstapel. "Also dieser Ebenezer Snootch ist ja wirklich ein kompletter Kotzbrocken. Andererseits, wenn so ein Geist tatsächlich die Dreistigkeit besitzen würde, in meinem Schlafzimmer zu erscheinen..."
"Was dann?" grinste Larius.
Alice warf ihrem Kollegen einen verächtlichen Blick zu. "Er würde hochkant rausfliegen, das glaubst du doch wohl", knurrte sie.
"Frieden, ihr beiden!" Clara kam unter dem Tresen hervorgekrabbelt und hielt Muckel im Arm, der sich bei Bregs' anschaulicher Imitation der Geisterstimme in das Fach mit den Beschwerdeformularen verkrochen hatte.
"Also gut, Themenwechsel." Larius langte nach einen Keks. "Wer ist wohl der herzloseste Mann Ankh-Morporks?"
"Herr Schräg von der Anwaltsgilde", erklärte Cim. "Der Mann ist so vertrocknet wie der Aktenstaub der ihn umgibt, und das jetzt nicht nur im körperlichen Sinne."
"Der Patrizier", behauptete Bregs.
"Also ich finde es ist Schnapper." Ombia blies auf ihren Kaffee
"Wieso Schnapper?" wunderte sich Kanndra.
"Wer es ruhigen Gewissens verantworten kann, daß solche Würstchen von Leuten gegessen werden, muß komplett herzlos sein."
Die übrigen Wächter lachten herzlich. Es gab eigentlich keinen unter ihnen, der nicht schon mindestens einmal mehr oder weniger unfreiwillig in den Genuß einer Kostprobe aus T.M.S.I.D.R. Schnappers berühmt-berüchtigtem Warenlager gekommen war.
"Schnapper hätte bestimmt kein Problem die Geister wieder loszuwerden", kicherte Gralon. "Eine Kostprobe seiner Lebensmittel und der Geist wäre so schnell weg wie ein Puzuma."
Dies rief noch mehr Gelächter hervor.
"Andererseits, was würde so ein Geist Schnapper wohl zeigen?" grinste Bregs. "Die Inhaltsstoffe seiner Würstchen?"
"Er würde ihn vermutlich eher fwingen, fie fu effen." Die Igorina blickte verträumt in die Kerzenflammen.
"Glaub mir, das ist zwecklos", erklärte Larius. "Veni soll ihm angeblich mal 20 eingefüttert haben und bis heute verkauft er sie trotzdem noch."
"Brrrr..." Araghast schüttelte sich bei dem Gedanken an 20 Original Schnapper-Würstchen. "Was ich wirklich nicht verstehe ist, daß sie ihr sogar schmecken. Aber zurück zum Thema: Eigentlich geht es darum, wer wohl heute in Ankh-Morpork in der Silvesternacht in seinem Büro hocken, Akten wälzen und 'Silvester- so ein Quatsch' vor sich hinmurmeln würde. Also so ein richtig verbitterter Mensch ohne Herz."
"Hauptmann-Oberst von Zitzewitz", kam es aus der Richtung der Treppe.
Rascaal Ohnedurst lehnte sich über das Geländer und sah amüsiert auf die um den Tresen versammelten Wächter hinab. "Nein, bleibt sitzen", winkte er ab, als die versammelte Mannschaft zum Salutieren aufsprang. Aber wenn ihr noch ein Plätzchen für mich frei hättet..."
Hastig rückten die Wächter beiseite um Platz für den Hauptmann zu schaffen, der sich gemütlich zurücklehnte und in seinem Umhang zu wühlen begann.
"Von Fitfewitf?" erkundigte sich Rogi. "Wer ift denn daf?"
Ras blickte ernst drein. "Ich glaube das möchtest du lieber nicht wisssen, Gefreite."
Schließlich hatte er gefunden was er suchte. Unter den nur mühsam ihren Abscheu verbergenden Blicken der übrigen beförderte er einige verdächtig dunkelrot gefärbte Kekse ans Licht und biß genüßlich in einen hinein.
"Äh, soll ich weiterlesen?" versuchte Bregs die peinliche Stile zu überbrücken.
Die Anwesenden nickten dankbar. Für ein wenig Ablenkung von der sich allzu nahe befindlichen Roten Beete waren sie nur zu dankbar.
"AAaalso..." Araghast griff nach dem Buch und schlug es auf. "Dritte Strophe", las er vor. "Der zweite der drei Geister. In der Mitte eines erstaunlich kräftigen Schnarchens erwachend und sich im Bett aufsetzend, um seine Gedanken zu sammeln, hatte Snootch es nicht nötig, sich sagen zu lassen, daß die Glocke wieder auf Schlag ein Uhr stand. Er fühlte, daß ihm sein Bewußtsein gerade im rechten Augenblick wiedergegeben worden war, um Rücksprache mit dem zweiten Boten zu halten, der ihm durch Jacobus Harley's Vermittlung zugeschickt werden sollte..."

Langsam keimte in Johnny die Hoffnung, daß er wohl doch Glück im Unglück gehabt hatte. Auch nach mehr als einer Stunde ziellosen Umherschwebens war noch niemand hinter einer Ecke hervorgesprungen gekommen und hatte versucht, ihn festzunehmen. Allerdings tat er im Grunde genommen auch nichts wirklich produktives um einen Ausweg aus seinem Dilemma zu finden. Mit anderen Worten: Auch nach langem, gründlichem Nachgrübeln war er nicht den geringsten Schritt weitergekommen.
Die ersten feinen Flocken eines neuen Schneeschauers rieselten lautlos auf das schmutzigbraune Schlamm-Schnee-Gemisch welches die Straßen bedeckte. In der Ferne rief jemand etwas.
"Jahrtausendhand und Krevetten", wiederholte Johnny leise für sich. "Was mag das bloß bedeuten?" Deprimiert beobachtete er, wie die Schneeflocken durch seinen substanzlosen Ektoplasmakörper hindurchrieselten. Die Uhr über der Tür einer verriegelten Uhrmacherwerkstatt zeigte zwanzig vor Zehn an. Johnny seufzte. Langsam begann ihm die Zeit davonzulaufen.
Innerlich gab er sich einen Ruck. Er würde einfach die nächstbeste Person ansprechen die ihm über den Weg lief. Er glaubte zwar nicht, daß es ihn sonderlich in seinem Vorhaben weiterbrachte aber immerhin gab es ihm das Gefühl, etwas zu tun.
Entschlossen schwebte er um eine weitere Straßenecke und fand auch sogleich sein erstes Opfer.
Eine Gestalt kam die Straße herunter. Als sie sich näherte, erkannte Johnny im trüben Licht der Straßenbeleuchtung einen jungen Mann von kleiner Statur, der in einen knielangen, schwarzen Mantel gehüllt war. Sein Gang schien Johnny seltsam instabil- immer wieder scherte der Spaziergänger seitlich aus und vollführte einige schwankende Bewegungen um sein Taumeln zu kompensieren, wobei die Flasche, die er mit der behandschuhten Rechten umklammert hielt, einige für ihren Inhalt ziemlich gefährliche Kreisbahnen vollführte. Dabei schien er mit sich selbst zu reden.
"Ha, Murphy! Jetzt bischt du endlisch mal wieder ruhig. Und Vater, lasch du mich auch mal in Ruhe. Nur diesche eine Nacht!"
Der junge Mann blieb stehen und schien in seinen eigenen Kopf zu lauschen. Verrückt, dachte Johnny. Aber aus eigener Erfahrung wußte er: Wenn man nur betrunken genug war beziehungsweise einige gewisse Substanzen inhaliert hatte, die im Gildenhaus der Alchimisten in nicht zu geringen Mengen leicht zu bekommen gewesen waren, neigte man irgendwann dazu, Stimmen im Inneren seiner Hirnschale zu hören.
"Nein, isch will heute Nacht nichtsch mehr davon hören!" Die Stimme des einsamen Wanderers klang fast flehentlich. "Ich wollt, ich könnte dich auch mit Alkohol schum Schweigen bringen!"
Er torkelte weiter seinem unbekannten Ziel zu.
Johnny nahm seinen Mut zusammen und schwebte auf den Fremden zu.
"Äh, Guten Abend." begann er.
Der junge Mann blieb ruckartig stehen und hob wie in Zeitlupe seinen Kopf. Irritiert blinzelte er Johnny aus rotgeränderten Augen an.
"Du bischt ein Geischt." stellte er schließlich mit schwerer Zunge fest und nahm einen Schluck aus seiner Flasche.
"Entschuldigung, aber ich hätte da mal eine Frage." Johnny zweifelte mehr denn je daran, daß bei seiner Aktion etwas Vernünftiges herauskommen würde.
Der Fremde setzte seinen Weg fort. "Wasch gibtsch denn?" fragte er und wäre beinahe durch Johnny hindurchgetaumelt. Dann schien er wieder aufmerksam in dein Inneres zu lauschen und murmelte schließlich etwas von 'Haltsch Maul, dich hat keiner gefragt'.
"Ich weiß nicht..." Johnny kam sich wahnsinnig dämlich vor. "Ich hätte da ein kleines Problem. Ich soll diesen Mann hier dazu bringen, das Silvesterfest mit Freude zu begehen." Mit diesen Worten hielt er seinem Gesprächspartner die kleine Kristallkugel unter die Nase.
Dieser blickte einige Sekunden auf das Bild darin und brach schließlich in schallendes Gelächter aus.
"Dasch meinscht du nicht ernscht..." kicherte er. "Der und Schilveschterfescht... Dasch ischt doch wirklich der beschte Witsch den ich scheit langem gehört habe... Warum rufscht du nicht gleich Harleysch Geischt?" Ein weiterer Lachanfall folgte.
"Sehr witzig..." murmelte Johnny. Aber was sollte er von einem Betrunkenen auch erwarten. "Äh, Sie kennen ihn also?" fragte er laut.
"Wasch, du kennscht ihn nischt?" Der junge Mann kicherte noch immer leise und gönnte sich einen weiteren Schluck aus seiner Flasche. "Meine Güte, wie lange bischt du schon hier in der Schtadt?
Vierundzwanzig Jahre, dann rund vierzig Jahre gar nicht und nun wieder knapp vier Stunden, dachte Johnny düster. Der Junge schien mittlerweile zu einer ziemlich bekannten Persönlichkeit geworden zu sein. Ein reicher Kaufmann vermutlich oder etwas ähnliches. Genau wie Mister Snootch, kam es ihm plötzlich in den Sinn. Der Samen einer Idee begann in seinem Bewußtsein zu keimen und seine ersten zarten Wurzeln auszustrecken. Johnny nickte dem Fremden zu, der mittlerweile wieder ziemlich mit sich selbst beschäf
tigt zu sein schien.
"Danke." sagte er. "Ich glaube, Sie haben mir zumindest ein wenig weitergeholfen."
"Dasch ischt schön." Abwesend spielte der junge Mann mit dem halb abgerissenen Etikett seiner Flasche und sah dabei ins Leere. Johnny glaubte, in seinem Blick gewisse Anzeichen von Traurigkeit zu erkennen. Er fragte sich was einem jungen Menschen wohl zugestoßen sein konnte, daß er am Silvesterabend, dem Fest der Feste, einsam durch die Straßen lief und sich dabei sinnlos betrank.
Er nickte seinem Gesprächspartner zu, zog sich in einen Torweg zurück und beobachtete, wie der Fremde langsam davontorkelte und sein Selbstgespräch fortführte.
"Nein, bitte! Hör auf, mich an schie schu erinnern! ich will vergeschen, hascht du verschtanden, Vater? Nur heute will isch einmal nischt an allesch denken müschen!"
Fremde in der Nacht, dachte Johnny ein wenig traurig als er dem jungen Mann nachsah. Silvester war wirklich keine leichte Zeit für die Einsamen und Verlorenen. Und früher oder später verschlossen sie der Freude ihr Herz.
Was Johnnys Aufmerksamkeit wieder auf sein eigentliches Problem lenkte. Warum rufst du nicht gleich Harleys Geist, hatte der Fremde gefragt. Wenn das so einfach wäre. Wie sollte man eine mittlerweile über hundert Jahre alte Geschichte zum Leben erwecken? Aber andererseits... Es galt das Sprichwort, in jeder Geschichte stecke ein wahrer Kern. Und Geister existierten, da gab es keinen Zweifel. Nicht, wenn er sich selbst betrachtete. Ach was sollte es, einen Versuch war es wert. Was hatte er schon zu verlieren? Ob er hier nun ziellos durch die Stadt schwebte und auf Zwei Uhr Morgens wartete oder ein höchstwahrscheinlich verlassenes Haus durchsuchte machte nun auch keinen großen Unterschied. Schon in den Tagen seiner Kindheit war die Snootch-Villa nur noch ein verriegeltes, halb verfallenes Gebäude gewesen. Dort tummelten sich höchstens noch einige Rattenfamilien und ein paar der sozial niedriger gestellten Wasserspeier. Aber immerhin hatte er etwas zu tun. Mit diesem Gedanken schwebte Johnny entschlossen aus seiner zeitweiligen Zuflucht und machte sich auf den Weg.

Eine Straßenecke weiter waren der betrunkene Oberleutnant Humph MeckDwarf und sein Vater mittlerweile in einen hitzigen Streit verfallen.
"Jetscht reichtsch aber endgültig!" knurrte der Wächter und schwenkte die Flasche, von der sich das Etikett mittlerweile komplett gelöst hatte und in einer kurvigen Bahn zu Boden schwebte. "Und lasch Eca ausch dem Schpiel klar? Wenn du schie noch einmal eine Schlampe nennscht..."
Jemand rempelte ihn unsanft an. Verwirrt wandte der Oberleutnant sich um und sah durch den Schleier den der Alkohol über seinen Blick gelegt hatte eine hochgewachsene, kräftig gebaute Gestalt mit ruckartigem Gang in die Richtung verschwinden aus der er, Humph, gerade gekommen war. Vage erinnerte er sich, vor nur wenigen Minuten ein ziemlich merkwürdiges Gespräch mit einem Geist geführt zu haben.
"Verrückt", murmelte er vor sich hin und torkelte weiter. Aus irgendeinem Grund den er sich nicht erklären konnte ging ihm das Wort 'Lebkuchen' nicht mehr aus dem Sinn.

"Die Glocke schlug zwölf.
Snootch blickte sich nach dem Geist um und sah nichts mehr. Als der letzte Schlag verklungen war, erinnerte er sich der Prophezeiung des alten Jacob Harley, und während er seine Augen hob, erblickte er eine feierliche Erscheinung, die völlig verhüllt war und wie ein Nebel über den Boden auf ihn zukam.
Die Erscheinung kam langsam, ernst und schweigend näher. Als sie ganz nahe vor ihm stand, sank Snootch auf die Knie, denn sogar in der Luft, durch die dieser Geist sich bewegte, schien sich ein geheimnisvoller Hauch zu verbreiten..."
"Mist, jetzt hat sich Alice doch das letzte Plätzchen geschnappt..." Gralon blickte bekümmert auf das leere Tablett.
"In der Küche ist noch ein Rest", tröstete ihn Kanndra. "Eigentlich war er für morgen gedacht aber da die Kekse hier weggehen wie warme Wabel..." Sie stand auf und verschwand in der Kantine.
"Uaaah, Lesepause." Bregs legte das Buch auf den Tresen und streckte sich. "Knapp zwei Kapitel noch, dann sind wir durch."
"So viel noch?" Alice sah erschrocken aus. "Schaffen wir das noch bis elf?"
"Sicher", beruhigte Araghast sie und hob das Buch an. Drei Viertel haben wir schon geschafft. Das paßt dicke wenn nicht zwischendurch jemand die Kekse geklaut hat."
"Das sollte jemand wagen..." mischte sich Clara ein.
"Wer weiß, vielleicht können die in der Diebesgilde nicht backen?" grinste Ombia.
Doch alle Befürchtungen lösten sich in Nichts auf als Kanndra mit einem vollbeladenen Teller in der Kantinentür erschien. "So, das dürfte bis Schichtende reichen. Und wenn nicht, dann haben wir halt Pech gehabt." Sie stellte ihre Last auf dem Tresen ab, wo sie sofort unter zirka acht zugreifenden Händen verschwand.
"Wißt ihr was", erklärte Cim schließlich nach dem zweiten Keks, "Diese Snootch und Harley-Geschichte soll ja angeblich vor über hundert Jahren wirklich so ähnlich passiert sein. Steingesicht hat da mal was in der Richtung erwähnt, daß es da immer noch ein paar Nachwirkungen gäbe."
"Was, wirklich?" Bregs war Feuer und Flamme. Eine kuriose Geschichte, dazu noch mit einem wahren Kern- das war sein Ding.
"Na ja, das sagt das Gerücht zumindest." Cim zuckte mit den Schultern. "Und der durchschnittliche Wahrheitsgehalt von Gerüchten ist wie bekannt sein dürfte ziemlich niedrig. Hauptmann?" wandte er sich an Ras, "Hast du jemals von Snootch und Harley im realen Leben gehört?"
Keine Antwort kam.
Die Wächter wandten sich um. Der Stuhl auf dem Rascaal Ohnedurst vor kurzer Zeit noch gesessen hatte war leer.
"Wo ift er hin?" wunderte sich Rogi.
Niemand konnte ihr auf diese Frage antworten.
"Äh, ich will ja nicht drängeln, aber können wir nun langsam mal weiterlesen?" bat Alice. "Cim und ich haben nur noch eine Dreiviertelstunde."
Bregs nahm einen Schluck Kaffee.
"Also gut", erklärte er und zog sich eine weitere Kerze heran. "Vierte Strophe: Der letzte der drei Geister."

Die Snootch-Villa sah noch weitaus heruntergekommener aus als Johnny sie aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte, was ihm ein weiteres Mal vor Augen führte, daß er sich seinen Zeitsprung nicht nur eingebildet hatte. Die einst breite Auffahrt war mittlerweile endgültig von der Vegetation übernommen worden und Johnny zuckte jedes Mal innerlich zusammen wenn er versehentlich durch Äste oder Gestrüpp schwebte. Er konnte sich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, quasi aus Nichts zu bestehen und die Tatsache, daß sich Gegenstände nicht im Geringsten um seine Existenz scherten, gab ihm das Gefühl der absoluten Bedeutungslosigkeit.
Unschlüssig blieb er schließlich vor der Tür stehen. Ihr Holz hatte durch den jahrzehntelangen Kontakt mit Wind und Wetter einen schwärzlichen Farbton angenommen und erweckte den Eindruck, die Konsistenz von Stein zu besitzen. Etwa auf halber Höhe hing ein völlig verrosteter Türklopfer. Der Türklopfer, erinnerte sich Johnny. Dessen Gesicht, jedenfalls laut der Geschichte, eines Silvesterabends vor vielen Jahren plötzlich das Jacobus Harleys gewesen sein sollte. Doch so sehr Johnny auch starrte, das rostzerfressene Antlitz des Klopfers machte nicht die geringsten Anstalten, sich in einen geisterhaften Kopf zu verwandeln. Johnny seufzte leise und und tat das, was er eigentlich nach Möglichkeit zu vermeiden suchte: Er durchdrang das uralte Holz der Tür als wäre es nichts substantielleres als Rauch.
In der Halle begrüßten ihn Dunkelheit, halbgeschmolzene Schneewehen und eine fast unvorstellbare Menge Spinnweben. Ein halbverfaultes Gemälde hing in Fetzen aus seinem Rahmen. Johnny konnte nicht mehr erkennen, was es einmal dargestellt hatte. Die Treppe, die am hinteren Ende der Halle zu den oberen Stockwerken führte besaß ebenfalls nur noch ein knappes Drittel ihrer Stufen.
"Hallo?" rief Johnny zaghaft. "Ist hier irgendjemand?"
Allein der Klang seiner Stimme ließ einige weitere hölzerne Treppenstufen kollabieren. Während sich die Staubwolke lansam verzog grübelte Johnny nach. Wo hielten sich Geister normalerweise auf, während sie die Jahre überdauerten? Gesetzt der Fall es gab hier überhaupt einen Geist. Johnny schätzte die Wahrscheinlichkeit, hier wirklich Harleys Geist anzutreffen auf vernichtend gering. Eine Million zu eins, höchstens. Mit dieser traurigen Aussicht vor Augen begann er halbherzig, sich im Inneren der Villa umzusehen. Mit den übrigen Zimmern des Erdgeschosses war die Zeit ebenfalls nicht gnädig gewesen: Überall zerschlagene Fensterscheiben, verrottete Möbel und Fetzen eines vermutlich einst hochherrschaftlichen Teppichs. Allerdings enthielten sie nicht die geringste Spur eines Geistes.
Nachdem auch das letzte Zimmer, die Küche, erfolglos inspiziert worden war, machte Johnny widerwillig einmal mehr von einer seiner Geisterfähigkeiten Gebrauch und schwebte über die zerstörte Treppe in den ersten Stock. Auch dort hatten die zerbrochenen Fensterscheiben Schnee und Nässe ins Haus gelassen und Johnny bezweifelte, daß die verfaulten Bodenbretter noch in der Lage waren jemanden zu tragen der mehr wog als eine Maus. Deswegen verzichtete er lieber darauf, ein weiteres Mal zu rufen.
Doch dann hörte er das Seufzen. Es schien seinen Ursprung direkt über ihm zu haben.
Und so machte er die Erfahrung, daß auch Geister in der Lage waren, sich gehörig zu erschrecken. Er war nicht allein...
Da hörte er wieder etwas.
Dieses Mal klang es allerdings, als ob jemand hingebungsvoll fluchen würde.
Johnny sah nach oben. Über ihm befand sich eine rechteckige Öffnung in der Decke, die vermutlich einmal durch die Klappe verschlossen gewesen war, die zur Zeit unter Johnnys Füßen lag und aussah, als ob sie ziemlich lange Zeit einem Holzwurmclan als Hauptnahrungsquelle gedient hatte. Ein bläulicher Lichtschimmer, so schwach, daß Johnny ihn erst nach genauem Hinsehen bemerkte, tauchte die Öffnung in ein unwirkliches Licht.
"Äh, Tschuldigung?" riskierte Johnny schließlich doch einen weiteren Teileinsturz der Treppe. "Wer ist da?"
Die Antwort bestand aus einem rasselnden Geräusch und langsam kam etwas aus dem Loch herab, daß für Johnny wie eine lange Kette aussah, an der verschiedenste eisenbeschlagene Gegenstände baumelten. Schließlich schwebte die dazugehörige Gestalt herab und stabilisierte sich genau in Johnnys Nasenhöhe.
"Willkommen in der Welt des alljährlichen Silvesterspuks." Der Geist Jacobus Harleys deutete unter lautem Kettengerassel eine leichte Verbeugung an. "Na mein Freund, zu welchem Auftrag hat man dich verknackt?"

"Er hatte keinen weiteren Verkehr mit Geistern, sondern lebte weiterhin stets nach dem Grundsatz vollständiger Abstinenz, und man sagte ihm nach, wenn irgendein Mensch auf der Scheibenwelt die Kunst besitze, gut Silvester zu feiern, so müsse man sie bei ihm suchen. Möge sich das in Wahrheit auch von uns und von uns allen sagen lassen! Und möge denn, wie der kleine Tim bemerkte, der blinde Io uns segnen samt und sonders!"
Mit einem satten Knall klappte Araghast das Buch zu. [7] "So, das wars." krächzte er mehr als daß er sprach. "Gerade passend- gleich wär auch meine Stimme weggewesen."
"Hach war das schön kitschig", seuftze Alice und reckte sich. "Wie spät haben wirs?"
Rogi warf einen Blick auf die Uhr. "Fünf nach elf", verkündete sie.
"Ja!" Alice schlug mit der Faust in die Luft. "Feierabend!" Sie schob ihren Stuhl zurück, was dieser mit einem abscheulichen Quietschen kommentierte, und erhob sich. "Und, wie lange müßt ihr noch?"
"Eine Ftunde." Rogi griff nach der Kaffeekanne. "Waf meint ihr? Können wir noch eine? Natürlich nur, fallf der Kaffeedämon nicht endgültig in Ftreik getreten ift."
"Dann kriegt er Saures", brummte Larius. "Ich darf hier imerhin noch bis drei Uhr rumsitzen. Und ohne Kaffee steh ich das nicht durch."
"Na dann will ich auch mal." Cim ließ seine Fingerknöchel knacken. "Machts gut und feiert schön ins neue Jahr."
"Na dann viel Spaß", kam es von Ombia. "Allerdings muß ich zugeben, diese Geschichte war es wert, noch ein wenig länger zu bleiben."
Stolz tätschelte Bregs den Einband seines Buches. Es war eine völlig neue und wie er nicht umhin konnte zuzugeben angenehme Erfahrung für ihn gewesen: Zum ersten Mal seit seiner Rekrutierung hatte er eine komplette Geschichte erzählen können ohne daß die Zuhörer ihn baten, aufzuhören. [7a] Dankbar lächelte er die SEALS-Wächterin an, die sich ebenfalls zum Gehen schickte.
Und so blieben schließlich noch Ombia, Kanndra, Larius, Gralon, Rogi, Clara und Bregs am Tresen zurück und warteten auf Mitternacht.

Unter den Bürgern der Stadt war es eine allseits bekannte Tatsache, daß Ankh-Morpork auf Ankh-Morpork erbaut worden war. Abwechselnde Feuer- und Flutkatastrophen hatten im Laufe der Zeit dafür gesorgt, daß obere Stockwerke zu Erdgeschossen, Erdgeschosse zu Kellern und Keller zu unterirdischen Gewölben wurden, deren Existenz im Laufe der Zeit und Katastrophen langsam aber sicher in Vergessenheit geriet.
Von solchen verlassenen Räumen fühlen sich Geister angezogen...
"Sagt mal, kann es sein, daß die Zeit irgendwie immer schneller vergeht?" fragte eine durchsichtige, bläulich schimmernde Gestalt und rückte die Löschhornmütze auf ihrem Kopf zurecht. "Schon wieder Silvester und ich hab immer noch nen Kater vom letzten Jahr."
"Du bist ein Weichei, Vergangenheit", grinste Geist Nummer zwei. Er trug eine weite Toga und schien überhaupt dem Idealbild eines Gottes in mittleren Jahren zu entsprechen. [9] "Die Frage ist bloß, wie wir Bettpfosten wachkriegen."
Der Geist der mit Vergangenheit angeredet worden war warf einen Blick nach oben, wo eine dritte, von Kopf bis Fuß in ein schwarzes Tuch gehüllte Erscheinung reglos unter der Decke schwebte und ab und zu leise Schnarchgeräusche von sich gab. "Och, der wacht schon noch auf wenn wir ihm eine Flasche Bärdrückers unter die Nase halten. Na ja, ich bin mal gespannt was für ein Heini uns dieses Jahr erwartet. Die in den letzten Jahren waren stinklangweilig."
"Wem sagst du das", seufzte der zweite Geist. "Es gibt einfach keine vernünftigen hartherzigen Männer mehr in dieser Stadt. Dieser ganze Quatsch von Püschodingsbums und so- der macht uns das ganze Geschäft kaputt."
"Recht hast du", brummte Vergangenheit. "Früher hat man solche Leute einfach uns überlassen. Heute schickt man sie zu einem dieser sogenannten Seelenklempner, der redet ihnen eine Menge komisches Zeug ein und schwupps sind sie die Nettigkeit in Person. Eine Frechheit ist das!" Langsam redete er sich in Rage. "Alle Welt redet von neuen Berufsperspektiven und im Klartext heißt das nichts anderes als daß wir Alteingesessenen langsam aber sicher unseres Berufes beraubt werden!"
"Verstehe, deshalb hast du letztes Silvester zusammen mit Bettpfosten die zehn Flaschen Knieweich geleert?" grinste Geist Nummer zwei.
"Was? zehn Flaschen?" staunte Vergangenheit. "War das wirklich so viel, Heutig?"
"Allerdings." Das Grinsen des Angesprochenen wuchs in die Breite. "Was glaubst du wohl warum du nach einem Jahr immer noch nen Kater hast."
"Unser Auftritt war aber auch ne reine Katastrophe", seufzte Vergangenheit. "Der Kerl hat seine Untergebenen nicht mal richtig unterdrückt. Alles was er getan hat war den Antrag auf die Verkürzung der Arbeitszeit abzulehnen. Und sowas gilt heute als bespukungswürdig."
"Ach komm..." Heutig klopfte ihm auf die Ektoplasmaschulter. "Mal sehen was uns dieses Jahr so bringt."
"Dieses Jahr?" fragte Vergangenheit trotzig. "Nein, mein Lieber, dieses Jahr läuft gar nix. Dieses Jahr wird gestreikt. Der Spuk fällt flach, mein Freund. Stattdessen werde ich sehen, daß ich mir mal einen dieser Püschologenknilche vorknöpfe und ihm mal die Meinung geige. So kann das nicht mit uns weitergehen!"
"Öhm... Hältst du das wirklich für ne so gute Idee?" meldete Heutig Bedenken an. "Ich meine, denk an unsere Verpflichtung. Du weißt was damals passiert ist und warum wir hier sind."
"Wie könnte ich das je vergessen...", brummte Vergangenheit mißmutig. "Aber langsam werden die Bedingungen wirklich unzumutbar!" Er hob die Stimme. "Also so wie es zur Zeit läuft mach ich da nicht mehr mit!"
"He, Ruhe da unten", brummte eine mißmutige Stimme unter schwarzem Stoff hervor. "Kann man nicht mal in Ruhe seinen Kater auskurieren?"
"Wach auf Bettpfosten!" rief Heutig nach oben. "Es ist Silvester!"
"Was, schon wieder?" Langsam schwebte Geist Nummer drei nach unten. "Ich hab keine Lust. Falls jemand fragt, ich bin krank."
"Och komm, ich glaube, heute werden wir mal ein wenig Abwechslung haben." Vergangenheit lächelte hinterältig. "Weißt du, wenn du dich mir anschließt zu streiken dann haben wir Heutig überstimmt, was heißt, daß wir mal so richtig auf den Putz hauen werden."
"He, was soll das?" beschwerte sich der Genannte. "Wird das hier etwa eine Intrige gegen mich?"
"Jetzt hör mir mal zu", ereiferte sich Vergangenheit. "Seit hundert Jahren tun wir jedes Jahr brav was von uns verlangt wird und du willst uns nicht mal eine einzige Auszeit gönnen damit wir unsere Bürde wenigstens wieder ein wenig erträglicher gestalten können. Bist du denn total kriecherisch veranlagt?"
"Na wenn du keine Angst vor dem Pandämonium hast ist das dein Problem", schnappte Heutig zurück und strich sich seine Toga glatt. "Ich für meinen Teil würde allerdings lieber auf die Feuergrube verzichten."
"He, könntet ihr auch bitte ein wenig leiser streiten?" Bettpfosten massierte sich die Stelle wo man unter dem schwarzen Tuch die Schläfen vermuten würde. "Mir brummt der Schädel als ob eine ganze Kompanie Zwerge drin arbeiten würde!"
"Jammerlappen", kommentierte Vergangenheit ungerührt. "Ich weiß daß du dir vor jedem Auftritt einen ankippst damit deine Hand auch richtig authentisch zittert, aber daß du danach immer so den Leidenden markieren mußt... Und ich weiß auch, daß zehn Flaschen Knieweich einen Kater verursachen der das ganze Jahr hinüber anhält aber ich reiß mich wenigstens zusammen! [10] Also streikst
du nun mit oder nicht?"
"Ah, ich wußte doch, daß ich euch hier treffen würde." Eine kalte, leicht spöttische Stimme drang wie eine Kreissäge durch das Bewußtsein der drei Geister. "Wieder einmal am Streiten wie ich sehe? Nun, wer hat da letztes Jahr seine Ration Knieweich nicht bezahlt?"
"Jacobus Harley", stöhnte Vergangenheit. "Dich gibt's also auch noch. Und die Kette ist immer noch nicht viel kürzer wie man sieht. Na, wo müssen wir dieses Jahr ran?" Dann bemerkte er, daß neben Harley ein weiterer Geist schwebte. Er schien noch ziemlich jung gewesen zu sein als er aus dem Leben geschieden war und sein schlaksiger Körper steckte in einem für seine Figur um einiges zu weiten Schneevaterkostüm. "Und wen hast du uns da mitgebracht?"
"Das hier ist Johnny." stellte Harley seinen Begleiter vor. "Und er hat ein kleines Problem."
Mit knappen Worten und einer Menge Kettengerassel erläuterte er seinen Kollegen den Stand der Dinge.
"Hmmm..." Heutig warf einen Blick in Johnnys Kugel. "Also das sieht doch mal wieder nach einem interessanteren Fall aus. Ich kann ihn schon förmlich 'Silvesterfest- So ein Quatsch' murmeln hören."
"Egal", brummte Vergangenheit. Bettpfosten und ich, wir werden uns trotzdem erstmal ein paar Püschologen vornehmen." Er gab der schwarzverhüllten Gestalt einen Stoß. "Nicht wahr, Kumpel?" rief er etwas lauter.
"Wa-was? ah ja, mal ne Runde die Sau raus lasen. Gute Idee."
"Aber..." Auf Johnnys Gesicht breitete sich Entsetzen aus. "Das könnt ihr doch nicht machen! Ich habe noch zwei Stunden Zeit! und wenn ich den Mann nicht zur Freude am Fest bekehre dann kommt mich der Schneevater holen und schmeißt mich ins Pandämonium!"
"Jetzt reg dich mal ab, Kleiner." Vergangenheit schob sich die Löschhornmütze aus der Stirn. "Uns hier hat man vor hundert Jahren dasselbe angedroht. Geht zu Mister Snootch und so weiter, sonst... Tja, und das haben wir gemacht. Aber wurden wir dafür freigelassen? Nein. Es folgte jedes Jahr aufs Neue die selbe verdammte Prozedur. Rund hundert Jahre lang, bis heute. Und nun sind nicht mal mehr unsere Klienten richtig schlimme Männer. Nein, wir werden uns erstmal verbesserte Arbeitsbedingungen schaffen. Und der Schneevater, der kann uns mal dort wo die Sonne nicht scheint."
"Also, wenn ich mir das mal so überlege..." Harley legte die geisterhafte Stirn in nachdenkliche Falten. "Recht habt ihr. Mir geht das Ganze auch langsam auf den Geist. [11] Nicht einmal unsere Geschichte kennt heutzutage noch jemand. Ich werde immer nur komisch angeguckt und letztes Jahr hat es sogar jemand gewagt, mir 'Verzieh dich, Opa!' geradewegs ins Gesicht zu sagen! Also wenn ich es mir recht überlege, ich werde mich euch anschließen."
"Tja, dann bist du wohl überstimmt, Heutig", grinste Vergangenheit. "Drei gegen einen. Also los, worauf warten wir noch?"
"Hallo?" rief Johnny verzweifelt dazwischen. "Und was ist mit mir? Mit meinem Auftrag?"
Doch niemand schien ihn mehr zu beachten.
"Also Erstens..." Vergangenheit schien sich in seiner Rolle als Anführer zunehmend zu gefallen. "Was wollen wir eigentlich? Das wäre beim gegenwärtigen Stand der Dinge ein generelles Therapieverbot für hartherzige, verbitterte, geizige oder sonstwie potentiell dem Silvesterfest abgeneigte Männer."
Die übrigen nickten zustimmend. Auch Heutig begann langsam, sich für die Sache zu erwärmen. Wenigstens mußte er nicht allein im Pandämonium schmoren falls das Ganze schiefging...
"Zweitens: Wo finden wir einen Püschologen den wir und vorknöpfen können?"
Harley lächelte hinterhältig.
"Ich hab da von jemandem gehört." verkündete er in verschwörerischem Ton. "Er ist noch ziemlich jung und unerfahren soweit ich das mitbekommen habe. Dem läßt sich bestimmt gut einheizen. Also wenn ihr mir bitte zum Pseudopolisplatz folgen würdet..."
Zu Johnnys größtem Entsetzen dematerialisierten sich die vier Geister vor seinen Augen.
"Halt!" schrie er. "Das könnt ihr doch nicht machen! Wartet auf mich!"
Doch sie waren bereits verschwunden.
Wären Geister in der Lage gewesen zu weinen, hätte Johnny sich in eine Ecke gehockt und seinen Tränen freien Lauf gelassen. Warum ging immer alles schief? Das Gefühl, daß sich sämtliche Götter gegen ihn verschworen hatten wallte erneut in ihm auf. Dabei hatte es doch zwischenzeitlich so gut ausgesehen. Harley hatte ihn hierhin mitgenommen und ihm erklärt, daß sie gar nicht anders konnten als den Auftrag auszuführen. Doch hier saß er nun und war so weit wie vorher. Und nach seinen Schätzungen blieben ihm nur noch ungefähr zwei Stunden Zeit. [12] Harleys Geist hatte den Pseudopolisplatz erwähnt. Wenn er den vieren folgte, vielleicht konnte er sie dann ja doch noch umstimmen oder zumindest sein Glück bei besagtem Püschologen versuchen. Dummerweise hatte Johnny nicht die geringste Ahnung von der Dematerialisation. Also mußte er wohl oder übel zu Fuß schweben... Was ihn wieder eine halbe Stunde kosten würde, dachte er bitter. Sich leise selbst bemitleidend machte er sich auf den Weg. Als er auf die Straße hinausschwebte löste sich einige Meter weiter eine massige Gestalt aus den Schatten. Einige Lebkuchenkrümel fielen in den Schneematsch.

"Dumdidumdidum..."
Die Uhr über der Eingangstür des Wachhauses zeigte sieben Minuten vor zwölf.
"Schabbadabbadei..."
Kanndra schob zum wohl zehnten Mal die Sektgläser zu einer neuen Anordnung zusammen. Derzeit standen sie zu einem Dreieck angeordnet den die Gefreite mit einigen schnellen Handbewegungen in einen Kreis verwandelte.
"Dir ist nicht zufällig langweilig?" grinste Araghast und hob den Kopf vom Tresen.
Langsam begann sich die Wachstube zu füllen. Wächter der verschiedenen Abteilungen und Ränge strömten aus allen Richtungen herbei und drängelten sich um Larius, der, assistiert von Kanndra und Clara, die Aufgabe des Sektausschanks übernommen hatte.
"Herr Bregs! Ach wie wundervoll, Sie einmal wiederzusehen!" Vico, von Kopf bis Fuß in rosarote Seide gekleidet und sich mit einem Fächer frische Luft zuwedelnd, kam auf seinen ehemaligen Mitrekruten zugetrippelt.
"Vico!" Araghast schob sich in eine halbwegs sitzende Position. "Lange nicht gesehen. Wie geht's?"
"Ach, Herr Bregs...", seufzte Vico theatralisch und verzog kummervoll das perfekt gepuderte Gesicht. "Sie glauben nicht, wie schwierig es ist, sich die richtige Abteilung auszusuchen. Ich spiele schon seit langem mit dem Gedanken, mich bei DOG zu bewerben, doch so ganz habe ich mich noch nicht entschlossen..."
"Ach komm, das wird schon, Vico. Jetzt dreh keinen größeren Klicker draus als es ist." Eigentlich hatte Bregs Vico trotz seiner Marotten ziemlich gern, doch manchmal ging ihm dessen übertriebenes Gebaren ein wenig auf die Nerven. "Siehs doch einfach mal so: Neues Jahr, neues Glück. Und morgen gehst du zu Spieß Erschreckja, gibst deine Akte ab, ziehst ein Bewerbungsgespräch durch und schon bist du nicht mehr abteilungslos." Verstohlen schielte er auf die Uhr. Ihre Zeiger standen auf fünf vor zwölf.
"Ach wenn das so einfach wäre..." Traurig schüttelte Vico den Kopf, was die weiße Feder an seinem Hut zum Wippen brachte. "Aber es gibt da eine kleine persönliche Sache über die ich lieber nicht reden möchte..."
Das laute Klirren eines Teelöffels in einem Sektglas unterbrach ihn.
"Ruhe!" rief jemand. "Der Kommandeur will etwas sagen!"
Allmählich verstummte das Stimmengewirr und erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Und so war das tickende Geräusch genau zu hören, mit dem der große Zeiger der Uhr auf vier vor Zwölf sprang. Bregs stand auf uns spähte auf Zehenspitzen stehend über die Köpfe seiner Kollegen hinweg. Kommandeur Rince stand auf der zweituntersten Stufe der Treppe und hielt ein Sektglas in der Hand, dessen Inhalt gefährlich schwappte als Rince mit den Armen ruderte um auch die letzten Anwesenden auf sich aufmerksam zu machen.
"Meine lieben Wächter!" begann er schließlich mit feierlichem Klang in der Stimme. "Wieder ist ein Jahr vergangen, und ich muß sagen, die Wache hat sich von ein paar kleinen Zwischenfällen abgesehen ziemlich gut geschlagen."
Dröhnender Applaus antwortete ihm. Nicht ein Wächter der nicht insgeheim stolz auf sich selbst war, selbst wenn er sich lieber die Zunge abgebissen hätte als es zuzugeben.
"Und", rief der Kommandeur über den Trubel hinweg, "Ich will jetzt keine langen Reden schwingen, denn", Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr, "In knapp drei Minuten ist es Zwölf und wir wollen den Rutsch ins Jahr des neurotischen Geziefers doch nicht verpassen. Deshalb will ich mich kurz fassen: Macht weiter so! Die Wache wird auch im neuen Jahr wieder einiges vor sich haben. Doch nun", Er hob sein Glas, "wollen wir auf den Alten Tom warten."
Während die Wächter sich um den Sekt drängelten beobachtete Bregs weiterhin die Uhr. Anderthalb Minuten. Vermutlich wurden in genau diesem Moment überall in der Stadt ebenfalls Flaschen geöffnet und Gläser verteilt und ungeduldige Blicke auf Uhren geworfen. Irgendwie war es doch dieselbe Prozedur wie jedes Jahr. Sich abends den Bauch vollschlagen, ein paar lustige Spiele spielen, dann Anstoßen und anschließend weiterfeiern bis dann morgens um sechs auch der letzte abgefüllte Gast in sein Bett geschwankt war. Woraufhin es sich auch nicht mehr lohnte, ebenfalls schlafen zu gehen und man sich infolgedessen gleich auf die Geschenke stürzte, die den ganzen vorigen Abend bereits verheißungsvoll aus den Strümpfen am Kamin geschaut hatten und sich nun als kratzige, mit Liebe handgestrickte, hundsbraune Wollsocken von Tante Marta entpuppten. Bregs hatte bereits eine Menge verschiedenster Silvesterfeste erlebt. Ein paar einsame, langweilige im Waisenhaus, diverse ziemlich feucht-fröhliche auf hoher See, begleitet von einem Faß Rum und einem grausig verstimmten Akkordeon [13], ein ziemlich fatales in einer Kneipe in Brindisi an dem er sein linkes Auge verloren hatte und drei ziemlich schräge in verschiedenen Teilen Überwalds und Borograviens, wo es Brauch zu sein schien, Unmengen an Knoblauchwurst zu verdrücken und dazu Wodka becherweise zu trinken. Araghast war gespannt, was dieses Silvesterfest bringen würde. Fröhliches Anstoßen im Wachhaus und anschließend Feierabend und eine ruhige Punschrunde bei Julius und Mimi- das hörte sich doch schon einmal gut an.
Die erste Glocke begann zu läuten.
"He, was soll das?" beschwerte sich Val. "Es ist doch noch gar nicht zwölf!"
"Das ist die Lehrergilde", wurde er von Gold Moon aufgeklärt. "Die ist immer zu früh dran. Wir richten uns immer nach dem alten Tom."
Mittlerweile gesellten sich weitere Glocken hinzu.
Und dann rollte eine Welle der Stille durch die Wachstube.
"Eins!" rief Konnandeur Rince und hob sein Sektglas.
"Zwei!" zählten alle mit.
"Drei!"
"Vier!"
"Fünf!"
"Äh...Viele?" fragte Malachit verwirrt.
"Sechs!"
"Sieben!"
"Acht!"
"Neun!"
"Zehn!"
"Elf!"
"Zwölf!"
Der große Zeiger der Uhr sprang auf die volle Stunde.
"Prost Neujahr!"
Draußen begann es zu krachen: Die ersten Feuerwerkskörper stiegen in den Nachthimmel auf. Und als ob sie ein unerwünschter, griesgrämiger Gast auf einer wilden Feier wäre schlug als letzte aller Glocken der Stadt die dumpfe Inhumierungsglocke der Assassinengilde.
"Ein frohes neues Jahr, Bregs!" Kanndra stupste ihren Kollegen an und hob leicht tadelnd die Augenbrauen. "Du starrst schon seit drei Minuten an die Wand!"
"Was? ich...oh." Araghast blinzelte. "Na ja, ich habe gerade an früher gedacht. Habe ich dir schon erzählt daß das fehlende Auge und die Narbe von einem Silvesterfest stammen?"
"Irgendwann bestimmt mal." Suchend sah sich die Späherin um. "Sag mal, hast du Hauptmann Ohnedurst eigentlich noch mal gesehen? Irgendwie scheint er nicht hier zu sein."
"Vermutlich woanders feiern." Bregs leerte sein Sektglas und stellte es auf den Tresen. "So wie ich auch in ein paar Minuten. Nur noch eben allen hier ein frohes neues Jahr wünschen, die Geschenke hier verteilen, die anderen Geschenke holen und dann los."


4. KAPITEL: GEISTER... MEHR GEISTER... NOCH MEHR GEISTER...

Leise vor sich hinbrummelnd schwebte Johnny durch die mitternächtlichen Straßen. Überall um ihn herum explodierten Feuerwerkskörper, deren Lärm in seinen substanzlosen Ohren dröhnte und deren Licht bunte Lichter auf die Häuserwände warf. Ganze Familien standen in ihren Haustüren und sahen sich das Spektakel an, wobei sie immer wieder vor Freude auflachten während sie sich ihre Hände an dampfenden Punschbechern wärmten. Johnnys Laune hingegen befand sich jenseits des Gefrierpunktes.
"Wehe", knurrte er mißmutig. "Wehe dem Gör das mir noch einmal einen Böller mitten durch den Bauch wirft. Fünfmal reicht endgültig."
Er trat mit dem Fuß nach einer Schneewehe und knurrte ein weiteres Mal frustriert, als sein Fuß einfach hindurchglitt. Wunderbar, dieses Geisterleben. Nicht mal abreagieren konnte man sich vernünftig.Und es war noch ein gutes Stück Weg bis zum Pseudopolisplatz der, soweit er sich erinnern konnte, beim Opernhaus auf der anderen Seite des Flusses lag. Mitternacht war vorüber. Das hieß, ihm blieben nicht einmal mehr zwei Stunden Zeit. Die kleine Kugel schimmerte immer noch in Johnnys Hand. Seufzend warf er sie hoch und fing sie wieder auf. Das Abbild des skrupellosesten Mannes Ankh-Morporks rotierte um seine eigene Achse bevor sein Tanz abrupt von Johnnys zugreifender Ektoplasmahand gestoppt wurde. Der Geist verstand immer noch nicht so ganz, weshalb jener Gegenstand ihn als einziger nicht einfach durchdrang. Vermutlich hatte es etwas mit Magie zu tun dachte er, als er weiterschwebte, immer der Messingbrücke und seinem Ziel zu.
Und in sich selbst versunken wie er war bekam er nicht mit, wie ein kleines Kind zu seiner Mutter rannte und aufgeregt rief:
"Mama! Da hinten läuft ein echter Lebkuchenmann!"

Die Treppe zum ersten Stock knarrte unter seinem Gewicht, als Araghast in Richtung seines Büros stapfte und sich fragte, wie er die Geschenke am Besten möglichst unbemerkt in den Büros seiner Kollegen deponieren konnte. Bei denjenigen die bereits Feierabend hatten war es nicht schwer, bei den anderen bleib nur zu hoffen, daß sie noch eine Weile unten in der Wachstube blieben. Leise vor sich hinsummend stieß Bregs die Tür zu seinem Büro auf und klopfte dazu im Takt mit dem Daumen auf den Deckel des 'Silvesterliedes in Prosa'. Endlich einmal ein ruhiges Silvesterfest, ohne lebens- (bzw. halbuntotendaseinsgefährdende korrigierte der politisch korrekt eingestellte Teil des Unterbewußtseins hastig) überwaldianische Mamutschka-Messertänze, grausame Akkordeonmusik oder sturzbetrunkene Kerle die einem die Wange aufschlitzten.
Havelock schlief seelenruhig mit dem Kopf unter ihrem Flügel und schien den Lärm der explodierenden Feuerwerkskörper, der gedämpft duch das geschlossene Fenster drang, vollends zu ignorieren. Araghast seufzte. Zu seinen Neujahrsvorsätzen gehörte unter anderem, endlich einen neuen Namen für seine Papageiendame zu finden. Seine Kollegen gaben sich zwar große Mühe, ihn mit Vorschlägen zu versorgen, doch keiner hatte Bregs bis jetzt vollends überzeugen können.
Ein Haufen Papierfetzen auf dem Schreibtisch zeugte immer noch von dem nachmittäglichen Ringen mit einer Menge widerspenstiger Klebestreifen und sich auf unerfindliche Weise immer wieder wie von Zauberhand selbst aufrollendem Geschenkpapier. Bregs ließ sein Buch auf die Überreste dieses silvesterlichen Schlachtfeldes fallen und wandte sich den Päckchen verschidenster Größe und Form zu, die säuberlich aufeinandergestapelt den Deckel seines Sarges blockierten.
"He, bist du der Püschologe hier?"
Erschrocken fuhr der Gefreite herum. Eine dermaßen barsche Stimme mitten in der Nacht in seinem Büro war das Allerletzte was er erwartet hatte.
Wo sich noch eben nichts weiter als mit einigen wenigen Staubteilchen durchmengte Luft befunden hatte schwebten vier Geister, deren bläuliches Strahlen das Böro in ein schwaches, unwirkliches Licht tauchten. Und irgendwie erscheinen sie Araghast verdächtig vertraut...
"Woher kenne ich euch?" fragte er leise. "Ich hab das Gefühl, daß wir uns irgendwo schon mal begegnet sind."
"Ach nee", bemerkte der zweite Geist von links abfällig und rasselte demonstrativ mit der langen Kette, die er sich mehrfach um den Körper geschlungen hatte. "Was liegt denn da auf deinem Schreibtisch?"
"Äh..." Bregs sah sich um. "Zwei Täterprofile, eine Menge Chaos und ein Buch..."
"Jaja, in allen Geschichten, auch in unserer, steckt ein Körnchen Wahrheit." Das Gespenst lächelte spöttisch und deutete eine Verbeugung an. "Gestatten, Harleys Geist."
Araghasts Kinnlade klappte nach unten. Die Geister die sich direkt vor ihm befanden paßten haargenau auf die Beschreibungen Karl Dickmanns in seinem Roman. Jacobus Harley mit seiner Brille und der Kette, geschmiedet aus den Insignien des Kaufmannslebens. Die dürre Gestalt des Geistes des vergangenen Silvesterfestes, die Löschhornmütze weit in den Nacken geschoben. Der Geist des heutigen Silvesterfestes in seiner prachtvollen Toga. und schließlich der Geist der zukünftigen Silvesterfestes, eine schemenhafte Gestalt unter einem undurchsichtigen schwarzen Schleier, dessen einziger sichtbarer Körperteil eine leicht zitternde runzlige Hand war, die kaum sichtbar zwischen zwei Falten hervorlugte.
"Aber... ist das denn wirklich möglich?" fragte er verblüfft. "Heißt das, die ganze Sache mit Mister Snootch und der Bekehrung ist wirklich passiert?"
"Natürlich, was denkst du denn? Seit rund hundert Jahren spuken wir hier nun schon durch die Gegend, jedes Jahr zu Silvester ein hartherziger Mann", seufzte Heutig.
"Aber warum seid ihr dann hier?" bohrte Araghast. "Ich bin kein hartherziger, geiziger, verbitterter oder sonstwie dem Silvesterfest abgeneigter Mann. Im Gegenteil, ich liebe Silvester! Und deshalb fürchte ich, daß ihr euch in der Tür geirrt zu haben scheint."
"Das glaube ich eher weniger." Vergangenheit schwebte vor. "Du bist doch der Püschologe, oder?"
Araghast nickte.
"Dann sind wir hier richtig. Wir sind nämlich hier um uns zu beschweren."
"Genau", kam es dumpf unter dem schwarzen Schleier hervor. "Wir fordern eine Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen."
"Wie? Könntet ihr das bitte noch mal... genauer erklären?" Bregs war komplett verwirrt. Allmählich kam er sich vor wie in einem schlechten Klicker.
"Nun im Laufe der Jahre hat die Qualität der hartherzigen Männer eigentlich kontinuierlich abgenommen", erklärte Harleys Geist und klang nun wie der Kaufmann der er einst gewesen war. "Und Schuld daran ist nichts anderes als die Püschologie. Wißt ihr denn gar nicht, daß ihr dabei seid, uns die Arbeitsgrundlage zu rauben? In dem ihr potentielle Kandidaten für unseren Spuk einfach therapiert?"
Araghast seufzte leise. Und er hatte gedacht, dieses Silvesterfest würde ruhig und gemütlich verlaufen...
"Jetzt hören Sie mal zu, meine Herren Geister." Er gab sich Mühe, seiner Stimme einen resoluten Klang zu verleihen. "Ich habe mit hartherzigen Männern nichts am Hut. Meine Aufgaben sind Täterprofile, Verhöranalyse und Anti-Aggressions-Sitzungen. Also jetzt behauptet nicht, daß ich euch in irgendeiner Form schikaniere. Ihr seid doch eh nur eine Geschichte. Und jetzt verschwindet und versaut mir nicht das Silvesterfest!"
Heutig lächelte weise.
"Der junge Mann hat Temperament, das muß man ihm lassen." bemerkte er und rückte sich seine Toga zurecht. "Aber Recht hat er. Ich wußte schon von Anfang an, daß der ganze Plan Schwachsinn war, ich habs euch ja gesagt."
"Jetzt fall du uns wieder in den Rücken, Heutig", fauchte ihn Vergangenheit an. "Hier geht es ums Prinzip, verstehst du? Egal ob er hier nun Schuld ist oder nicht- irgendwie und irgendwo müssen wir unseren Standpunkt klar machen!"
"Ach hör auf!" giftete Heutig zurück. "Du bringst uns immer nur Ärger. Wer hat uns in den ganzen Schlamassel mit dem Spuken überhaupt erst reingeritten? Es war deine Idee gewesen, sich als Schneeväter zu verkleiden und die Eselskarrentour zu unternehmen. Und komm mir nicht mit Ich war besoffen oder so, das ist schon klar, aber daß du geradewegs durch das Brückengeländer gebrettert bist und wir alle im Ankh ersoffen sind das ist definitiv deine Schuld! Und jetzt reißt du uns mit deiner absolut bescheuerten Aktion wieder rein! Du hast in den 100 Jahren wirklich nicht das kleinste Stückchen dazugelernt du Volltrottel!"
Ein leises Gluckern verkündete, daß Bettpfosten irgendwo in den Tiefen seines Schleiers noch einen Rest Knieweich vom letzten Jahr gefunden haben mußte.
"Meine Güte, verstehst du denn nicht?" entgegnete Vergangenheit ungehalten, "Wir tun gerade etwas für uns alle! Aber du meckerst ja über alles und jeden Mist! Immer nur alles schlechtmachen, aber eigene Vorschläge hat man von dir ja noch nie gehört."
Entnervt beobachtete Bregs die sich mittlerweile um die Götter und die Welt streitenden Geister und überlegte fieberhaft. Wie wurde er sie nur wieder los? Sie, zumindest Harleys Geist und der geist des vergangenen Silvesterfestes schienen sich nicht mit einem einfachen 'Sucht euch jemand anderen' abspeisen zu lassen. Irgendwie mußte er sich herauswinden um nicht die ganze Nacht mit Erklärungen zu verbringen, was an den Forderungen der Geister schlicht und einfach absurd war. Mit gesundem Menschenverstand
war hier nichts auszurichten. Fieberhaft überlegte Araghast, was in seinen Püschologieratgebern zu dem Thema 'Wie man mit Leuten umgeht die entschlossen auf einem völlig unsinnigen Standpunkt beharren' gestanden hatte. Suchend sah er sich um. Doch seine Büchersammlung war bagesehen von einer Wahooniekiste voller Eddie Wollas-Romane derzeit ziemlich mager. Die meisten püschologisch relevanten Werke hatte er Julius zurückgegeben und die 'Phänomenomenologie des Geistes' lag derzeit auf dem Schreibtisch von nefer-pa-isis, Püschologenanwärterin bei RUM. Das einzige woran er sich blaß erinnern konnte war ein längerer Absatz zum Thema 'Wie gehe ich auf Verrückte ein'. Vielleicht konnte das helfen...
"Und du warst schon als Kind ein rechthaberischer kleiner Mistkerl!" warf Heutig gerade Vergangenheit an den Kopf, während Harley fasziniert zuhörte. Hin und wieder gesellte sich das leise Gluckern der Knieweichflasche die gerade wieder eines Teils ihres Inhalts beraubt wurde zur allgemeinen Geräuschekulisse dazu. Einige gedämpfte Fragmente des 'Igelliedes' drangen durch den Schleier.
"Ach ja, war ich das? Und was warst du? Der größte Schleimer von Mütterchen Knüppelsteins Schule!"
"Na und? Wenigstens bin ich nicht sitzengeblieben, so wie du!"
"Der Igel ischt auf jeden Fall bescher dran..."
Nun reichte es Araghast endgültig.
"Ruuuuhe!!!" brüllte er so laut es ihm seine Lungen erlaubten.
"Jaja, jetzt gehst du aber unter die Gürtel..." Vergangenheit verstummte und starrte den Püschologen an, der ihn, die Hände in die Hüften gestemmt, mit seinem Auge streng anfunkelte.
Dessen Gesicht verzog sich plötzlich zu einem Lächeln.
"Gerade ist mir eingefallen," Seine Stimme triefte plötzlich vor Freundlichkeit, "Vielleicht, wenn ich mal mit den Mitgliedern der Püschologengilde rede, könnte es eventuell sein, daß ich da doch noch was drehen kann, was eure... Beschwerde betrifft."

Drei Schläge diverser Glocken der Stadt verkündeten, daß das Jahr des neurotischen Geziefers bereits eine dreiviertel Stunde alt war. Allmählich schienen den Bürgern der Stadt die Feuerwerkskörper auszugehen, denn die bunten Lichter, die durch die Fenster Muster auf die Wände der Wachstube warfen waren im Verlauf der letzten Viertelstunde merklich weniger geworden.
Schade, dachte Gefreite Claudette Minze und stützte gelangweilt ihr Kinn auf die Hände. Nachdem die letzte Flasche Sekt der kleinen improvisierten Feier geleert worden war hatten sich die anwesenden Wächter ziemlich schnell wieder in alle Richtungen zerstreut, nur Larius und Kanndra waren in der Kantine noch mit dem Abwasch beschäftigt. Und so hatte Claudette innerlich grummelnd ihren Tresendienst angetreten, wohl wissend, daß um Punkt sieben Uhr fünf eine aufgebrachte Frau Willichnicht vor ihr stehen und sich lauthals über den Lärm während der Nacht und die Feuerwerkskörperreste vor ihrer Haustür beschweren würde. Bis jetzt war von einer Anzeige wegen eines eines versehentlich in die Luft gesprengten Eselskarrens abgesehen allerdings noch nichts Interessantes passiert. Die Gefreite seufzte leise und hörte mit halbem Ohr zu, während sie den sich für ihren Geschmack viel zu langsam bewegenden Sekundenzeiger der Uhr beobachtete.
"Äh Entschuldigung, bin ich hier richtig bei der Wache?"
Claudette fuhr herum. Niemand hat die Eingangstür benutzt, überlegte sie...
...und sah einen in ein Schneevaterkostüm gekleideten Geist vor dem Tresen schweben.
"Feldwebel Steingesicht?" fragte sie verwirrt. "Haben Sie sich verkleidet?"
"Wer ist Feldwebel Steingesicht?" wunderte sich der Geist. "Ich heiße Johnny Klawitter. Und ich brauche dringend Ihre Hilfe!"
"Also wo brennts denn?" Mit routiniertem Griff zog Claudette einen Fallaufnahmeformular aus einem Fach unter dem Tresen und zückte ihren Bleistift. "Was ist passiert?"
"Ich weiß, es hört sich dämlich an..." Johnny zögerte und spielte mit etwas herum, was der Gefreiten wie eine kleine leuchtende Kugel erschien.
"Nur zu", ermunterte sie ihn lächelnd. "Verrückte Sachen sind hier an der Tagesordnung."
"Also... hier sind nicht zufällig kürzlich vier Geister vorbeigekommen?" In Johnnys Stimme schwang ein Hauch von Verzweiflung mit. "Einer von ihnen trägt eine Art schwarzes Bettlaken über dem Kopf."
Interessant was sich in der Silvesternacht alles so herumtreiben sollte, dachte Claudette und schüttelte den Kopf. "Nein." erklärte sie schließlich. "Du bist heute Nacht der erste Geist der mir begegnet."
Der Geist schien in sich zusammenzusacken. "Gibt es hier denn wenigstens einen Püschologen?" jammerte er. "Die vier meinten, daß sie hier zu einem wollten."
"Einen Püschologen haben wir hier schon", erklärte Claudette. Sie fragte sich was mit dem Gespenst los war, daß es nach Mitternacht auf der Suche nach einem Püschologen war. "Sogar zwei. Eine befindet sich noch in der Ausbildung und der andere müßte eigentlich seit zwölf Feierabend haben."
"Verdammt!" Johnny schlug mit der Faust durch die Luft. "Warum hat sich alles gegen mich verschworen? Was ich auch mache- nie klappt es..." Sein Gesicht verzog sich als würde er gleich anfangen zu weinen.
Mitleid rührte sich in Claudette. Sie wies auf die Treppe.
"Eigentlich müßte er noch oben sein. Du gehst die Treppe hoch dann biegst du links ab und klopfst an die Tür an der ein Pappschild mit den Namen Araghast Breguyar hängt."
Johnny versuchte ein klägliches, geisterhaftes Lächeln. "Danke", flüsterte er. "Du hast mir vielleicht eine Ewigkeit in der Feuergrube erspart." Er schwebte auf die Treppe zu.
Claudette sah ihm kopfschüttelnd nach. Komischer Kauz, dachte sie. Hatte die ganze Zeit wirres Zeug zusammengefaselt. Na ja, vielleicht tat ihm ein Besuch beim Püschologen ja ganz gut. Obwohl Bregs ja nun eigentlich Feierabend hatte. Ein Anflug von schlechtem Gewissen regte sich in der Gefreiten. Obwohl... Eigentlich war er selbst schuld, daß er zu FROG gegangen war. Da kam so etwas halt mal vor. Gelangweilt blickte sie zum Fenster- und blinzelte verwirrt. Sie hätte schwören können, für den Bruchteil einer Sekunde in das grinsende Gesicht eines Lebkuchenmannes geblickt zu haben. Bleib wach, Claudette, schalt sie sich innerlich selbst. Es gibt zwar eine Menge seltsamer Gestalten in dieser Stadt, aber bestimmt keine wandernden Lebkuchenmänner. Also reiß dich zusammen.

Währenddessen redete Bregs um seine freie Nacht.
"Also wenn ich richtig verstanden habe," Er warf einen Blick auf den Zettel, den er im Laufe des Gespräches mit allerlei Notizen vollgekritzelt hatte, "fordert ihr einen sofortigen Therapiestop für alle potentiellen Silvesterfestverächter sowie jährlich zum Fest eine Liste der aussichtsreichsten Kandidaten für euren Spuk, zu schicken an die Adresse Schätzchengasse 35, Kellergewölbe. Und was die Gilde betrifft: Vielleicht könnte ich ihr euren Spuk als neuartige Therapieform verkaufen. Immerhin war der Erfolg der Methode bei Ebenezer Snootch geradezu durchschlagend."
"Moment!" Harleys Geist runzelte die Stirn. "Sag mir mal eins: Seit wann gibt es diese Püschologengilde von der du da redest eigentlich schon? ich kann mich nicht daran erinnern, jemals von einer solchen Institution gehört zu haben."
Mist, fluchte Araghast innerlich. Man merkte doch, daß Jacobus Harley den Verstand eines Kaufmannes besaß. Er ließ sich nicht so leicht übers Ohr hauen wie die anderen drei, von denen einer eh bereits in anderen Sphären wandelte [14]und die anderen beiden hauptsächlich damit beschäftigt zu sein schienen, sich gegenseitig auf möglichst böse Weise anzufunkeln. Und nun fing er an, unangenehme Fragen zu stellen. Fragen, aus denen sich Bregs möglichst geschickt herauswinden mußte.
"Nun, die Gilde ist auch erst kürzlich gegründet worden." Er hoffte, daß man ihm seine Unsicherheit nicht ansah. "Der derzeitige Patrizier hält eine Menge vom Gildensystem und deshalb haben auch wir Püschologen uns zu einer zusamengeschlossen. Als Einzelperson ist es einem mittlerweile praktisch unmöglich, in dieser Stadt seine Interessen umzusetzen." Meine Güte, bin ich froh, daß die Leute von DOG mich nicht hören, schoß es ihm durch den Kopf. Die würden vermutlich vor Lachen unter ihren Schreibtischen liegen. "Außerdem tauschen wir uns bei unserem wöchentlichen Treffen über die neuesten Erkenntnisse und Fälle aus. Das kann manchmal sehr lehrreich sein."
"Aha." Harleys Geist schien von der Antwort die er erhalten hatte nicht besonders beeindruckt zu sein. "Also wenn das so ist- warum wenden wir uns dann mit unserer Beschwerde nicht gleich an die Gilde?" Er wandte sich zu Vergangenheit um, dessen Revoluzzerlaune angesichts Harleys kühler, präziser Vorgebensweise ein wenig gedämpft worden war. "Was hältst du davon? Da kommen wir doch bestimmt schneller zum Ziel als wenn wir hier erst warten bis unser Püschologe hier geruht, unsere Forderungen irgendwann einmal zur Sprache zu bringen."
Tut doch was ihr wollt, dachte Bregs genervt. Hauptsache ihr verschwindet hier endlich und laßt mich in Ruhe. Julius wird sich bestimmt schon wundern wo ich bleibe.
"Also das ist eigentlich auch keine schlechte Idee." sagte er laut.

"Also, das ist eigentlich auch keine schlechte Idee." hörte Johnny eine ihm unbekannte Stimme durch die geschlossene Bürotür. "Wir haben allerdings noch kein richtiges... Gildenhaus. Aber es gibt einen...eine Art Kontaktstelle wo wir immer erreichbar sind. Dort könntet ihr Glück haben."
"Und wo befindet sich diese sogenannte Kontaktstelle?" fragte eine andere Stimme, die Johnny sofort als die Jacobus Harleys identifizierte, in einem mißtrauischen Tonfall.
Nein. Hätte Johnny noch Lippen besessen hätte er wohl verzweifelt draufgebissen. Nicht schon wieder. Sie durften nicht fort. Er hatte nur noch etwas über eine Stunde Zeit.
"Wartet!" schrie er und warf sich durch die Tür. "Wartet auf mich!"
Das nächste was Johnny sah waren vier Geister und ein junger Mann, die ihn verblüfft anstarrten während er in liegender Position mitten im Raum schwebte.
"He, das ist doch der Kerl den du angeschleppt hast, Harley." Vergangenheit hatte sich als erster wieder gefangen. "Der scheints aber wirklich dringend mit seiner Bespukung zu haben."
"Wie witzig", kommentierte Johnny. "Ich habe noch eine Stunde Zeit bis zum Pandämonium!"
"Entschuldigung, aber wer bist du eigentlich schon wieder?" Der junge Mann mit der Augenklappe warf Johnny einen fragenden Blick zu. "Eigentlich dachte ich, daß alle die sich hier beschweren wollten schon da sind."
"Beschweren?" heulte der Geist Johnny Klawitters. "Ich hab nicht vor, mich wegen irgend etwas zu beschweren. Alles was ich will ist, daß die vier da mir endlich helfen!"
Der Wächter seufzte. "Also noch mal von vorne: Wer bist du und was willst du eigentlich? Ich habe langsam genug von wirrem Gefasel."
"Wirres Gefasel?" schnappte Harleys Geist. "Heißt das, du hast uns gar nicht ernstgenommen?"
"Natürlich habe ich das." Der junge Mann schien um eine Antwort zu ringen. "Aber ihr müßt doch zugeben, daß eure ganze Geschichte ein wenig... ungewöhnlich ist. Und ich komme mir langsam vor, als wüßte ich immer noch nur die Hälfte von dem was wirklich hinter allem steckt."
"Also, wir haben dir alles gesagt was uns betrifft", erklärte Vergangenheit. "Nur als wir unsere Forderungen gerade zusammenhatten tauchte Harley plötzlich mit dem Kerl hier auf und meinte der wüßte jemanden bei dem wir dieses Jahr unsere Geister-Nummer abziehen könnten. Und nun ist er uns anscheinend gefolgt."
"Es ist wichtig!" rief Johnny und schwebte vor. "Ich sollte einen Waisenjungen glücklich machen und irgendwas hat mich um vierzig Jahre in die Zukunft katapultiert! Und mittlerweile ist er zum skrupellosesten Mann der Stadt geworden, genau wie der Schneevater es vorausgesagt hat! Bis zwei Uhr habe ich Zeit, sagte er, ihm zu helfen, sonst lande ich in der Feuergrube!" Er hielt dem Wächter die kleine Kugel unter die Nase. "Da!" rief er. "Mister Snootch läßt grüßen. Und deshalb brauch ich dringendst die Hilfe der vier hier!"
Der junge Mann warf einen langen Blick auf das Bild des Mannes in Schwarz, der an seinem Schreibtisch saß und immer noch zu arbeiten schien.
Dann begann er, schallend zu lachen.

Araghast Breguyar hielt sich die Seiten. Er hätte nicht gedacht, daß die Situation noch absurder werden konnte. Natürlich. Der skrupelloseste Mann Ankh-Morporks. Die Geister. Allein die Vorstellung der Situation, wie Harleys Geist von dem Blick jener Person quasi an die Wand genagelt wurde, forderte einen neuerlichen Lachanfall geradezu heraus. Entweder war die gesamte Scheibenwelt verrückt geworden oder irgendwer erlaubte sich da einen riesigen Silvesterscherz. "Also," wandte er sich an den Geist im Schneevaterkostüm, während er mühsam gegen den Drang ankämpfte, ein weiteres Mal lauthals loszuprusten, "Was meinst du mit vierzig Jahren zu spät?"
"Vor vierzig Jahren starb ich." Johnny blickte düster zu Boden. "Ich sollte als Mietschneevater bei einer reichen Familie auftreten. Und als ich durch den Kamin kletterte hat mich eine Assasssinenfalle erwischt. Wegen des Kostüms hat der Schneevater mich der Monopolverletzung für schuldig befunden..."
Assassinenfalle. Mietschneevater. Vor Bregs' geistigem Auge erschienen das Bild eines Skelettes in den Fetzen eines Schneevaterkostüms und die Stimme Clara Bienchens:
'Nichts Besonderes. Wie wir bereits vermutet haben: Irgendein armer Teufel der vor einigen Jahren als Schneevater verkleidet in eine Assassinenfalle geraten ist. Schätzungsweise dreißig bis vierzig Jahre her. Männlich, zirka eins fünfundachtzig, vermutliches Alter Mitte zwanzig.'
Seltsam auf welche Weise sich manachmal alles zusammenfügte. Der Geist eben jener Leiche, die SUSI gestern Nachmittag geborgen hatte, schwebte direkt vor ihm. Und schien nur mit dem dringenden Auftrag beschäftigt zu sein, ausgerechnet...
"Ich glaube, ich weiß, wer du bist." sagte er schließlich leise. "Oder zumindest... wann und wo du ungefähr starbst. Es mag schwer für dich sein, aber gerade gestern Nachmittag wurde deine Leiche in einem Kamin entdeckt. Beziehungsweise das was von ihr übrig war..."
"Nein..." Johnnys Stimme schwand zu einem Flüstern. "Vierzig Jahre... Vierzig Jahre bis mich jemand fand. Und nun liege ich da- Nur eine Nummer für die Gerichtsmedizin. Ich, Johnny Klawitter, ende als eine Zahl auf einer Karteikarte. Vergessen von den Göttern und der Welt... Vermutlich galt ich damals als vermißt... Und als mich niemand fand wurde mein Fall zu den Akten gelegt und niemand kümmerte sich mehr darum. Doch nun bin ich zurück. Um einen Auftrag durchzuführen der bereits vor langer Zeit hätte hätte beendet sein sollen. Und in einer knappen Stunde ist alles aus..."
"Es liegt an dir, den Zustand mit der Nummer zu beenden." versuchte Araghast ihn ein wenig aufzumuntern. "Wir können runter zur Gerichtsmedizin und Spurensicherung gehen und wenn du die Leiche als die deinige identifizieren kannst wirst du auch unter deinem Namen begraben werden und wir können deiner Familie mitteilen, was mit dir geschehen ist."
Johnny seufzte. "Ob meine Eltern noch leben, weiß ich nicht. Aber meine Schwester Friderike- was wohl aus ihr geworden ist... Nein, wenn dann will ich auch bei meinen Eltern begraben werden. Zum Glück haben sie niemals mitbekommen was ihr Sohn für ein Versager ist..." Deprimiert blickte er auf die Kugel. "Also wenn ich jetzt schnell meine Leiche erkenne und wir uns beeilen, können wir es vielleicht noch schaffen mit dem Spuk? Wir haben nur noch 55 Minuten."
"Also das Erkennen einer Leiche geht eigentlich relativ schnell." erklärte Araghast und lächelte. "Der Rest wird wohl von diesen Herrschaften hier abhängen." Er wies zu den vier Geistern, die das Gespräch vom gegenüberliegenden Ende des Zimmers aus verfolgt hatten. "Wenn du sie irgendwie überreden kannst."

Vier kostbare Minuten und eine kurze aber heftige Debatte über ideologische Standpunkte und Streikbrecherei später begaben sich ein Wächter und fünf Geister die Treppe hinunter, vorbei an einer erstaunten Claudette Minze, durch eine Tür und eine weitere Treppe hinab ins Büro von Larius de Garde.
Dieser musterte die seltsame Versammlung vor seinem Schreibtisch kopfschüttelnd und lächelte.
"Also ich glaubs nicht", kommentierte er. "Vorhin hat Cim noch vom durchschnittlichen Wahrheitsgehalt von Silvestermärchen geredet und jetzt schleppst du hier die gesamte Geistertruppe an. Also was ist los? Hat dein Buch die ganzen Geister hier plötzlich augespuckt?"
"Eigentlich nicht." Araghast verzog das Gesicht. "Sie tauchten plötzlich in meinem Büro auf um sich über die Püschologie zu beschweren. Aber lange Rede kurzer Sinn: Ich bin hier weil ich jemanden getroffen habe der die Leiche von heute Nachmittag identifizieren kann. Johnny?"
"Äh ja." Der Geist Johnny Klawitters schwebte auf Larius zu. "Ich habe gehört, daß ich gefunden wurde. Wenn ich mich mir mal ansehen könnte? ich habe es nämlich eilig", bettelte er.
Der stellvertretende Abteilungsleiter stand auf und hob einen Schlüsselbund von seinem Schreibtisch auf. "Na dann komm mal her. Willst du mit oder hier warten, Bregs?"
"Ich glaube ich bleibe lieber hier", antwortete Araghast mit einem Seitenblick auf die vier Geister.
Mit bangem Gesicht folgte Johnny Larius, der die Tür zu Pismires Labor aufschloß und den Geist hineinwinkte. Ein Tuch bedeckte den Obduktionstisch, unter dem sich vage die Umrisse eines Skelettes abzeichneten.
"Ich warne schon mal vor." Der Korporal sah Johnny ernst an. "Es ist nicht mehr viel übrig."
"Das ist mir egal", murmelte Johnny dumpf. "Ich werds irgendwie verkraften. Aber beeilen Sie sich bitte. ich habe nicht mehr viel Zeit."
"Also gut." Larius zog das Tuch beiseite.
Johnny schluckte. Er hatte einiges erwartet, doch der Anblick der skelettierten und halb zu Staub zerfallenen Überreste seines eigenen Körpers verpaßte ihm doch einen ziemlichen Schock. Seine Kinnlade klappte herunter und er wich zurück. Das konnte doch nicht wirklich... Doch die verblichenen Fetzen eines Schneevaterkostüms die stellenweise noch um die Knochen gewickelt waren und die zerbrochenen Rippen ließen keinen Zweifel.
"Ja." flüsterte er. "Das bin ich. Jonathan Klawitter. Gestorben im Alter von 24 Jahren. Reicht das?"
"Warum so eilig?" Mit Schwung warf Larius das Tuch über die traurigen Überreste des jungen Mannes. "Erstmal muß ich noch das Protokoll aufnehmen. Die Bestätigung der Todesart, genauer Sterbezeitpunkt und so weiter. Ich kann dich jetzt noch nicht gehen lassen."
"Aber ich habe keine Zeit!" schrie Johnny panisch und wedelte mit der kleinen Glaskugel unter der Nase des stellvertretenden Abteilungsleiters herum. "Ich habe noch eine gute Dreiviertelstunde Zeit, diesem Mann hier zu erscheinen! Ansonsten komm ich ins Pandämonium!" Und weiter vor sich hinjammernd floh er geradewegs durch die Wand.
"He, hiergeblieben!" Doch Larius' Befehl war vergeblich. Verwirrt schüttelte er den Kopf und verließ das Labor. Er verstand schon, daß der Anblick der eigenen Leiche jemanden ziemlich mitnehmen konnte, aber was sollte das ganze Gerede von wegen keine Zeit und diese komische Kugel mit der der Geist so heftig herumgewedelt hatte? Der Gefreite Breguyar war ihm erst einmal ein paar Antworten schuldig, soviel war klar.
"Was war los?" fragte ihn Araghst als Larius die aus den Einzelteilen vieler anderer Türen bestehende Tür seines Büros aufriß und die Schlüssel geradewegs durch Heutigs Bauch hindurch auf den Schreibtisch warf.
"He!" beschwerte sich dieser. "Was sollte das?"
"Genau das wollte ich auch fragen." Der Korporal blickte Araghast durchdringend an. "Und du erklärst mir jetzt noch einmal genau was bei dir da heute Nacht eigentlich los war."
Bregs sah sich suchend um. "Wo ist Johnny?" fragte er.
"Schreiend weggelaufen, nachdem er irgendwas von keine Zeit gerufen und wie wild eine kleine Kugel herumgeschwenkt hat. Also was weißt du über ihn?"
"Verdammt." Araghasts Gesicht wurde noch bleicher als es ohnehin schon war. "Er wird doch nicht etwa doch..." Er winkte den übrigen Geistern. "Kommt! Ich glaube, Johnny baut gerade ziemlichen Mist. Ich erklärs dir Morgen!" rief er Larius zu als er zur Tür stürmte. "Das ist eine lange Geschichte!"
Nachdem der letzte Geist, der übrigens von einem ziemlich durchdringenden Knieweich-Aroma umhüllt wurde, an ihm vorbeigerauscht war, ließ sich Larius seufzend in seinen Schreibtischstuhl fallen. Was für eine Nacht, dachte er und wunderte sich immer noch, wie die Geister ihren Weg geradewegs zu Araghast gefunden hatten.

"Also was ist denn jetzt?" beschwerte sich Vergangenheit lauthals, als er durch die Mauer des Wachhauses hinaus auf den verschneiten Pseudopolisplatz schwebte. "Erst sollen wir nun doch noch spuken, dann werden wir in diesen Keller geschleift und nun hier rausgescheucht weil die Person die uns das alles eingebrockt hat einfach abgehauen ist. Langsam reichts mir. Bettpfosten, hast du noch Knieweich? Ich könnt jetzt nen Schluck gebrauchen."
"Wa-wasch?" kam die Antwort dumpf unter dem schwarzen Schleier hervor. "Da-dasch Knieweisch? Dasch ischt schon lange alle. Allesch auschge-hicks-schoffen."
Vergangenheit schnaubte. Nicht einmal etwas zu trinken wurde ihm gegönnt.
Währenddessen lief Bregs kreuz und quer über den Platz.
"Johnny?" rief er immer wieder. "Johnny, wo bist du? Es hat keinen Zweck, daß du dich hier versteckst! Wir wollen dir doch nur helfen!"
"Vergiß es, Junge." Harleys Geist tauchte hinter ihm auf. "Der ist schon den halben breiten Weg runter."
Bregs wandte sich um. Tatsächlich, eine kleine, bläulich schimmernde Gestalt strebte entschlossen dem Fluß und der Morpork-Seite der Stadt zu. Seufzend begann er zu rennen. "Worauf wartet ihr denn noch? Kommt mit!"
Konnte es wirklich noch schlimmer kommen, überlegte er, als er ohne Mantel und Schal und mit vier Geistern im Schlepptau die vom Schneematsch eisglatte Straße herunterrannte und ihm der unaufhörlich fallende Schnee ins Gesicht klatschte. Eigentlich hätte er schon seit fast einer Stunde bei Julius sein wollen und sich an heißem Punsch gütlich tun wollen. Stattdessen lief er hier nun in der Kälte herum um einen durchgedrehten Geist von einer ziemlichen Dummheit abzuhalten.
Langsam holte er auf. Nur noch wenige Meter bis zur Messingbrücke. Deutlich konnte er mittlerweile erkennen, daß Johnnys Beine, obwohl jener einige Zentimeter über der Straße schwebte, dennoch entschlossene Gehbewegungen ausführten. Etwas bewegte sich am Rande seines Gesichtsfeldes. Er wandte sich um, doch nichts war zu entdecken, abgesehen von den vier Geistern die ihm mehr oder weniger widerstrebend folgten, wobei Bettpfosten von seinen Kollegen mehr oder weniger mitgezogen werden mußte.
Bregs erreichte die Brücke gerade in dem Augenblick als Johnny sie auf der anderen Seite des Flusses wieder verließ.
"Stehenbleiben!" keuchte der Gefreite und verfluchte wohl mittlerweile zum tausendsten Mal, nicht in der Lage zu sein, sich in eine Fledermaus zu verwandeln und Johnny schlicht und einfach überholen zu können. Doch der Geist marschierte unbeeindruckt weiter. Mittlerweilewar die ausladende, schwarze Silhouette des Patrizierpalastes deutlich zu erkennen.
Araghast wollte gerade zum letzten Sprint ansetzen, als etwas Großes, Dunkles an ihm vorübersauste und eine Spur des Lebkuchenduftes hinter sich herzog. Die Gestalt beschleunigte weiterhin, bis sie Johnny erreicht hatte. Dort bremste sie abrupt ab und richtete etwas langes, Spitzes auf den Geist.
"Keiner versucht hier zu fliehen oder dematerialisiert sich!" brüllte sie.
Nach Atem ringend kam Araghsat neben dem Unbekannten zum Stehen- und traute seinem von der Kälte und dem Schnee tränenden Auge kaum. Die muskulöse Gestalt bestand durch und durch aus feinstem Lebkuchen. Der Zuckergußmund war zu einem schmalen Schlitz zusammengekniffen und die dolchartig geschliffene Spitze einer rotgeringelten Lutschstange war geradewegs auf Johnnys Ektoplasmakehle gerichtet.
"Und ihr vier, ihr kommt augenblicklich hier rüber!" bellte er mit Kommandostimme durch die Straße. "Und keine Tricks. Sonst geht es Johnny an die Kehle. Ja, du lachst." Ein bösartiger Liebesperlenblick traf Vergangenheit. "Aber dies ist kein gewöhnlicher Lutscher. Ich bin sicher, er kann auch Geistern ziemlich wehtun."
"Aber..." quiekte Johnny, der schließlich seine Sprache wiedergefunden hatte, "Ich habe doch noch Zeit! Mindestens eine halbe Stunde!"
"Eine kleine Änderung des Plans." Ein Ausdruck der Zufriedenheit erschien auf dem Gesicht des Lebkuchenmannes. Hier war er in seinem Element. Leute herumschubsen- das gefiel ihm. Immer nur Wichtel zu beaufsichtigen zehrte irgendwann an den Nerven eines echten Soldaten. "Bedank dich bei deinen Kollegen, Klawitter. Sie wollten unbedingt streiken."
"Seht ihr, ich habs euch doch gesagt", zischte Heutig. "Aber ihr wolltet nicht auf mich hören."
"Aber wir wollten doch gerade spuken!" bettelte Johnny. "Wir waren schon unterwegs! Bitte! Laß uns gehen!"
"Tja, zu spät." Der Lebkuchenmann zielte mit der Spitze seiner Lutschstange auf Johnnys Nase. "Der Schneevater dürfte jeden Moment hier sein. Vielleicht könnt ihr ihm erklären, was euch geritten hat, zu streiken."
Araghast war auf den Bürgersteig zurückgewichen und tastete fieberhaft nach Waffen. Was sollte er bloß tun wenn dieses... Lebkuchending auf ihn losgehen würde? Doch aufgrund des plötzlichen Aufbruches hatte er nicht einmal ein Schwert dabei und seine sonstige Ausrüstung bestand aus einem einzigen Wurfmesser, welches in seinem Stiefelschaft steckte. Damit ließ sich gegen eine lange, angespitzte Zuckerstange nicht viel ausrichten.
Doch dann erstarrte er und blickte wie gebannt nach oben, als er ein Schnauben über sich vernahm. Vier riesige Eber, deren Schnauzen mit monströsen Hauern ausgestattet waren, senkten sich auf den Breiten Weg herab. Sie zogen einen aus rohen Holzbalken zusammengezimmerten Schlitten, auf dessen Vorderbank ein dicker, in rot und weiß gekleideter Mann mit einem Rauschebart saß.
"Ho! Ho! Ho!" rief der Schneevater und zog an den Zügeln der Schweine, die daraufhin den Schlitten sanft auf der Straße absetzten, direkt neben den Lebkuchenmann und die Geister, die ebenfalls wie gebannt auf das Schauspiel starrten.
"Gute Arbeit, Major Contessa." Er strich sich über den Bart. "Na dann wollen wir unsere Sünder mal aufladen und ab geht's nach Überwald."
"Aber wir..." startete Johnny einen weiteren verzweifelten Versuch.
"Ruhe!" schnauzte Major Contessa und scheuchte die fünf Geister, die bedrückt die Köpfe hängen ließen, auf den Schlitten. "Ach ja, und Herr?"
"Was gibt es?" Der Schneevater war bereits damit beschäftigt, die Zügel seiner Eber neu zu ordnen.
"Es gab einen Zeugen, Herr." Der Lebkuchenmann schwang seine Zuckerstange herum und wies auf Araghast, der sich in einen Hauseingang drückte und staunend zusah, was dort direkt vor seinen Augen geschah. "Soll ich ihn erledigen?"
Bregs bekam einen gehörigen Schreck. Erledigen? Was hatte er denn getan? Doch dann sprach der Schneevater wieder.
"Meine Güte, das Soldatenleben scheint dir aber nicht zu bekommen, Contessa. Natürlich wird er am Leben gelassen."
"Aber er hat uns gesehen!" hielt der Major dagegen. "Er wird erzählen was hier gerade abgelaufen ist!"
Der Schneevater lachte herzlich und schnalzte mit der Zunge. Mit einem Ruck setzte sich der Schlitten in Bewegung. "Ich glaube, du mußt noch eine Menge lernen, Contessa." rief er dem Lebkuchenmann zu, der verzweifelt hinter dem rasch beschleunigenden Gefährt herrannte. "Vor allem über Menschlichkeit und Festtagsfreude. Ho! Ho! Ho!"
Der Schlitten erhob sich in die Lüfte. Mit einem gewagten Hechtsprung warf sich Major Contessa in die Luft und bekam das hintere Ende einer Kufe zu fassen. Seine Zuckerstange fiel herab und bohrte sich nur wenige Meter entfernt von Araghast in den Schnee.
Der Gefreite zuckte zusammen. Kurz darauf atmete er erleichtert auf, als er den Schlitten den Breiten Weg in mittwärtiger Richtung entlangschweben sah. Es war vorbei. Nachdem die Aufregung abgeklungen war merkte Bregs plötzlich, daß er nur mit seiner dünnen Uniform bekleidet mitten in der Kälte stand und seine Finger kaum noch spürte. Vorsichtig ergriff er die Zuckerstange und zog sie aus dem Schnee. Sie war etwa halb so lang wie er und das Ende schien frisch aus einem Bleistiftanspitzer zu stammen. Seufzend klemmte er sie sich unter den Arm und machte sich auf den Weg zurück zum Wachhaus. Vor seinem inneren Auge erschienen das Bild einer dampfenden Punschterrine, deren Inhalt nach Zimt und Koriander duftete und ein einladend prasselndes Kaminfeuer.
Als er die Messingbrücke überquerte warf er die Zuckerstange über die Brüstung in den Fluß.

"Neiiiiiiiin!" schrie Johnny, als der Schlitten langsam an Höhe gewann. Die Schornsteine der umliegenden Häuser zogen auf seiner Augenhöhe vorbei. "Aufhören! ich hasse Höhen!"
"Du hast Sorgen", jammerte Heutig. "Wir werden gleich ins Pandämonium geschmissen und alles woran du denkst ist deine Höhenangst!"
Neben ihnen schnarchte Bettpfosten und träumte von einem Meer aus Knieweich.
"Äh, ich würde mal lieber nicht nach unten sondern nach vorn gucken." Harley wies auf die Mauern des Patrizierpalastes, auf die sie mit ziemlich hoher Geschwindigkeit geradewegs zuflogen.
"Mwaaaah..." brachte Johnny hervor und hielt sich die Hände vor die Augen, was allerdings auch nichts half, da er einfach durch sie hindurchblicken konnte.
"He! Herr Schneevater!" schrie Vergangenheit gegen den Fahrtwind an. "Passen Sie doch auf! Das Gebäude!"
Die Wand kam näher. Bis auf ein Fenster, in dem trübes Licht schien, wirkte sie vollkommen schwarz.
Die Geister schrien.
"Ho! Ho! Ho!" lachte der Schneevater und riß den Schlitten herum. "Stellt euch doch nicht so an, meine Lieben! Amüsiert euch ein bißchen!"
"Was, wir sollen uns amüsieren?" schnappte Harleys Geist. "Jetzt, wo wir gleich in der Hölle landen werden?" Seine Kette rasselte in einem langen Schweif hinter dem Schlitten her.
Doch der Schneevater konnte gar nicht aufhören zu lachen. "Hölle? Meine Güte, seid ihr leichtgläubig. Habt ihr wirklich geglaubt, ich würde euch den Dämonen überlassen?"
"Heißt das," kam Johnnys Stimme ängstlich unter einem mit Geschenken gefüllten Sack hervor, "daß wir nicht in die Feuergrube geworfen werden?"
Der Schneevater drehte sich um und schmunzelte seine Gefangenen an. "Natürlich nicht. Das ist doch lediglich ein Druckmittel damit sich die von mir Bestraften mehr Mühe geben. Aber da euch die hartherzigen Männer anscheinend mit der Zeit ziemlich langweilig geworden sind..."
"Ja?" in Heutigs Augen leuchtete so etwas wie ein Hoffnungsschimmer.
"Was haltet ihr von einer neuen Spukstätte? In der Nähe von Beyonk in Überwald gibt es ein Schloß das zur Zeit ziemlich knapp an Geistern ist wie ich gehört habe."
"Was..." Ein Grinsen breitete sich auf Vergangenheits Gesicht aus. "Wirklich? Ein richtiges Spukschloß? Mit Verließ und allem?"
Der Schneevater nickte. "Ich finde, nach hundert Jahren habt ihr es euch verdient. Und was Johnny betrifft: Bringt ihm endlich mal das Dematerialisieren bei. Bestimmt hat er keine Lust, euch die ganze Zeit zu Fuß hinterherzuschweben."
"Aber woher wißt Ihr..." stammelte Johnny verblüfft.
"Tja, auch ich habe so meine Hilfsmittel." In der erhobenen Hand des Schneevaters schimmerte eine kleine Kugel, gleich derjenigen, die er immer noch bei sich trug. "Also gebt euch Mühe in Beyonk." Er gab den Zügeln einen Ruck und der Schlitten begann an Höhe zu verlieren. "Ich werde euch hier nun absetzen. Ein frohes Silvesterfest euch allen!"
Unter dem Boden des Schlittens klammerte sich Major Contessa immer noch krampfhaft an einer Kufe fest. Plötzlich schien ein geruhsames Leben als Zuckerbäcker einiges für sich zu haben.

Das Schild an der Wohnungstür war ein Kunstwerk ganz für sich allein. 'Herr' stand mit verschnörkelter Schrift darauf geschrieben. Darunter klebte ein hastig angebrachter Zettel mit der Aufschrift 'Vanderby'. Araghast lehnte sich an die Wand und zog die Klingelschnur. Wehe wenn ihm jetzt noch ein einziger Geist begegnete... Und die Erklärung die er Larius de Garde am Nachmittag schuldete würde auch nicht einfach werden.
"Bregs!" Julius zog seinen Freund in die Dank des Kaminofen MOLLOTOFFs mollig warme Wohnung und umarmte ihn. "Wo warst du so lange? Wir wollten dich schon als vermißt melden!"
Araghast schnitt eine Grimmasse. "Frag nicht." stöhnte er und beförderte ein Paket hinter seinem Rücken hervor. "Ein frohes Silvesterfest erstmal! Ich hoffe, du kannst es gebrauchen."
"Oh, Danke!" Julius nahm das Geschenk entgegen. "Mimi!" rief er. "Bregs ist da!"
Der Kopf Hermione Vanderbys erschien im Eingang zur Küche. "Na endlich." rief sie. "Langsam wurde's aber auch wirklich Zeit. Haben die dich im Wachhaus nicht weggelassen? Komm her, setz dich und trink erstmal einen Punsch. ich hoffe bloß, der Alkohol ist noch nicht ganz verflogen..."
"Hoffentlich nicht." Araghast schob sich in die mit Tannenzweigen und bunten Girlanden festlich geschmückte Küche. Auf dem Tisch stand eine einladend dampfende Terrine, dessen Inhalt verlockend nach diversen Gewürzen duftete. "Sagt mal," fragte er, während er sich auf einen Stuhl fallen ließ, "Wer ist für euch eigentlich der skrupelloseste Mann Ankh-Morporks?"
"Mein Verleger." antwortete Julius wie aus der Pistole geschossen und schöpfte Punsch in drei große Gläser. "Seit Monaten liegt er mir in den Ohren ich soll ihm endlich das Manuskript für "Butterbrots- Zerfall einer Familie" schicken, aber obwohl ich mittlerweile auf Seite 600 angelangt bin ist die Geschichte irgendwie immer noch nicht zu Ende- Jetzt hat Erika Permanent gerade erst den Betrüger Schluckspecht geheiratet und Thomas Butterbrot muß erst noch sterben und das alles hab ich doch noch gar nicht geschrieben..."
"Reg dich nicht auf, Julius." Mimi gab ihrem Verlobten einen Kuß auf die Wange. "Je länger du brauchst, desto besser wird am Ende auch der Roman. Also meiner Meinung nach ist der fieseste Mann Ankh-Morporks der Direktor der 'Scheibe'. Er will und will mich nicht spielen lassen, und das einfach aus dem Grunde, daß ich eine Frau bin. Dabei kann ich Gretalinas Monolog mindestens genausogut aufsagen wie jeder beliebige Knabe. Aber lassen wir das für heute und feiern lieber. Julius, wo hast du das Geschenk für Bregs gelassen?"
"Im Geschirrschrank. Weißt du, da fällt mir gerade ein..."
"Ja?" Mimi runzelte die Stirn und warf ihrem Verlobten einen strengen Blick zu.
"Ich habe vergessen es einzupacken." beichtete Julius kleinlaut. "Ich hoffe, es stört dich nicht, Bregs. Zur Not kann ich es immer noch in ein Handtuch einwickeln..."
Araghast winkte ab. "Weißt du was, wenn das Schlimmste heute Abend ein unverpacktes Geschenk gewesen wäre, wäre dies wirklich ein entspanntes Fest geworden..." Er stürzte seinen Becher Punsch in einem Zug hinunter.
"Aaachtung..." Töpfe schepperten, als Julius etwas aus dem Schrank zog und es seinem besten Freund unter die Nase hielt. "Bitte." grinste er. "Da du ja jetzt in der Wache bist haben wir gedacht, das hier wäre eine gute Übung."
"Ah ja." lachte Bregs, als er sein Geschenk zu Augen bekam. Auf der flachen, rechteckigen Schachtel prangte groß und deutlich der Schriftzug 'Hinweise'. Und darunter etwas kleiner: Was geschah wirklich mit Graf Euter?
"Es ist ein Brettspiel." erläuterte Mimi und füllte Araghasts Punschglas neu. "Jemand wird ermordet und die Spieler verdächtigen sich alle gegenseitig soweit ich es verstanden habe."
"Klingt interessant..." Bregs besah sich die Schachtel von allen Seiten. "Danke! Das ist bestimmt Stoff genug für eine Menge langweiliger Bereitschaftsdienste."
"Langweilige Bereitschaftsdienste?" fragte Julius erstaunt. "Ist denn so wenig bei euch los? Ich glaube, ich sollte doch noch mal irgendwann einen Wache-Roman schreiben in dem es mal ein bißchen kracht."
"Schreib was du nicht lassen kannst." grinste Araghast und leerte den nächsten Becher Punsch. "Aber glaubt mir, so ganz ereignislos läuft es doch nicht ab bei uns- bloß wenn mal was passiert dann meistens zum ungünstigsten Zeitpunkt, so wie heute Nacht zum Beispiel. Deshalb bin ich auch so spät erst gekommen."
"Was war denn?" hakte Mimi nach. "In zwei Stunden kann eine Menge passieren."
"Das ist eine ziemlich lange Geschichte." Bregs schenkte sich einen dritten Becher Punsch ein. "Wenn ihr sie wirklich hören wollt..."
"Nur zu." ermunterte ihn Julius. "Wir müssen die Nacht ja schließlich irgendwie rumkriegen."
"Also gut." Bregs lehnte sich zurück. "Eigentlich fing alles mit einem ganz harmlosen Silvestermärchen an..."

Am einzigen Ort auf der gesamten Scheibenwelt, an dem die Zeit stillzustehen schien, betrachtete der frischgebackene Mönch Wan Tan erleichtert den Prokastrinator. Beinahe wäre es schiefgegangen. Und das alles nur wegen dieser Fliege, die sich ausgerechnet im entscheidenden Augenblick auf seiner Nase niederlassen und ihn zum Niesen bringen mußte. Woraufhin der Prokastrinator zu schnell gelaufen war und eine Zeitentladung von etwa vierzig Jahren von sich gegeben hatte. Doch in letzter Sekunde hatte Wan Tan es geschafft, diese Entladung in einen kleinen, unauffälligen Spalt zwischen den Dimensionen abzuleiten, wo sie garantiert keinen Schaden anrichten konnte. Lächelnd blickte er zu den Kirschblüten auf, die die Wege der Tempelgärten säumten. Eigentlich hätte es schlimmer kommen können, dachte er. Es hätte auch mich treffen können.


EPILOG

Der Mann, der einst der einsame Junge in einem verlassenen Schulhaus gewesen war, stand am Fenster und sah auf die Stadt hinunter. Welch eine Nacht. Aber was sollt man vom Silvesterfest erwarten, der Zeit an der die ganze Stadt noch verrückter zu spielen schien als sie es eh schon tat. Und dann war dort dieser Geist gewesen. Nicht daß der Mann sich vor Geistern gefürchtet hätte, im Gegenteil, wer in einem Gebäude lebte dessen vorherige Bewohner größtenteils keines natürlichen Todes gestorben waren, gewöhnte sich früher oder später an durchsichtige Erscheinungen die durch die Gänge wanderten, doch dieser Geist war keiner von ihnen gewesen. Als er aufgesehen hatte war die Erscheinung schreiend durch die Wand geflüchtet, doch vorher hatte sie noch eine Frage gestellt. Sie hatte sich nach einem Schlafsaal erkundigt. Und dies hatte eine entfernte Erinnerung wachgerufen. Es war ebenfalls Silvester gewesen und er selbst zehn Jahre alt. Heimlich hatte er damals im Schein einer einzelnen Kerze auf seinem Bett in der Schule gesessen und gelesen. Dort hatte ihn auf einmal ein ziemlich seltsames Gefühl beschlichen, als ob ihn jemand beobachten würde. Doch als er aufgesehen hatte war niemand zu sehen gewesen.
Und dann, vor ungefähr einer halben Stunde, war ein mit fünf schreienden Geistern beladener, von vier Ebern gezogener Schlitten, von dessen Kufen zusätzlich noch ein sich verzweifelt festkrallender Lebkuchenmann baumelte, an seinem Fenster vorübergeflogen. Hätte der Mann getrunken, hätte er diese Erscheinung vermutlich dem Alkohol zugeschoben, doch er war stocknüchtern und so gab es gar keine andere Erklärung als diejenige, daß es wirklich passiert sein mußte. Daraufhin hatte er Mühe gehabt, sich weiterhin auf seine Arbeit zu konzentrieren. Zu viele Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum. Zu viele Erinnerungen. Die Geister auf dem Schlitten. Irgendwo waren sie ihm schon einmal begegnet.
Und nun war es ihm wieder eingefallen.
Der skrupelloseste Mann Ankh-Morporks wandte sich vom Fenster ab und durchquerte das Zimmer mit langen Schritten, bis er vor einem Bücherregal stand. Irgendwo hier mußte es doch sein...
Dort. Hinter zwei dicken, ledergebundenen Jahreschroniken der Kaufmannsgilde fand er was er gesucht hatte: Ein schmales Buch mit goldenen geprägten Lettern auf der Vorderseite. Vorsichtig blies er den Staub vieler Jahre vom Rücken des Bandes und wanderte zu seinem Schreibtisch. Er rückte die Kerze näher zu sich heran, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen:
Harley war tot- Soviel zum Anfang.
Darüber konnte auch nicht der geringste Zweifel herrschen. Sein Beerdigungsschein war von dem Priester, dem Anwalt, dam Leichenbestatter und dem Hauptleidtragenden unterzeichnet. Snootch hatte seine Unterschrift darunter gesetzt und Snootchs Name war gut in der Kaufmannsgilde für alles was er mit seiner Handschrift zu versehen beliebte.
Der alte Harley war so tot wie ein Sargnagel...

E N D E
[1] Ganz besonders ausgedehnt natürlich in der UU

[2] Dies ist der Moment wo solche Geschichten grundsätzlich anfangen, sentimental zu werden.

[3] Als Geist wäre es ihm selbstverständlich ein Leichtes gewesen zu schweben, doch Menschen trennten sich nur schwer von alten Gewohnheiten.

[4] Nachdem der Kaminofen MOLLOTOFF nach einigem Ringen mit der Künstlerehre endlich installiert worden war, war es dort richtig gemütlich geworden

[5] Genaueres zu den Zeitangaben siehe Single 'Hi-Hi-Hi-Hilfe'

[6] Beziehungsweise für diejenigen Armen die gewisse Grundvoraussetzungen, unter anderem einen Mitgliedsausweis der Bettlergilde, erfüllten

[7] Komisch, das scheint eine sehr weit verbreitete Angewohnheit zu sein

[7a] Was vermutlich hauptsächlich damit zu tun hatte, daß die Geschichte a) nicht von ihm selbst und b) nicht von Eddie Wollas stammte

[9]  Wer schon einmal eine Zeusstatue gesehen hat weiß ungefähr, was gemeint ist

[10]  Erstaunlich wie schnell sich der eigene Kater verflüchtigt wenn man sich über den einer anderen Person lustig machen kann...

[11]  Ich weiß, 10 Pfennig in die schlechte Wortspiel-Kasse

[12]  Normalerweise ist dies der Punkt in der Geschichte an dem die Lady aufmerksam wird und bemerkt, daß dort unten ein armer Tropf so ziemlich alle Hoffnung verloren hat. Doch dieses Mal erfreute sich in just jenem Moment ein achatener Wasserbüffelhalter ihrer Gunst. Auch Chancen von einer Million zu Eins führen halt nur in neun von zehn Fällen zur Realität...

[13]  Bis sich nach sechs Jahren endlich jemand der Ohren der etwas feinhörigeren Besatzungsmitglieder erbarmt und das Akkordeon etwa hundert Seemeilen vor Gennua über Bord geworfen hatte wo es nun einer Familie Wellhornschnecken als neue Heimat diente

[14]  Vermutlich eine von jener Sorte in denen rosarote Elefanten eine ganz normale Erscheinung waren




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