Die Schuld der Unschuldigen Part I

Bisher hat keiner bewertet.

von Korporal D-N-T Vinni (RUM)
Online seit 20. 11. 2002
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Ein Geschichte über Naivität, Verschwörungen und traurige Gestalten. Halten Sie Popcorn und Taschentücher bereit.

Dafür vergebene Note: 14


Liebe Kollegen, heimliche Leser und die Welt,
ich möchte anmerken, dass diese Single nicht unbedingt aktuell ist. Sie brauchte ein Weilchen um vollendet zu werden und deshalb sind der Wechsel unserer werten Abteilungsleitung und meine Abordnung zu RUM nicht mit drin. Zeitlich gesehen spielt diese Single in der Zeit vor dem Wechsel der Abteilungsleiter. Der zweite Teil wird in der Zeit zwischen dem Wechsel und meiner Abordnung spielen, ich bitte deshalb um Verständnis. Ein riesengroßes, euphorisches Dankeschön geht an Tery, die das Pre-Reading gemacht hat und mit Kommasetzung, dem Anstreichen von holprigen Stellen und vielem Anderen, erheblich dazu beigetragen hat, dass diese Geschichte lesbar ist. Merci Beaucoup :-) Das Ende wird euch vielleicht (hoffentlich!) etwas überraschen und fragen bezüglich Vintongos Verwendung in euren Geschichten aufwerfen. Ich meine, es gibt ja viele Hosenbeine und so, ihr wisst ja was ich meine. Macht euch darüber keine Gedanken. Schreibt einfach. Ach ja, in der Single sind ein paar Anspielungen und sogar ein Anagramm enthalten, also wenn ihr nichts besseres zu tun habt, könnt ihr ja mal suchen.
So, genug gelabert, viel Spaß beim lesen :-)


Die Schuld der Unschuldigen Part I - Das Urteil


Irgendwo. Irgendwann.
...Tropf...Tropf...Tropf...
Schmerzen. Es tut weh.
...Tropf...Tropf...Tropf...
Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen?
...Tropf...Tropf...Tropf...
Ich blute. Es schmeckt nach Blut.
...Tropf...Tropf...Tropf...
Ich weiß wer ich bin. Ich bin der Gute. Warum bin ich hier?
...Tropf...Tropf...Tropf...
Die Schmerzen. Es geht nicht. Noch nicht.
...Tropf...Tropf...Tropf...


An einem anderen Tag, an einem anderen Ort.
"Nehmen Sie jetzt den Lotus-Sitz ein und berühren Sie mit ihrer starken Hand ihr Energiezentrum zwischen den Augen," las der Korporal laut aus einem großen, ledergebunden Buch vor, dass vor ihm auf dem Boden lag. Er klemmte seine Beine umständlich in die besagte Position und streckte seinen Hals um weiter im Buch lesen zu können. "...dass wir von nun an der Einfachheit halber ihr "Drittes Auge" nennen werden." intonierte er und führte den Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand an den Punkt zwischen seinen Augen. Jetzt sah er kaum noch etwas. Also lehnte er sich so weit nach vorne wie er konnte und blätterte mit der Rechten um. Langsam, aber grausam bestimmt zogen ihn physikalische Kräfte immer weiter nach vorne.
In diesem Moment öffnete jemand die Tür zu seinem Büro und trat ein. "Sag mal Vinni, hast du nicht Lust mit-"
Bumm. Der Korporal war vornüber gekippt und auf sein "Drittes Auge" gefallen. "Hgnngh" sagte er und versuchte seine Beine aus der eingeklemmten Position herauszubekommen.
"Was bei Offler machst du da..??" fragte die Person, die soeben hereingekommen war skeptisch und fügte ein verlegenes "..Äh Sir." hinzu.
"Hg mhtr" antwortete der Korporal mit Lippen, die zwischen seinem Kopf und dem Boden schief eingequetscht waren.
"Ähm, soll ich dir aufhelfen?" fragte der Andere, welcher übrigens den Rang eines Gefreiten bekleidete.
"Df whr nd" bekam er zur Antwort. Er wertete es als ein "Ja" und half seinem Kollegen auf.
"Ich hoffe ich habe dich nicht bei irgendwas gestört. Es tut mir ähm, wirklich Leid. Also wenn du lieber wieder den Boden küssen willst, dann helfe ich dir gerne dich wieder so hinzulegen wie gerade eben und hole dir auch noch einen Kaffee, falls deine Lippen die Belastung nicht so lange aushalten und..."
"Halt bitte die Klappe, Dyn!" herrschte Vintongo in für ihn ungewohnt mürrischer Manier den Gefreiten an.
"Alles klar, Vinni, Sir, Vintongo, Drei nerv-"
"Ruhe jetzt!"
"Tut mir Leid, Vinni. Ich wollte nur..."
"Genau, was willst du überhaupt hier? Hast du noch nie davon gehört, dass man anklopft, bevor man den Raum von jemand anderem betritt?? Ach, Dyn! Ich hätte hier gerade mit einem hübschen, jungen Mädchen zusammen sein können und du wärst mitten hinein geplatzt und hättest alles ruiniert!"
Ein schallendes Gelächter war von Richtung Tür zu hören und Vintongo blickte Dyn Amit schon böse an, doch er bemerkte Daemon, der hinter dem Gefreiten in der Tür stand und nun lachend hereinkam.
"Hehehe, das sind ja ganz ungewohnte Töne die man da von dir hört, Korporal." scherzte er und stellte einen großen Karton voller Krempel neben Vinni auf dem Boden ab.
"Ich wollte ihm anhand eines Beispiels erklären, warum man besser vorher anklopft.." meinte Tapire beleidigt und rieb sich sein "Drittes Auge".
"Schon in Ordnung, Korporal. Ich wollte sowieso nur kurz hereinschauen und mich verabschieden."
"Verabschieden?" fragte Vintongo verwirrt, stand vom Boden auf und streifte seine Kleidung glatt. "Machst du Urlaub? Wir waren doch erst gerade -auch wenn man das wirklich nicht 'Urlaub' nennen kann- in Llamedos. Und du willst schon wieder weg?"
"Hat es ihm denn keiner gesagt?" wunderte sich Daemon und blickte Dyn Amit an.
"I-ich glaube nicht, Sir.." erwiderte dieser betreten und huschte aus dem Raum. Daemon seufzte. "Nun, Vintongo..."
"Was ist denn los? Was hat mir keiner gesagt?" Er schien den Karton nicht zu bemerken und auch nicht die seltsame Miene des Oberleutnants.
"Ich verlasse DOG."
"Wa-wa-was?!"
"Ich lasse mich zu GRUND abordnen. Jemand muss diesen Rekruten mal etwas nützliches beibringen, verstehst du?" sagte der Ex-Dobermann und setzte ein Lächeln auf.
"Oh...oh.. wenn ich das gewusst hätte! Wir hätten dir was zum Abschied besorgt und-"
"Schon gut. Gehe ja nicht in den Ruhestand. Schick einfach eine Brieftaube, wenn du mir mal wieder auf die Nerven fallen willst." sagte Daemon und blickte schief lächelnd zum Korporal herunter, der, auch wenn er jetzt wieder stand, immer noch einen Kopf kleiner war als der Oberleutnant.
"Das werde ich tun." sagte Vintongo und lächelte zurück. Ein leichtes Zucken machte sich in seinem Bauch breit.
Daemon nickte, salutierte und nahm seinen Karton wieder auf. Er drehte sich um und marschierte aus dem Zimmer. "Und wirf ein Auge auf Dyn und Hatscha. Die sollen nicht die ganze Zeit faul herumlungern!" rief er noch und verschwand dann.
Vintongo nickte langsam. Daemon wurde also Ausbilder.

In dieser Nacht...
Monoton und doch wohltuend spielte der leichte Nieselregen seine wohltönende Symphonie auf dem Klavier, dessen Tasten die verdreckten Pflastersteine Ankh-Morporks waren. Das unaufhörliche Plätschern legte einen sanften, melancholischen Vorhang über die sonst so bedrohliche Nacht in dieser Stadt. Es war geradezu friedlich. Niemand schien in den Gassen zu sein um den Geruch der regennassen Straße aufzunehmen, der teilweise sogar die Überhand über den Flussgestank gewann. Doch nicht jeder war in der Lage solche Dinge wahrzunehmen. Man brauchte keinen besonders guten Geruchssinn dafür, nein, man brauchte die richtige Stimmung dafür. Einsamkeit, Schwermut, ein regendurchnässter Filzmantel und ein ebenso nasser, dunkler Haarschopf eigneten sich ausgesprochen gut für diese intensivierte Form der Wahrnehmung. Die traurige Gestalt, die derzeit einsam durch die Straßen zog, war dazu berufen um unter diesen Umständen durch die Nacht zu gehen. Sie passierte Orte, die am Tage noch lebhafte Stätten des Handels oder der Geselligkeit gewesen waren und verwandelte sie in tiefblaue Meere aus Kummer und Depression. Der Trübsinn der Gestalt war ansteckend. Mehr noch, er legte sich einfach über alle Emotionen, Erinnerungen und Gedanken, wie ein Leichentuch. Konturlos geworden durch den dunklen Schatten der unbeleuchteten Häuser wanderte die Figur dahin. Ohne Anfang, ohne Ende. Ohne Weg. Der zarte Regen gluckerte immer noch auf sie herunter und formte ihre Haare zu langen, dunklen Strähnen die das blasse Gesicht umhingen, wie verwelkte Blumenstängel. Ohne Gedanken trat sie unter einer Öllampe hindurch. Selbst im Licht konnte man nicht unterscheiden. Waren es Regentropfen oder waren es Tränen?

Es war Vormittag. Vintongo stand im Flur des ersten Stockwerks des Boucherie Rouge und trank Kaffee. Ihm schmeckte das dunkle Gebräu normalerweise nicht, aber mit viel Zucker war es erträglich und außerdem gab es hier sonst nichts zu trinken. Doch gerade als das Schicksal ihm eine ruhige, langweilige halbe Stunde gönnen wollte, öffnete sich die Tür am anderen Ende des Flurs und Mückensturm trat heraus. Mit einer knappen Geste winkte er Vinni zu sich und ging wieder in sein Büro. Der Korporal folgte der Aufforderung und betrat den Raum.
"Nichts zu tun, hm?" fragte ihn sein Abteilungsleiter und fummelte ein wenig an dem Aktenstapel, der zur Grundausstattung jedes Abteilungsleiterschreibtisches zu gehören schien, herum.
"Nein Sir, im Moment eigentlich nicht."
"Das ändert sich jetzt." meinte der Fähnrich ernst und erhob sich. "Hast du von dem toten Alchimisten gehört, der vor zwei Wochen gefunden worden ist?"
"Ich glaube nicht."
"R.U.M. und S:U.S.I. haben den Fall bearbeitet und waren auch ziemlich nahe dran ihn zu knacken. Sehr nahe sogar. Ihnen fehlte nur noch eine Akte um ihre Theorie zu beweisen. Diese Akte ist nicht etwa vernichtet worden, nein. Sie befindet sich im Archiv der Anwaltsgilde. Kannst du dir vorstellen wie die dort reagiert haben als die Wache nur eine simple Akte einsehen wollte?"
"Ich glaube schon, Sir." erwiderte Vintongo und legte die Stirn in Falten. Mit der Anwaltsgilde hatte er bisher noch nicht zu Tun gehabt und sein letzter richtiger Einsatz als verdeckter Ermittler lag schon eine Weile zurück. Sicher sollte er etwas in dieser Richtung tun.
"Nun Korporal, du bist verdeckter Ermittler."
Bei allen Göttern, wie er es vermutet hatte.
"Es darf nicht sein, dass die Anwaltsgilde die Wache beim Aufklären unlizensierter Mordfälle behindert. Ich möchte dass du verdeckt ermittelst und entweder diese Akte beschaffst oder zumindest einen Blick darauf wirfst und dir genau merkst was drin steht. Verstanden?"
"Ja, Sir."
"Hier," Mückensturm reichte ihm eine Mappe. "Das ist die Fallakte mit Berichten, Ikonographien und allem drum und dran. Damit du auch weißt mit was du es da zu tun hast. Fähnrich McMillan versicherte mir, dass hinter dem Fall mehr steckt als nur ein einfaches Gewaltverbrechen. Also halte die Augen und Ohren offen. Und nimm dir Dyn als Verbindungsglied. Ich will spätestens jeden zweiten Tag einen Bericht über deine Fortschritte sehen."
"Ich werde mein Bestes geben." sagte Vintongo leise und dachte mit Unbehagen an die kommenden Tage. Die Anwaltsgilde war ihm nicht geheuer.
"Tja, dann viel Glück, Korporal. Und lass keine Spielchen mit dir treiben. Diese Anwälte haben alle Tricks drauf."
Tapire nickte, salutierte und verließ den Raum. Eine verdeckte Ermittlung benötigte eine gründliche Vorbereitung.

Wenig später in seinem Büro schlug der Korporal die Mappe auf.
Obduktionsbericht:
Name: Isaak Tollen
Auffundort: Schuppen, Knorpelgasse 23
Todesart: ungeklärt

[...] deuten die durch den spitzen Gegenstand (vermutlich ein Dolch nicht näher bekannter Bauart) entstandenen Wunden durch ihre abweichende Form und Konsistenz darauf hin, dass Erstechen nicht die eigentliche Todesursache war. Vielmehr lässt sich aus den vielen Blutgerinnseln, den fehlenden Verletzungen der lebenswichtigen Organe und der zur Auffundzeit immer noch großen Blutmenge im Körper schließen, dass die Person wahrscheinlich an Herzstillstand gestorben ist und die Stichwunden erst später zugefügt wurden. [...]
Gez. Leutnant Pismire, Gerichtsmediziner und Abt.Leiter SUSI.

Anbei war eine Ikonographie die einen blassen Mann in mittleren Jahren zeigte und ein zweites Bild auf dem dieser Mann im toten Zustand zu sehen war.

Fallbericht und Rechercheergebnisse
[...] Nach Aussage seines Vermieters war Herr Tollen Alchimist. Untersuchungen bei der Gilde ergaben, dass diese Angabe korrekt war. Tollen arbeitete jedoch für sich alleine in einem gemieteten Schuppen (Knorpelgasse 23). Bezüglich seiner Projekte wollte man jedoch keine Auskunft geben. Es wurde lediglich in Erfahrung gebracht, dass er einige "bahnbrechende" Entdeckungen gemacht habe und ein sehr gefragter Mann sei.[...]
Nachdem die Bezahlung einer Chemikalienlieferung ausgeblieben war, wurde eine Woche nach der Lieferung ein Gläubiger zu Tollens Labor geschickt der wegen des starken Verwesungsgeruchs Meldung bei der Wache erstattete. Der Lieferant sagte aus, er habe eine dunkel gekleidete Gestalt in der Nähe des Schuppens gesehen, die er nicht näher beschreiben könne.[...]...doch eine zweite Untersuchung des Labors wurde durch die Anwaltsgilde verhindert die eine einstweilige Verfügung besaß, welche auch der Wache den Zutritt zum Schuppen untersagte. Weiteren Fragen in dieser Richtung begegnete man in der Gilde sehr aggressiv und mit Drohungen. Dies lässt verschiedene Theorien über die Hintergründe des Mordes entstehen. Des Weiteren wurde mir die Einsicht in Herrn Tollens Testament und seine Akte in der Anwaltsgilde verwehrt, weil diese angeblich Informationen enthielte, welche die Kompetenzen der Stadtwache überschritten. Ich empfehle daher eine Weiterleitung an DOG.[...]
Gez. Fähnrich McMillan, Abt.Leiterin RUM.

Vintongo war kein großer Detektiv. Er fand zwar dass der Fall interessant klang, hielt ihn aber eigentlich für zu anspruchsvoll. Die Anwaltsgilde war immer ein heißes Eisen. Sie hatte großen Einfluss in der Stadt und ihr Vorsitzender, Herr Schräg, war eine der meist gehassten und gefürchtetsten Personen in ganz Ankh-Morpork. Außerdem konnte sie jederzeit einen kleinen Paragraphenritt abhalten und sich in die Angelegenheiten der Wache einmischen. All das ließ den Korporal ein wenig von diesem Fall zurückschrecken. Aber was sollte er tun? Schließlich war es sein Tschob und außerdem konnte er nun einmal beweisen, dass er für seine Spezialisierung geeignet war. Mit einem flauen Gefühl im Magen stand er auf und machte sich auf zu Dyn Amit.

"Du meinst ich darf bei so einem großen Fall mitmachen?" fragte der Gefreite und machte große Augen. Obwohl er nun schon einige Zeit bei DOG war, hatte er noch nie einen größeren Fall gehabt.
"Nein Dyn, du darfst nicht mitmachen, du musst sogar, sagt der Chef."
"Wow! Ein richtiger Fall!" freute er sich und versuchte sich gleich wieder zu fangen.
"Hör zu, das wird ein schwieriger Fall und ich weiß nicht ob ich damit klarkommen werde. Ich brauche deine Hilfe."
"Gefreiter Dyn Amit meldet sich zur Stelle, Sir!"
"Lass das bitte. Du weißt doch, dass ich nicht damit zurecht komme, wenn man mir salutiert...Naja, wie auch immer. Besorg dir unauffällige Kleidung. Ich gebe dir noch wegen unserem Treffpunkt bescheid." sagte Vintongo und kehrte in sein Büro zurück. Der Fall hatte bis Morgen Zeit, fand er, oder redete er sich zumindest ein. In Wirklichkeit war vielmehr so, dass er sich noch nicht traute zu beginnen. Er war viel zu aufgewühlt und überhaupt, wieso traute man ihm zu einen so wichtigen und vor allem politischen Fall zu lösen? Was hatte er denn schon bisher geleistet? Er war zwar ein Träumer, doch er wusste genau, dass er bei seinen letzten Fällen mehr Glück als Verstand gehabt hatte. Mückensturm musste das auch erkannt haben, schließlich war er Abteilungsleiter und allein das bescheinigte ihm schon eine gewisse Einsicht. Er seufzte, wie so oft vor einem neuen Fall, und ließ sich auf den Stuhl fallen. Argwöhnisch betrachtete er das dicke Buch mit der Aufschrift "Tranzendale Medidation" dass vor ihm auf dem Schreibtisch lag und fragte sich, was er beim letzten mal falsch gemacht hatte.

Ein dunkler Raum. Ein Sessel und ein zitternder Mann.
"Defacto heißt das, dass du deinen Auftrag nicht zu unserer vollen Zufriedenheit ausgeführt hast. Ich hoffe du hast die Zusatzklauseln deines Vertrages gelesen." sagte der Sessel.
"Aber der Kerl war schon tot! Was kann ich denn dafür, wenn ihr zwei Leute auf die gleiche Sache ansetzt?!" antwortete der nervöse Mann.
"Das steht nicht zur Debatte. Du hast dich mit Unterzeichnung des Vertrages dazu verpflichtet ihn zu erfüllen."
"Aber-"
"Ich fürchte das wird ein internes Verfahren wegen Vertragsbruch nach sich ziehen."
"Ach, ihr verdammten Schlipsträger könnt mich mal!"
Der Sessel seufzte und schnippte mit einer bleichen Hand. "Bitte wahre sachliche Umgangsformen. Schließlich wird dieses Gespräch protokolliert."
Eine Tür öffnete sich und zwei große, breite Gestalten betraten den Raum.
"Bitte sorgt dafür, dass unser Freund die Schweigeklausel unseres Vertrages nicht verletzen wird. Ach, verbale Kommunikation war ohnehin nicht seine Stärke." sagte der Sessel in gelassenem Tonfall und maß sein Gegenüber mit einem abschätzenden Blick. "Vermutlich kann er ohnedies nicht schreiben. Entfernt ihn. Ich habe noch Termine. Protokoll stopp." Etwas klickte in der Düsternis und die zwei muskulösen Gestalten packten den Zitternden an den Armen und zerrten ihn aus dem Raum.
"Ich hasse Inkompetenz." sagte die bleiche Gestalt in dem Sessel und erhob sich schwerfällig.

Braunrotes Herbstlaub raschelte und heftete sich an schwarze Stiefel, als eine einsame Gestalt durch den Lustgarten der Zauberer ging. Schwerfällig hob die nebelumwallte Silhouette einen Fuß vor den anderen und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Graue Schwaden lustwandelten umher und verschleierten die Blicke möglicher Beobachter. Die Gestalt ging in die Hocke und blickte auf einen kleinen Laubhügel hinunter. Nach einem kurzen Moment der Stille kam Bewegung in das Hügelchen und ein kleines, rundliches Wesen kroch darunter hervor. Eine Stupsnase und braune Knopfaugen zierten das längliche Gesicht und kleine, braune Stacheln mit weißen Spitzen verliefen über den Rücken. Der Igel blickte die traurige Erscheinung herzerweichend an und genoss das sanfte Kraulen unter seinem Kinn. Eine einzelne Träne fiel neben dem kleinen Geschöpf ins nasse, dampfende Gras, verdunstete und schloss sich den Nebelschwaden an. Wie ein verlorener Soldat, der wieder zu seinem Heer aufschloss.

Drei-Nervöse-Tapire sollte in der Anwaltsgilde ermitteln. Welche Vorraussetzungen musste man dafür erfüllen? Gute Kleidung, Kaltschnäuzigkeit und ein fundiertes Wissen über die Gesetze und Verordnungen der Stadt; so dachte der Korporal.

Dyn und Vintongo kamen sich etwas verloren vor in dieser Ansammlung redender, singender, kreischender und Arbeit vortäuschender Menschen. Das Wachhaus am Pseudopolisplatz war der geschäftige Teil der Wache. In der Kröselstraße ging es zwar meistens auch nicht gerade ruhig zu, aber verglichen mit der fast schon gemütlichen Atmosphäre des Boucherie Rouge war es hier lebhafter als beim Straßenbazar von Al Khali.
Am Tresen wurde der diensthabende Rekrut gerade von einer hysterischen Frau belagert die dauernd mit einer geöffneten Schachtel vor seinem Gesicht herumwedelte. Beim Inhalt musste es sich um etwas Unappetitliches handeln, denn der Teint des Rekruten färbte sich langsam grün.
"Und...Sie, äh, sind sich ganz sicher, dass es keine ähm, Lieferung von ihrem Fleischer ist, Ma'am?"
"Wa-wa-wa-wa-was?!?" stotterte die junge Frau irritiert. "Das ist die Zunge meines Mannes! Und daneben, diese Dinger mit fünf Fingern...das sind seine Hände!!!"
Der junge Wächter warf Tapire einen gequälten Blick zu, als dieser sich dem Tresen näherte.
"Guten Tag, kannst du mir sagen wo ihr hier die Bücher aufbewahrt?"
"Ich weiß nicht, Sir-"
"Da!! Sehen Sie?! Jemand hat meinen Mann grausam verstümmelt!" schrie die Frau Vintongo an und hielt ihm die Schachtel unter die Nase, welche den unangenehmen Geruch von getrocknetem Blut versprühte.
"Urgh...was ist das?" keuchte Vinni und wandte den Blick ab.
"Die Zunge und die Hände meines Mannes! An der Rechten ist sogar noch sein Ring! Warum nimmt denn hier niemand meinen fall auf??"
"Ähm...erzählen Sie doch am Besten dem Gefreiten Amit von ihrem Problem. Ich, äh, habe noch zu tun..." versuchte sich der Korporal hinauszureden, schob Dyn vor und stellte sich näher an Tresen.
"Also, wo sind denn nun die Bücher?"
"Welche Bücher meinst du überhaupt, Sir? Ich könnte dir einen sehr netten Roman von-"
"Nein, ich meinte eigentlich die Gesetzbücher."
"Tut mir Leid, Sir. 'Gesetze Ankh-Morporks' steht erst nächsten Dienstag auf unserem Ausbildungsplan."
"Kein Problem, dann werde ich mich eben weiter umschauen. Schönen Tag noch." sagte Vintongo und machte sich auf den Weg in den ersten Stock, zu der Abteilung, die man fragte wenn das Anliegen unter "alles mögliche" oder "sonstiges" fiel.

"Hallo Vinni." begrüßte Atera Vintongo, als er in ihr Büro eintrat.
"Guten Tag, äh, störe ich bei einer Besprechung?" fragte er, blickte zu Cim Bürstenkinn, der mit der Abteilungsleiterin am Tisch saß und nickte ihm freundlich zu.
"Keineswegs. Was gibt es denn?"
"Ähm, wisst ihr zufällig wo hier im Wachhaus die Gesetzbücher untergebracht sind?"
"Du interessierst dich für Gesetze?" fragte Atera in fröhlichem Tonfall zurück, was Cim sogleich zu einem leisen Seufzer und einem Blick der sagte "Oh nein, nicht schon wieder..." veranlasste.
"Weißt du," begann die Stabsspießin, "es gab da mal so ein Gesetz, genauer gesagt eine Verordnung, Nummer dreiundfünfzig war es, glaube ich..."

Nach einem, wie er der Seals-Schäffin versicherte, sehr interessanten und aufschlussreichen Vortrag über irgendein altes Gesetz, dass die Züchtung von Fröschen und Kröten betraf, übergab Atera ihm noch ein kleines, angestaubtes Büchlein, das wie sie sich ausdrückte, "unverzichtbare und gerechte Gesetze" enthielt. Danach verließ der Korporal, immer noch ohne echte Fortschritte in Paragraphenkunde, das Büro. Immerhin wusste er nun bestens über die Bestimmungen zur Frosch- und Krötenzucht, was man tun soll wenn der Esel besessen zu sein scheint und über das Eigentum hässlicher kleiner Gegenstände, die man gefunden hat bescheid. Er holte Dyn ab und verließ das Wachhaus mit zufallenden Augenlidern wieder. Es musste eben ohne gehen. Nur einen Anzug, den brauchte er noch. In der Anwaltsgilde konnte man nicht ohne die passende Kleidung angestellt werden.

Wieder ein dunkler Raum. Derselbe Sessel wie vorhin und noch ein zweiter.
"Dieser Fall wird bearbeitet. Du musst dich nicht mehr darum sorgen." keuchte der erste Sessel und lies ein heiseres Husten folgen.
"Und was ist mit den anderen...Erfindungen? Sind sie auch sichergestellt?" fragte der Zweite Sessel.
"Ja, natürlich." presste der Erste hervor und hielt sich den Magen.
"Was ist los, geht es dir nicht gut, Herr Schräg?" wollte der Zweite wissen und lächelte süffisant in die Dunkelheit hinein.
"Verdammt...noch mal. Nenne...meinen Namen...nicht." würgte der Angesprochene. "Außerdem...geht es dich...nichts an."
"In Ordnung. Ich war nur besorgt."
Herr Schräg antwortete nicht.
"Ich hoffe dir wird es bald wieder besser gehen. Wir haben noch eine Menge Arbeit für dich."
"Verschwinde...jetzt." röchelte das Oberhaupt der Anwaltsgilde und die Person in dem anderen Sessel tat es auch.
Herr Schräg schlug mit der Faust gegen die Armlehne seines Sessels woraufhin sofort ein Diener den Raum betrat. "Meine Medizin." sagte der Anwalt. "Und einen kleinen Muntermacher."

Alles war bereit. Dyn hatte seinen Posten in einem kleinen Gemischtwarenladen zwei Gassen weiter eingenommen, Vintongo trug seinen Anzug von der Herrenausstattergilde, war beim Friseur gewesen und hatte sich die Haare abschneiden lassen, hatte sich eine Brille mit schwarzem eckigem Gestell besorgt und stand nun vor dem Gebäude der Anwaltsgilde. Sein Herz stockte. Er versuchte ruhig durchzuatmen und strich sich über den ungewohnt glatten Kopf. Dann, nachdem er seine Krawatte und seine Brille zurecht gerückt und den kleinen Lederkoffer in die Hand genommen hatte, betrat er die Höhle des Löwen.

Das Innere des Gildengebäudes war geschmackvoll eingerichtet. Dezente Farbtöne an Vorhängen, Wänden und Schreibtisch strahlten Seriosität in der großen Eingangshalle aus. Dazu verliehen die vielen Marmorsäulen allem eine historische Atmosphäre. Sie wirkten fast wie ein kleiner, weißer Wald.
Der kleine, bebrillte Mann, der in einer Ecke über einem Stapel Akten saß wirkte allerdings eher wie ein Einrichtungsstück, als wie ein Individuum.
"Ähm, Guten Tag." begrüßte der Korporal das Gildemitglied.
"Anliegen?" erwiderte dieser ohne von seinen Akten aufzusehen.
"Ich...ähm, Mitgliedschaft." sagte Vintongo und passte sich dem knappen Sprachstil an.
Der Mann blickte auf. "Mitgliedschaft?"
"Ja, Sir. Mitgliedschaft."
"Bist du sicher?"
"Absolut."
"Wirklich??"
"Ja!!"
"Du brauchst mich nicht anzuschreien, junger Freund!"
"Entschuldigung."
"Name?"
"Äh, was?"
"Deinen Namen. Wenn du Anwalt werden willst, brauchst du einen Namen."
Es war wie mit den Vorbereitungen vor einer großen Reise. Man schrieb sich alles auf, führte eine Strichliste, überprüfte ob man auch wirklich alles eingepackt hatte...und verließ das Haus mit sicherem Gefühl etwas vergessen zu haben. Tapire hatte etwas vergessen. Seinen Decknamen. "Ähm..." begann er zu stottern und überlegte fieberhaft. "Also ich-"
"Fülle dieses Antragsformular aus. Dort hinten ist ein Tisch und ein Bleistift." sagte das Gildenmitglied trocken und widmete sich wieder seinen Akten.
Beruhigt über die Verschnaufpause wackelte der Wächter in die andere Ecke des Raumes, setze sich auf den kleinen, knackenden Holzstuhl, der dort stand und ganz und gar nicht zu den kunstvollen Säulen passte und sah sich den Fragebogen an.
Wie heißen Sie?
Vintongo grübelte. Wie sollte er sich nennen? Er brauchte einen glaubhaften, wohlklingenden Namen, der aber gleichzeitig auch nicht zu auffällig war. Er beobachtete die Halle einige Sekunden lang. Sein Blick glitt zwischen den weißen Stämmen hindurch. Genau! Das war es! Er nahm den zerkauten Bleistift in die Hand und schrieb "Säulenwald" unter die Frage. Das hatte Klang, fand Vintongo und außerdem fiel ihm auf die Schnelle nichts Besseres ein. Er fügte "Justicius" hinzu und lächelte zufrieden. "Justicius Säulenwald", das hörte sich nach Gerechtigkeit und Ansehen an. Genau der passende Name für einen Anwalt. Nächste Frage.
Alter?
Tapire machte sich etwas jünger, in der Hoffnung, dass man hier lieber "Nachwuchstalente" aufnahm und schrieb 24.
Wohnort?
Ohne großartig zu überlegen schrieb der Korporal seine Adresse auf das Blatt. Esoterische Straße 28. Wahrscheinlich war dies ohnehin nur für die Vollständigkeit der Akten nötig.
Qualifikationen?
Jetzt grinste er. Ateras Vortrag und das Büchlein, das er von ihr bekommen hatte taten nun doch noch einen Dienst. Er schrieb "Umfangreiche Kenntnisse historischer Gesetze und Beschlüsse".
Angestrebte Position?
Vinni legte die Stirn in Falten. Erwartete man von einem Anwalt denn keinen Ehrgeiz? Leute die sich einen Tschob mit guter Bezahlung und wenig Arbeit erhofften waren in der Gilde bestimmt nicht gerne gesehen. Stolz auf seine intelligenten Schlussfolgerungen schrieb er "Gildenoberhaupt".
Unterschrift
Aus einem Impuls heraus begann er "vorhanden" niederzuschreiben, stoppte jedoch nach dem "r", übermalte alles und kritzelte, in wie er fand schwungvollen und stilsicheren Lettern, seinen Decknamen aufs Blatt.
Zufrieden stand er auf, strich sich seinen Anzug glatt und schritt durch den Säulenwald zurück zum Pult des Gildenmitglieds und legte selbstsicher das Blatt darauf. Der Anwalt warf einen kurzen Blick darauf und sagte: "Wir schicken dir eine Mitteilung."
Der Wächter nickte und verließ das Gildengebäude.
Nur wenige Stunden später...
Eine Kutsche hielt am Platz der gebrochenen Monde an. Es war eine durchschnittliche Kutsche mit einer dunklen Holzverkleidung und ohne irgendwelche Schnörkel. Die Tür wurde von innen geöffnet und eine große, steinerne Hand war zu sehen. Ein Troll, in der anderen Hand eine große, prall gefüllte Reisetasche, verließ das Gefährt. Er trug ein buntes Hemd im Zeltformat offen am felsigen Körper und eine dunkle Sonnenbrille. Lässig die Hand in die Hüfte stemmend sah er sich um und nickte dann zufrieden. "Du nun rauskommen kannst, Boss." grollte er und ging zur Seite. Die Person, die nun aus der Kutsche ausstieg sah aus wie eine Miniatur des Trolls, abgesehen davon, dass sie menschlich war. Der Mann im mittleren Alter war braungebrannt und trug ebenfalls eines der bunten, neumodischen Bin-Trobi-Hemden offen am Körper was einem Blick auf seine muskulöse Brust zuließ. Er trug auch eine Sonnenbrille, nur bei ihm waren die Gläser halb durchsichtig und überproportional groß.
"Alles im Lot, Kumpel?" fragte er den Troll und spuckte auf die Pflastersteine.
"Ja, Boss."
"Ich meine, keine miesen Erbschleicher, Diebe oder so was in der Nähe?"
"Nein, Boss. Ich keine sehen können."
"Fein, Nephrit, fein, fein. Ist ja nur ein Katzensprung bis zu meiner Bude, von hier aus. Lass uns am besten gleich mal hinschauen und nachsehen ob das Haus noch steht." Als die erwartete Reaktion des Trolls ausblieb, fügte der braungebrannte Mann ein "Hahaha." hinzu.
"Oh...Huhuhuhu!" knarrte Nephrit, als er bemerkte, was von ihm erwartet wurde.
Der Mann setze sich in Bewegung und der Troll folgte ihm.
Nach einigen Minuten bogen sie in die Esoterische Straße ein und blieben vor einem bestimmten Haus stehen.
"Na, scheint ja alles in Ordnung zu sein." meinte der Braungebrannte und entblößte strahlend weiße Zähne beim Grinsen.
"Haus stehen, aber stinken." gab Nephrit zu bedenken.
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Nebenhauses und ein glatzköpfiger, schwarz gekleideter Mann mit einer Augenklappe trat heraus. Er blickte sich nervös um, lächelte dann aber, als er Nephrit und den braungebrannten Mann bemerkte.
"Herr Fango? Bisch du des etwa??"
Der Mann drehte sich um und schnalzte laut mit der Zunge. "Na, wenn das nicht der gute Herr Rasiermich ist!" Er trat zu dem Glatzkopf hinüber und schüttelte enthusiastisch dessen Hand.
"Das i des no erleben darf! Hab ja schon 'glaubt dass du gar nimmer kommsch!"
"Tja, hehehe, ich hatte leider zu tun. Musste mich von halbnackten Schönheiten bedienen lassen und so. Hahaha."
"Ja mei, i dät au in Urlaub fahren, wenn i was g'erbt hätt. Warsch ja ganz scheh lang weg, gell?"
"Ja, Kumpel. Fast ein ganzes Jahr!"
"Und en netten Untermieter hasch g'funden. A ganz a lieber Kerle isch des. Zwar a bissle seltsam, aber wer isch des heutzutage net, gell?"
"Hehehe, ist ja schließlich nicht irgendeine Straße hier." grinste Herr Fango und zwinkerte Herrn Rasiermich verschwörerisch zu.
"Und en nettes Gestein hasch dir au gleischtet! Des find i subber!"
"Booooss! Er mich Gestein genannt!"
"Nephrit, du bist Gestein."
"Das sein gemein und spezisch, Boss." grummelte der Troll und schmollte.
"Er ist ein wenig eigensinnig, aber für seinen Tschob gut geeignet, hehe. Und, wie ist es dir so ergangen, Herr Rasiermich?"
"Oh, i hab a ganze Menge von hochbrisanten Informationen zug'spielt kriegt, weisch?"
"Oha, na wenn das nicht typisch für dich ist, haha!"
"Am int'ressanteschten sind die Erinnerungen an a früheres Leben von mir. I hab nämlich a mal am Bauch von der Schildkröt' bei der geheimen Zivilisation da unter g'wohnt. Des war a Sach, sag i dir!"
"Wow! Was du nicht sagst, Kumpel!"
"Ja, gell? Da gibt’s au so-"
"Tut mir Leid, Herr Rasiermich, aber ich muss jetzt mal in mein Haus schauen. Wir sehen uns sicher bald wieder, falls du nicht zu dieser äh....dings, Zivilisation am Bauch der Schildkröte zurückkehrst."
"Hanoi, die wollen mi da nimmer, weisch? Da isch nämlich grad-"
"Ähm, man sieht sich, Kumpel!" rief Herr Fango noch und eilte wieder zu seiner Haustür.
"Pfird'di." ließ Herr Rasiermich leise vernehmen und kehrte wieder in sein Haus zurück.
"So, wollen wir doch mal sehen..." murmelte Fango und wollte die rechte der beiden Türen öffnen, welche ins Erdgeschoss führte, scheiterte jedoch an dem dicken Vorhängeschloss, dass dort angebracht war.
"Hey, was soll denn das??" stieß er hervor. "Warum macht er da so ein Schloss hin?!"
"Soll ich schlagen ein?" kam es prompt von Nephrit. "Ich gut in Einschlagen sein!"
"Lass mal...will ja nicht gleich eine neue Tür beschaffen müssen. Schauen wir halt erst mal hoch."
Herr Fango öffnete die andere Türe und trat in das Treppenhaus hinein. Er stieg die knarrenden Stufen nach oben, trat vor die Tür zur Obergeschosswohnung und bemerkte, als er Klopfen wollte, dass sie offen stand. Schulterzuckend stieß er sie auf, betrat die Wohnung...und verließ sie sofort rückwärts. Der kurze Blick, den er erhaschen konnte, war Grund genug gewesen, um in Ohnmacht zufallen, wenn Herr Fango nicht so ein verdammt harter Kerl gewesen wäre, wie er stets betonte. Im Inneren der Wohnung war kaum mehr ein freies Stück Boden zu sehen. Überall stapelten sich leere Bierkrüge und Weinflaschen und ein riesiger Berg aus diversem Müll bedeckte ein Viertel des Zimmers. Dazu lagen noch überall Bücher, Essensreste und schnarchende Menschen herum.
"Nephrit," flüsterte Fango und keuchte. "du gehst voraus!"
Der Troll nickte, stieß die Tür auf und trat in die Wohnung. "Was ich machen soll, Boss?" fragte er ratlos nachdem er das Chaos begutachtet hatte.
"Werf' diese Leute raus! Und sag, dass sie den Müll mitnehmen sollen! Und hol mir diesen Tapire her, mit dem muss ich mal ernsthaft reden!"
Wiederrum nickte Nephrit und nahm eine imposantere Haltung ein. "IHR ALLE RAUS!!!" brüllte er so laut er konnte, was sofort von einigen erschreckten Schreien und mehreren "gnahs" und "urghs" beantwortet wurde. Ein Mann, der neben dem Troll auf dem Boden gelegen hatte erhob sich röchelnd, wobei er sich an der steinigen Hüfte Nephrits abstützte. Er blickte Herrn Fango, der mittlerweile neben dem Troll erschienen war und sich entgeistert umschaute, kurz in die Augen, hielt sich dann verkrampft den Bauch und erbrach sich mit einem würgenden Geräusch vor den Füßen des Hausbesitzers. Doch bevor Herr Fango die Bleiche seines Gesichts in Zornesröte umwandeln konnte, kam eine vollkommen unbekleidete junge Frau auf ihn zugewankt, fiel ihm um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich. nach ein paar Momenten der allgemeinen Verwunderung ließ sie von Herrn Fango ab, ging ein paar Schritte und brach dann zusammen.
Herr Fango kochte vor Wut. Er war kurz vor der Explosion. Man sah es an den kleinen Äderchen die an seinen Schläfen hervortraten und den weit aufgerissenen Augen, die man allerdings in diesem Moment wegen der Sonnenbrille nicht sah, und an den hochgezogenen Augenbrauen. Gase des Zorns stiegen in Herrn Fango auf und entzündeten sich an der Flamme der Empörung.
"VERFLUCHT NOCHMAL!!!"
Die Ächzer und Stöhner verstummten.
"Ihr werdet sofort dieses Haus verlassen!! Oder ich lasse euch alle von meinem Troll zu Brei schlagen!!!" schrie er und riss sich die Sonnenbrille herunter. Jetzt sah man es auch an den weit aufgerissenen Augen.
Murrend, nicht zu laut natürlich, richteten sich die restlichen Leute auf und verließen mit gesenkten Blicken die Wohnung. Dann, als nur noch der nicht lebendige Müll herumlag, bahnte sich eine Tür knarrend ihren Weg durch die Unrathaufen. Ein Wesen trat schnarrend heraus und kratzte sich an einer Stelle, an der man sich nicht kratzt, wenn man in Gesellschaft ist. Der Mund der Kreatur war eine längliche Röhre.
"Häy, wass'n hiär los? Argh, mein Kopf äy..."
Herrn Fangos Zornesröte wurde im Bruchteil einer Sekunde wieder zu Leichenblässe. "Wa-wa-was ist das?!"
"Altär, was gibt's? Noch nicht gänug von gästärn Nacht, odär was?" sagte es und rieb sich den Kopf.
"Nephrit! Es ist ein Monster! Mach es tot!"
"Aber Boss... es sein haarig!"
"Los! Sonst wird es uns noch auffressen!"
"Yäah, auf was zu Ässän hättä ich jätzt Bock. Hat viälläicht äinär von äuch Lust zum Achatänän Imbiss zu gähän und mir was mitzubringän?"
"Boss! Es mich so komisch ansehen!"
"Du dummer Stein! Fürchtest du dich etwa??"
"Ja, Boss!"
"Ich mich auch!"
Die beiden nickten sich zu und stürmten dann panisch aus der Wohnung, die Treppe hinunter und auf die Straße.
"Nephrit,"
"Ja, Boss?"
"Lass uns zur Trommel gehen, da finden wir sicher ein paar Leute, die ein Monster erledigen wollen!"

"Aaaaaaaah!!! Wie sieht es hier denn aus?!" kreischte Vintongo als er seine Wohnung betrat und Abe auf einem großen Müllhaufen liegen sah.
"Keinä Sorgä, Vinni. Ich räum das nachhär wäg. Du hast nicht zufällig auf däm Häimwäg bäim Achatänän Imbiss vorbäigäschaut, odär?"
"Nein, Abe! Verdammt noch mal! Man kann dich keine einzige Nacht lang alleine lassen, ohne dass du alles zerstörst!" Der Korporal war wütend. Was, bei allen Göttern, dachte sich dieser Kerl eigentlich?? Hatte er denn keinen Anstand? Tapire war so freundlich ihn bei sich wohnen zu lassen und er hatte nichts anderes im Sinn als jede Woche die ganze Wohnung bei einer orgienhaften Feier zu verwüsten. Vinni seufzte. Warum musste er nur immer an solche Leute geraten?
"Achja..." meinte Abe plötzlich und kramte zwischen einem überfüllten Aschenbecher und einigen Glasscherben herum. "Das hiär hat vorhin jämand für dich abgägäbän." Er zog aus dem Unrat einen schmierigen Zettel hervor und reichte ihn Vintongo. Der Wächter faltete den Wisch auseinander und las ihn.
"Na wenigstens mal eine positive Sache am Tag!" verkündete er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf um seine Glieder zu strecken. "Hör zu, Abe: Ich muss weg. Wenn ich wiederkomme will ich, dass alles wieder genau so aussieht wie gestern Nachmittag, okay?"
"Immär mit där Ruhä. Hab hiär nachhär noch'n Däyt, hähähä."
Vintongo seufzte abermals. "Komm schon, Abe. Mach bitte sauber. Bis bald." Er verließ seine Wohnung wieder und gähnte. Die Gilde war schnell gewesen. Er war aufgenommen worden.

"Säulenwald!! Huahuahuahua!!" prustete Herr Pamphlet, langjähriges Gildenmitglied, das in der Hierarchie gleich nach Herrn Schräg kam, und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. "Meine Güte, diese Wächter!" Er schüttelte belustigt den Kopf. "Wenigstens hat er sein Aussehen verändert, hehe. Aber ich bin erstaunt für wie dumm sie uns halten. Gildenoberhaupt werden, hah!"
"Und ich bin erstaunt für wie klug wir sie gehalten haben." gab Herr Schräg trocken von sich.
"Natürlich Herr Schräg, natürlich. Wie sollen wir mit ihm verfahren? Er wird gleich herkommen, denke ich."
"Schaut was er macht. Ich traue ihm nicht zu, dass er irgendetwas herausfindet. Sollte er die Akte wirklich finden, dann behaltet ihn noch ein wenig hier."
"Die Akte??" fragte Pamphlet erstaunt. "Doch nicht etwa die von Tollen?! Du kannst doch nicht zulassen, dass er sie sich ansieht! Stell dir vor, er würde etwas verraten!!"
"Keine Sorge, Herr Pamphlet. Selbst wenn er sie liest und ihren Inhalt vor Gericht preisgibt, wird man ihm nicht glauben."
"Vor Gericht? Ich verstehe nicht..."
"Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, Herr Pamphlet."
Der Angesprochene nickte verstehend. "Du bist sehr geschickt, Herr Schräg. Kein Wunder, dass du hier die Fäden in der Hand hältst. Ich verstehe allerdings immer noch nicht wieso ihr die Akte nicht einfach unter Verschluss genommen oder vernichtet habt."
"Wir haben sie unter Verschluss genommen."
"Wie? Ich verstehe immer noch nicht."
"Meine Güte, du scheinst heute einen schlechten Tag zu haben, Herr Pamphlet. Ich frage mich, ob es die richtige Entscheidung war dich mit einzubeziehen..."
"Doch! Es war die Richtige!" versicherte er schnell. "Allerdings bin ich nicht im Stande deine superb kalkulierten Pläne zu durchschauen, Herr Schräg."
"Hör zu. Straßenhunde würden liebend gerne eines der Schweine vom Viehmarkt verschlingen. Auf die Idee den Händler zu fressen, der sie verkauft, kämen sie vermutlich nicht. Wenn nun ein Schwein stirbt und man seinen Kadaver auf die Straße wirft, werden die Hunde vom Verwesungs- und Blutgeruch angelockt. Sie fallen in einen regelrechten Blutrausch. Und wenn es soweit ist, bemerken sie es nicht mehr ob es der Kadaver eines Menschen oder eines Schweins ist. Verstehst du jetzt?"
"Das ist ein sehr, äh, makaberer Vergleich, wenn du mir diese Bemerkung gestattest, Herr Schräg. Aber ich verstehe es jetzt. Ein vortrefflicher Plan."
"Er zeugt von Kompetenz. Kompetenz ist maßgebend in meiner Position, Herr Pamphlet."
"Die Akte in der Kartei ist also nicht die Echte, ja? Gut. Ich habe mich schon gewundert. Standen ja recht sonderbare Dinge drin. Machtergreifung, politische Morde, seltsame Tinkturen. Ich war wirklich sehr schockiert. Aber was sollte der letzte Satz in dem kurzen Bericht? Er passt überhaupt nicht zum Rest."
"Es ist ein undurchsichtiger Hinweis auf die Wahrheit."
"Wie bitte?! Das verstößt doch gegen die Grundsätze des Kartells!!"
"Nun, Herr Pamphlet, da dürftest du im Recht sein. Meine Kunden in dieser Angelegenheit überschreiten sogar die Kompetenz des Kartells. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch diesen Hinweis einzubauen."
"Oh...oh.. verdammt. Kunden von dieser Sorte sind immer solche verdammten Exzentriker."
"Sie würden wohl lieber Begriffe wie 'Freidenker' oder 'Ehrenmänner' hören. Ich gebe dir einen Rat, Herr Pamphlet. Achte gut auf deine Worte. Sie hören alles, wenn sie wollen. Und du steckst bereits viel zu tief in dieser Sache drin, als dass du unbedachte Dinge sagen könntest."
Herr Pamphlet schluckte.

"Hey Leute!" rief Electhis Fango durch die übelriechenden Nebelschwaden in der Geflickten Trommel und schwang sich in seinem bunten Hemd auf einen leerstehenden Tisch. Nephrit platzierte sich mit steiniger Coolness vor ihm. Zehn Köpfe mit verschiedenen, meist gehörnten Helmen drehten sich zu dem Hausbesitzer um, der seine strahlenden weißen Zähne aufblitzen ließ.
"Na, wie geht’s euch denn so, Jungs?"
Eine Axt flog nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbei und bohrte sich krachend in die Wand, was Herrn Fango allerdings nicht dazu veranlasste mit dem Grinsen aufzuhören. "Habt ihr für heute nicht schon lange genug herumgesessen und dieses miese Bier in euch reingeschüttet?"
Ein großer Bierkrug verfehlte ihn nur knapp und zersprang scheppernd auf dem Boden.
"Habt ihr nicht Lust auf ein Abenteuer?"
Ein sperriger Stuhl flog auf den Troll Nephrit zu, prallte aber von dessen Brust ab. Nephrit bewegte sich keinen Millimeter.
"Sind denn keine kampferprobten barbarischen Helden unter euch?? Es gilt ein bösartiges Monster zu erledigen, Leute!"
Wütendes Krächzen und skeptisches Gemurmel segelte in hohem Bogen auf Herrn Fango zu und vergrößerte sein Nachtleuchten-Lächeln noch.
"Jeder der mitkommt kann sich eine Hand voll Dollar verdienen!" rief er freudig aus. Jubelndes Gegröle war die Antwort und ein ganzer Trupp barbarischer Helden, Zerfetzer und Aufschlitzer traten an den Hausbesitzer heran.
"Immer mir und dem Felsen hier nach!" sagte er, stieg vom Tisch und eilte voran. Hah! Wäre doch der pure Irrsinn, wenn er sich von so einem hässlichen Monster aus seiner eigenen Wohnung vertreiben ließe.

Die traurige Gestalt wanderte immer noch rastlos durch die große Zwillingsstadt, passierte schöne Häuser und hässliche Häuser, überquerte manche Brücke und ging am Fluss entlang. Sie bog in eine Gasse ein und blieb vor einem heruntergekommenen Schuppen stehen. Niemand konnte sie sehen, die bedrückte junge Frau mit den schwarzen Haaren und den tiefblauen Augen. Hier war sie schon einmal gewesen und die Erinnerung ließ den Schmerz Tausender stechender Gedanken noch kräftiger hervortreten. Sie wollte nicht, aber die Szenen wiederholten sich vor ihrem inneren Auge.
Der Mann mit dem weißen Kittel schrieb Zahlen auf das Papier.
Er machte ganz kleine zarte Buchstaben dazu. Dann zog er den weißen Kittel aus und pflegte eine Stunde lang die Blumen auf der Fensterbank. Als er sah, dass eine Blume eingegangen war, wurde er sehr traurig und weinte. Und auf dem Papier standen die Zahlen.
[1]
Es tat weh ihn noch einmal zu sehen. Er war ein einsamer, vergessener Mann gewesen. Keiner mochte ihn und er mochte keinen. Nur seine Blumen, die liebte er über alles. Doch sie waren mit ihm gestorben. Durch das kleine Fenster neben der Tür sah man sie stehen. Braun, verwelkt, tot. Die junge Frau trat, ungesehen von allen Passanten, näher an die Tür heran. Ein rotes Band war quer darüber befestigt. Darüber hing ein Schild. "Betreten verboten. Offizielles Gebiet der Anwaltsgilde. Dieses Haus wird überwacht." Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und trat durch die Tür.

"Wooo ist das Monster?!" knurrte Mahlstrom der Selbige und fuchtelte mit seiner Kampfaxt herum.
Herr Fango strahlte ihn an. "Einfach die Treppe rauf und dann durch die Tür!"
"Was ist es für ein Monster?" wollte der Brutale Berthold wissen und spuckte auf den Boden. "Feuerodem, Tentakel oder wie oder was?"
"Es sein haarig!" meldete sich Nephrit zu Wort und verzog das steinige Gesicht. "Sein widerliches Ding mit langem Maul!"
"Lass es mich machen, und du willst nicht enttäuscht welden." sprach Zweipfirsichklingen, ein Kämpfer aus dem Achatenen Reich, der sich irgendwie nach Ankh-Morpork verirrt hatte, mit zischender Stimme.
"Aber meine Herren!" beruhigte Herr Fango die drei Barbaren, die ihre Forderungen gestellt hatten und schloss mit einer raschen Geste die weiteren mit ein, die dahinter standen. "Ihr werdet alle eure Dollar bekommen. Es ist genug für jeden da. Geht einfach hoch, erledigt das Monster und bringt es dann mit hier runter. Danach werde ich euch bezahlen."
Ein zustimmendes Murmeln und Knurren ertönte.
"Dann los! Wir zählen auf drei und dann stürmt ihr rein! Nephrit?"
"Ja, Boss?"
"Fang an zu zählen!"
"Eins..." der Troll konzentrierte sich. Was kam noch mal nach eins? Wenn man einen Kiesel und noch einen Kiesel hatte, dann hatte man...zwei Kiesel? "...Zwei? Sein das richtig, Boss?"
"Natürlich, du Geröllhaufen!"
"Du mich nicht Geröllhaufen nennen sollst, Boss! Du wissen genau!"
"Halt die Klappe und zähl weiter, oder hast du nur Kalk im Kopf, harharhar!"
"Eins...zwei...." Nephrit musste pausieren. "....Viele?"

Abe lag grinsend auf dem Bett und ließ sich von einer hübschen, jungen Dame den Rücken massieren. Es klappte noch alles genau so wie früher. Selbst jetzt, als er größtenteils die Gestalt eines Ameisenbären hatte, fielen die Mädchen der Reihe nach um, wenn er vorbeiging. Er war einfach der Held schlechthin. Keine Frau konnte seinem Charme lange wiederstehen. Und das nette Mädel, dass er beim Essen getroffen hatte und das gerade seinen Rücken massierte, auch nicht. Er drehte sich herum strich der Frau über die Wange.
"Häy Baby...ich spürä, dass uns bäidä mähr Värbindät als die gleichä Bäställung im Rästohrant." näselte er und ließ seine klauenbewährte, behaarte Hand etwas tiefer sinken. Die junge Frau errötete. "Aber Abe...wir kennen uns doch noch kaum..."
"Ich bin gäradä dabei das zu ändärn, Süßä..." sagte er und grinste, so weit dies mit einem röhrenförmigen Mund möglich ist. Er zog ihren Kopf langsam näher zu sich und eine lange, rosafarbene Zunge, die eigentlich zum Termitenaufschlecken gebaut war kam aus seinem Mund. Er wollte sie gerade küssen als plötzlich mit einem lauten Knall die Wohnungstür zerbarst und wildes Geschrei hereinschallte.
"Värflucht!" stieß der Ameisenbär aus und sprang auf. Er öffnete das Fenster und nahm die Frau bei der Hand. "Da raus!" wies er sie an, was sie anfangs etwas zimperlich, als das wütende Geheul aber immer näher kam doch rascher ausführte. "Häng dich ans Fänstärbrett!" rief Abe. Dann wurde die Tür zum Schlafzimmer von einer Axt durchbohrt und eingetreten.
"Ich zieh dir die Haut ab!" gröhlte eine tiefe Männerstimme und ein breitschultriger, bärtiger Krieger sprang wütend in den Raum. Als er Abe erblickte holte er sofort mit der großen Axt aus und ließ sie auf Vintongos Mitbewohner niedersausen, der sich gerade noch im letzten Moment wegrollen konnte, so dass die Axt ins Bettgestell schlug und darin stecken blieb.
"Was soll diesär Mist?!" fluchte Abe, sprang auf das Bett und trat dem Barbaren gegen den Kopf. Dieser schrie wütend auf und setzte zu einem heftigen Faustschlag an. Abe wirbelte herum, stieß dem Hünen seinen Ellenbogen in den Rücken und schubste ihn unsanft gegen die Wand. Mit einem leisen Stöhnen ging der Kerl zu Boden. Doch für den Ameisenbären gab es keine Verschnaufpause. Sogleich stürmten mehrere andere Kämpfer in das kleine Zimmer, darunter ein kleiner, drahtiger Achatene mit einem langen Schwert. Sie umzingelten ihn und warteten auf eine Aktion. Abes Gedanken rasten, doch er war nicht umsonst immer noch am Leben, wenn er sich nicht immer auf irgendeine Weise hätte herauswinden können. Ohne noch lange weiter zu überlegen, packte er sich den kleinen Holzschemel, der sich im Zimmer befand und warf ihn in Richtung der Angreifer. Dann drehte er sich um, sprang auf das Fensterbrett und ließ sich hinausfallen.

Er rollte sich ab so gut es ging und überstand den Fall einigermaßen unversehrt. Der Ameisenbär rieb sich kurz ein Knie und rief dann zu der jungen Frau, die immer noch am Fensterbrett hing: "Lass dich fallän! Ich fangä dich auf!"
Glücklicherweise hatte sie die gefährliche Situation längst erkannt. Ihr blieb gar keine andere Wahl als loszulassen. Sie tat es und landete mehr oder weniger sanft in Abes Armen. "Hähä, ich fürchtä wir müssän ein andäräs mal weitärmachän, Süßä. Jätzt solltän wir ärstmal värschwindän." Sie nickte nur und ließ sich von ihm an der Hand führen.
Ein paar Meter weiter betrachteten Herr Fango und Nephrit geschockt die Szene. "Mach es tot, mach es tot, du dummer Troll!!" schrie der Hausbesitzer und stieß Nephrit an, rieb sich aber daraufhin gleich die schmerzende Hand.
"Es sein haarig, Boss!"
"Mir egal! Schnapp es dir! Das ist dein Tschob!"
Aber Abe war schon nicht mehr zu sehen. Er war mit der jungen, leicht bekleideten Frau bereits in die nächste Straße eingebogen. In diesem Moment stürmten auch die Barbaren aus der Trommel aus dem Haus und verwüsteten aus Wut erst einmal einen Müllhaufen auf der anderen Straßenseite.
"Ich will trotzdem mein Geld!" brüllte Mahlstrom der Selbige was die Anderen dazu veranlasste zustimmend zu grölen.
"Pah! Ihr habt es nicht mal zu zehnt geschafft dieses Monster fertig zu machen! Und so einem Haufen Versager soll ich noch was bezahlen?! Ihr habt wohl zuviel von dem miesen Bier in eurer schmierigen Spelunke gesoffen!!" Electhis Fango war wirklich wütend. Er riss sich die Sonnenbrille von den Augen und starrte den Mahlstrom zornig an. "Auf was wartest du, du stinkender, fetter Mistkerl?!? Verzieh dich mit deinen hässlichen Kameraden!!"
"Äh, Boss." meldete sich Nephrit zu Wort.
"Und du dummes Haufwerk hältst erst recht die Klappe!! Ich bin Electhis Fango! Und ich lasse mich nicht betrügen! Erst recht nicht von Leuten deren Gehirn die Größe einer Erbse hat!!"
"Äh, Boss..."
"Was willst du, Fels??"
"Vielleicht es seien nicht so gute Idee sagen schlimme Worte zu starken Männern mit Waffen..."
"Hah! Diese Weichbirnen würden sich niemals trauen mir auch nur ein Haar zu krümmen! Ich würde euch die Anwaltsgilde auf den Hals hetzen, jawohl!"
"Äh, Boss, ich noch zu tun haben...neuen Tschob suchen und so. Vielleicht man sich mal wieder sehen..." sagte der Troll, drehte sich um und ging langsam davon.
Herr Fango blickte die Barbaren, allen voran Mahlstrom den Selbigen herausfordernd an.
Der Mahlstrom knurrte.

Am nächsten Tag...

"Dies ist ein Aktenhaufen." erklärte der junge Anwalt mit dem feschen Haarschnitt und deutete auf etwas, dass Vintongo zuerst für eine Art Mülleimer ohne Eimer gehalten hatte. "Jeder Neue muss am Anfang daran arbeiten. Du musst dir die Akten nehmen und sie an der richtigen Stelle ins Archiv einordnen. Jeden Tag, von 8 bis 6. Und wenn du es gewissenhaft machst, schaut Herr Pamphlet vielleicht mal bei dir herein und du bekommst einen Bürotschob. Alles Klar?"
"Ja...und ich muss diesen ganzen Haufen sortieren um aufzusteigen?" fragte Justicius Säulenwald enttäuscht.
"Jedes einzelne Blatt. Dort drüben findest du Mappen und hinter der Türe da ist das Archiv. Also viel Spaß, haha...ha." lachte Vintongos "Kollege" humorlos und verließ den Raum. Die Tür knallte zu und es entstand eine Art geistiges Vakuum in dem muffigen Raum. So hatte der Korporal es sich nicht vorgestellt. Wie sollte er denn jemals irgendetwas über diese Akte herausfinden, wenn er nur die alten Sachen einordnen durfte? In diesem Archiv war bestimmt nichts über einen so brisanten Fall zu finden, geschweige denn ein Hinweis darauf, warum die Anwaltsgilde sich dort einmischte und das Recht hatte einfach das Haus des toten Alchimisten zu beschlagnahmen. Tapire fuhr sich über die Glatze und krempelte die Ärmel seines Hemdes nach oben.

Vier Stunden später kniete Vinni fluchend am Boden und stapelte die vergilbten Blätter in alphabetische Haufen, nachdem sie beim letzten Besuch seines Kollegen vom Wind der aufschwingenden Tür umgeworfen worden waren. Gerade als er den Y-Stapel beendet hatte, wurde abermals die Tür aufgerissen und ein Anwalt, den er zuvor noch nicht kannte, schrie mit einer markanten Stimme irgendetwas herein. Der Haufen zerfiel in viele einzelne, umhersegelnde Blätter.
"WAS?!" schrie Vintongo irritiert und fuhr herum.
"Es ist Mittagspause!!" rief der Kerl mit der ungewöhnlich lauten Stimme und machte dazu kreisende Bewegungen mit dem rechten Arm.
"Na und??"
"Wir gehen was essen!!"
"Und was?"
"Essen!!!"
"Wo geht ihr hin???"
"Wir gehen essen!!!"
"Geh bitte!"
"Tun wir ja!!"
"Grr..." auch sanftmütige Menschen wie Vintongo konnten nur ein gewisses Maß an Idiotie pro Tag vertragen. Und bei "Herrn Säulenwand" war es bereits überschritten. "Raus!" rief er dem Anwalt zu und fuchtelte abweisend mit den Armen herum.
"Du brauchst nicht gleich unhöflich zu werden!!" kreischte die Nervensäge und verließ beleidigt den Vorraum des Archivs.
"Mittagspause?" überlegte Justicius a.k.a. Vinni laut.

Er betrat Gernot Krautstampfers Gemischtwarenladen durch die Ladentür und sah sich vorsichtig um. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, dass ihm jemand gefolgt war, er hatte jedoch kein einziges Mal, als er sich immer wieder auf dem Weg bis hierhin umgedreht hatte, jemanden entdecken können.
Herr Krautstampfer stand wie ein fest verwurzelter Baum hinter dem Tresen und runzelte beim Anblick des gut gekleideten, dunkelhäutigen jungen Mannes die Stirn.
"Du kaufen, oder du gehen!" sagte er in einem Tonfall der für unpassend gekleidete Ausländer bestimmt war. Aber Vintongo achtete nicht auf ihn. Er bestaunte die verschiedenen Dinge, die in den Regalen ausgelagert waren. Es gab große Holzhämmer, kleine, gefüllte Kissen, hässliche Landschaftsbilder und einiges anderes komisches Zeugs.
"Du mich hören??" wollte Herr Krautstampfer wissen und griff mit geübten Bewegungen unter die Ladentheke.
"Ääh...Beim Kraute meiner Mutter?" stammelte er und versuchte sich an die Parole zu erinnern, die Dyn mit dem Ladenbesitzer ausgemacht hatte. Doch dieser starrte den Korporal nur weiterhin böse an.
"Das Nilpferd fiel auf den Ankh?" Auch das war es nicht. Herr Krautstampfer zog langsam einen großen Eichenstock unter der Theke hervor und schritt auf Vintongo zu. "Du kaufst jetzt etwas, oder du wirst mein Geschäft verlassen!" zischte er bedrohlich, und zwirbelte an den eindrucksvollen Schnauzbart herum, der sein Gesicht zierte.
"Das beste Curry, das ich je gegessen habe!!" rief er schnell. Ihm war die Parole endlich eingefallen. Und auch Gernot Krautstampfer schien sie zu kennen, denn sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig und er hielt den Stock verlegen hinter seinem Rücken.
"Tut mir Leid, Herr Wächter, ich wusste ja nicht wie Sie aussehen..."
"Schon in Ordnung. Wo ist mein Kollege?"
"Im Hinterzimmer. Einfach durch die Tür hinter dem Tresen da."
Vintongo nickte und wollte schon hingehen, als Herr Krautstampfer sich verschwörerisch näherte und etwas raunte. "Ich werde aufpassen, dass Sie nicht auffliegen. Auf mich können Sie zählen." und dann fügte er lauter und fröhlicher hinzu: "Oh, wie spannend! Eine geheime Mission der wache!"
Der Korporal lächelte gezwungen und betrat den Raum hinter dem Laden. Das Bild, das sich ihm dort bot, war so lustig, dass er rückwärts wieder hinausstolperte und mit Herrn Krautstampfer zusammenstieß, der sich verwundert umdrehte. Vintongo lachte wirklich herzhaft.

Ein kleines Mädchen saß auf dem Rücken des Gefreiten Dyn Amit und schlug ihm immer wieder auf den Hinterkopf. "Schnella, Pferdchen, schnella!" quiekte es und kicherte. Daneben saß ein Knabe hinter einem Häufchen hölzerner Bauklötze und warf diese beständig dem Gefreiten gegen den Kopf. Dyn versuchte zu Wiehern.
"Ähm, Gefreiter?" fragte Vintongo und versuchte nicht zu breit zu grinsen.
Dyn blickte erschrocken auf. "Sir! Ich.. äh, kann das erklären!"
"Ich hoffe ich störe dich nicht, Dyn." sagte Tapire und kicherte.
"Es ist eine -Argh! Lass meine Haare los!- Vereinbarung mit Herrn Krautstampfer. Ich soll mich -Lass das, du ungezogener Bengel!- um die -Hey!!- Kinder kümmern, wenn ich schon den ganzen Tag im Hinterzimmer herumsitze."
"Ah ja...wie ich sehe habt ihr alle viel Spaß. Aber könntest du vielleicht aufstehen, damit ich dir Bericht erstatten kann? Der Chef wird sonst sauer...und du weißt ja, was letztes mal passierte, als man ihn nicht auf dem laufenden hielt und er gerade einen neuen Waffenkatalog bekommen hatte. Immerhin schoss er-"
"Ja, Vinni, äh Sir, ich weiß." rief Dyn bestimmt und rieb sich die Brust. "Aber es war ja keine Absicht. Der Bolzen ist ja nur abgeprallt und zum Glück hatte ich meinen Brustharnisch an."
"Könntest du jetzt bitte aufstehen?"
Der Gefreite setzte das Mädchen vorsichtig von seinem Rücken ab und stand auf. "Ich-"
"Pferde können nicht stehen!" rief das Mädchen.
"Du bist wirklich sehr schlau, Paula. Aber ich muss dem netten Mann kurz zuhören und dann bin ich gleich wieder da."
"Pferde können nicht stehen!!" kreischte das Mädchen energisch und fing an zu schluchzen.
Dyn warf Vintongo einen flehentlichen Blick zu, woraufhin dieser nur belustigt mit dem Kopf nickte. Der Gefreite stellte sich wieder auf allen Vieren auf den Boden und ließ das Mädchen wieder auf seinen Rücken klettern. "Hotta-hüh!" rief es fröhlich und schlug Dyn auf den Kopf.
"Ich äh, bin ein Pferd. Entschuldige Vinni, Sir."
"Schon in Ordnung. Ich habe nicht mehr viel Zeit, also sag Mücke einfach, dass ich zum Archivordnen abgestellt wurde und sicher in die Gilde gekommen bin."
"Ja, Sir." keuchte Dyn Amit und salutierte mit einem Huf, wofür er sogleich wieder einen Bauklotz an den Kopf geworfen bekam.
Vintongo lächelte noch mal, verabschiedete sich von dem Gefreiten und von Herrn Krautstampfer und kehrte dann in die Gilde zurück.

"Und... und das Testament?? Hast du von dem auch eine Fälschung anfertigen lassen?"
"Nein, wofür denn auch? Wir müssen erst einmal herausfinden, warum Tollen überhaupt ein Testament hatte. Er war zweiundvierzig. Hast du in diesem Alter schon ans Sterben gedacht, Herr Pamphlet?"
"N-nein, in diesem Alter noch nicht." Herr Pamphlet fühlte sich mittlerweile sehr unangenehm. Warum hatte er sich dort mit hineinziehen lassen? Das große Geld und die Beförderung hatten ihn gelockt, außerdem hatte Herr Schräg es so gewollt. Und Herr Schräg hatte meistens die Mittel, um seinen Willen durchzusetzen. Der Personal- und Finanzchef der Gilde zitterte. Er merkte wie er immer mehr in einen Sumpf hinabglitt aus dem er sich nicht mehr befreien konnte.
"Was ist los? Dein Atem geht so schwer." riss ihn der alte Schräg aus seinen Gedanken.
"N-nichts, Herr Schräg. Ich habe nur eine kleine Erkältung."
"Ja," hauchte Schräg mit seiner trockenen, von uralten, verstaubten Stimmbändern übertragenen Stimme, "Im Alter holt man sich schnell einen Infekt, nicht wahr?"
Herr Pamphlet nickte nur. "H-hast du irgendwelche Anweisungen für mich?"
"Nun, meine Klienten halten es für wichtig, unseren Sündenbock genau zu überwachen. Kennst du das Sprichwort 'Je genauer man plant, desto mehr geht schief'? Wir wollen beweisen, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Und deshalb gilt es ungewollte Zufälle zu vermeiden."
"Ich verstehe."
"Sehr gut, Herr Pamphlet. Du kannst jetzt gehen, ich habe noch einen Termin."
Er stand auf und ging ganz langsam zur Tür. Erst jetzt wurden ihm seine Verwicklungen im vollen Ausmaß bewusst. Er kannte Schräg sehr gut und er wusste welche Art von Leuten er meinte, wenn er von seinen "Klienten" oder "Kunden" sprach. Kalter Schweiß rann seinen Rücken hinunter, als er vor der Tür stehen blieb und langsam und schwer atmend nach dem Türknauf griff. Etwas machte pling hinter ihm.
"Du bist ja immer noch hier." ertönte Schrägs Stimme leiser als vorhin, weil er mittlerweile an dem großen Rosenholzschreibtisch saß.
Pamphlet drehte den Knauf und verließ eilig das Büro. Mist, dachte er, verfluchter Mist!.

Es roch nach Schwefel und verbrannten Augenbrauen. Die Luft in dem kleinen Schuppen war so stickig und trocken, dass Sie sich fragte, wie er hier hatte arbeiten können. Ihr machte die Luft nichts aus, aber Sie schmeckte sie und wusste, dass solche Luft nicht gut war. Ein trüber, geisterhafter Lichtstreifen, hereingelassen durch ein Astloch in der morschen Wand des Schuppens, erhellte ein kurzes Stück der Werkbank. Abgesehen von dem kleinen Fenster unter dem die Blumen gestanden hatten, war dies die einzige Lichtquelle. Langsam schritt Sie zu der Stelle an der Sie gestanden hatte, als es passiert war. Sie war den ganzen Tag direkt neben den Blumen gestanden. Erst als eine eingegangen war, hatte Sie bemerkt, dass es Ihre Schuld gewesen war. Es war nicht das erste mal gewesen, dass so etwas passiert war, aber sie hätte daran denken müssen. Sie hatte Stunden damit verbracht ihn zu beobachten. Heimlich, unsichtbar.
Der Mann nahm ein Glas mit einer gelblich-trüben Flüssigkeit und gab etwas Wasser dazu. Er schüttelte das Reagenzglas und murmelte "Komm schon! Komm schon!", doch es geschah nichts. Enttäuscht leerte er es aus und schrieb etwas auf seinen kleinen Notizblock. "Ich sollte das Mittel wohl nicht noch weiterentwickeln. Es ist jetzt schon gut genug. Das Andere ist verkauft und dieses hier wird noch einen höheren Preis erzielen." Das machte der Mann oft. Er sprach mit sich selbst, weil sonst kaum jemand mit ihm sprach. "Vielleicht ist es bald soweit. Ein schönes Haus auf dem Land mit einem großen Garten..." sprach er, stand auf und wandte sich den Blumen auf dem Fensterbrett zu.
Aber nun war alles tot. Der Mann, seine Blumen und seine Arbeit. Ihr kam der Gedanke ob Sie auch tot sei, oder noch lebendig. Wahrscheinlich etwas ganz anderes. Dieser arme Mann würde in Vergessenheit geraten. Und Sie war Schuld. Sollte Sie nicht den Leuten helfen, die versucht hatten mehr über seinen Tot herauszufinden? Sie war sich sicher, dass Sie den Anderen auf keinen Fall helfen würde. Den bösen Männern mit den dunklen Anzügen.

Irgendetwas schepperte oben. Harry horchte auf. Was war das gewesen? So weit er wusste, war er derzeit völlig alleine in dem Teil des Boucherie Rouge, der der Wache gehörte. Würde sich etwa ein Einbrecher hierher verirren? Der Gnom bezweifelte es und stieg langsam aus dem Puppenhaus in seinem Büro. Er griff sich seinen Gnomenbogen und spähte vorsichtig zur Tür heraus. Nichts war zu sehen. Allerdings war das Geräusch auch von oben gekommen. Er lief zur Treppe in den zweiten Stock, hielt dann aber inne. Die Tür zur Außentreppe stand weit offen und ein kalter Luftzug wehte herein. Mit großer Anstrengung zog Harry an der Kante der Gnomenklappe bis die Tür quietschend ins Schloss einrastete. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann dann leise die Innentreppe hinaufzuschleichen. Ein dumpfes Poltern erklang ein Stückchen über ihm und ließ ihn erschauern. Er spannte einen kleinen Pfeil in die Sehne seines Bogens stieg weiter hinauf bis er im Flur des zweiten Stockes stand. Mehrere Türen standen offen oder halboffen, aber in diesem Moment war kein Geräusch zu hören. Die Türe zu Hatschas Büro stand einen Spalt weit offen. Der Gnom schaute herein, konnte jedoch nichts Verdächtiges erkennen. Er arbeitete sich langsam voran und blieb vor der weit geöffneten Tür zu Vinnis Büro stehen. Ein Rascheln ertönte daraus. Die Muskeln des Gnoms spannten sich und er hielt den Bogen schussbereit. Er würde den Überraschungsmoment nutzen und einen Warnschuss abfeuern, nahm er sich vor und zählte ganz leise bis Drei. Eins...Zwei...Drei!
Er drehte sich um und sprang in den Raum hinein, den Bogen angriffsbereit gespannt und rief "Stadtwache! Ergebe dich besser gleich!"
Auf dem Schreibtisch stand ein dunkelbrauner Gnom, der nur aus Runzeln zu bestehen schien und blickte Harry schockiert an. Er ließ das Blatt Papier, das er in den Händen hielt, schnell fallen, nahm einen gut gefüllten Kartoffelsack, der neben ihm gelegen hatte und sprang vom Schreibtisch aus aufs Fensterbrett. Von dort verließ er das Büro durch das geöffnete Fenster. Ein paar Sekunden konnte man den Inhalt des Sacks noch leise Scheppern hören, aber dann war es still. Harry kletterte unbeholfen ebenfalls auf den Sims und schaute nach unten. Aber niemand war auf den Dächern zusehen. Der andere Gnom war schon über alle Berge.
Aber was hatte er hier gewollt? So wie es aussah, musste er irgendetwas gestohlen haben. Harry musste Mückensturm Bescheid geben.

Abends...
Vintongo gähnte. Der restliche Tag war ereignislos und langweilig gewesen. Er war erst in den letzten Minuten seiner Arbeitszeit mit dem Sortieren der Aktenblätter fertig geworden und nicht einmal mehr dazu gekommen, sich das Archiv anzusehen. Gähnend schlenderte er durch die dunklen Straßen. Nach Hause und sofort ins Bett, wollte er. Wobei er ziemlich sicher war, dass Abe noch nicht aufgeräumt hatte. Aber das war ihm jetzt relativ egal. Er war müde und wollte schlafen, Hauptsache sein Bett stand noch. Er bog in die Esoterische Straße ein, ging sie entlang und nickte einer dunklen Gestalt zu, die Pfeife rauchend auf einer kleinen Bank vor ihrem Haus saß und wohl Herr Rasiermich sein mochte.
Der Korporal öffnete die Tür und stieg die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Verwundert blickte er auf seine Wohnungstür. Sie stand sperrangelweit offen. Was war los? Hatte Abe nur vergessen sie zu schließen oder...
Vorsichtig sah er um die Ecke, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Er tappte in die Wohnung schaute sich um. Nichts. Tapire schloss die Tür hinter sich, stellte den leeren Aktenkoffer auf den Boden und ging zu seinem Zimmer. Er stieß die Tür auf und ihm entfuhr sofort einen geschockten Schrei. Auf seinem Bett lag eine blutüberströmte Gestalt. Vinni stolperte zurück und sah sich panisch um. Was war hier los?? Er sah zum Fenster. Es stand offen. Dann blickte er wieder auf den reglosen Körper zurück und näherte sich ihm langsam. Er schaffte es einfach nicht sich an den Anblick von Leichen zu gewöhnen, egal wie viele er zu Gesicht bekam, es war jedes mal aufs Neue wieder ein Schrecken für ihn. Er sah sich die Person genauer an. Eine dunkle Sonnenbrille, ein buntes Hemd, dunkelblonder Bürstenschnitt, das sah genauso aus wie...aber das war unmöglich! Herr Fango war doch mit seinem geerbten Geld verschwunden, um sich irgendwo ein schönes Leben zu machen! Wieso lag er nun tot, mit Schwertstichen und zerschlagenem Gesicht auf Vintongos Bett?! Und wo war Abe? Hatte er damit etwas zu tun oder steckte doch etwas anderes dahinter??
Es war so leise, dass er draußen die Treppen bedrohlich knacken hörte. Der Wächter fuhr sofort herum. was war das gewesen?? Kamen sie jetzt, um ihn auch noch zu holen?
Ein Geräusch direkt neben ihm ließ ihn abermals hochschrecken. Eine kleine Gestalt sprang unter dem Bett hervor und sauste zum Fenster. Ehe Vintongo überhaupt begriff was passierte, war das Wesen auch schon wieder verschwunden und vom Fenster aus nicht mehr zu sehen.
Das war alles zu viel für den Korporal. Hing es etwa mit seinem Fall zusammen?? Aber das konnte nicht sein. Nein. Wie sollte die Anwaltsgilde so schnell davon erfahren haben?! Er hatte doch alles richtig gemacht...oder? Vintongo fluchte, mit für ihn untypischen, harten Worten und verließ das Schlafzimmer. Aufgelöst kramte er in seiner Wohnung nach irgendetwas herum, dass er zur Selbstverteidigung nutzen konnte, fand aber nur einen alten, abgenutzten Besen, den er in die Hände nahm und mit dem er sich vorsichtig hinausschlich. Er stieg die Treppe wieder nach unten und kehrte auf die Straße zurück. Alles war still. Es schien keine unmittelbare Gefahr zu bestehen. Er sah sich um und machte sich dann, mit dem Gefühl beobachtet zu werden, auf den Weg zum Wachhaus am Pseudopolisplatz.

Spät in der Nacht, der Raum ist dunkel. Drei Sessel, zwei davon besetzt.
"Hast du alles wie gewünscht veranlasst?" sagte eine Stimme und zog an ihrer Zigarette.
"Natürlich. Mein Kollege sollte jeden Moment eintreffen und alles bestätigen." antwortete Herr Schräg und senkte den Blick. Er wusste ganz genau wie breit sein Gegenüber in diesem Moment grinste. Sogar er, das Oberhaupt der Anwaltsgilde, stieß manchmal an seine Grenzen. Dies war genau so ein Moment. Der Mann, der in dem anderen Sessel saß hatte noch viel mehr Macht, Einfluss und Möglichkeiten als Schräg und er zeigte es auf eine subtile Weise die den Meisten wohl nicht aufgefallen wäre. Aber für einen erfahrenen Redner und Machthaber wie Schräg war es wie ein glühendes Eisen dass man ihm in die bleiche Haut drückte. Zum Glück klopfte es in diesem Moment an der Tür und Herr Pamphlet trat ein.
"Guten Abend...die Herren." flüsterte er und schnaufte.
"Wurde alles zu unserer Zufriedenheit erledigt?" wollte der Zombie wissen und bemühte sich seine Autorität vor seinem Untergebenen zu wahren.
"Ja, Herr Schräg. Es ist alles erledigt. Neuesten Meldungen zufolge wurden bisher keine Details entdeckt."
"Sehr gut." sagte die andere Stimme und blies eine Rauchwolke durch die Finsternis.
Herr Pamphlet erstarrte. Genau das hatte er vermeiden wollen. Die Klienten sollten ihn nicht kennen, nicht seine Stimme gehört haben, ja sie sollten nicht einmal von seiner Existenz wissen. Falls irgendetwas schief ginge, so würde man ihn dafür zur Raison ziehen. Er hasste sich mittlerweile selbst dafür, dass er der Gilde beigetreten war. Er hatte Frau und Kinder. Warum war er denn nicht irgendwo aufs Land gegangen oder etwas in der Art?
Herr Pamphlet war Realist, er war sich dem Todesurteil schnell bewusst geworden, dass er wahrscheinlich unterschrieben hatte.
"W-werde ich noch gebraucht?" wandte er sich an Schräg.
"Nein, Herr Pamphlet, du kannst jetzt nach Hause gehen.
Verdammt, sogar seinen Namen hatte Schräg ihnen genannt. Vermutlich wurde er ohnehin längst beobachtet. In solchen Kreisen überließ man nichts dem Zufall.
"Auf W-wiedersehen..." stammelte er und verließ den Raum.
Draußen wischte er sich den Schweiß von der Stirn. So konnte es nicht weitergehen. Er musste seine Familie schützen. Noch heute Nacht musste etwas getan werden. Sofort...oder nicht? War er einfach nur paranoid geworden? Egal, sicher war sicher. Er musste seine Frau und seine Kinder schützen. Jetzt.

Nephrit stand am Geländer der Sentimentalen Brücke und grollte traurig. Der Besuch in einer Trollbar war alles andere als gut für ihn verlaufen. Zu spät hatte er sich daran erinnert, dass er gar kein Geld bei sich hatte, um die Drinks zu bezahlen, die er wahllos in sich hineingeschüttet hatte. Was sollte er jetzt tun? Er hatte keine Arbeit, kein Geld, keine Wohnung. Er hatte praktisch gar nichts. Deprimiert stierte er auf die sich unter ihm dahinwälzende Ankhmasse und verzog das Gesicht. Was ich tun soll? Ich nicht mal haben Stein. Für Selbstmord man muss sich Stein an Fuß binden, ich das weiß. Ich kein dummer Troll. Nur armer Troll. dachte er in diesem Moment und es war so als ob plötzlich ein kalter Hauch vorbeistrich und in ihn eindrang. Nicht kalt in der Art wie sie Trolle intelligenter macht, sonst hätte er vermutlich gemerkt, wie sinnlos seine Gedanken waren, sondern ein kaltes, melancholisches Gefühl. Ich niemand haben. Keiner mich mögen, wurde er sich bewusst. Er zog einen Schluss: Ich sein aus Stein.
Vorsichtig lugte er über das Geländer, aber der kalte Hauch verließ ihn zusammen mit dem Mut zum Selbstmord.

Der Korporal hörte ständig Schritte hinter sich. Doch jedes mal, wenn er sich herumdrehte, verstummten sie und niemand war zu sehen. Was war nur los? Was hatte er denn angestellt? Er wusste doch überhaupt nichts! Die Akte des Alchimisten lag uneingesehen im Archiv, sie hatten doch gar keinen Grund ihn zu verfolgen. Aber darauf konnte und wollte er sich nicht verlassen. Die Atmosphäre war einfach zu bedrohlich für Vinni, als dass er hätte ruhig bleiben können. Er wollte in dem Schatten eines alten Hauses Schutz suchen, es war noch ein langer Weg bis zum Wachhaus und er wollte ihn nicht in offenem Gelände gehen. Plötzlich blitzte ein kleiner Dolch vor ihm in der Dunkelheit auf. Panik stieg in ihm auf und geriet mit dem Adrenalin in seinen ganzen Körper.
"Bleib Stehen! Die-" rief eine Stimme, wurde jedoch von einem reflexartigen Schlag auf den Kopf unterbrochen. Vintongo hatte nicht mit dem Besenstiel zuschlagen wollen, aber es war seine einzige Chance gewesen den Verfolgern zu entkommen. Er hatte den Mann glücklicherweise ausschalten können. Rennen hieß es jetzt. Rennen.
Und nachdem die Schritte des Wächters längst verklungen waren, stöhnte eine am Boden liegende Gestalt laut auf.
"Diebesgilde...möchtest du meine Quittung sehen?" beendete er seinen vorhin begonnenen Satz und strich sich über die große Beule auf seiner Stirn.

Armer Steinmann, dachte die junge Frau, die fast keiner sah. Sie hatte seine Gedanken schon von weitem bemerkt, noch bevor sie die große Gestalt mit den Augen gesehen hatte. Nicht zum ersten mal hatte sie festgestellt, dass die Gedanken immer schlimmer wurden, wenn sie sich näherte. Was tat sie denn nur? Sie verstand es nicht. Es schien fast so, als ob sie das Leid über die Leute brachte. Aber wie konnte das sein? Natürlich...die blaue Kälte, die Traurigkeit, die Einsamkeit hüllten sie immer ein, aber...merkten das die Leute etwa?
Sie wanderte durch die Straßen, wie sie es immer tat, jede Nacht. Sie fühlte sich schlecht, wie sie sich immer fühlte, jeden Tag. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, etwas böses getan zu haben, und doch war da die Schuld in ihr, die sie langsam aber unaufhörlich auffraß. Die Frau blieb in einem Hauseingang stehen und sah zu den Sternen empor, die von einer dunklen Wolkenfront verdeckt waren. Und, wie immer in solchen Momenten, fragte sie sich, warum sie hier war.

Irgendwann hatte Vintongo sich dazu entschlossen, nicht ins Wachhaus zu gehen. Es war schon viel zu spät, vermutlich waren nur die Rekruten, die Tresendienst hatten, anwesend. Und diese wollte er nicht mit hineinziehen. Er musste zum Boucherie Rouge. Vielleicht war dort noch jemand anzutreffen. Er hatte die Richtung gewechselt. Schritte hörte er nun nicht mehr, aber er hoffte inständig, dass er einem SEALS begegnen würde, der gerade Nachtschicht schob und Streife ging. Ankh-Morpork war nachts fürchterlich unheimlich, fand der Korporal. Besonders dann, wenn man alleine war und Grund hatte sich zu fürchten. Er ging im Laufschritt, aber es war weit bis zur DOG. Warum könnte sich nicht plötzlich Damiens blasses Gesicht aus den Schatten schälen, oder der immer freundliche Cim Bürstenkinn? Er hasste es, ganz alleine durch die Gassen zu schleichen. Aber er traf niemanden.
Etwa eine Stunde später sah er die magische Leuchtreklame des Boucherie Rouge vor sich auftauchen. Er kam vor dem Gebäude an und betrat es, doch zu seiner Enttäuschung war es völlig still. Sogar im Erdgeschoss, wo das Geschäft der Näherinnen lag, war nichts zu hören und als er nach oben stieg, schien es ihm, dass niemand mehr da war, oder das zumindest alle schliefen. Also betrat Vinni sein Büro und legte sich auf die ausrangierte Matratze die er sich hineingeholt hatte. Morgen würde vielleicht alles weniger beängstigend aussehen. Zumindest würde es dann hell sein.

Eine große Kutsche stand vor dem schönen, alten Haus auf dem sich der Wasserspeier vor kurzem niedergelassen hatte. Der Hausherr scheuchte seine Familie gerade hektisch in das Gefährt hinein. Warum wohl? fragte sich Kantig, der Wasserspeier und sah sich nach einer Taube um.
"Ihr müsst jetzt wirklich gehen!" tönte es herauf. Was der Mann wohl vorhatte? Er wirkte irgendwie nervös und beunruhigt. Vielleicht hatte er eine Affäre oder so etwas.
Widerwillig stiegen die Frau und die beiden Kinder in die Kutsche. Der Hausherr nahm ihr Gepäck und verstaute es.
"Nach Quirm. Zum Anwesen von Lady Pamphlet." rief er dem Kutscher zu. "Ihr werdet Oma besuchen!" wandte er sich an die Kinder und versuchte freundlich zu Lächeln. Dann küsste er seine Frau noch einmal und schloss dann die Kutschentür.
"Los! Los!" wies er den Kutscher an. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und der Mann verharrte so lange an seinem Platz bis es nicht mehr zu sehen war.
Menschen waren seltsam, fand Kantig und schnappte sich eine unvorsichtige Taube.

Drei-Nervöse-Tapire erwachte früh. Es dämmerte gerade und die DOGs schienen entweder noch nicht eingetroffen oder noch nicht aufgestanden zu sein. Verschlafen blickte er aus dem Fenster. Wieso stand es eigentlich offen? Er musste es wohl aufgelassen haben, bevor er gegangen war. Gähnend besah er die beiden Mangos in seiner Obstschale und nahm die, mit weniger Druckstellen heraus.
Er überlegte. Wie lange sollte er noch Zeit damit vertrödeln, in der Anwaltsgilde Akten zu ordnen? Er würde die Sache heute, gleich am zweiten Ermittlungstag, beenden. Das würde ihn nicht nur aus diesem verwirrenden Fall herausbringen, sondern Mückensturm würde stolz auf ihn sein. Vintongo, der die Anwaltsgilde innerhalb von zwei Tagen ausspionierte. Das gefiel ihm. Er strich den Anzug glatt, mit dem er geschlafen hatte, warf die Mango zuversichtlich in die Luft, fing sie wieder auf und machte sich auf den Weg zur Gilde. Doch in der Tür seines Büros blieb er plötzlich stehen. Bei den Göttern! Es lag eine Leiche auf dem Bett in seiner Wohnung...und sie lebte nicht mehr! Wie hatte er das nur vergessen können? Was würden seine Kollegen dazu sagen, wenn bei ihm zuhause ein erschlagener Mann gefunden werden würde?? Würde man vielleicht sogar ihn selbst verdächtigen??? Ankh-Morpork war immer noch schlimm, selbst nach einigen hier verbrachten Jahren.
Nervös griff Vinni sich ein leeres Stück Papier und einen Bleistift. Er kaute ein wenig auf dessen Ende herum und schrieb schließlich: Leiche in Esoterische Straße 28. Bitte untersuchen und Bettuch mit in Wäscherei nehmen, wenn möglich.. Er war sich sicher, dass Larius, oder wen SUSI auch sonst immer hinschicken würde, so freundlich war, das blutige Bettuch mitzunehmen und kurz bei der Wäscherei abzugeben. Zufrieden Bescheid gegeben zu haben, ging er in den ersten Stock hinunter und klemmte den Zettel in den Türspalt zu Pigeons Büro, damit sie ihn sah, wenn sie später die Meldungen durchging.
Vintongo verließ das DOG Quartier in der Morgendämmerung mit dem Gefühl heute, in überdurchschnittlich schneller Zeit, einen großen Fall abzuschließen.

Herr Pamphlet öffnete das Fenster in seinem Büro und sog die kühle Luft ein. Er war früh in die Gilde zurückgekehrt, um zu verhindern, dass Schräg etwas von seiner Unsicherheit mitbekam. Es war ein verdammter Fluch, dass diese stinkende Leiche immer noch herumlief und sich scheinbar einen Spaß daraus zu machen schien, mit den verschiedensten Verschwörern Geschäfte zu machen. Ob Vetinari davon wusste?
Pamphlet kramte eine zerknitterte Zigarettenschachtel heraus und steckte sich eine an.
Natürlich wusste er davon. Aber wie viel wusste er? Die Machtverhältnisse in dieser Stadt waren für Eingeweihte viel undurchsichtiger als für Außenstehende, fand der Anwalt. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und beruhigte sich ein wenig, spürte wie sich die Blutgefäße leicht zusammenzogen. Er sollte sich nicht zu viele Gedanken machen. Wenn er dem alten Schräg treu blieb, dann würde es sich auch bezahlt machen und er müsste nie mit irgendwelchen schlimmen Folgen rechnen. In wenigen Tagen würde das Schlimmste sowieso vorbei sein. Wahrscheinlich würde dieser naive Wächter bald die Akte in die Finger bekommen und sich wegen den spektakulären Dingen, die man dort hineingeschrieben hatte, überschlagen. Er lächelte zynisch. Es war genauso wie Schräg gesagt hatte: Wenn die Hunde erst einmal in den Blutrausch geraten waren, dann fraßen sie alles.

Mückensturm trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Dyn war eben da gewesen und hatte Vinnis Bericht an ihn weitergegeben. Nichts neues, bisher. Aber es war ja auch der erste Ermittlungstag gewesen. Der Fähnrich hoffte inständig, dass Vintongo sich nicht erwischen ließ. Wenn sie ihn entdeckten und es zu einem Prozess kam, dann konnte die Wache schlecht zugeben, dass sie jemanden eingeschleust hatte. Es lag zwar durchaus in ihrem Zuständigkeitsbereich, aber die Gilden sahen es ganz und gar nicht gerne, wenn es wirklich dazu kam. Und selbst Vetinari konnte nicht den Willen des gesamten Gildenrats brechen, wenn es darauf ankam. Der Abteilungsleiter runzelte die Stirn. Es würde schon klappen.

Nicht einmal der unfreundliche Beamte, bei dem Drei-Nervöse-Tapire den Aufnahmeantrag abgegeben hatte, war schon auf seinem Posten. Nur der Pförtner war, wenn auch noch ziemlich verschlafen, schon bei der Arbeit. Als Gildenmitglied, war es für den Korporal jedoch kein Problem gewesen, Einlass zu finden. Und so schlich er nun leise in den Raum, mit den Aktenstapeln, die er gestern aufgetürmt hatte. Er schloss die Türe hinter sich und blickte nervös auf die nächste, hinter der das Archiv zu finden war. Im Gildengebäude war alles still gewesen, was er für ein gutes Zeichen hielt. Wüssten sie, dass er ein verdeckter Ermittler war, so wären sicherlich schon einige Mitglieder anwesend gewesen, um zu verhindern, dass Vintongo mit der Akte entkommen könnte. Natürlich vorrausgesetzt, dass dieses wichtige Dokument sich wirklich hinter dieser Tür befand.
Der Husky öffnete die große, hölzerne Tür und sah sich den Raum dahinter an. Er war länglich und zu beiden Seiten mit großen Regalen gefüllt, an denen kunstvolle, mit Blattgold bemalte Lettern aufgetragen waren. Zielstrebig stellte Tapire sich vor das Regal mit dem "T" und begann zu suchen. "Isaak Tollen" hatte in dem Bericht gestanden und zu seiner Überraschung fand er die richtige Mappe ziemlich schnell. Er merkte, dass hier kaum etwas mit Staub bedeckt war. Entweder wurde das Archiv oft benutzt oder man ließ es täglich reinigen. Wie es auch sein mochte, der Korporal hielt jetzt dieses brisante Dokument in den Händen. Sollte er es gleich lesen und dann wieder ordentlich zurückstellen? Oder sollte er es lieber in seinen kleinen Koffer packen und schnell zur Wache gehen?
Nein, er konnte es nicht auf der Stelle lesen. Wenn plötzlich jemand hereinkommen würde, würde das böse Folgen haben, denn was hatte ein Aktenwälzer hier im Archiv verloren, wenn er nicht gerade Dokumente einsortierte? Er packte die Mappe schnell in den Aktenkoffer, verließ den Raum und kehrte in die Eingangshalle zurück. Dort schien sich immer noch niemand aufzuhalten und so durchquerte er sie und trat auf die Straße. Vintongo blickte sich nervös um, konnte aber niemanden entdecken, der irgendwie verdächtig aussah. Im Laufschritt machte er sich auf den Weg zu Herrn Krautstampfers Gemischtwarenladen.

"Los." sagte Herr Schräg zum Befehlshaber des Observierungsteams und ließ sich in seinen Ohrensessel zurücksinken.

Morgendliche Geschäftigkeit erfüllte die Straßen der Zwillingsstadt. Ungesehen, wie er glaubte, huschte Drei-Nervöse-Tapire durch die Gassen und hielt schließlich vor dem Laden an. Glücklicherweise war schon geöffnet und Herr Krautstampfer stand mit einer Tasse Tee hinter der Theke. Er nickte Vintongo freundlich zu und deutete mit einer Geste auf die Tür zum Hinterzimmer. Der Korporal beeilte sich und trat in das Zimmer ein, wo ihn wieder ein extrem witziger Anblick erwartete. Der Gefreite Dyn Amit lag, selig an einem Schnuller nuckelnd, schlafend auf dem Boden, während die beiden Kinder ihn mit Spielsachen bewarfen. Von Vinnis Lachen wachte der Gefreite langsam auf.
"Mhm-hm-mh?" fragte er verschlafen und rieb sich die Augen.
"Guten Morgen, Gefreiter." grinste Vinni, der froh über die kleine Auflockerung war.
"Hmmh??" Dyn war äußerst überrascht und sprang sofort auf, als er die Anwesenheit seines Vorgesetzten bemerkte.
"Na, gut geschlafen?"
"Mhm, hm." antwortete Amit und salutierte.
"Möchtest du nicht vielleicht den Schnuller aus dem Mund nehmen, Gefreiter?" wollte Vinni wissen und kicherte.
Dyn riss erstaunt die Augen auf und warf den Schnuller in einem plötzlichen Ruck weit von sich. "Sir, äh Vinni, En-Entschuldigung! Es liegt an den-"
"Schon in Ordnung. Ich habe die Akte, Dyn."
"Was?! Jetzt schon??" fragte Dyn fast ein wenig enttäuscht.
"Die Gilde scheint nicht auf uns vorbereitet gewesen zu sein." sagte Tapire und lächelte triumphierend. "Wir haben es geschafft, Dyn! Jetzt müssen wir die Mappe nur noch sicher zu DOG bringen. Ich habe zwar niemanden gesehen, aber sie beobachten mich bestimmt. Als ich heute Nacht zum Pseudopolisplatz wollte, haben sie schon versucht mich zu erledigen!"
"Was!?"
"Ja! Aber ich hatte Glück und konnte entkommen...weißt du, es war wirklich beängstigend nachts durch die halbe Stadt verfolgt zu werden..."
"Das kann ich mir vorstellen, Sir." sagte Dyn und nickte gewissenhaft.
"Pass auf. Wir müssen sie irgendwie austricksen...hast du vielleicht eine Idee?"
"Ähm...könntest du nicht einfach mir die Akte geben? Sie denken doch bestimmt, dass du sie hast."
"Hmm...aber was ist, wenn sie schon davon wissen, dass du hier wartest? Dann wäre es das Naheliegenste dir den Koffer zu geben. Vielleicht erwarten sie das aber schon. Wir müssen ähm, um die Ecke denken und so."
"Oh, ich verstehe..."
"Ich hab's! Ich gebe dir tatsächlich den Koffer."
"Äh, ich dachte wir sollen um die Ecke denken, weil sie genau das erwarten?"
"Das tun wir auch. Ich gebe dir zwar den Koffer, aber nicht die Akte. Die bewahre ich in meinem Anzug auf."
"Sir?"
"Hast du irgendetwas daran nicht verstanden?"
"Nein, aber was ist, wenn sie dich erwischen? Sollten wir die Akte nicht vielleicht vorher lesen um die Informationen dann trotzdem dem Chef weitergeben zu können?"
"Oh...danke Dyn, daran habe ich, ähm, gar nicht gedacht...Na dann lass uns mal sehen..." Der Korporal setzte sich auf den Boden, öffnete den Koffer und holte die Aktenmappe heraus. Die erste Seite enthielt eine Art Obduktionsbericht, ähnlich dem von SUSI. Die zweite Seite, nur ein beigehefteter Zettel, begann mit der Überschrift "Interne Anweisungen".
Diese Akte darf auf keinen Fall in die Hände der Wache geraten. Sie dürfen unter keinen Umständen das letzte Dokument lesen. Die darin enthaltenen Informationen könnten uns den Kopf kosten.
Vinni klappte das Blättchen zur Seite und sah sich die darunter befindliche Seite an. das erste Wort, das ihn förmlich ansprang war "Machtübernahme".
[...]Tollens Rezeptur wird sehr nützlich für uns sein. Wir können sie entweder an den meistbietenden verkaufen, oder für unsere eigenen Zwecke nutzen. Damit wird dem Sturz Vetinaris und unserer Machtübernahme nichts mehr im Wege stehen. Hahaha.[...]
Vintongos Augen weiteten sich. Was sollte das heißen?! Plante die Anwaltsgilde etwa eine Art Revolution??
"Dyn!" rief er aufgebracht, "Es ist unglaublich, was hier steht!"
"Was steht denn in der Akte?"
"Die Anwaltsgilde will die Macht in der Stadt übernehmen! Das ist ja unfassbar!" Und er las weiter.
[...]und wir werden die Wache kontrollieren. Ein neuer Kommandeur muss her, damit wir die Bürger ausspionieren und überwachen können. Wir werden alle Gesetze machen, die wir brauchen. Haha.[...]
Der Korporal war schockiert. Worauf war er hier gestoßen?? Etwa so Ungeheuerliches durfte nicht länger verschwiegen werden. Er sprang auf und wollte gerade überstürzt aus dem Zimmer eilen, als es drüben im Laden laut krachte.
"Sie sind hier!" kreischte Dyn und blickte sich panisch nach einem Fluchtweg um.
Vintongos Augen flogen hin und her, während er die Mappe zurück in den Koffer packte. "Da!" schrie er und deutet auf das Fenster. "Wir müssen hier weg!"
Gefolgt von Dyn Amit stieg er schnellstens aus dem Fenster und merkte dabei überhaupt nicht, dass er den Plan von Schrägs Klienten vollkommen erfüllte. Die Schlinge, die sich um seinen Hals gelegt hatte, wurde nun zugezogen.

Nach nur wenigen Metern, wurde Tapire von zwei muskulösen, dunkel gekleideten Männern überwältigt und gefesselt. Dyn konnte, oder ließ man, entkommen, aber ohne die Akte.

Hauptgefreite Pigeon hatte sich über die unsauber hingekritzelte Notiz, die an ihrer Bürotüre gehangen hatte, sehr gewundert. Hatte man denn auf einmal nicht mal mehr die Zeit, so etwas persönlich abzugeben, oder war man sich schon zu fein dafür? Murrend leitete sie die Mitteilung über eine Leiche in der esoterischen Straße an SUSI weiter. Sollten die sich darum kümmern, und den Tatort untersuchen.

Zwei Stunden später.
"Verfluchter Mist!" brüllte Kommandeur Rince, nachdem Mückensturm ihm alles erzählt hatte, was Dyn ihm von Vintongo ausgerichtet hatte. "Was sollen wir jetzt tun?!"
"Ich habe keinen blassen Schimmer, Sir." gab Mücke ehrlich zu und schlug verärgert seine Faust auf den Tisch.
"Selbst wenn das, was in dieser Akte steht, stimmen sollte, können wir das der Gilde schlecht, wohl eher gar nicht vorwerfen...verdammte Gilden!"
"Das Schlimmste ist, dass wir uns sofort etwas einfallen lassen müssen. In der Mitteilung von Schräg stand, dass die Verhandlung heute Abend um Sechs stattfindet."
"WAS?! Seit wann werden in Ankh-Morpork Gerichtsverhandlungen so schnell eingeleitet?!? Die müssen das alles arrangiert haben und sich schon einen Richter ausgesucht haben! Es ist ein verdammtes Komplott.... Ich glaube, sie haben dem Korporal da ein ganz übles Ei ins Nest gelegt. Die würden doch niemals solche Dinge in einer völlig normalen Akte stehen lassen!"
"Das dachte ich auch, Sir. Aber ich glaube nicht, dass wir Vinni vor dem Prozess noch sprechen dürfen. Er wird vor Gericht wohl diesen ganzen Kram erzählen und-"
"Den Fall somit aussichtslos und uns zum Gespött machen! Vetinari wird keine andere Wahl bleiben, als dem Urteil zuzustimmen...wie auch immer es ausfallen mag."
"Kann man ihn denn überhaupt verurteilen? Ich meine, er hat nur auf Befehl von mir gehandelt. Und schließlich hast du die Operation nach Absprache mit Tricia und Pis angeordnet."
"Hmm...entweder wird es nur dabei bleiben, dass die Wache lächerlich gemacht wird oder sie hängen dem armen Kerl noch sonst was an...wer ist überhaupt der Anklagevertreter?"
"Herr Schräg persönlich."
Der Kommandeur zischte wütend. Es war wohl bereits zu spät. Warum passierten solche Dinge immer Schlag auf Schlag in wenigen Stunden??

Abends dann, nachdem man ihn in einem alten Rumpelzimmer eingesperrt hatte, wurde Vintongo von zwei Gerichtsdienern abgeführt. Auf seine Frage, was nun mit ihm geschehen würde, bekam er die Antwort, dass nun der Gerechtigkeit genüge getan werde. Ein Prozess gegen ihn wurde nun abgehalten. Aber warum? Er hatte doch nichts unrechtes getan! Und seit wann gab es ein so schnelles Gericht in der Stadt? Er hatte in seinem gesamten Wächterdasein noch nie in irgendeinem Prozess aussagen müssen. Aber das half ihm jetzt auch nichts mehr. Er würde vor Gericht einfach die Wahrheit erzählen und man würde der Anwaltsgilde das Handwerk legen. So musste es sein, denn wenn der Patrizier von den Plänen hörte, dann würde er sicher nicht zulassen, dass sie in die Tat umgesetzt werden würden.

Der Gerichtssaal füllte sich allmählich. Die Geschworenen, die Zuschauer, die Gerichtsdiener und Schreiber waren schon alle anwesend und in diesem Moment betrat der Richter den Saal.
"Erheben sie sich nun. Der ehrenwerte Richter Kratzbaum betritt nun den Saal." Die Leute standen von ihren Sitzen auf, während der stattliche Mann mit der weißen Perücke zu seinem Pult schritt. Die harten, fast kantigen Gesichtszüge des Richters ließen nicht gerade auf Milde schließen. Kommandeur Rince und Mückensturm saßen in den Zuschauerreihen, da man dem Korporal keinen Verteidiger zugestanden hatte.
Richter Kratzbaum nahm nun Platz und schlug mit seinem Hammer auf den Tisch. "Ruhe im Gerichtssaal. Die Gerichtsdiener sollen jetzt den Angeklagten hereinführen." donnerte er.
Die Pforte wurde geöffnete und zwei bullige Männer schleppten Vintongo herein. Rinces und Mückes Blicke verfinsterten sich. Die Gerichtsdiener bugsierten den Wächter auf einen großen, hölzernen Sitz und blieben zur Sicherheit in der Nähe stehen.
"Drei-Nervöse-Tapire Vintongo. Wohnhaft in der Esoterischen Straße 28. Beruf: Wächter?" fragte der Richter und kräuselte bei Vintongos Anblick die Stirn. Dieser nickte nur. Er war, trotz seiner dunklen Hautfarbe ziemlich blass.
"Du wirst angeklagt wegen unrechtmäßigen Eindringens in die Anwaltsgilde und Entwendung wichtiger Dokumente sowie zweifachem Mord-"
"WAS!?!" entfuhr es Kommandeur Rince. Vintongo war zusammengezuckt und starrte voller Angst in den großen Saal.
"Ruhe im Gerichtssaal!!" polterte Kratzbaum und schlug so fest mit seinem Hammer auf den Tisch, dass ein großer Sprung in dem polierten Holz entstand. Rince atmete tief durch. Das war es also, was sie ihm noch anhängen würden. Armer Kerl.
"Wegen zweifachem Mord," fuhr der Richter fort, "An dem Alchimisten Isaak Tollen-" Sofort brach bestürztes Murmeln im Saal aus, doch Richter Kratzbaum beendete es sofort indem er mit dem Gerichtshammer wiederum auf den Tisch eindrosch. "An dem Alchimisten Isaak Tollen und deinem Vermieter Electhis Fango."
Welten brachen für Tapire zusammen. Was warf man ihm da vor?! Er sollte den Alchimisten, in dessen Fall er ermittelte, und Herrn Fango, dessen Leiche er blutüberströmt auf seinem Bett gefunden hatte, getötet haben?? Worauf hatte er sich da nur eingelassen?! Mit der Anwaltsgilde war, das zeigte sich ihm gerade in aller Deutlichkeit, keinesfalls zu spaßen.
"Ich gebe nun das Wort an die Anklage ab."
Der bisher unbeachtete Herr Schräg erhob sich und lächelte ein trockenes Lächeln. "Danke, euer Ehren. Ich möchte gleich, ohne Umschweife, zur Beweisführung übergehen, damit man Herrn Tapire für seine grässlichen Verbrechen so bald wie möglich bestrafen kann. In der Gilde fiel er uns zuerst durch sein seltsames Antragsformular auf, woraufhin wir ihn, wie jeder gewissenhafte Arbeitgeber, im Auge behalten haben. Seine Aufgabe war es, alte Akten zu ordnen und zu archivieren. Mehrere Gildenmitglieder beobachteten ihn dabei, wie er Herr Tollens Akte entwendete. Zuerst dachten wir, es sei eine autorisierte Aktion der Stadtwache, doch dies kann ausgeschlossen werden. Schließlich wusste die Wache von der einstweiligen Verfügung, die ihr das weitere Ermitteln in diesem Fall untersagte." Der Zombie sah zu Kommandeur Rince und grinste ihn an. Der Kommandeur wäre am liebsten aufgestanden und hätte dem Anwalt den Kopf abgerissen, wusste aber, dass dies nicht machbar war.
"Es gibt, wie gesagt, mehrere Zeugen für den Diebstahl, die im übrigen bereits vereidigt und vernommen wurden und deren unterschriebene Aussagen auf eurem Pult bereit liegen, euer Ehren."
Der Richter blickte kurz auf ein Blatt Papier und nickte dann streng.
"Lasst mich nun zu den beiden Mordfällen kommen, euer Ehren. Hierzu möchte ich zunächst Kommandeur Rince von der Stadtwache in den Zeugenstand rufen."
Rince blickte sich verwundert um. Was trieb dieser verdammte Paragraphenreiter nur für ein Spiel? Widerwillig erhob sich der Kommandeur und nahm auf einem Stuhl neben dem Richterpult platz.
"Gerichtsdiener? Beweisstück A soll nun vorgeführt werden." Einer der Angesprochenen griff in einen großen Sack und holte ein vergilbten Stern aus Messing daraus hervor, auf dem das Wappen der Stadtwache nebst der Eule von Ankh abgebildet war und hielt es Rince hin, welcher die Dienstmarke entgegennahm.
"Herr Kommandeur," begann Schräg, "ist dies eine Dienstmarke der Stadtwache von Ankh-Morpork?"
Rince nickte.
"Und ist die auf der Rückseite eingravierte Dienstnummer, die des Angeklagten?"
Der Kommandeur drehte die Marke um. Er kannte die Dienstnummern nicht auswendig, aber er war sich sicher, dass der Zombie jemanden beauftragt hatte sie zu stehlen. Natürlich war es die Richtige. Er nickte nur betroffen.
"Nun, diese Dienstmarke fanden Gildeninspektoren in Herrn Tollens Arbeitsstätte, dort wo er ermordet wurde. Nun frage ich dich, Kommandeur, ob es den Tatsachen entspricht, dass die Abteilung des Angeklagten bei der Untersuchung des Tatortes nicht anwesend war, da dies nicht in ihrem Kompetenzbereich liegt."
"Das stimmt."
"Meinen Informationen zufolge war dies Aufgabe der Abteilung 'Suchen und Sichern' und nicht der 'Dienststelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten', welcher Herr Tapire angehört, nicht wahr?"
Wieder nickte Rince und unterdrückte ein Knurren.
"Also hatte der Angeklagte keinen offensichtlichen Grund den Tatort aufzusuchen, speziell nachdem der Wache mitgeteilt wurde, dass der Schuppen nun Sperrgebiet war. Dies wirft die Frage auf, was der Korporal dort wollte? Nach eingehenden Überlegungen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die Dienstmarke schon vorher an den Ort gelangte. Nämlich in der Nacht, als Herr Tapire den Alchimisten Isaak Tollen ermorderte!"
Ein unheilvolles Raunen ging durch den Saal und Vintongo quiekte ängstlich. Er wusste, es war längst zu spät. Längst.
"Erkläre wie du zu diesem Schluss gekommen bist, Herr Schräg." forderte Richter Kratzbaum.
"Die Tatwaffe, ein Dolch, angefertigt von Nietengürtels Waffenschmiede, Sirupminenstraße 32, wurde in der Wohnung des Angeklagten gefunden. Die Waffe war unter dem Bett versteckt, auf dem sich die Leiche seines Vermieters, Herr Fango, befand. Dieser starb ebenfalls an schweren Stichverletzungen."
"Einspruch euer Ehren!" rief Kommandeur Rince plötzlich. Hah! Schrägs Plädoyer war eben doch nicht völlig wasserdicht.
"Stattgegeben."
"Der Obduktionsbericht meiner Leute ergab aber, dass Isaak Tollen nicht an den Dolchstichen verstorben ist. Unserem Gerichtsmediziner zufolge starb er an Herzversagen!"
"Angesichts der Tatsache dass der Angeklagte ein Mitglied der Wache ist, verlässt sich das Gericht lieber auf das Urteil eines unabhängigen Gerichtsmediziners, welches besagt, dass der Herzstillstand durch die Dolchstiche ausgelöst wurde." sagte der Richter und schlug abermals mit dem Hammer zu. "Fahren sie bitte fort, Herr Schräg."
Diese Schweine, dachte der Kommandeur. Sie haben den Richter geschmiert.
"Ich entlasse den Kommandeur nun aus dem Zeugenstand." lächelte Schräg. "Nun, euer Ehren, um auf den Mord an Herrn Fango zurückzukommen. Er war vor einiger Zeit auf Reisen gegangen und hatte dem Angeklagten seine Wohnung für diese Zeit freundlicherweise ohne Miete überlassen. Es steht fest, dass Herr Tapire nicht über die Rückkehr seines Vermieters erfreut war. Er brachte ihn ebenfalls um und zwar aus kapitalistischen Gründen. Die Beweislage ist in allen drei Fällen so deutlich, dass ich nicht mehr zu sagen brauche." Der Zombie nahm wieder Platz.
"Nun gut. Herr Tapire? Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?"
Vinni schluckte und holte Luft. "Ich...ich bin es nicht gewesen!" rief er. Jetzt oder nie. Er musste dem Richter erzählen, was die Gilde vorhatte. "Ich habe die Akte, entwendet, ja. Aber nur für die Stadt! Die Anwaltsgilde plant eine Verschwörung. Isaak Tollen hat irgendetwas erfunden, dass ihnen bei der Machtübernahme helfen soll! Sie wollen den Patrizier stürzen!!" redete er sich in einen Wahn hinein. "Das Schicksal Ankh-Morporks steht auf dem Spiel! Lord Vetinari muss sie aufhalten! Herr Schräg ist der Übeltäter! Ihn muss man einsperren, nicht mich! Ich bin der Gute!!!"
Stille machte sich im Saal breit und explodierte dann in lautem Gelächter. Mückensturm und Rince sahen bedrückt zu Boden.
"Ruhe im Gerichtssaal!" polterte Kratzbaum. "Ist dies dein voller Ernst, Herr Tapire?" fragte er nachdrucksvoll.
"Ja!! Die Anwaltsgilde will die Macht übernehmen! Es ist eine Verschwörung! Und ich bin das Opfer!!" kreischte Vintongo. Seine Augen waren leer. Er wusste nicht mehr, was genau er da von sich gab.
"Offenbar ist Herr Tapires Geisteszustand nicht angemessen. Dies muss leider in das Urteil mit einfließen. Ich bitte die Geschworenen nun sich zurückzuziehen und zu beraten."

Etwa zwanzig Minuten später ging die Verhandlung weiter. Schräg hatte sein widerlichstes Grinsen aufgesetzt, als er in den Gerichtssaal zurückkam. Rince hatte draußen eine Zigarette nach der anderen geraucht. Er hasste es, wenn das Gesetz übergangen wurde. Mit einem donnernden Hammerschlag beendete Richter Kratzbaum das allgemeine Gemurmel.
"Ich bitte nun die Geschworenen ihr Urteil vorzutragen."
Ein kleiner, schmieriger Mann stand auf und ergriff das Wort. "Wir haben einstimmig beschlossen, dass aufgrund der hohen Beweislast und der psychischen Probleme an denen Herr Tapire leidet, der Fall ziemlich klar ist. Der Angeklagte ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und muss daher für schuldig befunden werden.." trug er vor und setzte sich wieder.
"Vielen Dank. Das Gericht stimmt mit den Geschworenen überein. Aufgrund der Kapitalverbrechen, die Herr Tapire verübt hat und aufgrund seines Verfolgungswahns lautet das Urteil schuldig. Schuldig. Ich verurteile den Angeklagten hiermit zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe im Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe des Ortes Nirgendwo, außerhalb der Stadt, nahe der Morporkberge, wo dem Angeklagten auch eine psychologische Betreuung zu Teil werden soll. Die Kosten des Verfahrens werden aus Besitz von Herrn Tapire und, falls dieser nicht ausreichen sollte, von der Stadtwache getilgt. Die Verhandlung wird geschlossen." Ein weiterer Hammerschlag hallte durch den Raum...und noch tagelang durch Vintongos Kopf.

Einen Tag später...
Man musste den Verschwörern einen gewissen Freiraum lassen, wenn man vermeiden wollte, dass sie zu harten Mitteln griffen. Aber der Bogen war überspannt, das Fass übergelaufen.
"Drumknott." klang es aus dem Rechteckigen Büro. Der Sekretär betrat den Raum.
"Ja, Herr?"
"Arrangiere ein Treffen mit der Wache...und mit Herrn Pamphlet von der Anwaltsgilde."
"Sehr wohl." antwortete Drumknott und verließ den Raum.
Diesmal waren sie zu weit gegangen, außerdem war es interessant herauszufinden was genau sie planten und was erfunden war.
Lord Vetinari, Patrizier von Ankh-Morpork griff nach seinem Federhalter und tauchte ihn in das Tintenfass.

Irgendwo. Irgendwann.
...Tropf...Tropf...Tropf...
Schmerzen. Es tut weh.
...Tropf...Tropf...Tropf...
Wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen?
...Tropf...Tropf...Tropf...
Ich blute. Es schmeckt nach Blut.
...Tropf...Tropf...Tropf...
Ich weiß wer ich bin. Ich bin der Gute. Warum bin ich hier?
...Tropf...Tropf...Tropf...
Die Schmerzen. Es geht nicht. Noch nicht.
...Tropf...Tropf...Tropf...


Der Regen spielte ein gluckerndes Stakkato auf seinen Klaviertasten, den schmutzigen, blutigen Pflastersteinen von Ankh-Morpork und wurde von der heulenden Sopranstimme des Windes unterstützt. Und dazwischen, ungesehen von allen, stand eine traurige, junge Frau mit flatterndem, triefendem Haar. Sie war traurig. Und einsam. Sie verstand nicht, warum der junge Mann eingesperrt worden war und warum der Wissenschaftler getötet worden war. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Es wurde blau in Ankh-Morpork. Dunkelblau.

Ende des ersten Teils.



[1] Entnommen aus "Giftgasforschung" von W. Borchert. Ich entschuldige mich an dieser Stelle für das Plagiat, aber es passte so gut in die Geschichte, dass ich nicht darauf verzichten wollte es mit einzubeziehen. Lasst diesen Absatz also nicht in die Bewertung mit einfließen. Und wenn doch, dann bitte negativ.




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