Bisher hat keiner bewertet.
Für Rekruten (erste Mission):
Du schaffst eine Aufgabe deiner Ausbildung einfach nicht. Du brauchst dringend Hilfe, nur von wem?
Dafür vergebene Note: 15
Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist man's ungewohnt und es geht darum wie geschmiert. Aber dann wird's schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.
(Karl Kraus)
Das Netz der Spinne
Anmerkung:
Leider war es mir nicht möglich die Länge der Single-Mission auf ein annehmbares Maß zu schrauben. Ich bitte, um Verständnis und besonders darum die Geschichte nicht nach der Länge zu beurteilen oder das in die Beurteilung mit einfließen zu lassen. Bei einem Buch ist die Länge ja auch kein Kriterium. Und noch ein Wort an die Rekruten:
Nein, das ist nicht Standard, ich habe es nur leider nicht geschafft den Leitfaden für die Debüt Single zu befolgen, obwohl der Wille durchaus da war. Vielleicht habt ihr da mehr Erfolg.
Danksagung:
Solch ein Mammut Projekt ohne hilfreiche Unterstützung wäre gar nicht denkbar gewesen. Deshalb danke ich besonders dem Wortspalter und Säbelrassler Vinni, ebenso Cim und Sidney für ihr Korrekturlesen. Und natürlich Dae, der mit vielen wertvollen Hinweisen die Darstellung des zweiten Hauptcharakters überhaupt erst möglich gemacht hat, auch wenn sie natürlich nur eine Interpretation Thymians bleibt.
***Die Vorgeschichte***
Es war ein ausgesprochen schöner Tag in Ankh-Morpork, man konnte wirklich von Glück reden, dass das Wetter so gut war. Die Sonne schien auf die Stadt hernieder, keine Wolke weit und breit am Himmel. Im Entgegengesetzten Breiten Weg war ausgelassenes Lachen und Scherzen zu hören, das aus einem großen Gebäudekomplex drang. Schüler gingen ein und aus, fröhliche Stimmen erklangen. Nur einige Schritte daneben drang düstere unheilsvolle Stille aus allen Poren der alten Gildenmauern. Humor ist eine ernste Angelegenheit...
In diesem Moment schwangen die großen Torflügel der Narrengilde auf und gaben den Blick frei auf eine bemitleidenswerte Gestalt. Eingerahmt von den zwei Torpfosten stand dort ein junger, schmächtiger Narr. Er hatte eine bunte Hemdbluse an, die über und über mit Glöckchen besetzt war, passend dazu eine geschmacklose weite karierte Hose, übergroße rote, vorn spitz zulaufende Schuhe mit zwei Glöckchen dran und dazu einen albernen, zerknickten Hut mit weiteren Glocken. Gerade schob sich ein weiterer, sehr ernst dreinblickender Clown in das Sichtfeld. Er riss dem Narr eine Gumminase vom Gesicht und schmiss sie erzürnt zu Boden.
"Und lass dich hier nie wieder blicken! Solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen!" Der Clown holte mit seinen überlangen Stiefeln aus und wollte den Rauswurf aus der Gilde nicht nur bei einem metaphorischen Rausschmiss belassen. Unglücklicherweise rutschte er plötzlich auf einer Bananenschale aus, verfehlte den jungen Narr knapp und ging vom Schwung mitgerissen spektakulär zu Boden.
"Die Lustigen Burschen sollen dich holen!", fluchte der Clown erbost und so verließ der Narr ohne bleibenden Eindruck eines Stiefels die Narrengilde. Er trat auf die Straße und war frei.
Solche wie dich, hatte Bruder Kakao gesagt. Ja, solche wie er. Was konnte er denn dafür? Hatte er drum gebeten ständig Glück zu haben? Der Narr hüpfte in einer linkischen Art und Weise durch die Straßen, bis ihm nach einer Weile wieder einfiel, dass er gar kein Narr mehr war. Er brauchte nicht mehr zu hüpfen, er brauchte keine Witze mehr zu reißen, kein pflichtbewusstes Lachen mehr, keine Tortenschlachten, keine Clownsschminke mehr. Er lachte laut auf, erschrak über sich selbst und lachte dann wieder. Seine Gangart wechselte zu trottenden bis daherschlurfenden Schritten, auch wenn er ab und zu noch das unnatürliche Bedürfnis hatte erneut zu hüpfen.
Nein, er war nicht länger mehr der Narr, er war wieder Thymian Pech. Er zog an einem der Glöckchen und riss es zögernd ab. Mit einem misstönendem Schellen traf es auf das Kopfsteinpflaster und kullerte in die Gosse zu dem anderen Abfall. Frei.
Frei.
Frei!
Frei...
"He, Jungchen, du hast was von deinem Kostüm verloren." Ein Mann griff ihm an die Schulter und drehte ihn herum. Mit dreckigen Fingern hielt er ein ebenso verschmutztes Glöckchen vor Thymians Gesicht.
"Danke..", murmelte dieser und nahm rasch die kleine Glocke wieder an sich.
"Da hast du aber Glück, dass ich das gesehen hab."
"Ja, hab ich wohl.", erwiderte Thymian leise. Der Mann schärfte ihm noch ein, dass er beim nächsten Mal besser aufpassen solle und Thymian steckte die Glocke rasch in seine Tasche und beeilte sich weiterzukommen. Nach einigen Minuten bemerkte er, dass er wieder zu hüpfen begonnen hatte.
Von der Narrengilde aus ging er durch Ankh-Morpork und überlegte wie er den Rausschmiss nur seinem Onkel beichten solle. Solange er schon denken konnte, lebte er bei Onkel Jesko, der ihn am Anfang seiner Kindheit zur Narrengilde geschleift und ihn mit einigen Worten abgesetzt hatte, die Thymian selbst mit seinen jungen Jahren nie vergessen hatte.
"Der Knabe hat zu viel Glück im Leib, treibt ihm das aus, das ist nicht gut für ihn."
Thymian seufzte. Wenn er so viel Glück hatte, warum ging dann so was immer schief? Warum war er dann nicht schon längst Oberhaupt der Narrengilde oder reich und angesehen? In diesen Gedanken versunken stolperte er über einen Ring, der zwischen den Ritzen der Pflastersteine steckte, hob ihn auf und betrachtete ihn. Ein Diamant. War ja klar gewesen. Den könnte er vielleicht seinem Onkel zur Besänftigung-
Neben ihm hustete jemand. Dann tastete eine mit Lumpen umwickelte Hand an Thymians Ärmel entlang. Thymian nickte dem Bettler zu, der offensichtlich in die Kategorie Zitterer gehörte. Mittlerweile kannte der ehemalige Narr die einzelnen Arten von Bettler, immerhin hatte er schon genügend getroffen. Sie schienen instinktiv zu wissen, wann Thymian etwas Wertvolles gefunden hatte. Vielleicht krochen sie auch verborgen im Schatten hinter ihm her und lauerten auf ihre Chance. Er wusste es nicht, denn das Gefühl von bohrenden und stechenden Augen in seinem Nacken kannte er von der Narrengilde nur zu gut und hatte sich dementsprechend daran gewöhnt.
Der Mann neben ihm hustete wieder und streckte seine zitternde Hand, zu einer Klaue verkrampft aus, während die andere Hand mit einem von altem Blut getränktem Verband weiter über seinen Arm wanderte. Thymian blickte auf den Verband.
"Hast du dich verletzt? Geht's dir nicht gut?", fragte er besorgt. Der Mann beschränkte sich auf ein besonders qualvolles Husten.
"Ich hab leider nicht so viel bei mir, aber den Ring hier, den hab ich grad gefunden. Es ist zwar nicht viel, doch vielleicht kannst du damit den Arzt bezahlen.", redete Thymian weiter. Der Ring fiel in die ausgestreckte Hand, die sich sofort zusammenkrallte und die Beute fest umschlossen. Humpelnd schlich der Bettler in eine dunkle Ecke zurück und hustete noch einmal.
Thymian betrat die Weilandgasse, die in der Nähe des Mittwärtigen Tores lag. Nach einigen Schritten kam er zu einer Kneipe, die sich perfekt in die restliche Umgebung einfügte. Es reichte ein einziges Wort zur Beschreibung dieser.. Gastlichkeit. Schäbig. Ja, das war sie, aber sie war auch Thymians Herkunft. Hoffte er. Zwischen all den Prüfungen, gepaukten Witzen und dem harten Lernen war nicht viel Zeit geblieben Onkel Jesko oft zu besuchen. Thymian erinnerte sich an einen fettleibigen, großen Mann mit einem dunklen Drei Tage Bart, der immer hinter der Theke gestanden und in schäbigen Gläsern noch schäbigeres Bier ausgeschenkt hatte.
Thymian Pech ging auf die kleine Tür zu und betrachtete das Schild, das oben drüber an einem rostigen Eisenhaken angebracht war. Jemand hatte das Holz zur Hälfte abgeschlagen und so war in fast verblichenen Buchstaben nur noch "Zum" zu erkennen. Das wusste Thymian. Er wusste, dass da Zum stand, schließlich hatte sein Onkel es ihm oft genug erzählt und auch, dass niemand mehr den ganzen Namen der Kneipe kannte. Zögernd ging die Hand des jungen Mannes zum abgewetzten Türgriff. Sollte er wirklich? Onkel Jesko würde nicht sehr erfreut sein von diesen Neuigkeiten zu hören. Außerdem war das "Zum" eine Art schäbiger Auffangbehälter für alle Möchtegern Barbaren aus Sto Lat und Umgebung, wie Jesko sie immer nannte. Thymian erinnerte sich an durchwachte Nächte in denen er wegen lautem Grölen und Schlägereien nie ein Auge zu getan hatte. Angst und Lautstärke hielten ihn wach. Nun, in der Narrengilde hatte er auch nie lange schlafen können, aber abgesehen von den in Kissen erdrückten Schluchzern war es ruhig gewesen.
Er atmete noch einmal tief durch, seine Glöckchen schellten leise durch die Bewegung, er rückte den Hut zurecht und öffnete dann die Türe. Drinnen schlug ihm sofort warme, schlechte Luft entgegen, doch sie war nicht viel besser als die mit Ankh Geruch durchtränkte Luft draußen. Hinter den Tresen stand sein Onkel und wischte mit einem schäbigen Lappen über das alte raue Holz. Irgendwo in einer Ecke schlief ein Barbar seinen Rausch aus.
"Ach, was für ein Glück, dass du da bist, Junge!", rief da plötzlich Jesko aus. Er klappte die Abtrennung beiseite und kam zum Thymian. Ein kräftiger Klaps auf den Rücken trieb ihm erst einmal die Luft aus den Lungen und gab seinen Onkel Gelegenheit über ungespülte Gläser und allgemeiner Unordnung zu reden.
"-und da hab ich eben an dich gedacht und was das für ein Glück wär, wenn du nun hier wärest.", schloss Onkel Jesko, als Thymian wieder Atem schöpfen konnte.
"Ich.. ich.. bin aus der Gilde geflogen.", beichtete er, kniff die Augen zusammen und wartete auf ein Donnerwetter.
"Jaja, das interessiert doch nun mal keinen. Hol die alten Gläser aus dem Lager, letzte Nacht ist einiges zu Bruch gegangen. Und die Gläser spülst du dann hinten am Brunnen und dann kommst du wieder zurück und ich hab noch so einige andere Dinge, die erledigt werden müssten.", erwiderte darauf sein Onkel nur und achtete nicht auf Thymians Versuche, ihm klarzumachen was vorgefallen war. "Was für ein Glück, dass du hier bist.", wiederholte Jesko noch einmal. Thymian seufzte leise. Eine Standpauke hatte er zwar nicht bekommen, aber so langsam schien es ihm, dass alle um ihn herum mehr Glück hatten. Er nickte seinem Onkel zu und wollte soeben zum Lagerraum, als sich die Türe öffnete und eine große Gesellschaft an Wichteln hereinkam.
"Jawohl, jawohl, du hast gewonnen!", krähte der erste Wichtel.
"Häh? Gewonnen? Was?", fragte Onkel Jesko verständnislos zurück.
"Heute werden all deine Wünsche erfüllt. Dies ist eine Gratisprobe, wir bringen auch dein Haus auf Vordermann! Die Firma Heinzel&Co verschenkt eine kostenlose Gratisprobe, um ihr Können unter Beweis zu stellen. Die Wahl fiel auf diese Straße. Also, wo sollen wir anfangen?", fragte der Wichtel und sah sich prüfend um. Hinter ihm drängten weitere rote Zipfelmützen mit Wichteln darunter in die Kneipe.
"Mit was anfangen?", fragte Jesko wieder zurück.
"Äh, es gibt da einige Gläser, die geputzt werden müssten.", mischte sich Thymian leise ein. "Und äh mein Onkel hat sicher noch mehr Aufgaben. Das wird eine richtige ähm Herausforderung für euch.", stotterte er herum und blickte abwechselnd zu seinem Onkel und dann wieder zu den Wichteln.
"Oh klasse, wir lieben Herausforderungen!", rief der Wichtel begeistert aus und klatschte in die Hände. Thymian lächelte. Das Glück ließ ihn also doch nicht im Stich, doch da fiel sein Blick auf Onkel Jesko, der ihn kritisch beäugte und Thymian beschloss rasch sein altes Zimmer aufzusuchen.
Wie sich herausstellte war sein altes Zimmer zu einer Besenkammer umfunktioniert worden. In der hintersten Ecke stand, beladen mit allerlei Gerümpel, sein altes kleines Bett. Thymian räumte es frei, setzte sich darauf und ein leises Quietschen der rostigen Federn erklang. Zu Hause. Er sah sich in der trostlosen Kammer um und hätte Heulen können.
Es verging eine ganze Woche in der Thymian mit viel Glück weiteren Aufgaben seines Onkels entkam, bis irgendwann die Türe zur Besenkammer aufgerissen wurde, Jesko hereinstapfte, ihn am Kragen packte und durch die Kneipe schleifte.
"So, ich ertrage dein ständiges Glück um mich nicht mehr, du kriegst jetzt ne neue Arbeit, dann bist du mir wenigstens eine zeitlang aus den Augen.", brummelte er, während sie durch die Straßen gingen und Thymian mehr schlecht als recht hinterher stolperte. Sie gelangten zu einem großen Plakat an einer Wand, Thymians Nase wurde davor gedrückt und er betrachtete die Buchstaben darauf.
"Siehst du was da steht, hm?", fragte sein Onkel und Thymian nickte. Er sah, dass etwas dort stand, aber wieder machte sich sein Problem schmerzlich bemerkbar. Er konnte weder lesen noch schreiben und so blieb die Ansammlung von Buchstaben nur eine bloße Ansammlung, die keinen Sinn für ihn ergab. Onkel Jesko tippte mit seinem Finger auf das Plakat.
"Da gehst du jetzt hin, Bursche. Es sind zwar miese Typen, aber ich hab gehört, die brauchen jeden. Auch so einen Taugenichts wie du es einer bist."
"Ich würde aber gern mein Glück bei der Spielergilde versuchen..", wand Thymian kleinlaut ein. Sein Onkel sah ihn scharf an.
"Bei der Spielergilde? Junge, da wärst du schneller tot, als ich Zum sagen könnte. Nene, du weißt doch, was man sagt." Er hob andächtig den Zeigefinger empor. "Das Glück ist nur mit dem Tüchtigen!" Neben ihm seufzte der ehemalige Narr, den Spruch hatte er schon zu oft gehört. "Also.", redete sein Onkel weiter. "Diese Leute leben in zwei heruntergekommenen Häusern, sind üble Halunken, Besserwisser und bereiten einem meist nur Ärger, aber vielleicht lernst du was bei ihnen. Wenigstens verkriechst du dich dann nicht den ganzen Tag in der Kammer und bist mir ständig im Weg. Abgesehen davon haben diese Gauner die Aufgabe uns ehrbaren Leuten das Leben schwer zu machen, doch da kriegst du mal was Mumm in die Knochen." Er tippte hart gegen Thymians Brust und dieser nickte nur rasch und fragte sich immer noch, wen sein Onkel nun meinte. Sicher stand das auf dem Plakat, aber nach dem, was Onkel Jesko gesagt hatte, schienen das Verbrecher übelster Sorte zu sein.
"Also meld dich bei denen und dass mir keine Klagen kommen.", wurde Thymian noch einmal ermahnt und dann ging Onkel Jesko wieder zurück zu seiner Kneipe und seinem Leben. Unschlüssig stand Thymian vor dem Plakat und starrte es an. Die Buchstaben wollten und wollten keinen Sinn ergeben. Nach einer Weile angestrengten Überlegens riss er das Papier kurzerhand ab und ging damit durch die Straßen auf der Suche nach jemanden, der ihm weiterhelfen konnte. Er war erst einige Schritte gegangen, nein gehüpft, wie ihm wieder mal auffiel, als er einen großen Mann in Uniform erblickte. Ein Wächter. Dein Freund und Helfer.
"Ähm, entschuldigung.." Er zupfte den Mann an der Uniform und dieser drehte sich um und blickte ihn aufmerksam an. Thymian hielt das Plakat hoch. "Wo kann ich diese miesen Typen hier finden?"
"Miese Typen, soso." Der Wächter schmunzelte. Dann hielt er die ausgestreckte Hand ein wenig in die Luft und schüttelte verwundernd den Kopf. "Hmm, komisch, es regnet nicht mehr."
"Da haben wir wohl Glück." Thymian seufzte. "Also, wie komme ich zu denen?"
"Die sind in den Schatten ansässig. Warte, ich bringe dich hin, ich war sowieso auf dem Weg in die gleiche Richtung." Der Wächter rückte an seiner Uniform und eine Masse an polierten Abzeichen blinkte und glitzerte in der Sonne "Warum willst du denn zu ihnen?", fragte er, als sie eine Weile gegangen waren.
"Das war die Idee meines Onkels, er meinte bei diesen Halunken könnte ich noch was lernen. Und die sind tatsächlich mitten in den Schatten? Die sind noch übler, als ich gedacht habe.", erwiderte Thymian, doch der Mann schmunzelte darauf nur wieder.
"Na, du wirst noch von Glück reden zu ihnen gekommen zu sein.", sagte der Wächter, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und schlenderte weiter durch die Schatten.
"Glück hab ich mehr als genug. Ob ich bei denen irgendwas können muss? Mein Onkel sagte nur etwas davon, dass diese Gauner einem das Leben schwer machen."
"Ja, Lesen solltest du können.", erwiderte der Wächter und zwinkerte Thymian eigentümlich zu.
"Ähm, klar, das kann ich. Ich war früher mal bei der Narrengilde."
"Das merkt man." Der Mann deutete auf Thymian, dem erst jetzt auffiel, dass er seinen Narrenhut aufgesetzt hatte.
"Macht der Gewohnheit.", sagte er leise, nahm die Kappe ab und ging mit hängenden Schultern neben dem Wächter her.
"Das wird schon wieder. Ich bin übrigens Oberleutnant Daemon von DOG. Dienststelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten. Als ehemaligen Narr könnten wir dich gut bei DOG gebrauchen, schätze ich." Thymian wehrte mit den Händen ab.
"Ich werd ganz bestimmt kein Wächter.", sagte er. Der Oberleutnant sah ihn eindringlich an.
"Nun, möchtest du denn?"
"Das liegt wohl nicht in meiner Hand." Er seufzte. "Jetzt muss ich erstmal zu diesen schrecklichen Leuten und wahrscheinlich irgendwas machen, was ich nicht machen will. Immer hab ich bei den wirklich wichtigen Dingen kein Glück." Er schniefte leicht. "Ich will kein Glück mehr haben, dadurch hab ich dauernd nur Pech.", jammerte er. Der Oberleutnant klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken.
"Äh, na ja, ich verstehe zwar nicht so ganz, was du meinst, aber hättest du nicht Lust Rekrut bei der Wache zu werden?" Er nahm Thymian das Plakat ab, rollte es zusammen und stecke es weg. Der ehemalige Narr schniefte noch einmal kurz und stotterte schnell etwas von 'Ja, er würde sehr gerne, wenn er nur nicht zu diesen Verbrechern müsste'. Oberleutnant Daemon reichte ihm ein graues Taschentuch in das er herzhaft trötete. So was lernte man auch in der Narrengilde, das richtige lustige Tröten in Taschentücher. Sofort ließ er es bleiben, als ihm das wieder einfiel.
Sie gingen noch eine Weile durch die Gassen, der Wächter erzählte etwas von einem DOG Abteilungsgebäude im Viertel der Käuflichen Zuneigung, aber Thymian war sicher, dass er sich nur verhört hatte. Dann standen sie plötzlich vor einem schwarzen Gebäude.
"So, das hier ist das Wachhaus Kröselstraße. Hier wirst du ausgebildet."
"Mitten in den Schatten?", fragte Thymian vorsichtig nach. Der Oberleutnant nickte weise.
"Der beste Weg aus Leuten wie dir Wächter wie mich zu machen." Er hielt inne und sah Thymian prüfend an, der nervös an den Glöckchen an seinem Hut spielte. "Naja, fast so." Der Wächter machte eine einladende Handbewegung und Thymian betrat zögernd das Wachhaus.
"Hier ist es aber düster.", kommentierte er die Einrichtung. "Erinnert mich an die Gilde.." Der Oberleutnant lotste ihn durch einen großen Warteraum, vorbei an einigen Büros, von denen viel Stimmengewirr zu vernehmen war. Dann ging er zu einem Büro, klopfte kurz an und trat dann forsch ein.
"Oberleutnant Gonzo, wie gut, dass ich dich hier treffe.", begann er. An einem Schreibtisch hockte ein Gnom in einer Miniaturuniform und sah von einem Berg Papieren auf.
"Das ist mein Büro, wo sollte man mich sonst treffen?", fragte der Gnom zurück.
"Na, wie auch immer. Ich hab hier einen neuen Rekruten." Oberleutnant Daemon schob Thymian nach vorne.
"Äh, hallo.", sagte Thymian und hob zögerlich die Hand zum Gruß.
"So, Junge, wie heißt du denn und was hast du zu bieten?" Der Gnom zückte einen kleinen Stift und wollte anscheinend etwas notieren.
"Thymian."
"Nein danke, heute nicht.", erwiderte der Gnom namens Gonzo.
"Mit Huhn, mit Huhn schmeckt so was köstlich.", fügte der andere Oberleutnant hinzu.
"Äh, das ist mein Name. Thymian Pech.", gab er kleinlaut zurück und ärgerte sich im Stillen darüber, warum seine Mutter nur so einfallslos gewesen war.
"Okay, also Thymian." Der Gnom erlaubte sich ein Grinsen. "Melde dich bei einem gewissen Johann Zupfgut, er wird dich einweisen und rekrutieren." Dann wandte er sich zu dem anderen Wächter. "Ich möchte noch kurz mit dir reden, Daemon." Thymian nickte den beiden zu und zog sich eiligst zurück. Hinter ihm fiel klappend die Türe zu und er stand ratlos im Wachhaus. Wo fand er jetzt diesen Herrn Zupfgut?
"Wo hast du nur diesen Burschen aufgetrieben?", fragte Gonzo. Daemon zuckte mit den Schultern, dann kramte er ein Stück Papier hervor und entrollte es.
"Das hat er abgerissen und wollte dort hin.", erklärte der Wächter. Der Gnom kniff die Augen zusammen und betrachtete es.
"Die Wache braucht dich. Hmm, ja.", murmelte Gonzo und nahm das Plakat an sich. "Na, den werden wir auch noch zu etwas Brauchbarem machen. Danke, ich werd einem Rekruten auftragen, es wieder anzukleben. Dein erster Eindruck von dem Kerl?" Daemon rieb sich nachdenklich am Kinn.
"Er ist ein ehemaliger Narr, sagt das nicht alles?" Der Oberleutnant dachte kurz nach. "Er scheint mir ein Problem mit Glück zu haben."
Nach einigem Suchen und Fragen fand Thymian dennoch seinen neuen Ausbilder. Chief-Korporal Zupfgut saß an seinem Schreibtisch und schien irgendein Instrument zu foltern, zumindest klang es so. Thymian klopfte zögernd gegen die geöffnete Türe und trat ein.
"Bist du Herr Zupfgut?", fragte er. Der Mann nickte und ließ von dem Instrument ab, was ihm Thymians Ohren sehr dankten.
"Also du willst in die Wache eintreten, ja?"
"Ja, glaub schon. Thymian Pech mein Name.", erwiderte Thymian. Dann machte sein Gegenüber etwas sehr merkwürdiges, was Thymian später als Salutieren beigebracht wurde. Er versuchte es Herrn Zupfgut gleich zu machen und stach sich ins Auge.
"Ähm, Willkommen in der Wache.", kommentierte der Chief-Korporal dies, stand dann vom Schreibtisch auf und kam zu ihm. "Du hast Glück, gerade habe ich neue Uniformen hereinbekommen, von der Größe müsste eine dir passen." Er ging zu einer großen Kiste und reichte Thymian verschiedene Dinge.
"Ein Kettenhemd, ein Brustharnisch, Eisen, na ja, geh mal zum Schmied vorbei und lass es dir ordentlich auf deine öhm Statur anpassen. Hier, dein Helm." Dann warf er ihm etwas abgewetztes Ledernes zu, was die Bezeichnung Sandalen nur geringfügig verdiente. "Dann noch eine Kniehose, Achtung, pass auf, die muss noch geflickt werden. Hier, eine Handglocke, Messing und Holz, und ein Übungsschwert, Holz. Mit dem spitzen Ende stößt man zu."
Thymian trat auf der Stelle, jonglierte hilflos mit den vielen Dingen, die der Chief-Korporal auf ihm abgeladen hatte und nickte.
"Ich dachte... es gäbe neue Sachen.", stieß er zwischen einigem Keuchen aus.
"Ha, glaub mir, du willst nicht die alten Uniformen sehen!" Johann Zupfgut lachte grimmig und ging wieder zurück an seinen Schreibtisch. Er holte einen gezackten Stern aus Kupfer und Blech hervor, mit eingestanzten Buchstaben und einer Nummer.
"Hier, deine Dienstmarke, Rekrut." Mit diesen Worten bekam Thymian Pech seine Marke und war Wächter. Für einen winzigen Moment fühlte er sich erhaben genug, um stolz auf sein Leben zu sein. "Und nun marsch in die Umkleide und zieh die Sachen ordentlich an." Der Moment verschwand so schnell wie er gekommen war.
Es verstrich eine Stunde und Johann Zupfgut, seines Zeichens, Ausbilder bei GRUND, fragte sich, ob er nicht etwas Entscheidendes vergessen hatte. Irgendwas wollte er doch noch erledigt haben..
Plötzlich prallte die Türe auf und ein verzweifelter Galdos samt wütender Taube kam herein. Er kämpfte noch eine Weile hektisch mit dem Vogel, schrie laut auf, als der ihm in den Finger hackte und überreichte schließlich dem Chief-Korporal eine zusammengeknüllte Nachricht. Johann las sie aufmerksam und nickte dann Galdos zu.
"SEALS braucht anscheinend einen Laufburschen in irgendeiner Sache.", sagte er.
"Und was habe ich damit zu tun?", blaffte der Rekrut zurück, noch immer dabei seine Taube wieder unter Kontrolle zu bringen. "Äh, Sir, meinte ich.", fügte er anschließend etwas respektvoller hinzu, als er den Vogel endlich beruhigt hatte.
"Hol mir einfach Thymian.", bat Johann.
"Ja, Sir." Der Rekrut salutierte und eilte aus dem Raum. Die Schritte verklangen allmählich und der Ausbilder murmelte etwas von 'Nie, schließt einer die Türe hinter sich'. Er wollte schon gerade aufstehen und selbiges tun, als Galdos wieder zurückkam.
"Ach ja, frischen oder eher im Beutel? Ich meine, ich kenne da einen Laden um die Ecke, der bietet sehr frischen Thymian an, nur manche haben ja lieber welchen lose im Beutel, was, wenn ich so frei sprechen darf, auch um einiges praktischer ist, von wegen der Haltbarkei-."
"Den Rekruten Thymian Pech!", unterbrach Johann genervt den Redefluss von Galdos.
"Oh, aha, achso.", machte Galdos, stolperte verwirrt wieder aus dem Raum und kam nach einiger Zeit mit einem weiteren Rekruten zurück, der einen bunten Narrenhut an sich drückte. Der Helm wirkte ihm ein wenig zu groß und rutschte ihm immer wieder über die Augen.
"So, ich habe eine Aufgabe für dich, Thymian. Du meldest dich bei Hauptgefreiten Cim Bürstenkinn im Wachhaus Pseudopolisplatz.", erklärte der Ausbilder.
"Äh, kann ich jetzt gehen, Sir?", mischte sich Galdos kurz ein.
"Nein, du bringst ihn bitte zum Wachhaus und zeigst ihm so den Ort, wo er später einmal hoffentlich hinkommt.", befahl Johann Zupfgut und Galdos seufzte darauf.
"Hmm, na schön." Er wandte sich zu dem anderen Rekruten. "Na, komm schon mit." Er zog den jungen Kerl einfach am Ärmel mit sich und Johann Zupfgut wischte sich erleichtert den Schweiß von der Stirn. Ein Problem weniger für heute.
***Der Auftrag***
Thymian hüpfte rasch seinem Wächterkollegen hinterher und bemühte sich Schritt zu halten. Es dauerte eine Weile, aber dann standen sie vor dem Wachhaus am Pseudopolisplatz und der andere Wächter führte ihn in das Gebäude.
"So, Petersilie, hier kommen wir mal hin, wenn wir endlich Gefreite geworden sind. Es sei denn du willst bei DOG anfangen.", erklärte der junge Mann, der anscheinend Galdos hieß.
"Ich heiße Thymian.", wand Thymian leise ein.
"Aber ich komm da eh nie hin. Mein Platz steht quasi schon fest.", fügte Galdos hinzu und guckte etwas betrübt.
"Wie meinst du das?", fragte Thymian Pech neugierig zurück.
"Naja, sagen wir mal so, meine Ausbilderin war sehr äh bestimmt, was meine zukünftige Laufbahn in der Wache betrifft. Ach was solls, Estragon, du wirst noch sehen wie der Hase hier läuft." Ohne einen weitere Berichtigung seines Namens abzuwarten, schleifte der Rekrut Thymian durch den Empfangsraum, vorbei an dem sogenannten Wachetresen. Ab und zu deutete Galdos auf verschiedene Räume, Namen wie Kantine, Umkleide, Küche gingen in Thymians einem Ohr rein und ebenso schnell wieder bei dem anderen raus, obwohl er bemüht war genau aufzupassen, schließlich wollte er den laufenden Hasen nicht verpassen.
Sie gingen eine Treppe hinauf in den ersten Stock und Galdos zeigte auf eine geschlossene Türe.
"Dahinter sitzt Rince, der Kommandeur der Wache, wenn du in sein Büro musst, bedeutet das entweder was sehr schlechtes oder was sehr gutes. Merk dir das.", erklärte der Rekrut in einem bedeutungsschwangerem Tonfall. Dann steuerte er zielstrebig auf ein Büro in einer Ecke zu. "Warte schnell, ich will nur noch bei meiner Ausbilderin vorbeisehen. Sei bloß vorsichtig, wenn du länger mit ihr redest. Da hast du schneller einen Tschob bei SEALS am Hals, als du Spezialisierung sagen kannst." Er zwinkerte Thymian zu, öffnete die Türe, steckte den Kopf herein und bekam ein lautstarkes Gebrüll um die Ohren. Hastig schloss er die Türe wieder und atmete schnell.
"Puhh, ich hatte vergessen, dass sie seit neustem auf Entzug ist. Da ist nicht gut Kirschen mit ihr essen. Merk dir das, Baldrian."
"Herr Zupfgut meinte, ich solle mich bei einem Cim Bürstenkinn melden.", rief ihm Thymian wieder in Erinnerung. Galdos nickte darauf, zog ihm erneut am Ärmel und durch die verwinkelten Gänge des ersten Stockes. Sie hielten vor einem weiteren Büro und drinnen begrüßte sie ein junger Mann.
"Aha, gleich zwei Rekruten, wie schön.", rief er aus.
"Äh, nein, Sir. Ich sollte ihn nur hier abliefern. Hab noch dringendes zu erledigen. Ja, ein wichtiger Fall und so.", sagte Galdos, entschuldigte sich umständlich und beeilte sich aus dem Raum zu kommen. Der Mann hinter dem Schreibtisch seufzte und lächelte dann zu Thymian.
"Der ist eindeutig schon zu lange bei GRUND. Naja, also du bist aber ganz neu dabei oder? Sozusagen noch grün hinter den Ohren, was?", fragte er.
"Mein erster Tag heute.", antwortete Thymian. "Sir.", fügte er rasch hinzu.
"Oha, na, wird schon gut gehen. Und wohnst du hier im Wachhaus?" Thymian schüttelte darauf den Kopf.
"Nein, Sir, bei meinem Onkel in seiner Kneipe."
"Na, dann hast du sicher schon Erfahrung im Umgang mit Raufbolden und Trinkfreudigen, hm?"
"Nein, eigentlich nicht, Sir. Die meiste Zeit verkrieche ich mich in meiner Kammer und hoffe, dass es vorbei geht.", erwiderte Thymian etwas leiser als vorhin. Der Mann ihm gegenüber schwieg eine zeitlang.
"Immerhin bist du ehrlich.", sagte er schließlich.
"Ja, das bin ich.", log Thymian. Der Wächter hinter dem Schreibtisch erhob sich und sah ihn prüfend an.
"Gut, Rekrut.. wie war dein Name gleich?"
"Thymian Pech, Sir."
"Cim Bürstenkinn, Hauptgefreiter, Vektor und Stellvertreter bei SEALS." Er reichte Thymian die Hand und der junge Rekrut schüttelte sie mehr als heftig. Der Hauptgefreite griff noch einmal zu seinen Papieren auf dem Schreibtisch und reichte Thymian ein Blatt Papier.
"Hier, lies das Memo und sag mir was du davon hältst." Thymian stöhnte darauf innerlich. Schon wieder Buchstaben, die keinen Sinn für ihn ergaben. Er starrte hilflos auf das Memo.
"Ja, schlimme Sache.", versuchte der neue Rekrut es und hoffte auf sein Glück.
"In der Tat, in der Tat.", bestätigte Cim Bürstenkinn. "Da ist was faul an der Sache, vermute ich." Thymian nickte und hoffte, das würde reichen. "Deswegen gehen wir jetzt zu dem Notar, deine Aufgabe ist es allein, dass Testament abzuholen und zu der Abteilung SUSI zu bringen. Die sollen überprüfen, ob es eine Fälschung war oder nachträglich am Testament etwas geändert wurde."
"Äh, klar, mach ich, Sir."
"Ich versteh dich ja, Herr Türmichgut, aber wir brauchen das Original Testament für unsere Ermittlungen. Mit einer Kopie können wir nichts anfangen. Wenn du also so freundlich wärest.."
"Ohne Genehmigung werde ich hier erstmal gar nichts herausgeben.", widersprach der Notar und verschränkte die Arme.
"Also, wenn das das einzige Problem ist.." Der Hauptgefreite klatschte ein eng beschriebenes Formular auf den großen glatten Tisch und schnippte es auf die andere Seite hinüber. Herr Türmichgut nahm es auf und überflog es kritisch.
"Na schön, wenn es denn unbedingt sein muss, aber lange darf es bei euch nicht bleiben und wehe es wird beschädigt." Er richtete sich auf und ging zu dem Schrank mit den Aktenmappen. Dort glitt er suchend mit dem Finger über die verschiedenen Einbände und griff dann nach einem großen Ordner, kurz blätterte er darin, holte dann ein altes Dokument hervor, das er widerstrebend Cim Bürstenkinn überreichte. "Wehe es hat hinterher auch nur einen Riss.", ermahnte der Notar noch einmal.
"Keine Sorge, es wird die Untersuchung unbeschadet überstehen." Der Wächter überreichte das Papier Thymian, der es ehrfurchtsvoll mit zitternden Händen entgegennahm.
"Nur einen Kratzer, nur einen Fleck drauf und ich hetz euch die ganze Anwaltsgilde an den Hals.", drohte Herr Türmichgut. Der Hauptgefreite schüttelte tadelnd den Kopf.
"Nana, wo bleiben deine guten Umgangsformen, Notar? Wir sind doch alles vernünftige Menschen, Spezies, Rassen, wie auch immer. Einen schönen Tag noch." Er nickte Herrn Türmichgut zu, der mit finsterem Blick zurückstarrte und Thymian beeilte sich Cim Bürstenkinn nach draußen zu folgen. Irgendwie verstand er immer noch nicht, worum es eigentlich hier ging.
"So, Rekrut, bring das Dokument so schnell wie möglich zu SUSI. Am besten direkt zu Pismire, dem Abteilungsleiter. Ich werde zur Familie gehen und die Hinterbliebenen befragen. Besonders seine Frau scheint mir verdächtig, aber vielleicht war es wirklich nur ein Unfall.", sagte der Hauptgefreite.
"Naja, die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist.", erwiderte Thymian ohne großartig über das Gesagte nachzudenken. Er wusste nur, dass das seine Großmutter bei Gelegenheit so oft erwähnte wie es nur ging. Und sie redete viel. Und der Tag war lang.
"Du meinst also, er wurde die Treppe hinunter gestoßen? Ja, daran hab ich auch schon gedacht. Wenn das Testament eine Fälschung ist oder etwas daran geändert wurde, dann erhärtet sich dieser Verdacht. Armer Herr Unterpfand, tot ist tot, egal ob es mit Absicht geschah." Er sah Thymian an. "Auf jeden Fall sorg dafür, dass SUSI das Testament bekommt. Und zwar auf dem schnellstmöglichsten Weg, okay?"
"Okay.", antwortete Thymian. "Sir.", fügte er rasch hinzu.
"Hmm, ich hoffe mal es regnet nicht. Hoffentlich hast du Glück."
"Das werde ich haben." Thymian Pech versuchte noch einmal erfolglos zu salutieren, gab es dann auf und hüpfte durch die Gassen zurück zum Wachhaus.
Zumindest versuchte er das.
Doch er hatte etwas Entscheidendes vergessen. Etwas von größter Wichtigkeit. Etwas was er auf keinen Fall vergessen hätte dürfen. Der wöchentliche Fünf Uhr Tee bei seinen Freunden. Nun, Freunde war etwas übertrieben. Lose Bekannte. Aber nannte man jemand Freund, der einen lynchen wollte, wenn man nicht rechtzeitig um Punkt Fünf Uhr erschien? Er musste zur Wache und das Testament abliefern. Das war sein Tschob. Thymian hielt inne und musste daran denken, wie Herr Kaninchen beim letzten Mal reagiert hatte, als er nur eine Minute zu spät erschienen war. Und außerdem, danach würde er das Papier ja direkt abliefern. Herr Bürstenkinn hatte gesagt, auf dem schnellstmöglichsten Weg und der Besuch bei der Teegesellschaft war der schnellstmöglichste Weg es abzuliefern und danach noch weiterzuleben.
So ging Thymian nach Abwägung aller Dinge doch zu seinen Freunden, denn er kannte nicht diesen Cim Bürstenkinn und wie dieser reagieren würde, wenn man zu spät kam, aber er kannte Herr Kaninchen und wie der reagierte, wusste er nur zu gut.
Als er in der Wohnung ankam, ihrem Treffpunkt, waren alle anderen schon dort. Das war immer so. Jedes Mal war Thymian der letzte, der eintraf und jedes Mal straften ihn die anderen drei mit missachtenden Blicken.
Die anderen Drei setzten sich aus Herrn Kaninchen, dem Fröhlichen Kurt und dem Unfassbarem zusammen.
"So, da bist du ja endlich.", begrüßte Herr Kaninchen ihn. "Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass wir genau fünf Minuten vor fünf haben, wie praktisch." Er zog eine goldene Uhr hervor, blickte darauf, nickte zufrieden und steckte sie wieder ein. Herr Kaninchen war Gennuaner und dort lag das gesamte Hauptproblem der Teegesellschaft. Er litt unter der manischen Angewohnheit jedes Zusammentreffen weder glücklich, noch erfreulich, noch erbauend oder sonst in irgendeiner Weise erhebend zu gestalten. Man könnte auch sagen, er habe eine regelrechte Phobie vor netten und freundlichen Gesellschaften, vermutlich lag das daran, dass er sein Trauma von der Regentschaft Lady Liliths bis nach Ankh-Morpork mitgebracht hatte. Außerdem war Herr Kaninchen ein Banshee oder behauptete das von sich, zumindest kam er recht nah an Thymians Vorstellung eines Banshees heran. Sein trauriges, bleiches Gesicht verteilte eine eklatante Abwesenheit von Erheiterung im gesamten Raum.
"Können wir anfangen, ja? Sind alle bereit?", fragte Herr Kaninchen. Er setzte sich an die große gedeckte Tafel und blickte zu Thymian, der immer noch in Gedanken versunken im Türrahmen stehen geblieben war.
"Äh, natürlich.", sagte er hastig und setzte sich. Ihm gegenüber saß der Fröhliche Kurt, der gerade mal wieder versuchte einen Witz hervorzubringen.
"Und.. hihi, das Lieschen, das Lieschen... sagte, sagte, hehe, das Lieschen.", brabbelte er, lachte wiehernd auf und fiel beinahe vom Stuhl. Thymian seufzte. Er wusste nicht, was schlimmer war: Herrn Kaninchens Ernsthaftigkeit bei der Teezeremonie, wie er sie nannte, oder Kurts andauernder Versuch einen Witz auf die Reihe zu bringen. Der Rekrut blickte zu dem Unfassbarem, einen Mann in einem hässlichen lila Kostüm mit Maske, sein leichter Bauchansatz und die Blässe seiner Hände verhinderten, dass es irgendwie in eine Richtung ging, die man auch nur annähernd gut aussehend nennen könnte. Niemand wusste etwas von dem Unfassbarem, er wurde einfach so genannt, weil er jeden Satz am liebsten mit 'Unfassbar' kommentierte.
In diesem Moment kam Ecila, die Mutter von Kurt, mit einer riesigen Kanne Tee hinein. Sie wankte unter ihrem eigenen massigem Gewicht und dem Gewicht der Kanne zu dem langen Tisch und stellte mit einem Scheppern die Kanne genau vor Herrn Kaninchen ab.
"Nein, nein, nein, so geht das doch nicht. Ich sagte, um Punkt, um Punkt fünf Uhr bringst du den Tee herein. Wie sieht das denn aus, wenn er jetzt schon hier steht?", redete er auf Ecila ein, die nur panisch die Hände hob und senkte und etwas von 'Bitte nicht köpfen' kreischte.
Thymian versuchte dem Gespräch nicht zu folgen und blickte stattdessen lieber auf den Teller vor ihm. Blass spiegelte sich sein eigenes Gesicht darin, das ihn hohl ansah und zu fragen schien, was er hier nur mache.
"Tja, das weiß ich auch nicht.", murmelte er ihm zu und holte das Testament hervor. Das sollte ich jetzt eigentlich abliefern, dachte er. Ich könnte aufspringen, wegrennen und meine Aufgabe erfüllen. Plötzlich spürte er wie der Fröhliche Kurt an dem Testament zupfte. Vor Schreck ließ Thymian das andere Ende los und Kurt hielt triumphierend das Dokument in die Höhe.
"A-ha!", machte er. "Was haben wir denn da? Ist das von deiner Narrengilde?"
"Es ist nicht meine Narrengilde.", beharrte Thymian stoisch und beäugte halb besorgt, halb panisch(er konnte sich nicht entscheiden, was angebrachter war) den Fröhlichen Kurt, der immer noch das Testament empor hielt, als wäre es eine sensationelle Entdeckung.
"Ha, dich haben sie ja damals nicht abgelehnt. Zu überqualifiziert, ha! Was heißt das denn schon?! Aber dieses Papier enthält sicher wertvolle geheime Informationen, die meiner Untergrundorganisation zu Gute kommen werden.", erwiderte Kurt. Thymian seufzte wieder einmal.
"Deine Untergrundorganisation besteht nur aus dir und einem unsichtbarem Frettchen, das nun ja.. unsichtbar ist.", gab er zurück.
"Jaha und es beobachtet so jeden deiner Schritte!"
"Seid still oder irgendwann steh ich auch vor eurer Türe und schreie euch zu Tode.", mischte sich Herr Kaninchen kalt mit seiner Lieblingsdrohung ein. "Ich muss mich jetzt konzentrieren.", fügte er erklärend hinzu, erhob sich und begann jede einzelne Teetasse sorgsam einzuschenken.
"Gib endlich das Testament zurück.", forderte Thymian etwas lauter, als sein ansonsten leiser Tonfall. Leider brachte es nicht die erwünschte Wirkung.
"Ach, wer ist denn gestorben?", fragte Ecila, aber ohne eine Antwort abzuwarten, wankte sie zurück in die Küche.
"Ein Mann.", antwortete Thymian Pech trotzdem. Er bekam seine Tasse vor ihm mit Tee gefüllt und wollte schon danach greifen, als er die strengen Blicke des Gennuaners bemerkte.
"Erst, wenn alle Tee haben, trinken wir. Das gebietet die Höflichkeit, ein Wächter wie du sollte das wissen.", sagte er ermahnend. Thymian sah ihn verwundert an.
"Woher weißt du, dass ich der Wache beigetreten bin?", fragte er.
"Ich bin ein Banshee, ich weiß so etwas." Herr Kaninchen verzog keine Miene, stellte die Kanne wieder hin, rückte an der Ordnung der Gedecke etwas, strich sich seinen Frack glatt und setzte sich schließlich langsam. Währenddessen blickte Thymian ihn bewundernd an.
"Seit einigen Stunden bin ich erst Rekrut und du weißt bereits davon... das gibt mir zu denken.", hauchte er ehrfurchtsvoll.
"Er weiß es nur, weil es ihm das Frettchen flüsterte.", warf der Fröhliche Kurt ein. Er betrachte wieder eingehend das Testament und nickte wissend. "So so, das soll also nichts wichtiges sein, ja? Es ist nicht von Belang für meine Untergrundorganisation, ja?"
"Bitte gib es mir einfach nur wieder.", versuchte es Thymian in einem beschwörenden Tonfall, den man benutzte, wenn man mit einem psychopatischen Bombenleger verhandelte, der den Finger auf dem roten Knopf hielt. "Ich muss das unbeschädigt, und zwar vollkommen unversehrt, im Wachhaus abgeben, damit die dort prüfen können, ob es eine Fälschung ist oder es in irgendeiner Weise manipuliert worden ist.", erklärte er weiter. Er hob hastig seine Tasse und sie schwappte leicht über, als Herr Kaninchen zu dem traditionellen Trinkspruch ansetzte. Missbilligende Blicke straften ihn wieder, während der heiße Tee über seine Finger lief und auf die blütenweiße Spitzentischdecke tropfte.
"Heute trinken wir auf Lady Lilith, möge sie Qualen leiden, dort wo sie ist.", sprach Herr Kaninchen ohne Emotion in der Stimme. Stille sammelte sich im Raum, dehnte sich aus und platzte geräuschlos, als Ecila mit einem großen Tablett hereinkam.
"Plätzchen!", schrie sie und zerstörte die Atmosphäre. Thymian stammelte etwas von einem netten Trinkspruch und wischte hastig mit einer Serviette über die Flecken auf der Tischdecke.
"Also das ist eine Fälschung, ja?", brachte sich Kurt wieder in Erinnerung und wedelte erschreckend heftig mit dem wertvollen Testament.
"Ich weiß es doch nicht. Woher soll ich das denn wissen?", entgegnete Thymian. Er wischte über die Flecken, doch verteilte sich der Tee nur mehr weiter auf dem weißen Stoff und hinterließ einen großen, braunen Fleck. Schnell stellte er seinen Teller drüber auf dem in diesem Moment von Ecila ein Haufen unförmiger plätzchenartiger Brocken abgeladen wurde.
"Gut, du willst es also geheim halten, ja?", fragte der Fröhliche Kurt. Thymian seufzte.
"Was soll ich denn geheim halten, ich weiß doch nichts.", gab er hilflos zurück. Sofort sprang Kurt vom Tisch auf, deutete anklagend auf Thymian und hielt gleichzeitig das Testament empor.
"Ha! Verleumdungstaktik!! Du willst meine Untergrundorganisation unterwandern! Das hier ist ein wertvolles Dokument von der Narrengilde, gib es zu!" Dann zerknüllte er es vor Thymians fassungslosen Augen, formte das Papier zu einem kleinen Ball, steckte es in den Mund, kaute herzhaft darauf und schluckte es herunter.
"...", machte Thymian.
"Unfassbar.", kommentierte der Unfassbare von seinem Stuhl aus.
"Können wir jetzt endlich weitermachen?", fragte Herr Kaninchen ungeduldig, aber in seiner Stimme schwangen erneut unausgesprochene Drohungen mit.
"...", versuchte es Thymian erneut. Was war passiert? Seit wann hatte er die Kontrolle verloren? Wo hätte er dieses Unglück hätte kommen sehen müssen? "Du... du... hast...", er brach ab. "Ich fass es nicht." Er wurde lauter. "Ich fass es wirklich nicht!" Die Tasse in seiner Hand zitterte unbeherrscht, er schob den schweren gepolsterten Stuhl nach hinten, stand langsam auf.
"Salz.", warf der Fröhliche Kurt plötzlich ein. "Mit Salz hätte es sicher noch besser geschmeckt."
"Du hast das Testament aufgegessen!!", rief Thymian, seine Stimme wankte gefährlich nahe am Hysterischen.
"Reg dich nicht auf, es war eh eine Fälschung. Bei deinem Glück.", sagte Kurt auf einmal. Er schlürfte an seinem Tee und blickte ihn wieder an. Alle blickten ihn an. Stille.
"Setz dich wieder hin.", herrschte Herr Kaninchen.
"Ich.. werde mich nicht hinsetzen. Er hat das Testament aufgegessen. Es sollte unbeschädigt beim Wachhaus ankommen, das war meine Aufgabe. Unbeschädigt, ohne Kratzer. Und jetzt liegt es in dem Magen von diesem... diesem Narr.", stieß Thymian seine größte Beleidigung aus.
"Setz dich hin oder ich stehe morgen vor deiner Tür.", zischte der Banshee. Sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Maske. Herr Kaninchen hasste es, wenn der gewöhnliche Ablauf der Teezeremonie zerstört wurde.
"Das war heute mein erster Tag bei der Wache und nun werde ich direkt wieder rausgeschmissen. Wegen ihm." Er deutete auf den Fröhlichen Kurt, den das Ganze nicht mehr zu interessieren schien und dabei war einen neuen Witz hervorzubringen. Kurzzeitig fragte sich Thymian, warum er jetzt mit Herrn Kaninchen darüber diskutierte, als dieser sich drohend aufrichtete. Was nicht weiter schwer war, da er Thymian um gut zwei Köpfe überragte.
"Es ist nicht seine Schuld. Es ist deine! Wenn du so eine wichtige Aufgabe hattest, hättest du nicht hierher kommen sollen.", sagte er in einem scharfen, harten Tonfall dessen Worte Thymian Pech wie unter Schlägen zusammen zucken ließen. Er ließ die Schultern hängen und senkte demütig den Kopf.
"Du hast Recht.. es ist alles meine Schuld." Thymian setzte sich langsam wieder auf seinen Stuhl. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass Herr Kaninchen stehen geblieben war.
"Raus.", brachte dieser zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
"Äh, was?", gab Thymian zurück, er blickte nach oben und sah in Herr Kaninchens starres Gesicht. Es war höchst ungewöhnlich, dass jemand die Teegesellschaft vorzeitig verließ. Im Grunde war es noch nie vorgekommen. Herr Kaninchen begann und beendete die Zeremonie. Heute beendete er sie für Thymian.
"Raus."
"Ich soll gehen?", fragte der junge Rekrut noch mal zurück.
"Du hast schon verstanden." Thymian stand zögernd wieder auf und im gleichen Augenblick setzte sich Herr Kaninchen. Der ehemalige Narr tat ein paar Schritte zur Türe und blickte zu seinen 'Freunden'. Sie saßen dort in der Runde, sahen zu ihm und warteten, dass er ging. Mit hängenden Schultern drehte er sich um und trottete zur Türe. Er öffnete sie, wollte hinausgehen.
"Ach und Thymian?", hielt ihn Herrn Kaninchens Stimme noch einmal zurück. Schnell wandte er sich wieder um.
"Ja?", fragte er.
"Stell die Tasse zurück. Das Service muss vollständig sein." Thymian blickte auf die Tasse in seiner Hand, er hatte sie ganz vergessen. Den Blick auf den Boden gerichtet, kam er zum Tisch, stelle die Tasse so fest auf den Unterteller, dass es leicht schepperte und hastete in hüpfenden Schritten aus dem Haus.
"Bis nächste Woche!", rief ihm der Fröhliche Kurt hinterher.
Thymian Pech ging durch die Straßen mit dem Gefühl alles falsch gemacht zu haben, was er nur falsch machen konnte. Was sollte er nur tun? Was hatte er getan? Er hatte versagt. Die erste Aufgabe, die man ihm in der Wache aufgetragen hatte und er versagte. Und Herr Kaninchen hatte Recht, es half nicht die Schuld auf Kurt zu schieben. Was passiert war, war passiert. Und rückgängig machen konnte man es sowieso nicht mehr.
Tief in diesen trübseligen Gedanken versunken trottete er ziellos durch eine Gasse. Dichte Wolken hatten sich draußen aufgezogen, erste Regentropfen begannen auf Thymians ausgestreckte Hand zu fallen. Jetzt regnete es auch noch. Hatte sein Glück ihn etwa ganz verlassen?
Er seufzte leise. Warum dachte er eigentlich, dass er überhaupt jemals Glück gehabt hatte. So was dachte ein reicher alter Mann in seiner Villa, umgeben von einer geliebten Familie. Kein ehemaliger Narr und bald auch ehemaliger Wächter. Was wohl der Hauptgefreite Bürstenkinn dazu sagen würde? Oh, er wäre sicher wütend. Wie alle. Und er müsste zurück in die Kneipe zu Onkel Jesko und in seine Besenkammer. Bis die nächste Arbeit kommen würde, die er auch wieder verpatz-.
Plötzlich spürte Thymian wie er von einer gewaltigen Kraft gegen die Häuserwand geschleudert wurde, er keuchte laut auf, spürte hartes, kaltes Metall an seiner Kehle und bemerkte erst jetzt, dass er gerade überfallen wurde. Thymian schluckte und starrte in zwei dunkle Augen, die ihn finster anblickten. Ja, das Glück hatte ihn endgültig und ganz verlassen...
"Ich.. ich hab kein Geld.", stammelte er.
"Still, du Bürschchen und rück das Testament raus!", zischte sein Gegenüber. Von der Statur her war es ein Mann, doch er hatte das Gesicht mit einer Art Maske verdeckt und so sah Thymian nur in den Löchern der Pappe seine Augen.
"Das Testament?", fragte er verwirrt zurück. "Woher weißt du davon?"
"Das Testament von Victor Krunn, du begriffsstutziger Wächter! Her damit!" Der Mann presste ihn fester an die Hauswand, Thymian spürte den kalten Stein an seinem Rücken. Es begann heftiger zu regnen und einzelne dicke Tropfen sammelten sich auf der Pappmaske seines Angreifers, dass es aussah als weine er.
"Woher weißt du, dass ich Wächter bin? Wie hast du das herausbekommen?" Der Mann lachte darauf.
"Junge, du bist noch dämlicher, als du aussiehst. Guck mal an dir herunter und rate." Thymian tat wie ihm geheißen, sah an sich herab und erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er ja kein Narrenkostüm mehr trug, sondern eine Uniform der Wache.
"Oh.", gab er leise von sich.
"Und jetzt rück endlich das Testament heraus!", herrschte der Mann ihn an. Er hielt den Dolch wieder fester an Thymians Kehle und sah ihn durchdringend an.
"Nun, du äh wirst lachen, aber ähm mein Freund aß es eben auf.", erklärte Thymian.
"Das kannst du deiner Großmutter erzählen."
"Welcher? Ich habe zwei und die eine ist etwas schwerhörig und-."
"Schnauze!", brüllte der Mann, sofort verstummte Thymian. Er wagte einen Blick zu den Seiten, aber da war niemand in der Gasse, der ihm helfen konnte. Es regnete nun in Strömen, das Wasser lief ihm nur so über sein Gesicht und in diesem Moment fiel ihm auf, was er für ein Glück hatte. Der Mann wollte anscheinend das Testament und Thymian hatte es nicht mehr, dafür konnte er diesen Umstand sicher für sich nutzen. Nur wie?
"Also, ich habe das Testament wirklich nicht mehr.", versuchte es der Rekrut mit leiser, fast piepsiger Stimme, die nicht gerade dazu beitrug, seine Aufregung zu überspielen und das Bild eines erfahrenen, weltmännischen Wächters, der schon alles gesehen hatte, was es nur so zu sehen gab, zu kreieren.
"Und das soll ich dir glauben?" Der Mann schien ihn zu mustern und dann begann er mit etwas, was Thymian als sittlichen Übergriff bezeichnen würde, sein Gegenüber aber als 'ordentliches Durchfilzen' klassifizierte. Nach einer Weile gab er schließlich auf und schnaufte wütend unter der Pappmaske hervor. "Verdammt, wo ist es? Wo hast du es versteckt, hm? Für wen arbeitest du? Rede schon!" Thymian rückte seine Uniform wieder zurecht, stotterte verlegen herum und verhaspelte sich in neuen Ausflüchten.
"Ich.. ich bin von der Gil- ähm Wache äh Stadtwache Ankh-Morpork." Er tippte auf seine Dienstmarke, als wäre sie die Antwort auf alle Fragen.
"Ich sehe, dass du von der Wache bist, Bürschchen. Aber meine Frage war, für wen du arbeitest?" Ohne Vorwarnung rammte er plötzlich Thymian seine Faust in den Magen, dass der Rekrut nur ein entsetztes Keuchen von sich gab und Mühe hatte nicht vornüber zu kippen. "Wenn du mich nicht verstehst, muss ich vielleicht etwas deutlicher werden.", knurrte der Mann, er drückte Thymian wieder grob gegen die Hauswand, der Dolch wurde weggesteckt, aber das war keine Verbesserung der Situation, wie Thymian schnell erkannte, als sich zwei große Hände um seine Hals schlossen und langsam zudrückten. Der ehemalige Narr und bald sicher auch ehemaliges menschliches Lebewesen brachte ein qualvolles Krächzen zustande. Der Griff wurde gnädig gelockert.
"Ich weiß von nichts, ehrlich. Ich sollte das Testament nur beim Notar abholen und dann zu der Abteilung SUSI bringen, damit diese das Dokument überprüfen können, ob etwas daran verändert wurde.", beichtete Thymian Pech rasch.
"Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß, Junge. Ich habe euch belauscht und bin dir gefolgt. Du verschwandest in einem Haus, du kommst nach einer Weile wieder aus dem Haus, ich überfalle dich, du hast das Testament nicht bei dir, also muss ich doch davon ausgehen, dass du es irgendwo in dem Haus versteckt hast. Und jetzt will ich wissen, wo dort genau. Schließlich will ich mich nicht dumm und dämlich suchen." Der Mann mit der Maske holte ohne Hast wieder den Dolch hervor, der Regen floss daran herab, aber Thymian sah nur sein eigenes Blut dort fließen. Er kniff die Augen leicht zusammen, blinzelte in dem Regen und wagte es für einen kurzen Augenblick seinen Angreifer direkt anzusehen. Das Wasser hatte mittlerweile die unscheinbare Maske aus Pappe wellig gemacht, so dass es aussah, als hätte der Mann die Pocken oder etwas Vergleichbares. "Und ich will wissen für wen du arbeitest. Sag nicht, für die Wache, denn dann hättest du das Testament nicht im Haus versteckt. Vermutlich sogar dort für einen Mittelsmann deponiert, der es abholen soll. Du siehst, ich bin schlau. Ich bin erfahren. Ich kenn all eure Tricks. Ich weiß wie ihr vorgeht und agiert.", erklärte sein Angreifer. Thymian fragte sich kurzzeitig, was für Tricks und welches Vorgehen der Mann meinte, als er mit einem weiteren Schlag in die Magengrube brutal aus seinen Überlegungen gerissen wurde.
"Ich kann es nicht länger verheimlichen.", sagte er unter einigem Japsen und Keuchen. Der Mann brummte zufrieden. "Es... es ist in der Teekanne versteckt, die große Kanne, die auf dem Tisch steht.", brachte Thymian hervor.
"Sehr schön, endlich nimmst du Vernunft an. Und dein Auftraggeber?", fragte der Mann mit der Pappmaske. Thymian schwieg einige Sekunden und hoffte es wäre lange genug, dass es so wirkte, als ob er noch mit sich hadern würde und dass es gleichzeitig eine zu kurze Zeitspanne wäre, als dass der Mann noch einmal die Gelegenheit wahrnahm Thymian zu schlagen.
"La- La- Lady Lilith.", sagte er mit merklichem Stocken. Sein Gegenüber kratzte sich fragend am Kopf.
"Lady Lilith? Die aus Gennua? Wie interessant, das sind ja ganz neue Verwicklungen. Diese Information gibt sicherlich einen extra Bonus. Nun gut, da du Wächter bist, bleibst du am Leben. So sind die Regeln." Thymian atmete erleichtert auf und der Mann steckte den Dolch weg. "Süße Träume.", sagte da dieser plötzlich.
"Wa-.", konnte der Rekrut noch hervorbringen, als ihn bereits ein wuchtiger Schlag am Hinterkopf traf und Thymian Pech zu Boden ging.
***Die Ermittlungen***
Er zitterte am ganzen Körper, als er aufwachte. Ihm war kalt, er hatte Kopfschmerzen und sein Magen fühlte sich auch nicht gerade gut an. Vorsichtig stand Thymian auf und fand sich in einer dunklen Gasse wieder. Langsam stiegen die Erinnerungen wieder in ihm hoch, stürmten ohne anzuklopfen in sein Bewusstsein und verursachten Schuldgefühle sowie den starken Glauben versagt zu haben.
Er sah sich mutlos um. War es dieselbe Gasse in dem ihn der Mann zurückgelassen hatte? Und wie lange war Thymian wohl bewusstlos gewesen? Minuten? Stunden? An Tage wagte er gar nicht zu denken. Thymian blickte nach oben und sah fern in der tiefen Schwärze, die sich Nacht nannte, kleine blass leuchtende Sterne vorbeiziehen. Gut, er war also länger als ein paar Minuten weggetreten gewesen.
Nur nicht in Panik geraten, nur in keine Panik geraten, sagte er sich innerlich. Thymian überprüfte sich selbst und seine Ausrüstung auf Vollständigkeit und entdeckte, dass zu seinem Glück nichts fehlte. Bis auf das Testament. Er seufzte leise. Das Testament.. er hatte es verloren und somit sicher auch die Anstellung bei der Wache. Wenn er es doch nur verloren hätte! Aber nein, sein 'Freund' hatte es aufgegessen. Es war unwiederbringlich verloren. Das Dokument darf nicht beschädigt werden, hatte der Notar gesagt. Kein einziger Riss, kein Fleck und er schaffte es tatsächlich, dass es jemand aufaß.
Thymian seufzte wieder und ging durch die Gasse. Was sollte er jetzt nur tun? Zu Hauptgefreiter Bürstenkinn und sein Versagen melden? Seine Dienstmarke wieder hergeben? Seine Hände tasteten zu der Marke, die wie ein Talisman und Schutzschild an seiner Brust prangte. Thymian Pech registrierte mit eigenem Überraschen, dass er die Dienstmarke nicht mehr abgeben wollte. Er hatte seine rote Gumminase gegen ein sternförmiges Blechding eingetauscht und empfand es als eine außerordentliche Verbesserung.
Nein, zu Herrn Bürstenkinn konnte er nicht, da würde er die Marke wieder verlieren. Vielleicht sollte er zu dem Wachhaus in den Schatten und Herrn Zupfgut um Rat fragen. Thymian überlegte sich diesen Gedanken noch einmal und verwarf ihn rasch wieder. Sein Ausbilder wäre sicher nicht sehr erfreut, von Thymians Versagen zu erfahren. Vielleicht würde er dann so etwas wie 'Solche wie dich können wir hier nicht gebrauchen' sagen, ihm seine Marke abreißen und erbost auf den Boden schmeißen.
Nein, dorthin konnte er nicht zurückkehren, beschloss Thymian Pech. Aber zu Onkel Jesko konnte er sicher auch nicht. Thymian hatte zwar alles daran gesetzt, dass der Mann mit der Maske nicht viel Freude bei der Suche nach dem Testament haben würde, aber wer weiß wie diese Begegnung mit der Teegesellschaft ausgegangen war. Und wenn er dadurch noch mehr Leute in sein Unglück gezogen hätte? Dann dürfte er nicht zu Jesko zurück, der Mann hatte gesagt, dass er Thymian beobachtet hätte. Vielleicht, ja vielleicht beobachtete man ihn gerade in diesem Moment wieder. Hastig wandte Thymian den Kopf, starrte in eine finstre Leere und rannte dann kurz entschlossen die Gasse entlang.
Sicher war sicher. Nur wo war er sicher? Vermutlich wäre Thymian noch weiter ziellos und verzweifelt in den Straßen umhergestreift, als ihm glücklicherweise plötzlich etwas einfiel. Dieser Oberleutnant- oder hieß es Oberstleutnant? –Daemon hatte davon erzählt, dass die Abteilung DOG in einem speziellen Gebäude untergebracht war, außerhalb der beiden Wachhäuser. Es verwunderte Thymian nur, dass Wächter im Viertel Käuflicher Zuneigung ihren Sitz hatten, aber vermutlich war das alles wohl überlegt und ergab nur für Außenstehende keinen Sinn. Mit einem neuen Ziel begab sich Thymian Pech in besagtes Viertel, vorsichtig sah er sich um. Er lebte zwar schon so lang er denken konnte in Ankh-Morpork, aber hier war er nicht oft gewesen.
"Hey, Kleiner.", hauchte ihm plötzlich eine tiefe Stimme ins Ohr. Rasche drehte er sich um und blickte in ein bunt geschminktes Frauengesicht. Die etwas ältere Frau sah an Thymian herunter. "Bist ein neuer Wächter, was?", fragte sie.
"Äh ja.", gab Thymian zurück. "Eigentlich suche ich-.", begann er.
"Das Boucherie Rouge nehme ich an. Ein tolles Ätablismon. Gerade für Leute wie dich." Die Frau zwinkerte Thymian mit ihren langen Wimpern zu.
"Nein, eigentlich will ich äh.. äh keine äh zugeneigte Käuflichkeit ähm äh käufliche Zuneigung." Der letzte Teil seines Satzes ging in einem peinlichen Hustenanfall über und Thymian konnte nicht vermeiden, dass er hochrot anlief.
"Jungchen, biste süß." Die Frau lachte dunkel und bunt lackierte etwas dicklichere Finger tätschelten Thymians Schulter. "Glaub mir, du willst zum Boucherie Rouge. Ich kenn mich damit aus." Der Duft von einem billigen Parfüm schwebte zu dem jungen Rekruten herüber, als die Frau ihn in eine bestimmte Richtung drehte und ihm untermalt von klirrenden Armreifen den Weg beschrieb.
Thymian Pech klammerte sich mit der Hand an seiner Dienstmarke fest, als hätte sie magische Kräfte und würde ihm helfen seine Angst zu überwinden. Der Rekrut stand vor einem dreistöckigen Gebäude, vorne prangte in roten flackernden Buchstaben Boucherie Rouge. Warum war er überhaupt hierher gekommen? Er musste das DOG Quartier finden, aber vielleicht konnte man ihm drinnen weiterhelfen? Zögernd sah er sich nach allen Seiten um, überlegte noch, was er nun machen sollte, als just in diesem Moment ein Wächter aus dem Boucherie Rouge trat.
"Hallo Kollege.", sagte der anscheinend nur wenig Jahre ältere Mann mit dunkler Hautfarbe. Thymian versuchte rasch die Rangabzeichen zu entziffern, gab es auf und begnügte sich stattdessen mit einem eilig vorgebrachten 'Guten Tag, Sir.' Als Thymian nichts weiter sagte, sah der andere Wächter ihn fragend an.
"Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?"
"Ich suche Oberleutnant Daemon.", probierte es Thymian zaghaft.
"Den findest du im rosaroten Himmelbett, ist im zweiten Stock, nicht zu verfehlen.", erklärte der Wächter.
"Äh, würde es ihn nicht stören, wenn ich einfach so hereinplatze?", fragte Thymian nach. Der Mann winkte ab.
"Nein, soweit ich weiß, ist er im Augenblick nicht sehr beschäftigt." Ehe Thymian fragen konnte was alles unter nicht sehr beschäftigt fiel, verabschiedete sich der andere Wächter auch schon, redete noch irgendetwas von Mangos und Feierabend, was Thymian aber nicht so recht verstand und bog dann um die nächste Ecke. Unschlüssig blieb der ehemalige Narr stehen und überlegte, letztendlich ging er doch in das Boucherie Rouge und sei es auch nur, da er sich plötzlich wieder beobachtet fühlte.
Thymians Augen zuckten von Zimmer zu Zimmer, während er eilig bemüht war den zweiten Stock zu erreichen ohne von jemandem angesprochen zu werden. Erst im ersten Stock merkte er, dass ihn eine wacklige Wendeltreppe nach außen führte und er gezwungen war für jedermann gut sichtbar über eben jene Treppe in den zweiten Stock zu gelangen. Zum Glück war es dunkel und er hoffte, dass ihn niemand bemerkt hatte. Während Thymian den Gang im obersten Stockwerk entlang ging, schüttelte er leicht den Kopf über sich selbst. Warum hatte er überhaupt Angst, dass ihn jemand beobachten würde? Niemand interessierte sich für einen kleinen Rekruten. Und der Mann mit der Maske war weit weg. Hoffentlich.
Er kam zu einer geöffneten Türe und blickte in ein rosa gestrichenes Zimmer. Der einzige Inhalt des Raumes bestand in einem riesigen Himmelbett wo, versunken in Füllen aus Stoff und Kissen, jemand lag. Thymian atmete noch einmal tief durch, zählte, um sich zu beruhigen, die acht Hochwürden der Narrengilde auf, zuckte bei Bruder Leithammel innerlich zusammen, straffte und räusperte sich dann laut.
Nichts geschah. Thymian hustete höflich.
"Äh, Sir? Oberleutnant Daemon, Sir?", begann er. Es dauerte eine Weile, aber dann bewegte sich die Gestalt in dem Bett, ein Wächter kam zum Vorschein, Thymian erkannte den Oberleutnant wieder. Dieser quälte sich mit einiger Anstrengung aus den Kissen und blickte den Rekruten an, als bräuchte sein Gedächtnis noch ein, zwei Momente, um das Gesicht und die jämmerliche Gestalt zuzuordnen.
"Ach, der neue.", erinnerte sich der Wächter wieder. "Was gibt's?" Der Oberleutnant stand auf, sah kurz in sein aufgeräumten Büro und ging etwas murmelnd zu einem kleinen Schränkchen in einer Ecke, nahm von dort eine Tasse, die darauf stand und ging ohne ein weiteres Wort zu einem Kaffeedämonen im Flur. Thymian folgte ihm in respektvollem Abstand und überlegte, wie er es am besten formulieren sollte.
"Ich äh habe ein Problem.", sagte er schließlich. Oberleutnant Daemon nickte, wandte sich dann der Kaffeevorrichtung zu und begann eine merkwürdige Prozedur, in dem er zunächst Kaffee in eine andere, kleinere Tasse laufen ließ, den Kaffee von dieser Tasse dann in seine füllte, die er mitgebracht hatte und dies mit einer weiteren halben Tasse Kaffee wiederholte.
"Der Automat.", erklärte er auf Thymians verwunderte Blicke. "Er akzeptiert nur die normalen Tassen." Ein verächtliches Kopfschütteln folgte diesen Worten. "Du hattest ein Problem?"
"Äh ja, es geht um ein Testament, dass ich zu SUSI bringen sollte, aber-." Thymian stockte. Was sollte er sagen? Mein Freund hat es aufgegessen? "Äh, also, nun das war so.. ich."
"Ja?" Der Wächter nippte an seinem Kaffee und sah ihn wartend an.
"Also, ich habe da so ein paar Freunde und na ja, ich musste vor dem Abliefern bei denen vorbeisehen. Ich meine, das war sehr wichtig, äh ja.." Er stockte wieder, überlegte wie er es am besten formulieren sollte ohne, dass zwei erschreckende Möglichkeiten eintraten. Die erste war ein schallendes Lachen und Nichtglauben des Gesagten, die zweite bestand in Anbrüllen und Fordern der Dienstmarke. Vor beiden hatte Thymian Angst, aber der Oberleutnant schien sympathisch und verständnisvoll. Er hatte ihn schließlich zur Wache gebracht, dann würde er ihn sicher auch nicht rausschmeißen.
"Geht die Geschichte noch weiter?", wurde Thymian wieder aus seinen Gedanken gerissen.
"Ja, ich hatte dieses Testament also bei mir und.. und wollte eigentlich wieder aufbrechen, als mir ein Freund einfach das Papier aus der Hand riss und.. und." Er brach wieder ab, ließ die Schultern hängen und blickte zu Boden. "Man wird mich doch nicht in Vanillesoße ertränken oder?"
"Nein. Herrje, rede endlich.", drängte der Oberleutnant ungeduldig.
"Er aß es einfach auf!!", stieß Thymian mit einem entsetzen Laut von sich, erschrak über sich selber, verstummte und nur ein angedeutetes, leises 'Sir' war noch zu hören.
"Aha.", machte sein Vorgesetzter. Er sah nicht so aus, als verstünde er. Der Wächter trank den Kaffee (oder was immer diese Flüssigkeit auch darstellen sollte) aus, ging zurück in sein Büro, öffnete ein Fenster und stellte, nein drapierte, seine Tasse draußen auf der Fensterbank. "Dann kann der Regen sie reinwaschen und säubern.", erklärte er, an niemand bestimmten gerichtet. Er betrachtete noch eine Weile fast sinnierend die Tasse, die allmählich von kleinen Regentropfen benetzt wurde und redete dann wieder weiter. "Und jetzt erzähl noch mal die ganze Geschichte, lass diesmal das Stottern weg und füll die Lücken stattdessen mit Einzelheiten und interessanten Informationen."
Etwas später..
".. und dann schlug er mich nieder. Was soll ich jetzt tun? Ich hab alles verpatzt. Werde ich jetzt rausgeschmissen?", schloss Thymian und sah den Oberleutnant gespannt und gleichzeitig besorgt an. Der Ranghöhere hatte sich mittlerweile auf sein Bett gesetzt und schien nachzudenken.
"Nein, du wirst nicht rausgeschmissen. Aber das ist sehr.. interessant alles. Der tote Mann hieß Victor Krunn, sagtest du?", fragte Oberleutnant Daemon. Thymian nickte. "Interessant, interessant."
"Ja?"
"Und was weißt du über den Mann? Was hat dir Cim über ihn erzählt?", hakte der Wächter nach.
"Nur, dass er eine Treppe hinunterfiel und dadurch starb. Der Hauptgefreite vermutete, dass er vielleicht gestoßen wurde. Ja, ich glaube so war es. Äh, Sir.", berichtete Thymian.
"Interessant, interessant.", wiederholte der Oberleutnant. "Wir hatten nämlich vor ungefähr zwei Wochen einen Fall bei DOG. Es fand sich ein toter Victor Krunn, allerdings nicht am Fußende einer Treppe."
"Wo denn? Äh, wo denn, Sir?"
"Nur Geduld, junger Rekrut. Da werden wir gleich hingehen. Zunächst stellt sich hier nur eine Frage. Eine Frage von enormer Wichtigkeit.", erwiderte Oberleutnant Daemon und hielt kurz inne, um die Dramatik des Augenblicks Gelegenheit zu geben, sich im Raum auszubreiten. "Und zwar folgende:"
"Okay, welcher Depp hat den Kaffeedämonen versaut???! Hier ist alles klebrig und warum sind schon wieder alle Tassen benutzt?!", drang plötzlich in diesem Moment eine verärgerte Stimme aus dem Gang.
"Äh, nein, das war nicht die Frage, die ich meinte. Die Frage ist-.", setzte der Wächter erneut an.
"Wer hat denn hier so gekleckert?! Es sind riesige Pfützen auf dem Boden!" Oberleutnant Daemon brummelte etwas, erhob sich und schlug seine Bürotüre zu, die Stimme im Flur war nur noch gedämpft zu hören.
"Also, die Frage: Für wen arbeitet der Pappmaskenmann?", sagte er schließlich.
"Ich weiß es nicht, Sir. Ich vergaß ihn zu fragen.", erwiderte Thymian kleinlaut.
"Wüßten wir das, wäre der Fall ja auch schon halb gelöst. Aber wir werden es herausbekommen."
"Und wie?", fragte der Rekrut nach einer Weile, als sein Vorgesetzter nicht weitersprach, sondern ihn nur ansah, als warte er auf das Stichwort.
"Durch Ermittlungsarbeit.", antwortete Oberleutnant Daemon endlich, nahm einen Mantel, der auf dem Bett lag und streifte ihn über. "Und jetzt gehen wir zum Tatort."
"Wo liegt der denn, Sir?", fragte Thymian, doch der andere Wächter grinste nur darauf.
"Sagt dir das Motto Numquam vestimus was?"
Nein, Thymian Pech sagte dieses Motto bisher nichts. Aber er lernte schnell dessen Bedeutung kennen. In der SoSo-Straße des SoSo-Viertel wusste man mit dem was man hatte was anzustellen.
Oberleutnant Daemon schlug einen Vorhang aus bunten billigen Glasperlen beiseite und betrat den hauseigenen Club der Gilde. Selbst in der Nacht war hier noch etwas los. Einige Männer saßen an zerkratzten, abgewetzten Tischen und blickten gebannt zur Bühne. Ein Banner an der Wand verkündete einen 'fähnomenalen Auftritt' der Freundinnen der exotischen Tänze, diese Information blieb Thymian natürlich verwehrt und so stolperte er ziemlich ahnungslos in den großen, nur schummrig beleuchteten Raum. In der Ecke stand eine Bar, die ganz danach aussah, als ob dort Getränke mit bunten Schirmchen in den Gläsern ausgeschenkt würden. Ein Mann mit einem Handtuch über der Schulter wischte abwesend mit der Hand über die Theke und starrte abwartend zur Bühne.
Thymian sah sich zaghaft um. Solche Orte in Ankh-Morpork waren ihm gänzlich unbekannt. Man kam nicht oft aus den Toren der Narrengilde...
"Wozu stehen denn diese Stangen auf der Bühne?", fragte er den Oberleutnant.
"Äh, die sind dafür da, dass sich die Tänzerinnen festhalten können und so.", erklärte der erfahrene Wächter. Er nickte dem Mann hinter der Bar zu und suchte sich dann einen Tisch. Thymian folgte ihm rasch und setzte sich hastig hin.
"Und was tun wir nun hier?", fragte er.
"Wir warten bis Frau Wumm Zeit für uns hat." Oberleutnant Daemon drehte seinen Stuhl etwas in Richtung der Bühne, als in diesem Augenblick lautstarkes Gegröhle einsetzte. Der lila Vorhang, an einigen Stellen schon von Motten zerfressen, wurde beiseite geschoben und heraus traten zwei Frauen.
"Und was passiert jetzt?", fragte Thymian im Tonfall eines neugierigen, aber einfältigen Kindes. Der andere Wächter antwortete nicht, er brauchte auch nicht zu antworten. Thymian sah es. Musik setzte von irgendwoher ein und in den nächsten Minuten erfuhr der ehemalige Narr, dass Stangen nicht nur gut zum Festhalten geeignet waren. Er erfuhr auch von, ihm bisher völlig unbekannten Möglichkeiten der menschlichen Anatomie.
"Oh, die sind aber äh gelenkig.", kommentierte er das Gesehene und bekam einen hochroten Kopf.
Er hatte nicht Gelegenheit weiter diese Neuigkeit, die die Scheibenwelt für ihn anscheinend bereithielt, zu verfolgen, denn in diesem Moment kam der Mann, dem der Oberleutnant eben noch zugenickt hatte, zu ihrem Tisch und beugte sich zu Daemon herunter.
"Frau Wumm wird euch nun empfangen.", sagte er in einem ungewöhnlich leisem Tonfall. Der Wächter nickte, erhob sich und blieb wartend stehen bis Thymian begriff und es ihm rasch gleich tat. Sie folgten dem Mann, verließen den Raum und gingen in dem dunklen Eingangsflur eine schmale Treppe nach oben. In einem weiteren nur von einigen Öllampen an den Wänden spärlich beleuchteten Flur wies der Mann auf eine Türe, klopfte daran und wartete einige Sekunden.
"Die Herren von der Stadtwache, Dixie.", sagte er.
"Sollen reinkommen!", ertönte eine laute Stimme von der anderen Seite. Der Mann öffnete gehorsam die Türe, bedeutete den beiden Wächtern einzutreten und verschwand wieder nach unten.
Drinnen saß eine Frau in den mittleren Jahren hinter einem Schreibtisch und blickte die beiden Wächter forsch an. Ihr Gesicht war grell geschminkt, mit einem leuchtend roten Korallenmund, während eine große goldene Kette ihr Dekolletee schmückte. Sie hatte ihre Hände gefaltet, die mit unzähligen klobigen Ringen bestückt schienen, und nickte dem Oberleutnant und Thymian zu. Während sie sich auf zwei Besucherstühle setzten, ließ Thymian einen, so wie er hoffte, unauffälligen Blick durch den Raum schweifen. Rechts an der Wand stand ein weiterer Schreibtisch, wo ein älterer Mann saß, zerknitterte Wechselscheine glatt strich und Münzen zu kleinen Türmchen stapelte. Offensichtlich seine einzige Tätigkeit.
"Edward.", begrüßte der Oberleutnant den Mann, der aber noch nicht mal da von seiner Beschäftigung aufblickte, sondern nur etwas Unverständliches murmelte.
"Was verschafft mir noch einmal die Ehre?", fragte die Frau an dem anderen Schreibtisch schließlich. "Eure Spurensicherung hat bereits alles abgeräumt und protokolliert."
"Ich weiß, es ist mir unten aufgefallen. Wir haben jedoch neue Erkenntnisse im Fall Victor Krunn.", berichtete Oberleutnant Daemon.
"Ich dachte die Sache wäre bei den Akten. Kein begründeter Tatverdacht oder so, war es nicht das?"
"Ja, aber das war vor zwei Wochen, Frau Wumm. Heute haben wir neues herausgefunden.", erklärte der Wächter. Die Frau am Schreibtisch nickte und strich sich mit einer Hand eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. Thymian verfolgte interessiert das Gespräch ohne genau zu wissen, worum es hier eigentlich ging. Doch er traute sich erst recht nicht mitten rein zu platzen und danach zu fragen.
"Und was wäre das? Ich finde diese erneute Belästigung unangenehm, dass so viele Wächter da waren, hat meinen Kundenstamm sowieso schon verringert, es hat eine Woche gedauert bis er wieder bei der gleichen Zahl war. Einige sind unserem Anwesen immer noch fern. Wir mussten sogar Sonderaktionen einführen. Du hast selbst gesehen wie ungewöhnlich leer es unten im Club ist. Sind jetzt alle drüben beim Skunk Club. Nicht, dass ich etwas gegen den hätte, bin selbst dort damals aufgetreten, aber ich will die Mädchen hier nicht umsonst tanzen lassen. Werden jetzt hier schon wieder Wächter auftauchen und unsere Kunden vergraulen? Ich kann das hier nicht gebrauchen, so was schadet dem Geschäft, das weißt du doch.", redete Frau Wumm in einem raschen Tempo auf den Oberleutnant ein, der immer wieder versuchte etwas einzuwerfen.
"Ich versteh das ja.", kam er endlich zu Wort. "Aber wir müssen ermitteln, es werden dabei keine neuen Wächter kommen, außer mir und ihm hier." Der Oberleutnant deutete auf Thymian.
"Thymian Pech mein Name, Madam.", stellte sich der Angesprochene rasch vor. Frau Wumm musterte ihn kritisch.
"Na schön.", sagte sie schließlich. "Was wollt ihr denn genau?"
"Wir müssen alle noch einmal befragen, wenn das ginge. Zu allererst die Frau, die zu dem Zeitpunkt aufgetreten ist. Miss.." Oberleutnant Daemon holte einen Notizblock hervor und blätterte suchend darin.
"Helen.", half ihm Frau Wumm aus.
"Ja, genau. Wer war noch anwesend?" Er drehte sich um und wandte sich zu dem Mann namens Edward. "Du warst doch damals unten im Club, nicht wahr? Ich brauch diesmal alle Namen derer, die mit Victor Krunn am Tisch saßen und die sonst noch im Raum waren." Der Mann sah hinter einer Turmwand aus Münzen auf und kratzte sich nachdenklich am Kinn.
"Ich kann in meinen Aufzeichnungen nachsehen und in meinem Gedächtnis suchen. Aber mich an alle Namen zu erinnern, kann ich nicht versprechen.", antwortete er.
"Gut.", gab der Wächter zurück und blickte wieder zu Frau Wumm. "Ist Miss Helen da? Mein Kollege wird sie befragen, dann geht's schneller." Thymian spürte einen Anflug von Stolz, als er Kollege genannt wurde, der aber rasch wieder verging, nachdem Frau Wumm ihre Antwort gegeben hatte.
"Ja, sie ist in der Garderobe." Dann sah sie Thymian an. "Ist der überhaupt befähigt dazu? Ich seh gar keine Rangabzeichen bei ihm."
"Er wächst noch, hört quasi gar nicht mehr auf damit. Wir mussten ihm schon dreimal eine neue Uniform verpassen, das ist immer eine Arbeit, zuerst was neues heraussuchen, den Brustpanzer anpassen, die vielen Abzeichen von der alten Uniform-.", antwortete der Oberleutnant noch ehe Thymian sich etwas zurecht stammeln konnte, wurde aber von Frau Wumm unterbrochen.
"Schon gut, so genau wollte ich es gar nicht wissen. Habe noch wichtigeres zu tun. Er kann zu ihr gehen und sie befragen. Die Garderobe ist oben auf dem Flur, Wächter. Von hier aus sich rechts halten, zweite Tür."
"Äh, danke." Thymian erhob sich zögerlich und sah beinahe flehend zu Oberleutnant Daemon. Was sollte er denn fragen? Er hatte doch überhaupt keine Ahnung von dem Fall. "Ich.. äh, was soll ich denn fragen?", traute er sich endlich.
"Haha, ist er nicht lustig? Immer ein Scherz auf den Lippen.", erwiderte der Oberleutnant nur. Frau Wumm stimmte in ein verhaltendes Lachen ein, aber ihre Blicke ließen Thymian zur Tür stolpern. Er verschwand durch diese und hörte nur noch, wie der Wächter von DOG darauf hinwies, dass Thymian danach wieder hierher zurückkommen solle.
In der Garderobe schien anscheinend niemand zu sein, Thymian wollte schon ratlos wieder umkehren, als er entdeckte, dass der Raum hinten einen Knick machte und dort weiterging.
"Hallo, ist da jemand?", rief er zaghaft. Niemand antwortete, er drehte sich um, seine Hand ging zum Türgriff. Dann hörte er das Klacken. Das Klacken von Schuhen mit Absätzen. Der ehemalige Narr drehte sich erneut um und synchron trat jemand aus der anderen Hälfte des Raumes.
Schwarze Schuhe mit hohen Centabsätzen. Beine so weit das Auge reichte, ein langer flauschiger Bademantel in einer rosaroten Farbe verbargen diese zwar weitgehendst, aber bei jedem Schritt wogte der Mantel, gab den Blick frei auf zwei makellos geformte Beine. Blondes, gewelltes Haar reichte ihr bis über den Rücken. Ihre Bewegungen ein einziger Fluss, gleich dem geschmeidigem Gang einer Katze. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und sah ihn an.
All dies registrierte Thymian binnen Sekunden. Nun, wahrscheinlich war es doch ein wenig länger, denn die Frau starrte ihn wartend an und fragte schließlich, wer er sei.
"T-t-tymian aus.. aus der Narr- äh nein, von der Wache. Aus Ankh-Morpork.", stammelte er, während sein Blick über ihre Schultern wanderte, die ihr Bademantel großzügig offenbarte. Die Frau schenkte ihm ein Lächeln.
"Hallo, Thymian. Ich bin Helen.", sagte sie. Ihre Stimme fast eine Spur zu dunkel im Klang.
"Hallo, Helen.", begrüßte er sie ohne groß nachzudenken. Helen trat näher und erst jetzt fiel Thymian auf wie groß sie war. Mindestens 1,90, schätzte er.
"Was gibt es denn?", fragte sie, als er nicht von alleine weiterredete. Helen ging derweil zu einer Anrichte an der Wand, es sah wie ein Schminktisch aus, sie setzte sich davor und beobachtete den Rekruten durch den großen Spiegel, der darüber angebracht war.
"Ich.. ich hätte ein paar Dings äh Fragen.", brachte Thymian hervor und stand unschlüssig in der Gegend herum.
"Welche denn?", fragte Helen, griff zu einer Bürste und begann ihre Haare zu kämmen.
"Es geht um Victor Krunn." Sie hielt noch nichtmal inne in ihrer Tätigkeit, sondern sah ihn nur weiter an. "Du äh bist aufgetreten, während er starb, oder?", versuchte es Thymian.
"Ja, ich tanzte, zog mich aus, er bekam eine Herzattacke im Club, brach am Tisch zusammen und war auf der Stelle tot. Irgendjemand versuchte noch Rettungsmaßnahmen, um ihn wieder zum Leben zu erwecken, aber es war zwecklos. Das habe ich bereits alles erzählt, sogar zweimal, nun ein drittes Mal.", erklärte Helen. Sie legte die Bürste beiseite, ihr blondes Haar glänzte golden unter dem matten Schein der Lampen im Raum. Ihre Augen suchten die seinen, Thymian schwitzte heftig und seine Knie bekamen allmählich die Konsistenz von geronnener Butter. Helen nahm einige Klammern und Nadeln zur Hand und begann in einigen geübten Handgriffen ihr Haar hochzustecken. Mit zwei Klammern im Mund, die sie noch nicht verbraucht hatte, sagte sie plötzlich unvermutet:
"Un' ja fu dein'r infgeheim'n Frafe, ich bin tatfäflich ganf nackt unt'r dem Mantel."
Als Thymian den Sinn des Satzes verstanden hatte, kroch sofort brennende Hitze seine Wangen empor, im Spiegel sah er selbst, dass er hochrot wurde.
"Also, das.. das.. das.", stotterte er nur noch. Helen nahm die Klammern aus dem Mund und befestigte sie in ihren Haaren. Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
"Das wolltest du doch wissen, nicht wahr?" Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und genoss es offensichtlich ihn unverhohlen anzusehen. Thymian Pech hatte in der Narrengilde nie ausreichend Gelegenheit gehabt Erfahrungen im Umgang mit Frauen zu sammeln, selbst die etwas rundliche Gemüsehändlerin auf dem Marktplatz brachte ihn meist schon aus dem Konzept, aber diese Frau hier...
War das nun sein zurückgekehrtes Glück, das ihn Helen hatte treffen lassen und er sie nun ansehen durfte? Nein, er musste sich beruhigen. Sie hatte Unrecht. Er hatte sich überhaupt nicht gefragt, ob sie darunter etwas an hatte oder nicht. Noch nicht einmal auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet. Dafür jetzt sehr viele...
"Ich bin wegen Victor Krunn hier.", fand Thymian sich wieder.
"Das sagtest du bereits.", gab sie zurück. Helen erhob sich, schritt hinter eine hölzerne Trennwand. Thymian bemühte sich nicht dorthin zu sehen.
"Kanntest du Herrn Krunn äh genauer?", fragte er weiter.
"Er war ein Stammgast. Gern gesehen. Hat immer viele Münzen auf die Bühne geschnippt oder uns hohe Wechselscheine zugesteckt." Der rosa Bademantel wurde plötzlich über die Trennwand gehangen. Thymian schluckte und bemühte sich Fassung zu bewahren. Er hörte das Klacken ihrer Schuhe und wie sie hinter der Abtrennung umherging.
"Aber ähm persönlich hattet ihr nicht viel miteinander zu tun?"
"Nein, wir wechselten nur immer mal ein paar Worte, nichts außergewöhnliches."
"War denn etwas an ihm außergewöhnlich?", überlegte sich Thymian seine nächste Frage. Er hatte keine Ahnung, worauf es beim Ermitteln ankam, was man fragen sollte und wie man reagierte, wenn die Zeugin ohne Bademantel bekleidet war.
"Außergewöhnlich? Nein, nicht, dass es mir aufgefallen wäre. Vom Äußeren her war er eine normale Erscheinung. Schon in den älteren Jahren, gut gebaut, aber nicht übermäßig ansehnlich. Hat zudem immerzu an seiner Pfeife gepafft. Soweit ich weiß, ist er ziemlich reich gewesen, hat ein Anwesen auf der Ankh Seite. Keine Familie mehr. Oder nie gehabt, keine Ahnung.", zählte Helen stichwortartig auf.
"Kam er mit Freunden? Oder hat er sich hier mit jemandem getroffen?"
"Ja, er war mit einigen Stammgästen befreundet oder locker bekannt, wie immer man dazu auch sagt.", antwortete sie und kam schließlich wieder hinter der Trennwand hervor. Thymian hatte sich dezent umgedreht, sah aber nun im Spiegel, dass sie ein schwarzes, enges Kleid anhatte, passend zu den Schuhen.
"Gefällt es dir?", fragte sie, als ob sie sich schon ewig kannten, er wandte sich wieder ihr zu und nickte verlegen.
"Hel.. äh haben diese Freunde auch ähm Namen?" Helen schüttelte darauf den Kopf.
"Tut mir leid, Süßer. Wir sind die Gilde der exotischen Tänze, unsere Kunden legen meist wert darauf, dass ihre Namen unerwähnt bleiben.", erwiderte sie und schaffte es sogar einen betrübten Gesichtsausdruck an den Tag zu legen, als würde sie selbst diesen Umstand für ihn bedauern. "Hast du sonst noch Fragen?"
"Ähm.." Thymian überlegte fieberhaft, aber es fiel ihm nichts weiteres mehr ein. "Gibt es vielleicht ein Bild von ihm?", fragte er nach einer Weile angestrengten Nachdenkens.
"Ja, da gibt es eins.. warte mal." Sie ging zu der Anrichte, schob eine Schublade auf und schien darin zu suchen. "Ah ja, hier ist es." Helen reichte ihm eine Ikonographie. "Ich wollte es eigentlich schon längst gerahmt haben, aber du weißt ja wie so was ist.", sagte sie. Thymian wusste zwar nicht, wie so etwas war, nickte aber trotzdem. Auf dem Bild erkannte er sofort auch Helen wieder, ein Mann neben ihr hatte ihr den Arm um die die Taille gelegt und grinste in Richtung Malerdämon.
"Das ist er?", fragte Thymian überflüssigerweise.
"Ja, er hat das Bild selbst gemacht. Nimm es nur mit, jetzt wo er tot ist, werde ich es eh nie mehr rahmen lassen. Du kannst es für deine.. Ermittlungen haben.", antwortete Helen. Sie ging zu einigen Kleiderhaken an der Wand und nahm von dort eine kleine, schwarze Tasche. "Ich habe jetzt Dienstschluss.", fügte sie hinzu und sah ihn an.
"Äh ja, natürlich. Ich hab auch noch äh viel zu tun und so.", gab Thymian schnell zurück, da fiel ihm noch etwas ein. "Du sagtest, er hat es selbst gemacht? Krunn ist doch der auf dem Bild oder?"
"Oh ja, das ist er. Victor kannte sich gut mit Ikonographen aus.", erklärte sie. Helen wandte sich zum Gehen und er folgte ihr durch den Raum. Als sie die Türe öffnete, blickte sie ihn noch einmal an. "Ach ja, liebster Pech, ich habe morgen einen Auftritt hier. Vielleicht möchtest du kommen und mir zusehen." Sie zwinkerte ihm kokett mit den langen Wimpern zu. Thymian errötete wieder und verfluchte sich im Stillen selbst dafür.
"Äh, ich werd äh sehen, was sich machen lässt.", erwiderte er. Sie stolzierte vorne weg, ihr schwarzes Kleid verschmolz mit der dunklen Umgebung des Flures, die Öllampen auf den Halterungen nur ein blasser Abglanz ihrer Haare. Thymian musste vor der Türe von Frau Wumms Büro stehen bleiben, er hob die Hand zum Abschied, winkte unbeholfen, aber sie drehte sich nicht um. Er beobachtete ihren Gang, wie sich einzelne Falten in ihrem Kleid abwechselnd bildeten und wieder glätteten. Dann war sie zu weit weg, um etwas Genaueres erkennen zu können. Sie verschwand in der Dunkelheit. Schritt für Schritt auf der Treppe.
Unten war das markante, harsche Auftreten ihrer Schuhe zu vernehmen, nun nicht mehr gedämpft von dem Teppich im oberen Stockwerk.
"Und, was herausgefunden?", fragte Oberleutnant Daemon, als Thymian wieder eintrat.
"Äh, ich weiß nicht genau.", gab der Rekrut nach einer Weile zurück. Der Oberleutnant saß bei dem Mann, der den Namen Edward trug, und notierte sich gerade etwas in seinen Notizblock.
"Hast du überhaupt Fragen gestellt?" Er guckte Thymian an und grinste. "Oder hast du sie nur angegafft?" Der ehemalige Narr schüttelte heftig den Kopf und erzählte, was ihm Helen wiederum erzählt hatte, dass Victor Krunn ein Stammgast war, er sich hier mit Freunden traf, dass nichts Außergewöhnliches an ihm war und er ein Anwesen in der reicheren Gegend der Stadt hatte.
"Das kannten wir leider alles schon.", bemerkte der andere Wächter. Und zu Edward und Frau Wumm gewandt: "Danke, weitere Fragen habe ich nicht. Wir melden uns wieder." Er stand auf, klappte seinen Block zu und verabschiedete sich höflich.
"Und ich habe diese Ikonographie.", setzte Thymian mit einem triumphierenden Unterton nach, als sie draußen waren. Er hielt dem Oberleutnant die Ikonographie hin.
"Das hilft uns nicht viel, wir haben hunderte von Bildern von dem Kerl, aber nur im toten Zustand und- warte mal, warum ist die Ikonographie zur Hälfte abgerissen?" Der Wächter hielt inne und durchbohrte den Rekruten mit einem fragenden Blick.
"Äh, die andere Hälfte wollte Helen für sich behalten. Als Andenken, äh, ja, genau.", erklärte Thymian rasch. Der Oberleutnant deutete ein Nicken an und sie gingen die Treppe hinunter. Die beiden Wächter verließen das Gildengebäude und traten in die dunkle Nacht. Der Oberleutnant sah in den Sternenhimmel.
"Also ich habe einige Namen, das reicht für weitere Ermittlungen. Ich denke, für heute ist aber Schluss."
"Wirst du bei Herrn Bürstenkinn wegen mir bescheid sagen, Sir?", fragte Thymian endlich das, was ihn schon lange beschäftigte. Sein Gegenüber rieb sich nachdenklich am Kinn und machte dann eine wegwerfende Handbewegung.
"Nein, weswegen denn? Die Sache mit dem Testament? Ich weiß gar nicht, warum Cim deswegen ermittelt, das fällt eindeutig in den Zuständigkeitsbereich von DOG. Wir machen folgendes:" Er drehte sich zu Thymian um. "Du wirst morgen deine komischen Freunde aufsuchen und bei ihnen nach dem rechten sehen. Soweit ich weiß, hast du den Pappmaskenmann doch dorthin geschickt oder?" Thymian Pech nickte. "Gut, danach treffen wir uns zur Mittagsstunde bei dem Notar, werd ihn mal wegen diesem Testament fragen.", redete der Wächter weiter und wurde unmerklich leiser, als dächte er darüber nach. "Besser, wenn du da mitkommst, du warst schließlich bereits einmal bei Herrn Türmichgut.", fügte er hinzu. Oberleutnant Daemon wandte sich zum Gehen. "Schönen Feierabend noch, Rekrut."
Es war halb zwei.
Es war halb zwei.
Er wagte sich Schritt für Schritt nach Hause, die Dunkelheit in den Straßen, ihre beinahe trügerische Leere und das Echo von weiteren Schuhen hinter sich erweckten ein Gefühl der Beklommenheit bei Thymian. Mit beschleunigtem Tempo eilte er nach Hause, spürte bohrende Blicke in seinem Rücken, spürte einen Lufthauch im Nacken. Vielleicht nur ein Bettler, versuchte er sich zu beruhigen. Er riskierte einen hastig geworfenen Blick über die Schulter, doch da war niemand hinter ihm. Erleichtert atmete Thymian auf, er machte sich nur selbst verrückt.
Trotzdem... das Gefühl war da und ließ sich selbst mit der erbittersten Rationalität, die er imstande war aufzubringen, nicht vertreiben; das Gefühl des Beobachtseins, jenes, das er schon in der Narrengilde zu spüren bekommen hatte. Die Augen huschten dann ängstlich und hoffend zugleich über jeden Winkel, saugten sich an einzelnen Ecken fest, versuchten umher schleichende Schemen auszumachen.
Du machst dich verrückt, da ist niemand, redete er sich wieder selber zu. Thymian verlangsamte dennoch seine Schritte nicht, wurde immer schneller und schneller bis er rannte und erst wieder keuchend, atemlos vor der Kneipentüre seines Onkels stehen blieb. Er holte aus der Brusttasche seiner Uniform die halbe Ikonographie hervor, strich fast zärtlich über das Bild von Helen, seufzte unhörbar leise und betrat dann die Kneipe. Mit leise gemurmelten Worten schob er sich an seinem beschäftigten Onkel vorbei, stolperte in die Besenkammer, fiel auf sein Bett und in einen traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen versuchte Thymian alles nur nicht auf direktem Wege zum Haus von Kurt und Ecila, dem Treffpunkt der Teegesellschaft, zu gelangen. Er schlenderte ziellos umher, glitt in die Flut aus Menschen, Zwergen, Trollen und anderen Arten, die sich heute in den Straßen ballten, und überlegte, wie er dem Fröhlichen Kurt nur erklären könnte, dass er außer der Reihe der gewöhnlichen Zusammentreffen kam.
Kurt... bei dem Gedanken an ihn, konnte Thymian ein erneutes fassungsloses Kopfschütteln nicht verhindern. Er hatte das Testament aufgegessen und so damit Thymian in einen Fall gestürzt, den er weder zu überblicken vermochte noch überhaupt verstand worum es eigentlich ging. Niemand hatte ihm erklärt wie er reagieren solle, wie richtiges Ermitteln ging. Er war doch nur Rekrut. Dies war sein zweiter Tag. Thymian erinnerte sich an seinen zweiten Tag in der Narrengilde. Dort war er in Bekanntschaft mit den lustigen Traditionen der Gilde gekommen und hatte die einmalige Ehre gehabt als jüngster Clown einen Tag lang auf die anderen herab zu blicken. Was nicht weiter schwer ist, wenn man mit Tapetenkleister an der Decke befestigt ist.
So gesehen konnte der heutige Tag nur besser werden.
Thymian Pech hüpfte durch die Straße, fand einige Münzen, verschenkte sie an herumstreunende Bettler und trat dann endlich in die Straße ein, wo das gesuchte Haus war... sein sollte... sich nicht mehr befand...
Es war als ob eine Faust titanischen Ausmaßes vom Himmel auf die Scheibenwelt herabgestürzt war, mit dem einzigen Ziel ein bestimmtes Haus in einer bestimmten Straße zu zermalmen. Vielleicht war es auch nur ein übler Scherz der Götter.
Thymian schluckte heftig, als er die Ruine vor sich sah. Noch nicht einmal das Grundgerüst aus Holzbalken war stehen geblieben. Nur Geröll und Trümmer waren zu erkennen. In der Mitte ging Kurt in kleinen konzentrischen Kreisen eine Bahn ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Augen auf den Boden unter ihm geheftet, als suche er etwas. Nur das leise Kichern, das er immer wieder von sich gab passte nicht in diese Vermutung.
Der Rekrut trat auf ihn zu, schaffte es aber nicht Kurt davon abzubringen doch erstmal stehen zu bleiben.
"Du, störe meine Kreise nicht!", rief der Fröhliche Kurt, lachte laut und sah dann Thymian grinsend an.
"Was... wie... wo.." Er wusste nicht mit welcher der vielen Fragen er anfangen sollte. "Wo ist Ecila?", entschloss er sich schließlich für diese Frage.
"Bei ihrer Mutter."
"Aha, dann geht's ihr also- sie hat eine Mutter?" Erst jetzt gelangte diese Information in Thymians Geist an.
"Klar, ab sofort sind die Treffen bei Oma Quiehn. So jetzt hab ich's dir gesagt, du weißt bescheid." Kurt blieb stehen, zwinkerte Thymian zu und wollte von den Trümmern heruntergehen, doch Thymian hielt ihn zurück.
"He, warte doch mal, du hast mir noch gar nicht gesagt, was hier passiert ist. Ich meine, wo.. wo ist das Haus hin?"
"Was passiert ist? Hehe, da kam so ein Mann, hatte ne lustige Maske. Oh ja, dachte ich mir, die Maske, die wäre was für meine Untergrundorganisation. Der Unfassbare war meiner Meinung. Nur das Material war schlecht. Pappe, wer benutzt den heutzutage noch Pappe für Masken? Selbst du als Narr, musst das ja wissen.", erzählte Kurt in raschem Tempo, während Thymian immer mal wieder zwischendurch fragte, was denn nun genau geschehen war. "Keramik, das ist ein gutes Material. Wenn die Pappe wenigstens bemalt gewesen wäre, irgendein Muster, Gesicht, das wäre ja noch durchgegangen. Oder mit Seide verschönert, Federn wären auch nicht schlecht gewesen. Außerdem war die Maske was durchweicht, das sah unschön aus. Deswegen rate ich auch von Pappe ab, sie ist nicht wasserfest. Keramik dagegen-."
"Verdammt, was ist passiert???" Thymian wollte ihn durchschütteln, aber er zügelte sich im letzten Moment.
"Na, der Mann kam rein, deutete auf die Teekanne auf dem Tisch und meinte tatsächlich, er müsse die im Auftrag von Lady Lilith beschlagnahmen und mitnehmen und uns läge doch sicher viel am Wohle der Regentin. Herrn Kaninchen lag nur viel an der Kanne, es ist seine eigene, weißt du ja. Hat sie, glaub ich, letzten Jahres Ecila zum Geburtstag geschenkt. Aber das zählt ja nicht, es ist immer noch seine eigene und-." Thymian bemühte sich zu beherrschen und wiederholte noch einmal langsam und deutlich seine Frage. "Naja, der Mann wollte die Kanne und er redete was von Lady Lilith, Herr Kaninchen stand auf und du kannst dir sicher vorstellen, was dann passiert ist." Kurt machte eine Handbewegung und deutete auf die Reste des Hauses hin. Nein, Thymian konnte es sich nicht vorstellen, kam aber zu dem Schluss, dass er dies auch gar nicht wollte.
"Ist der Mann tot?", fragte er stattdessen. Der Fröhliche Kurt zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung, frag ihn doch. Er steht da hinten an der Ecke und beobachtet dich die ganze Zeit." Erschrocken wollte Thymian darauf herumfahren, aber Kurt griff ihn an der Schulter und hielt ihn fest. "Nicht umdrehen, hast du denn noch gar nichts gelernt bei der Wache? Du kannst bei meiner Untergrundorganisation Schutz suchen, wenn du willst. Ich stell dir das Frettchen zur Seite.", schlug der Fröhliche Kurt vor.
"Es ist.. unsichtbar. Ich meine, es ist nicht da.", gab Thymian zurück, er glaubte, ein unangenehmes Stechen im Nacken zu spüren.
"Jaha, das denken die Leute! Doch, wenn es unsichtbar ist, glauben alle du wärst allein, dabei hast du einen mächtigen Verbündeten zur Seite."
"Mächtigen Verbündeten, klar. Danke für deine überaus große Hilfe, jetzt fühl ich mich gleich viel sicherer.", erwiderte Thymian sarkastisch.
"Nichts zu danken. Ein Ratschlag noch: Halte dich von dunklen Gassen fern." Er blickte an Thymians Uniform herunter und zeigte auf das Holzschwert. "Und lass dir ein richtiges Schwert geben."
Kurt verabschiedete sich von ihm, stieg von den Trümmern herunter und Thymian war allein. Er wagte es kaum sich umzudrehen. Irgendwo stand dort dieser Mann und lauerte, beobachtete ihn. Mit vorsichtigen Schritten und den Blick fest auf den Boden gerichtet ging Thymian über die Straße und Richtung des Hauses von dem Notar. Er hatte dem Oberleutnant die Adresse genannt und dieser würde dort auf ihn warten, aber bis dahin war es noch ein Stück, das er zu Fuß gehen musste. Menschen schoben sich an ihm vorbei, es war ein friedlicher Tag, aber im Nacken des ehemaligen Narren rann kalter Schweiß hinunter. Seine Hände zitterten und er lauschte angestrengt, ob er Schritte vernahm, die ihm folgten. Jedes Mal fuhr er zusammen, wenn ihn jemand an der Uniform streifte. Er wird mich töten. Auf offener Straße., kam es ihm in den Sinn. Wahrscheinlich hatte der Mann schon seinen Dolch gezückt, wartete nur auf eine günstige Gelegenheit.
Doch zu Thymians Erleichterung wurde er nicht von hinten niedergestochen, zwar blieb die ganze Zeit über das Gefühl von bohrenden Augen in seinem Rücken, doch er erreichte unbeschadet das Haus des Notars, wo vorne schon Oberleutnant Daemon auf ihn wartete.
Herr Türmichgut war ein wenig irritiert, als die zwei Wächter in sein Büro traten. Er stand von seinem Stuhl auf, kam eiligst auf die zwei Männer zu und wollte sie mit Gesten und Worten wieder aus dem Raum vertreiben. Als dies nicht funktionierte, blieb er stehen und sah sie herausfordernd an.
"Was wollt ihr denn hier?", fragte er in einem gereizten Tonfall. "Kann ich euch helfen? Seid ihr privat hier? Wollt ihr euer Testament aufsetzen?" Er zauberte ein ungewohntes breites Lächeln in sein Gesicht.
"Nein, wir haben noch nicht vor zu sterben. Es geht um Victor Krunn.", erwiderte der größere Wächter, nach den Abzeichen sogar ein Oberleutnant. Das Lächeln von Herrn Türmichgut erstarb. Er wurde ein wenig bleich um die Nase.
"Victor.. Victor Krunn?", fragte er höchst verwirrt. Der Oberleutnant nickte. "Was ist mit dem?"
"Du bist doch der Notar von ihm gewesen oder, Herr Türmichgut?"
"Ja, aber was... warum seid ihr hier? Den Totenschein hab ich vor einer Woche schon bekommen, er starb eines äh natürlichen Todes, die Leiche wurde anschließend der Einbalsamiergilde übergeben und schließlich auf dem Friedhof beim Tempel der Geringen Götter beigesetzt. Kurz gesagt, es gibt nichts mehr zu besprechen.", erklärte der Notar. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und sprach etwas in einen kleinen Trichter.
"Cynthia, die Herren von der Stadtwache wollen gehen." Eine Klappe öffnete sich an der Seite des Schreibtisches und ein kleiner Kobold sprang heraus und lief trippelnd Richtung Türe.
"Halt ihn auf.", sagte der Oberleutnant nur knapp. Ohne Nachzudenken stellte der andere Wächter dem Kobold ein Bein, dieser stolperte fluchend und der Wächter nahm ihn zwischen zwei Fingern auf als wäre er ein merkwürdiges Insekt.
"Die Herren von der Stadtwache entscheiden selber wann sie gehen wollen.", fügte der Oberleutnant nach dieser Aktion hinzu.
"Die.. die Anwaltsgilde wird von diesem Vorfall erfahren." Herr Türmichgut tupfte sich mit einem dunkelroten Tuch einzelne Schweißperlen von der Stirn.
"Warum so nervös? Es ist doch gar nichts passiert.", entgegnete der Oberleutnant darauf. "Um wieder zu dem Fall zurückzukommen: Kürzlich war ja erst ein gewisser Hauptgefreiter hier, um das Testament abzuholen.."
"Ah ja, das Testament. Was ist damit? Es wurde doch nicht etwa gestohlen oder?"
"Nein, das Testament befindet sich sicher aufbewahrt im Wachhaus." Notar Türmichgut riss entsetzt die Augen auf. Er hatte sich nicht so gut unter Kontrolle, wie er sich das wünschte.
"Es ist im Wachhaus?!"
"Natürlich, wo soll es sonst sein? Übrigens unbeschadet, so wie du es gewünscht hast, soweit man mir das jedenfalls mitteilte.", erwiderte der Wächter.
"Äh ja, dann ist ja alles bestens."
"Genau."
"Und warum seid ihr dann äh da?", fragte der Notar.
"Weil wir hoffen von dir neue Informationen über Krunn zu bekommen. Der Fall wird neu aufgerollt."
"Warum, wenn ich fragen d-."
"Nein, darfst du nicht.", fiel ihm der Oberleutnant sofort ins Wort. Herr Türmichgut spielte nervös mit einem Bleistift in seinen Händen.
"Äh nicht? Na gut, na schön, was für Fragen denn?", gab er endlich mit einem hohen Tonfall nach.
"Zunächst bräuchten wir die Adresse seines Anwesens. Die hast du doch sicher oder?"
"Äh ja. Moment." Seine Hände glitten zu seiner Schreibtischschublade, hastig öffnete er sie schnell, griff nach einigen Akten, knallte sie etwas zu heftig auf die polierte Tischplatte und blätterte darin. Doch er war zu nervös, zu sehr bemüht die Fassung zu wahren, dass er sich unvermutet an den scharfen Papierkanten schnitt. Er schrie nicht auf, saugte nur leicht an seinem Finger. Das war ihm noch nie passiert, fiel ihm auf.
"Oh, hast du dich verletzt, Notar?" Der jüngere der beiden Wächter beugte sich mitleidig vor, aber Herr Türmichgut warf ihm nur einen giftigen Blick zu und wickelte sein Tuch um den verletzten Finger. Mit der anderen Hand eilte er über die rasch wechselnden Schriften, murmelte etwas nichts sagendes, während seine Gedanken rasten und nach einer Lösung suchten. Der Plan.. er musste sich an den Plan halten. Er saß hinter seinem Schreibtisch, der sich groß und klobig einem Bollwerk gleich vor ihm auftürmte und seine vor Unruhe zitternden Beine verbarg. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Blicke der Wächter mit detektivischem Gespür durch sein Büro wandelten. Sie ahnten etwas, er war sich ganz sicher.
Dann hatte er die Adresse gefunden. Sollte er lügen, schweigen oder gar die Wahrheit sagen? Fassung wahren, Fassung wahren, alter Junge, sprach er sich selber zu. Er drehte die aufgeschlagene Akte herum, so dass die beiden Wächter sie einsehen konnten.
"Da ist sie und jetzt wäre ich euch sehr verbunden, wenn ihr gehen könntet. Ich habe noch Arbeit, die auf mich wartet.", sagte er in einem, wie er hoffte, schneidendem Tonfall.
"Oh ja, Arbeit, die wartet auch noch auf uns." Der Oberleutnant notierte sich die Adresse auf einem Notizblock. "Sonst noch etwas, was du uns mitteilen möchtest? Irgendetwas?" Der Mann sah ihn lange an, nur ab und zu senkte er den Blick und starrte auf die Akte. "Er hatte eine Frau?", fragte er.
"Ja, sie starb bereits vor einigen Jahren.", erklärte Herr Türmichgut, seine Hand wanderte wie beiläufig zu der Akte, er wollte sie wieder an sich nehmen, doch der Wächter hatte sich breit darauf abgestützt und schien die Unterlagen eingehend zu studieren.
"Sie starb eines natürlichen Todes?"
"Natürlich." Herr Türmichgut zupfte verhalten an dem Papier, aber der Oberleutnant ließ nicht locker.
"Genau wie Victor Krunn also." Der Wächter lächelte süffisant. Der Notar wusste darauf nichts zu sagen, aber er machte eindeutige Handbewegungen zur Türe hin. "Ich sehe, du bist sehr beschäftigt, wir werden nicht weiter stören. Zumindest nicht heute.", kommentierte dies der Oberleutnant. Er nickte dem Notar zu und ging zur Türe. "Einen schönen Tag noch. Gib dem Notar sein Spielzeug zurück, Thymian."
Der junge Wächter kam eiligst auf Herrn Türmichgut zu und lud einen wütenden Kobolddämon mitten auf dem Schreibtisch ab.
"Und wegen dem Finger.. sei vorsichtig, Herr. Man schneidet sich so leicht und ehe man sich versieht ist eine Vergiftung des Blutes daraus geworden. Mir ist so was zwar noch nie passiert, aber ich äh habe davon gehört.", sagte der junge Mann noch.
"Danke.. für.. den.. Ratschlag.", brachte Herr Türmichgut mühsam zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor, unbewusst trommelte er entnervt auf der Tischplatte. Dann endlich waren die Wächter verschwunden. Er hatte ihnen spärliche, unwichtige Informationen in den Rachen geworfen, aber sie würden wieder kommen. Ganz bestimmt, er war sich sicher. Herr Türmichgut lehnte sich in seinem schweren Stuhl zurück und war für einige Sekunden nur mehr mit Atmen beschäftigt. Schließlich beugte er sich wieder vor und rief nach Cynthia.
Ein flachbrüstiges, junges Mädchen mit dunkelblonden zu Zöpfen gebundenen Haaren und einer schweren Hornbrille kam herein. Sie sah aus wie die Tochter einer typischen Bibliothekarin, fand der Notar. Alles, nur der Name passte nicht.
"Sei so lieb, Kindchen, und sieh bitte nach, ob unten auf der Straße ein Mann steht. Du wirst schon erkennen, wer gemeint ist. Geh zu ihm, kokettier ein wenig herum, das kannst du doch so gut und dann sag ihm, dass du mit ihm mal gerne omnisch frühstücken willst." Er sah das Mädchen fragend an, als sie nichts weiter sagte. "Okay?" Sie nickte nur stumm, rückte ihre Brille zurecht und verschwand wieder aus dem Büro.
Nach einer Weile stand Herr Türmichgut auf, griff nach seinem Mantel und Spazierstock. Er strich nachdenklich über ein Regal in seinem Büro, zog einen Ordner heraus und blätterte darin. Schließlich kam Cynthia wieder.
"Er weiß bescheid.", sagte sie nur und schob sich wieder aus dem Raum. Er nickte, stellte den Ordner zurück an die richtige Stelle und ging ebenfalls nach draußen.
Auf der Straße schlug er rasch verwinkelte Gassen ein, ging in weiten Schritten über Hinterhöfe, stieg durch verfallene Häuser und erst, als er sich ganz sicher war, dass ihm niemand folgte, eilte er zu einem bestimmten Ort. In einem der Außenbezirke, in einem Gewirr aus engen Straßen und dicht aneinander liegenden Häusern ließ er sich an einer brüchigen Mauer aus dunklen Backsteinen nieder. Er saß in einer unbequemen Hockstellung dar, um seinen Mantel und Hose nicht zu beschmutzen. Kurz blickte er sich noch einmal um, rechts neben ihm breitete sich ein leerer Hinterhof aus. Im leichten Wind flatterte eine halb bestückte Wäscheleine, die Sonne schien ungewöhnlich warm auf das Kopfsteinpflaster nieder und erwärmte es. Der Notar klopfte mit seinem Spazierstock dreimal gegen die Mauer.
"Na endlich. Ich dachte, du kommst schon gar nicht mehr.", tönte es sofort von der anderen Seite der Mauer.
"Wo ist das Testament?", zischte Herr Türmichgut zurück.
"Deswegen willst du mich sprechen? Hör mal, ich war grad an demjenigen dran, der weiß, wo es ist. Wegen dir musste ich nun die Verfolgung abbrechen."
"Der weiß, wo es ist? Du solltest es haben. So war der Plan!", gab der Notar erregt zurück.
"Der Plan.. der Plan..", äffte ihn der andere nach. "Der Plan hat sich eben geändert. Er hatte das Testament nicht dabei und nicht nur das, er hat mich sogar reingelegt."
"Er hatte es nicht dabei?? Wo ist es dann? Eben waren zwei Wächter bei mir, ich glaube, einer von denen war schon mal bei mir. Sie sagten, das Testament wäre im Wachhaus!"
"Dann hat er gelogen. Da ist es nicht, ich habe diesen Rekruten genau beobachtet und alle seine Schritte verfolgt."
"Ach ja? Und wo ist das Testament?" Stille folgte diesen erbost ausgesprochenen Worten. "Ja, das weißt du nicht.", redete Herr Türmichgut scharf weiter. "Hirnloser Trottel.", setzte er nach.
"Hey, ich bin an dem Burschen dran. Nicht mehr lange und ich hab ihn weich gekocht.", erwiderte der andere beschwichtigend hinter der Mauer.
"Das will ich aber schwer hoffen. Wir brauchen dieses Testament und ich hoffe für dich, dass die anderen noch nichts davon mitbekommen haben."
"Das wird wohl eher deine Sorge sein." Der Mann hinter der Mauer lachte leise.
"Besorg einfach das Testament, okay? Ich dachte, das wäre ein leichter Auftrag für dich.", gab der Notar zurück.
"Jaja, mach ich schon. Dann ist wohl alles klar oder?", wurde von der anderen Mauerseite gefragt.
"Nein, gar nichts ist klar! Bei allen Göttern, sie wissen den Namen! Sie rollen den Fall neu auf! Ich weiß nicht wie und warum sie das machen, aber die Wächter scheinen da irgendwas verwechselt zu haben. Vielleicht sind sie auch einfach zu schlau."
"Welchen Fall?"
"Victor Krunns! Würde ich mich sonst so aufregen? Es war alles so schön geplant, das Ablenkungsmanöver bereit, meine ganzen Vorbereitungen, Ideen, Planungen und nun? Alles dahin." Herr Türmichgut seufzte. "Naja, wie du schon sagtest, das ist wohl meine Sorge. Ich hab ihnen die Adresse des Anwesens von Krunn gegeben, sie werden vermutlich auf dem Weg dorthin sein. Wenn ich mich recht entsinne, steht das Haus zum Verkauf."
"Er hatte einen Butler damals oder? Soll ich den umbringen?"
"Bloß nicht, du Trottel! Willst du sie noch aufmerksamer auf den Fall machen? Hör zu, der Fall soll so schnell wie möglich zurück zu seinen Akten, verstanden? Und keine Morde! Morde machen nur aufmerksam und dann dauert der Fall nur noch länger.", erklärte Herr Türmichgut.
"Und was soll ich stattdessen machen?", fragte der Mann. Der Notar überlegte eine zeit lang.
"Bestechen.", beschloss er schließlich. "Geld liegt im Briefkasten und wenn er nicht annimmt, dann schüchter den Kerl ein. Er darf keine wichtigen Informationen preisgeben. Der Fall Victor Krunn muss so glatt und undurchdringlich wie Granit sein, die Griffel der Wächter dürfen keine Ecken und keine Unebenheit haben, wo sie ansetzen können. Dann verlieren sie schon wieder das Interesse und der Fall ist erneut ad acta."
"Gut, ich beeil mich vor den Wächtern beim Butler zu sein. Die Adresse?"
"Liegt mit im Briefkasten.", antwortete Herr Türmichgut. Von der anderen Seite der Mauer hörte man jemanden aufstehen. "Und vermassel es dieses mal nicht.", fügte er noch hinzu. Dann war die Unterredung beendet. Mit einer Hand stützte sich der Notar schwer auf seinen verzierten Gehstock und richtete sich umständlich wieder auf, um die stechenden Schmerzen im Kreuz zu vermeiden. Herr Türmichgut blinzelte in die Sonne und schnaufte leicht in der nun beginnenden Hitze. Wenn nun die anderen schon davon wussten...
Dann wäre alles umsonst.
Die beiden Wächter gingen nebeneinander über die Sentimentale Brücke in Richtung Krunns Anwesen. Thymian hatte dem Oberleutnant von seinem Besuch beim Fröhlichen Kurt erzählt und auch seine Vermutung bzw. Befürchtung, dass er verfolgt werde, auch wenn Thymian den Mann selbst nirgendwo hatte entdecken können. Oberleutnant Daemon hatte darauf mit einer nachdenklichen Miene reagiert.
"Was hältst du bisher von dem Fall?", fragte er unvermittelt. Thymian blieb stehen, stützte sich auf das Geländer der Brücke ab und starrte ebenso nachdenklich auf den zäh und trübe dahinfliessenden Ankh. Der ältere Wächter gesellte sich zu ihm.
"Ich weiß nicht, Sir. Warum ermitteln wir eigentlich?"
"Weil an der Sache was faul ist. Warum sollte man das Testament von Krunn wollen? Irgendetwas steckt dahinter und das müssen wir ergründen, junger Rekrut." Weil an der Sache was faul ist. So hatte bereits Herr Bürstenkinn von dem Fall geredet, anscheinend besaß man nach einiger Zeit in der Wache ein untrügliches Gespür für solche Annahmen, schien es Thymian. Er nickte und beide gingen weiter. Der Oberleutnant hatte beschlossen zunächst das alte Anwesen von Victor Krunn aufzusuchen. Während sie durch die Straßen gingen, stellte Daemon Vermutungen über das Verhalten von Herrn Türmichgut an.
"Er war viel zu nervös. Wer nervös ist, hat etwas zu verbergen."
"Was soll er denn zu verbergen haben, Sir?"
"Das müssen wir noch herausfinden."
"Wir müssen recht viel herausfinden, Sir."
"In der Tat."
Sie kamen an einem verschlossenen Tor aus rostigem Eisen an, dort stand auf der anderen Seite ein alter Mann mit ergrautem Backenbart, der mit einem Lappen versuchte die Eisenstangen vom Rost und Schmutz zu befreien. Neben dem Tor lehnte ein noch nicht aufgehängtes Schild, worauf etwas stand, was Thymian jedoch nicht lesen konnte.
"Zu verkaufen, ja? Gibt es schon Interessenten?" Der Oberleutnant deutete auf das Schild und sah dann den Mann an. Ungerührt machte dieser mit seiner Tätigkeit weiter, träufelte eine durchsichtige Flüssigkeit auf den beschmutzten Lappen und versuchte damit den Rost zu entfernen, wobei es eher danach aussah, als verteile er nur den Schmutz gleichmäßig. Erst nach einigem Räuspern und Husten, das Thymian übernahm, bequemte sich der Mann zu ihnen herüber zu blicken, er trat ganz dicht ans Tor und schaute unter zwei schmalen hauchdünnen Augenbrauen hervor. Hauchdünn war auch sein Lächeln.
"Kommt drauf an. Wer will das wissen?"
"Oberleutnant Daemon von D.O.G., Stadtwache." Er hielt seine Marke hoch, der Mann kniff seine Augen zusammen, drückte sein Gesicht noch näher an die Stäbe und studierte eingehend die Dienstmarke, als wären daraus aufschlussreiche Erkenntnisse zu gewinnen.
"D O G, Dienststelle zur Observierung von Gildenangelegenheiten.", sprach der Mann in langsamen Tonfall. "Ich verkaufe hier ein Haus." Er deutete mit dem Lappen in der Hand auf ein größeres Gebäude hinter ihm, das mit reichlich Giebeln, Steinfiguren, Türmchen und Rundfenstern ausgestattet war. Es wirkte frisch gestrichen mit einem leicht dunklen Ocker, der Vorgarten war mit üppigen grünen Sträuchern bepflanzt, ein Kiesweg führte zu einer leuchtend roten Türe.
"Ist das etwa Gildenangelegenheit? Mach ich etwas Verbotenes?", riss das verächtliche Gerede des Mannes Thymian aus der Betrachtung des Hauses. Es hatte ein oberes Stockwerk, dazu ein dunkles Spitzdach, alles wirkte gepflegt und frisch. Und noch während Thymian Pechs Augen über kleine zierliche Rosensträucher gingen, die sich mit Hilfe eines Holzspaliers anschickten an der Hauswand empor zu klettern, beschloss er etwas.
Sollte er je Glück haben, wirkliches Glück, dann würde er dieses Haus kaufen, eine glückliche Familie haben und so wie in seiner Wunschvorstellung als alter Mann glücklich auf sein Leben zurückblicken.
"Nein, keineswegs, aber dieses Haus gehörte doch Victor Krunn?", fragte der Oberleutnant und schien Thymians Entschluss nicht mitbekommen zu haben, der mit glitzernden Augen das Haus anblickte. Es stand weitgehend frei, ein Eisenzaun grenzte das Grundstück von der Straße ab, an den Seiten schirmte eine hohe Mauer die neugierigen Blicke der Nachbarn ab.
"Ja, das war der Vorbesitzer. Jetzt hat die Stadt mich beauftragt es zu vermitteln.", erklärte der alte Mann.
"Die Stadt? Hat er keine Hinterbliebenen? Und wurde nicht im Testament geregelt, was mit dem Haus geschehen soll?"
"In der ersten Version des Testamentes sollte es seiner Frau Ruth vermacht werden bzw. umgekehrt, je nachdem wer zuerst stirbt. Nach dem Tod seiner Frau... ich weiß nicht, ob er das Testament ändern ließ. Man sollte das annehmen, aber ich bekam den Auftrag von der Stadt.", berichtete der Angesprochene.
"Von der Stadt, soso. Und das Geld aus dem Verkauf bekommt auch die 'Stadt'?"
"Abzüglich meiner Vermittlungsgebühren, der Restaurierung, Neugestaltung, Pflegung, Anreisekosten, Gartenzuschlag... äh ja.. und das übrige Geld, ich weiß nicht was damit geschieht. So was sollte im Testament geregelt sein."
"Schon, nur..." Der Oberleutnant warf einen Seitenblick zu Thymian. "das kam uns abhanden."
"Ach, so ein Pech. Naja, ich weiß von nichts. Soll nur das Haus vermitteln.", entgegnete der Mann, offensichtlich ein Makler.
"Und was ist mit der Einrichtung und den persönlichen Dingen von Herrn Krunn?", hakte der Wächter nach.
"Oh, die persönlichen Dinge stehen alle verpackt in Kisten noch im Haus. Die Möbel wurden von einigen Männern weggeschafft."
"Und in wessen Auftrag?"
"Na, im Auftrag der Stadt."
"Der Stadt?", fiel nun Thymian ein wenig verwirrt ein.
"Ich liege doch richtig mit der Annahme, dass damit Lord Vetinari gemeint ist oder?", fragte Daemon. Der Mann nickte.
"Das ist anscheinend so eine Regel. Wenn es keine Verwandten, Hinterbliebenen gibt und wenn es nicht im Testament geklärt ist, übernimmt die Stadt die Sache. Vermutlich wird es einem wohltätigem Zweck gespendet."
"Wenn, wie gesagt, wenn..", bemerkte der Oberleutnant nachdenklich. "Dürften wir einmal das Anwesen genauer in Augenschein nehmen?"
"Oh, guckt nur hinter mich, das ist es in all seiner Pracht."
"Von innen.", fügte Daemon in einem scharfen Tonfall hinzu.
"Achso, sag das doch gleich, Herr Wächter." Seine Hand ging zum Torgriff, hielt dann jedoch inne und wischte einfach seelenruhig mit dem Lappen darüber. "Aber ich fürchte, das geht nicht. Nur mit amtlichen, von der Stadt genehmigten Durchsuchungsbefehl.", erwiderte er dann. Oberleutnant Daemon versuchte noch ein paar Male ergebnislos den Mann vom Gegenteil zu überzeugen, musste es dann aber schließlich aufgeben.
"Na schön, wir werden wiederkommen."
"Das glaub ich kaum." Der Makler lächelte dünn.
"Auf Wiedersehen, Herr..."
"Preismach, Anselm Preismach, Immobilien und mehr." Er reichte eine knochige mit dicken Nerven durchzogene Hand durch die Eisenstäbe und schüttelte die Hände der Wächter zum Abschied. Zum Schluss bekam Thymian noch eine Visitenkarte aufgeschwatzt.
"Gibt es schon jemanden, der das Haus aufkaufen will?", fragte er nach.
"Ja, aber die Namen sind vertraulich."
"Hmm, hast du nicht noch irgendwelche Informationen für uns?", versuchte es Thymian weiter, während seine Ermittlungsversuche vom Oberleutnant kritisch beäugt wurden.
"Sicherlich, aber die sind für euch nicht zugänglich. Wenn ihr mehr wissen wollt, fragt Krunns ehemaligen Butler. Kugelstraße 12 (wer mehr über die Kugelstraße 11 erfahren will, der möge die Live "Noch ein Bonbon?" lesen) wohnt er, soweit ich mich erinnere."
"Danke.", unterbrach der Oberleutnant jeden weiteren, vermutlich stümperhaften Versuch von Thymian etwas zu fragen. Er zog ihn vom Tor weg, von wo ihnen die misstrauischen Blicke des Maklers genau folgten.
"Gut, wir haben zwei Möglichkeiten.", begann Oberleutnant Daemon zu reden, als sie ein Stück weit weg waren. "Entweder suchen wir jetzt den Butler auf oder die Namen auf meiner Liste. Was schlägst du vor?" Er sah Thymian an, doch der konnte nur ratlos mit den Schultern zucken. "Du ziehst also auch eher Möglichkeit drei in Betracht, sehe ich."
"Äh, tu ich das?", fragte Thymian zaghaft nach, doch er bekam keine Antwort mehr. Sein Wächterkollege eilte bereits in großen Schritten die Straße hinunter. Es dauerte ein wenig bis dem ehemaligen Narr auffiel, dass der Oberleutnant die seitliche Straße einschlug und sie so durch eine Gasse zwischen zwei Häusern zur Rückfront von Krunns Anwesen gelangten.
Eine Mauer verhinderte einen genauen Blick auf das Haus, nur der Rest des oberen Stockwerkes, einzelne Türmchen und das Dach waren zu sehen.
"Was wollen wir denn hier?", fragte der Rekrut ahnungslos.
"Wir brechen ein.", teilte Oberleutnant Daemon schließlich seinen Entschluss mit.
"Aber das können wir doch nicht machen.", erwiderte Thymian. Er sah den ranghöheren Wächter an, der beschwörend den Finger hob.
"Merke dir eins, wenn ein Rekrut vorhat irgendwo einzubrechen ist das falsch, stümperhaft und wird vermutlich von IA strafrechtlich verfolgt. Vermutlich wird er mitten beim Einbruch entdeckt, vermutlich fällt etwas scheppernd zu Boden und vermutlich gehört das Haus rein zufällig einem angesehenen Bürger Ankh-Morporks, der ein gutes Verhältnis zum Patrizier hat." Der Wächter zog sich die Mauer hoch und sah sich noch einmal um. "Wenn allerdings ein Offizier irgendwo einbricht, ist das ein brillanter Schachzug, verwegen, draufgängerisch und geht in fast allen Fällen gut. Meist erwischt man dann noch den Übeltäter, während er im gleichen Haus einbricht oder im Keller seinen bösen Machenschaften nachgeht oder man entdeckt ein hilfloses Opfer und befreit es heldenhaft."
"Aha.", machte Thymian nur. Oberleutnant Daemon glitt ohne ein weiteres Wort von der Mauer auf die andere Seite und ließ mit diesem Ratschlag nun einen ratlosen Rekruten zurück. Er entschloss sich dem Vorgesetzten zu folgen und kletterte mühsam auf die Mauer. Sicherlich würden sie Glück haben und nicht entdeckt werden. Hoffentlich...
Die beiden Wächter standen in einem alten Garten und blickten auf die Rückfront des Hauses, das anscheinend wie ein U geformt war. Ihnen offenbarte sich Ankh-Morporksche Geschäftstaktik in seiner Reinform.
"Es, es... ist ja ganz... heruntergekommen.", brachte Thymian mit Enttäuschung in der Stimme vor. Der Oberleutnant blickte auf das Haus, das von hinten weder frisch noch gepflegt wirkte.
"Tja, so ist das in Ankh-Morpork. Spätestens nach zwei Tagen setzt sich der Ankh-Geruch an den Wänden ab. Die Häuser dienen wie riesige Fliegenfänger, alles an Dreck und Staub in der Luft bleibt dort kleben.", erklärte er.
"Vielleicht hat er die Seite einfach noch nicht gestrichen.", hoffte der Rekrut.
"Vielleicht werden die armen Leute, die das Haus kaufen, diese Seite erst nach Unterzeichnung des Vertrages erblicken."
Die Wächter gingen vorsichtig weiter, der Oberleutnant schlich sich von Gestrüpp zu Gestrüpp durch den verwilderten Garten.
"Sieh mal, er wird die Hinterseite doch noch herrichten. Er hat schon angefangen umzugraben." Thymian deutete auf ein paar Stellen in dem hohen Gras, die aufgebrochen und wo keine Grashalme mehr zu sehen waren.
"Das glaube ich weniger.", erwiderte Oberleutnant Daemon, aber Thymian hörte ihn kaum noch. Vor seinem inneren Auge sah er wie er mit seiner Familie und Freunden hier nette, gemütliche Gartenpartys feiern würde. Dort wären dann rot und golden schimmerte Lampions aufgespannt, hier stände ein großer weiter Tisch mit weißer Spitzendecke und silbernen Besteck. Die Kinder würden dort hinten im Garten spielen. Sie würden alle lachen (richtiges lachen), reden und scherzen (richtiges scherzen). Es fehlten ihm nur Familie, Freunde und das Haus...
"Sag mal, träumst du?" Die beiden Wächter standen hinter dem wuchtigen, breiten Baumstamm einer alten, durch die Luft schon reichlich mitgenommenen Pappel und blickten von dort auf eine große Terrasse, die sich zwischen den zwei Ausläufern der U-Form befand. "Da, die Terrassentür."
Thymian nickte geistesabwesend.
"Auf drei."
"Äh, was, Sir?"
"Eins."
"He, was ist-."
"Zwei."
"denn-."
"Drei. Los!"
"Los?"
Der Oberleutnant trat plötzlich aus ihrem Versteck hervor und eilte über den Garten zur Terrasse. Nachdem sich Thymians anfängliche Verwirrung legte, tat er es ihm instinktiv gleich. Daemons Hand ging zur Klinke der Türe und drückte sie herunter.
"Verschlossen.", kommentierte er den Zustand. Dann geschah das, was in solchen Situationen immer geschah. Thymian beugte sich vor und rüttelte ebenfalls mehrmals an der Klinke.
"Siehst du, junger Rekrut.", sagte Daemon in belehrendem Tonfall. "Das unterscheidet dich von einem Offizier. Ein Offizier braucht nur einmal den Griff herunterzudrücken, um festzustellen, dass die Türe abgeschlossen ist. Du dagegen-." Thymian blickte verlegen zu Boden. "-scheinst mir erstens nicht zu glauben und zweitens, nicht zu –was machst du da eigentlich?" Der 'junge' Rekrut hatte die Fußmatte unter sich entdeckt, hob sie nun hoch und nahm den Schlüssel darunter an sich.
"Wir haben Glück, Sir.", bemerkte er und öffnete die Türe. Die beiden Wächter gingen vorsichtig in das Innere des Hauses. Die ersten beginnenden Schatten der Bäume bildeten bizarre Muster auf dem gekachelten Boden. Anscheinend hatte der Makler die Wahrheit gesagt, es war kein einziges Möbelstück oder sonstige Einrichtung zu sehen.
"Wir müssen die Kisten finden.", flüsterte der Oberleutnant. Sie schlichen weiter in den großen Raum, der zu beiden Seiten Gänge aufwies, sowie in der Mitte eine große Flügeltür mit schmückenden Verzierungen. In den Ecken bereits Düsternis, da die Strahlen der Sonne sich langsam wie ein müder Gast verabschiedeten. Mit einer Handbewegung bedeutete der Wächter, dass Thymian ihm folgen solle. Ihre Schuhe klackten leicht auf dem Mosaikboden, ansonsten war alles still. Sie schlugen den rechten Gang ein und kamen in einen Raum, in dem sich anscheinend ein Landschaftskünstler hingebungsvoll an der Tapete ausgelassen hatte. An einer der Wände waren einige große Kisten aufgestapelt.
"Da sind sie.", flüsterte Thymian überflüssigerweise. Oberleutnant Daemon griff nach der ersten Kiste und öffnete sie so lautlos wie möglich. Im Halbdunklen waren diverse zusammengefaltete Kleider, Gehröcke, Hosen und Hemden zu erkennen.
"Durchsuch, ob etwas im Saum eingenäht wurde.", befahl der Vorgesetzte, während er zu der nächsten Kiste schritt. "Ikonographenkästen.", stieß er aus. "Wie interessant, die Kobolddämonen fehlen alle..." Er hob einen Apparat hoch und begutachtete ihn. "Interessant, interessant.", wiederholte er.
"Ja?", fragte Thymian nach. Seine Hände glitten in die Kiste und wühlten durch den feinen Stoff.
"Ja, das bedeutet nämlich, dass –rasch, da kommt jemand!"
"Rasch, da kommt jemand??" Thymian kratzte sich verwirrt am Kopf, aber da hörte er auch schon plötzlich Stimmen. Irgendwo wurde eine Türe aufgestoßen, Schritte auf dem Boden waren zu vernehmen, sowie zwei Stimmen, die sich angeregt unterhielten.
"Bitte, nicht auf der Straße, gehen wir doch hinein.", war aus dem Nebenraum zu verstehen, offenbar der Makler.
"Waren eben zwei Wächter hier? Ja oder nein?", fragte die andere Stimme und Thymian erschrak. Er kannte diesen rüden, bellenden Tonfall. Aufgeregt zupfte er seinen Kollegen an der Uniform.
"Es ist der Pappmaskenmann.. es ist der Pappmaskenmann.", hauchte er.
"Ja, ein Oberstleutnant namens Daemon, den Namen von dem anderen weiß ich nicht, aber ich wüsste nicht, was dich das anginge.", gab Herr Preismach, der Makler zurück.
"He, es sind Wächter, auch wenn wir nicht im gleichen Thiem spielen, wollen wir sie doch beide aus dem Spiel draußen haben. Das seh ich doch richtig oder?", knurrte der andere Mann zurück. "Oder lieg ich da falsch?"
"Nein, du hast recht. Ich hab die Wächter abgewimmelt, sie werden einen Durchsuchungsbefehl brauchen und den bekommen sie ganz bestimmt nicht. Und jetzt verschwinde, du stehst auf fremden Grund und Boden."
"Der bald meinem Boss gehören wird, wenn Gras über die Sache gewachsen ist.", entgegnete wieder der Pappmaskenmann. Thymian schluckte, er brauchte nur diese Stimme zu hören, die auch noch eine mysteriöse Unterhaltung führte und schon schlug sein Herz so wild, dass es sich anfühlte, als ob es gleich den ganzen Brustkasten sprengen wolle. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah zu dem Oberleutnant herüber. Dieser rieb sich nachdenklich das Kinn und hatte die andere Hand um sein rechtes Ohr gewölbt, um jedes Detail des Gespräches im Nebenraum mitzubekommen.
"Ich versteh immer noch nicht, warum er das will.", bemerkte der Makler.
"Er hat seine Gründe."
"Sicher schlechte."
"Das reicht, ich weiß schon, warum ich diese Kaltschnäuzigkeit von Vertretern hasse!" Man hörte wieder Schritte.
"Vertreter?!! Also, ich muss doch sehr bitten!", erwiderte Herr Preismach aufgebracht, dann fiel krachend eine Tür ins Schloss. "Stümper..", war gerade eben noch zu verstehen. Anscheinend war der Pappmaskenmann gegangen. Thymian seufzte erleichtert auf.
"Wir haben Glück, er-." In diesem Moment, und es ist unerklärlich warum es geschah, drehte sich Daemon, um weiter in den Raum zu gehen, doch unglücklicherweise blieb er mit seinem Mantel an einer der offenen Kisten hängen, was ein leichtes, beinahe minimales Scheppern verursachte, was trotzdem laut genug war, damit Herr Preismach im anderen Raum aufschreckte und sich anschickte nachzusehen, was da los sei.
"Verdammt... schnell, da rein." Er drängte Thymian gegen die Kleiderkiste, so dass er nach hinten fiel und sich reichlich verdreht inmitten der Kiste vorfand.
"Aber..", brachte er noch flüsternd vor.
"Tu so als wärest du ein Kleidungsstück.", war der letzte Ratschlag, den Thymian noch vernahm, ehe die Kiste geschlossen wurde und er in der Finsternis in einer Position lag, um die ihn selbst der beste Schlangenmensch beneidet hätte.
Daemon hatte gerade noch Zeit sich umzudrehen und in die lauernden Augen des Maklers zu blicken, der nun seine Stirn überrascht verengte, dann belustigt grinste und schließlich in ein triumphierendes Kichern überging.
"Das ist wohl ein schnelleres Wiedersehen, als wir beide erwartet hätten.", sagte er.
"In der Tat.", stimmte ihm Daemon zu. Er setzte sich auf die Kiste und ließ locker die Beine baumeln. Was sich als schwieriges Unterfangen herausstellte, wenn man fast zwei Meter groß war.
"Hauseinbruch, und das als Wächter. Na, das wird sicher aber nicht gut in der Akte machen. Ts ts ts." Er schüttelte tadelnd den Kopf und sah sich dann um. "Wo ist denn ihr komischer, kleiner Freund? Dieser andere Wächter?"
"Oh, er hockt in der Kiste unter mir." Daemon klopfte mit der flachen Hand dagegen. Der Makler lachte trocken.
"Ich kenne diese Taktik von euch Wächtern. Man sagt die Wahrheit und damit rechnet der vermeintliche Bösewicht nicht und denkt, es wäre eine Lüge." Der Oberleutnant zuckte darauf mit den Schultern und wollte bereits von der Kiste herunter, als Herr Preismach weiterredete. "Aber ich weiß, dass du mich für schlau hältst und dass ich automatisch denke, du würdest die Wahrheit sagen und er säße tatsächlich darin. In Wahrheit hast du wirklich gelogen, damit ich wie ein Trottel dastehe, wenn ich die Kiste durchsuche und nichts finde. Doch ich lasse nicht zu, dass du über mich triumphierst! Ich habe dich durchschaut, bleibe nur auf der Kiste sitzen."
"Äh.. wenn du meinst.", gab Daemon zurück. Er hatte bereits von der Maklerfamilie Preismach gehört, die allesamt im Immobilien Gewerbe vertreten waren. Und einer schlimmer als der andere. Jeder auf seine Art.
"Oh ja, meine ich. Also, guter Wächter, dir ist sicher klar, dass ich das melden muss..", begann sein Gegenüber weiterzureden.
"Es sei denn...", führte Daemon den Satz von Preismach weiter.
"Es sei denn, du bist bereit mir irgendwann einmal einen kleinen Gefallen zu leisten.", beendete der Makler den Satz schließlich.
"Mal sehen, was sich machen lässt.", entgegnete Daemon gelassen.
"Wenn du jetzt bitte mitkommen würdest." Herr Preismach machte eine beinahe einladend wirkende Geste. Daemon nickte, rutschte von der Kiste und folgte dem Makler.
Erst nach einer Weile, nachdem Thymian sich eifrig bemüht hatte wie ein Kleidungsstück zu wirken, traute er sich aus seiner unbequemen Haltung und schob die obere Kistenöffnung etwas auf. Er lugte nach draußen, zum Glück war niemand zu sehen, leider fehlte aber auch jede Spur von Oberleutnant Daemon. In der Kiste hatte er nicht verstehen können, was er mit dem Makler geredet hatte, aber er befürchtete das Schlimmste. Was, wenn er entführt worden war? Was, wenn er niemals mehr zurückkehren würde? Thymian schauderte.
So oder so, er war nun auf sich alleine gestellt. Es war niemand da, der ihn mit mehr oder weniger nützlichen Ratschlägen versorgte, niemand, der ihm erklärte, was er nun zu tun hatte. Ratlos stieg er langsam aus der Kiste und sah sich um. Ob er die anderen Kisten weiter durchsuchen sollte? Was wenn der Makler oder noch schlimmer der Pappmaskenmann wiederkommen und ihn entdecken würden? Oder sollte er schnell aus dem Haus und den Oberleutnant suchen? Oder gar in der Wache Bericht erstatten? Er hatte sich dort seit gestern nicht mehr sehen lassen, sein Ausbilder Herr Zupfgut und auch dieser Bürstenkinn wären sicher nicht sehr erfreut. Wahrscheinlich suchte man ihn schon.. oder zumindest das Testament.
Thymian ging zu einer weiteren Kiste, wenn er schon mal hier war, dann könnte er auch weiter suchen, obwohl er nicht wusste nach was und obgleich seine Beine vor lauter Angst erwischt zu werden zitterten. Einzelne Schweißperlen rannen an seinen Schläfen hinab, er fuhr sich durch das blonde, strubbelige Haar und blickte, schon wie so oft an diesem Tag, ratlos drein. In der Kiste lagen zu oberst einige schwere Ordner. Unschlüssig nahm er einen auf und blätterte darin. Er seufzte, schon wieder Buchstaben, die er nicht lesen konnte, aber er erkannte, dass es sich größtenteils um Zahlen handelte. Vielleicht Rechnungen, vermutete er. Nach reiflicher Überlegung nahm er drei Rechnungen aus dem Ordner, faltete sie und steckte sie ein, um sie nachher hoffentlich dem Oberleutnant zu zeigen. Danach suchte er noch ein wenig in der Kiste weiter, fand aber nichts, was ihm hätte etwas sagen können. Nur einige Ikonographenkästen, Farbtöpfe dafür und kleine Pinsel. Schließlich verstaute er wieder alles, fühlte auch noch einmal die Kleider nach versteckten Dingen ab, konnte aber nichts entdecken. Dann endlich schlich er sich wieder auf dem gleichen Weg nach draußen. Er kletterte über die Mauer, kam auf der anderen Seite an, atmete durch und musste zu seinem Erschrecken feststellen, dass kein Oberleutnant Daemon hier auf ihn wartete.
Er war nun vollkommen auf sich allein gestellt.
***Die Verwicklungen***
Lustlos trottete Thymian Pech durch die Straßen von Ankh-Morpork. Mittlerweile war es später Nachmittag, vom Oberleutnant weiterhin kein Anzeichen. Der Rekrut blieb abermals stehen und dachte nach. Oberleutnant Daemon hatte die Liste mit den Namen, die zum Zeitpunkt von Victor Krunns Tod anwesend waren, die konnte er also nicht befragen. Er hatte aber beschlossen nichtsdestotrotz weiterzuermitteln, nur wo und wie war die Frage. Plötzlich fiel ihm wieder etwas ein. Der Makler hatte vorhin einen ehemaligen Butler von Krunn erwähnt. Wo wohnte der noch gleich? Thymian suchte in seinem nur spärlich funktionierenden Gedächtnis nach, schließlich kam ihm der Name Kugelstraße 12 wieder in den Sinn und er machte sich auf den Weg dorthin.
In der Kugelstraße ging es gerade hoch her, auf beiden Seiten waren jeweils ein Gemischtwarenladen mit riesigen Plakaten und Schildern aufgebaut. Die Ausladen vor den Schaufenstern waren so massig, dass sie fast die ganze Straße versperrten und mit dem konkurrierenden Geschäft zusammen zu stoßen drohten. In der Mitte dieses Sammelsuriums an mehr oder wenigen nützlichen Dingen standen zwei Männer, die wild Bonbons in allen erdenklichen Varianten anboten. Kinder drängelten sich um die beiden Verkäufer, als wären sie lebende Magneten.
Thymian sah sich vor ein Problem gestellt. Er hatte keine Ahnung welches der Häuser das mit der Nummer 12 war. Auf gut Glück ging er zur linken Häuserzeile zu einem Doppelhaus, das etwas weiter ab von dem Aufruhr um die Gemischtwarenläden stand. Er klopfte an, wartete, hörte Schritte von der anderen Seite näher kommen, vernahm dumpfes Gebrummel, fragte sich noch, ob ihm diese Stimme bekannt vorkäme, da wurde auch schon die Türe aufgerissen, Thymian blickte zu seinem Gegenüber, erblasste vollständig, wollte noch etwas sagen, aber sein Körper eilte ihm voraus und wurde ohnmächtig.
Als er wieder aufwachte und benommen in ein helles Licht blinzelte, starrte ihn das traurige Gesicht von Herrn Kaninchen an. Nicht, dass er wirklich traurig gewesen wäre, nur sein Gesicht schien für die Schwerkraft der Scheibenwelt besonders anfällig.
"Willkommen in meinem bescheidenen Heim.", sagte der Banshee.
"Du wohnst hier?", brachte schließlich Thymian hervor, nachdem er sich eine Weile gesammelt hatte. Es hatte ihn vorhin völlig aus der Fassung gebracht, als er gesehen hatte, wer da die Türe geöffnet hatte. Wann war 'vorhin' gewesen, drängte sich eine weitere Frage in sein Bewusstsein.
"Wie lange war ich äh weggetreten?"
"Lange genug, um dich auf das Sofa zu legen.", erwiderte Herr Kaninchen nur kühl. Erst jetzt fand Thymian Zeit einen Blick in den Raum zu werfen. Das helle Licht kam von einem großen Kerzenleuchter, der auf einem zierlichen Tisch aus Holz stand. Das Sofa, auf dem der Rekrut lag, war eines dieser Möbelstücke, die man vornehmlich in Wohnung alter Damen auffand. Ein verblichenes geblümtes Muster auf einem dezenten Hellbraun prangte ihm entgegen. Er ließ seinen Blick weiterwandern, von schweren Eichenschränken, zu weiteren dekorativen Holztischen auf denen überall ein weißes Spitzendeckchen platziert war. Thymian suchte nach hässlichen, weißen Statuen, die es in solchen Räumen immer gab und entdeckte sie auf dem Kaminsims. Irgendetwas war an dem ganzen Bild nicht stimmig, er spürte es, aber er war noch zu benommen, um zu erkennen, was genau.
"Was willst du hier?", unterbrach Herr Kaninchen Thymians Grübelei.
"Äh.. ich war auf der Suche. Ist das hier Hausnummer 12?", fragte der Rekrut zurück. Der Gennuaner setzte eine ungetrübte Miene auf, die nichts an Erkenntnissen preisgeben wollte. Er stand auf und ging in seinem grauen Gewand in einen weiteren Raum. Nur gedämpft waren seine Schritte auf dem, wie Thymian bemerkte, dunkelgrünen, mit geschmackslosen Mustern verzierten, Teppich zu hören.
"Wenn es so wäre, welche Frage würdest du mir als nächstes stellen?", fragte Herr Kaninchen und kam mit einem Tablett zurück auf dem eine Kanne und zwei Teetassen standen.
"Äh, ich würde fragen, ob du mal Butler bei einem gewissen Victor Krunn warst." Herr Kaninchen blieb daraufhin stehen und seine Miene verfinsterte sich.
"Ich war niemandes Butler. Weder hier in Ankh-Morpork, noch und vor allem nicht in Gennua.", stieß er regelrecht hervor. Thymian zuckte auf dem Sofa zusammen. "Ich habe nie jemandem gedient.", fügte der Banshee beinahe erklärend hinzu. "Nie.", wiederholte er und mit einem Scheppern begleitet stellte er das Tablett auf einen Tisch. Schweigen breitete sich in Windeseile aus, bevor Thymian etwas dagegen unternehmen konnte.
"Also.. äh, ist das hier nicht die Nummer 12?"
"Zumindest wohnt hier kein Butler." Thymian nickte stumm. Herr Kaninchen ging wieder aus dem Raum und brachte merkwürdigerweise ein Blatt Papier, Tintenfass und Feder mit. Er legte das Blatt auf dem Tisch ab, stützte sich mit dem Ellenbogen auf, tunkte die Feder kurz in das Fass und schrieb dann mit einem einzigen Zug etwas auf das Papier. "Steh auf und komm her.", forderte er. Thymian tat wie geheißen und wurde zu dem Blatt geordert. Er blickte darauf und entdeckte ein paar Linien.
"Das ist eine 12.", verkündete Herr Kaninchen. Er hielt Thymian die Feder hin. "Schreib mir eine weitere 12 daneben."
"Aber ich-.", begann der Rekrut stammelnd, er nahm die Feder und klemmte sie umständlich zwischen seine Finger, wo sich die Gänsefeder wie ein Fremdkörper anfühlte. Zitternd tunkte er die Spitze in die Tinte, tropfte einige nachtschwarze Kleckse auf das Papier, um dann nach einigen Mühen und vergeblichen Versuchen Herr über den Federkiel zu werden eine krakelige Linie zustande zu bringen. Herr Kaninchen starrte auf das Blatt und dann zu Thymian hinüber. Er starrte wieder auf das Blatt und nickte dann langsam.
"Noch mal.", sagte er in einem eindeutig befehlenden Ton. Es dauerte eine Weile, Thymian versuchte die Kontrolle über seine Hand zu behalten, er zwang die Linien gerade zu regelrecht auf das Papier, doch sie weigerten sich anfangs auch nur ähnliche Formen wie die von Herrn Kaninchens hingeschriebener Zahl anzunehmen. Endlich, nach einer tintenverschmierten Hand von Thymian, der nun langsam zu schwitzen begann, weil ihn die stoische Ruhe des Banshees nervös machte, hatte er es vollbracht die Zahl zu schreiben.
"Gut, das ist eine 12.", erklärte Herr Kaninchen noch einmal.
"Äh, gut zu wissen." Thymian fragte sich, wo sein Glück nur geblieben war, dass ihn bisher immer davor bewahrt hatte seine Unfähigkeit preis geben zu müssen. Anscheinend hatte es sich eine Auszeit genommen. Er seufzte leise und beeilte sich dann aus dem Haus raus zu kommen. Nach einer steifen Abschiedszeremonie, ging Thymian schnellen Schrittes über die Straße und suchte nach der Zahl, die so aussah wie das, was er gezeichnet hatte, konnte sie aber nirgends entdecken. Ratlos kratzte er sich am Kopf und ging kurz entschlossen und auf sein Glück vertrauend zum gegenüberliegenden Haus.
Er war noch tief in Gedanken versunken, als die Türe plötzlich aufgerissen wurde, ein Mann ihn entsetzt anstarrte, etwas wie 'Ich weiß von nichts' stammelte und an ihm vorbeilief.
"Stadtwache Ankh-Morpork.", rief ihm Thymian hinterher. Der Mann eilte schnurstracks weiter. "Ich hätte ein paar Fragen!", versuchte er es mit lauter Stimme. Auch dies führte nicht dazu, dass der Mann reumütig zurückkam und erzählte. Thymian begann zu rennen. Seine Beine setzten sich zögernd in Bewegung, als würden sie sich noch weigern ihr unweigerliches Los zu akzeptieren. Ich verfolge gerade jemanden, dachte Thymian nicht ohne Stolz und prallte prompt gegen eine der Kisten beim Gemischtwarenstand. Ein wahrer glitzernd bunter Regen aus eingepackten Bonbons ergoss sich über das Kopfsteinpflaster, wie Hyänen stürzten sich die Kinder mit heulendem Geschrei auf ihre Beute und Thymian schaffte es gerade noch den Händen des wütenden Besitzers zu entkommen. Weiter vorne sah er so eben noch wie der Butler um eine Ecke bog. Mit erhöhtem Tempo wetzte Thymian hinterher ohne recht den Grund zu verstehen, warum der Mann vor ihm wegrannte und was noch viel wichtiger war: Warum er ihm nachrannte.
Er folgte dem Butler in die winzige Gasse und musste abrupt anhalten, um nicht gegen einen alten, verhutzelt wirkenden Mann zu stoßen.
"Äh, Herr, äh, könnte ich eventuell vorbei?", fragte Thymian mit der Höflichkeit in der Stimme, die man noch so gerade besaß, wenn man jemanden verfolgte und in Eile war. Der Mann vor ihm schob unbeirrt jeden seiner Füße ein Stück weiter über die Straße, als wäre er sehr bemüht nicht den Bodenkontakt zu der selbigen zu verlieren. Einige Meter vor ihm lief der Verfolgte aus seinem Blickfeld. Thymian unterdrückte ein Fluchen, überwand sich und schob den Alten etwas unsanft zur Seite.
"Tschuldigung.", rief er bereits im Laufen. Er stolperte ungeschickt über einige Mülltonnen, riss sie scheppernd mit sich, fing sich im letzten Moment noch und bog hastig um die nächste Ecke. Er sah noch die flatternden Rockschöße des Butlers, der wiederum schon eine Straße weiter war. "Haltet ihn auf! Stadtwache!", rief Thymian, so langsam bekam er die Anstrengung des Laufens zu spüren. Warum lief der Mann eigentlich vor ihm weg? Er hatte doch noch gar nichts gefragt gehabt...
Der ehemalige Narr kam reichlich atemlos in der nächsten Gasse an, sah den Mann auch, der aber plötzlich in einem Menschenpulk untertauchte, der sich um irgendetwas am Bürgersteig gebildet hatte. Thymian seufzte. Das waren sicher an die vierzig Leute, da würde er den Mann niemals drin wieder finden, hatte er doch sein Gesicht nur kurz gesehen. Der Rekrut sah sich ratlos um, zu allem Überfluss hatte er nicht die geringste Ahnung, wo genau er in Ankh-Morpork gerade war. Naja, es konnte nicht schaden, zumindest zu versuchen den Mann wieder zu finden. Er sah noch einmal in den dämmernden Abendhimmel und wollte soeben eine Kreuzung überschreiten, als in diesem Augenblick eine schwarze Kutsche über die Straße donnerte. Thymian sprang hastig zurück und konnte gerade noch verhindern, dass er seine Schuhe in Zukunft fünf Nummern kleiner kaufen konnte.
Merkwürdigerweise hielt die Kutsche genau vor ihm. Vier edle Rappen waren davor angespannt und schnaubten in der abendlichen Hitze. Der Mann auf der Kutsche kam zu ihm herunter, öffnete die schwarze Kutschtüre und hielt sie Thymian auf.
"Bitte, Herr Pech.", forderte er auf. Verwundert starrte Thymian zu dem Kutscher und dann wieder in die lichtlose Dunkelheit im Inneren.
"Äh, ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor.", antwortete er zögernd. Der Kutscher schüttelte den Kopf und machte eine eindeutige Geste zur Türe hin.
"Nein, Herr, hat alles seine Ordnung. Wenn du bitte einsteigen würdest?" Thymian sah sich noch einmal um, zuckte verwirrt mit den Schultern und gab es auf über die Dinge nachzudenken, die ihm bisher schon an Wunderlichem passiert waren. Eine Kutsche, die da plötzlich vor ihm hielt und seinen Namen kannte, war noch das kleinste Stück in diesem Puzzle.
Dann stieg er ein. Die Türe wurde geschlossen. Von draußen schnalzte der Kutsche mit der Zunge. Die Pferde gingen in einen leichten Trab über. Ein leichtes Ruckeln fuhr durch die gesamte Kutsche, als diese sich in Bewegung setzte. Drinnen war es vollkommen düster. Er setzte sich, atmete die staubige, trockene Luft im Inneren ein und blickte auf.
"Guten Abend, Thymian."
Der Rekrut fuhr bis ins Mark zusammen. Er hatte gedacht, er wäre alleine in der Kutsche. Nun beugte er sich vor, kniff die Augen zusammen und sah zu der gegenüberliegenden Sitzbank. In diesem Moment schälte sich ein Gesicht aus der Finsternis, Stück für Stück bis es in einer Augenhöhe mit dem von Thymian lag.
Er stockte, wagte nicht zu atmen, als er Gelegenheit bekam das Gesicht vor ihm zu studieren, als wisse sein Gegenüber ganz genau, dass Thymian einige Zeit brauchte, um zu realisieren wer da vor ihm saß. Er kannte das Gesicht. Er hatte es nur ein einziges Mal gesehen. Durch eine halb angelehnte Tür. Nur ein Spalt breit. Diese Tür führte in das Büro von Herrn Weißgesicht.
Thymian raffte all seinen Mut zusammen, der ihm in dieser Situation noch geblieben war. Er musste nachfragen, das konnte einfach nicht wahr sein. Er saß hier nicht in einer Kutsche und starrte den- er hielt inne und brachte mit bebender Stimme folgende Worte heraus:
"Euer Excellenz?"
"So kannst du mich nennen, ja.", erwiderte der Patrizier und lehnte sich wieder in den Schatten zurück. Thymian wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er hatte das Gefühl, seine Stimme hätte sich tief in seinem Inneren verkrochen und würde Tage brauchen, um piepsig und leise wieder hervorzutauchen. "Kennst du die vier Regeln, die man in dieser Stadt wissen sollte?", fragte Lord Vetinari unvermittelt.
"Äh.. nein.", hauchte Thymian und wusste nicht, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Er bemühte seine Augen woanders hinzulenken, aber die Vorhänge waren zu gezogen und es gab nur die gegenüberliegende Seite des Kutscheninneren, wo er hinsehen konnte.
"Die ersten beiden sind sehr einfach zu verstehen. Jeder weiß alles, jeder weiß nichts." Thymian nickte darauf ehrfürchtig, auch wenn er keine Ahnung hatte, worum es ging. "Dabei kann niemand je alles wissen und niemand je völlig unwissend sein. Meine Aufgabe ist es, so viel wie möglich von denen zu erfahren, die denken, sie wüssten nichts."
"Ich weiß wirklich nichts. Äh, glaube ich, Euer Excellenz.", antwortete der ehemalige Narr und konnte ein unruhiges Hin und herrutschen auf dem glatten Polster nicht verhindern.
"Formuliere es anders. Du weißt weniger als manch andere zum Beispiel, aber du weißt Dinge, die jemand vielleicht noch nicht kennt. Um herauszufinden, welchen Wissensstand die anderen haben, gibt es Regel drei."
"Äh.. ja?"
"Jeder beobachtet jeden.", erzählte der Patrizier ungerührt weiter. Er hatte nun seine schmalen, langen Finger an den Kuppen zusammengelegt und stützte sein markantes Kinn darauf ab, während seine Augen auf Thymian ruhten. "Jemand hat dich beobachtet, was die Vermutung zulässt, dass du etwas weißt. Und nun, Thymian, erlaube mir dir eine Frage zu stellen."
Ein wenig zu rasch nickte Thymian darauf, aber er wollte nicht das Risiko eingehen, die wichtigste Person der Stadt zu verärgern. Und wie der Makler schon vor ein paar Stunden treffend gesagt hatte: Er war die Stadt.
"Regel 4: Jeder arbeitet nur für sich. Alle arbeiten nur für sich. Ohne Ausnahme. Manche tun es des Geldes wegen, um ihr Ansehen zu steigern, um Ruhm zu erlangen, um Informationen herauszubekommen... um zu überleben." Ein stechender Blick traf Thymian, der hastig zur Seite sehen musste. Er bemerkte wie kalter Schweiß langsam über seinen Rücken rann. Die Luft in der Kutsche kam ihm auf einmal zu heiß vor, die Düsternis noch finsterer und die Stimme von Lord Vetinari noch schneidender, als sie ohnehin schon war. Der Patrizier beugte sich wieder vor. "Für wen arbeitest du, Thymian Pech?"
"Ich fürchte, ich äh verstehe nicht ganz, Euer Excellenz."
"Für dich oder gegen dich?"
"Äh.. äh..", stammelte Thymian herum, völlig aus dem Konzept gebracht. Er hatte das Gefühl der Patrizier verwendete andere Worte, als er eigentlich meinte. "Für mich natürlich, Excellenz." Die Lippen Vetinaris, nur zwei dünne, blasse Linien in dem Gesicht, formten sich nun zu einer Art unnatürlichem Zwei-Sekunden-Lächeln, um sich gleich darauf wieder in der kalten Ausgangsposition zurück zu finden.
"Das freut mich für dich."
Langsam dämmerte es Thymian, was der Patrizier eigentlich gefragt hatte.
"Aber... aber ich kann doch gar nichts, ich hab keine Besonderheiten, ich bin nicht nützlich.", versuchte er seinen Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen, er hatte dabei nur übersehen, dass er bereits bis zum Hals in Treibsand steckte. Die Augen des Patriziers fügten noch hinzu: Vielleicht auch im Sand der Skorpionsgrube.
"Jeder hat etwas, was ihn auszeichnet, Thymian." Der Rekrut schluckte, dass Lord Vetinari seinen Namen kannte, wurde ihm erst jetzt in seinen vollen Ausmaßen bewusst.
"Äh.. ich weiß wie eine 12 aussieht.", antwortete Thymian und verfluchte sich im selben Moment dafür.
"Schreiben und Lesen ist für einen Mann-" Das Wort fiel regelrecht von seinen Lippen und sammelte sich in Thymians Hirn. "-nicht von Bedeutung. Wahre Männer haben einen Verstand, der keiner abstrakten Buchstaben und Zahlen bedarf. Kannst du etwa schreiben?" Die Frage klang so, als sei es das widerlichste, was man überhaupt tun könnte. Als hätte er gefragt, ob Thymian Pantomime wäre.
"Nein, euer Excellenz.", antwortete dieser deshalb blitzschnell.
"Das freut mich für dich.", erwiderte der Patrizier. Folgendes sagte er nicht: 'Und ich wünsche auch, dass das so bleibt.' Eine erdrückend unangenehme Stille breitete sich in der Finsternis aus und gab dem Wächter ausreichend Gelegenheit über das Gesagte und nicht Gesagte im allgemeinem nachzudenken. Vetinari strich über sein Gewand, blickte Thymian mit diesem stechenden unnachahmlichen Blick an, der den ehemaligen Narr wünschen ließ auf die Größe einer Maus zusammen zu schrumpfen. Es war als warte der Patrizier auf etwas. Schließlich verstand Thymian. Nach einer endlos langen Weile nickte er.
Auch Vetinari nickte.
"Boten sammeln Wissen ohne zu wissen. Es gibt dort viele Aufgaben für Männer wie dich, Thymian." Dann hielt die Kutsche. Die Türe wurde geöffnet und ehe Thymian noch etwas sagen oder den letzten Satz begreifen konnte, war er auch schon draußen auf der Straße. Dann kamen ihm schlagartig zwei Erkenntnisse, die eine bestand darin, dass er merkte, dass er nicht gerade herausgekommen, sondern erst hineingeraten war, in dieses Schlamassel. Die zweite kam ihm, als er sah wo er war. Während die Kutsche in der hereingebrochenen Nacht schon längst davon gebraust war, stand Thymian immer noch vor dem Eingang zu Onkel Jeskos Kneipe.
Er weiß, wo ich wohne. Er weiß, wo ich wohne.
Panik wollte in ihm aufsteigen, doch er kämpfte sie rasch nieder. Atmete ein paar Mal die Ankh-Luft ein und aus und ging dann in die Kneipe. Drinnen kam ihm schon aufgeregt sein Onkel entgegen.
"Da bist du ja endlich. Wo hast du nur gesteckt?"
"Ich.. äh, äh Ermittlungen und so.", versuchte er weitere Fragen abzuwenden.
"Na, wie auch immer. In deiner Kammer wartet jemand auf dich."
Thymian nickte und eilte zur Besenkammer. Vielleicht der Oberleutnant, der ihn irgendwie gefunden hatte. Hastig öffnete er die Türe, um bereits ein 'Entschuldige die Verspätung, Sir.' Hervorzubringen, als er mit den zischend ausgesprochenen Worten "Wo warst du?" begrüßt wurde.
Zu der Stimme gehörten zwei unendlich lange Beine, das linke davon tappte leicht zornig mit dem in ledernen Stiefeln steckenden Fuß auf, goldenes Honighaar, das aufgebracht von einer zierlichen Hand zurückgeworfen wurde und sich an den Schultern in Wellen brach. Ein roter, ebener Mund, der weitersprach:
"Warum warst du nicht bei meinem Auftritt?", schnappte der Mund, der sich so verführerisch auf- und abbewegte. Dunkle Augen, die ihn blitzend ansahen, als Thymian immer noch nichts sagte.
"Helen.", brachte er schließlich ein einzelnes Wort raus und hoffte, er würde wenigstens nicht ganz wie ein kompletter Trottel dastehen.
"Ja, das ist mein Name. Ich dachte, du würdest kommen, du hattest doch fest zugesagt.", erwiderte Helen.
"Äh, ich meine mich zu erinnern, dass ich- äh.. also." Thymian begann wieder herumzustottern, weil seine Augen zu beschäftigt waren Helens Kleidung bzw. Nicht-Kleidung zu ignorieren. Sie hatte etwas aus dunklem Leder an, was selbst den Amazonen im Wyrmberg zu knapp erschienen wäre. (Es hatte etwas von dem Schwanenbild M.C. Eschers, wo man nicht wusste welche Schwäne man nun betrachten sollte.) Thymian wusste nicht, ob er das straff gespannte Leder anstarren sollte, das mehr preisgab als verhüllte oder die bloßgelegte vor Öl glänzende Haut. Er beschloss lieber auf den Fußboden zu gucken.
"Ich musste ermitteln.. wegen dem Fall. Ich- ich bin ein Wächter."
"Ich weiß." Sie setzte sich auf sein kleines Bett. Sie sitzt auf meinem Bett. Er weiß, wo ich wohne. Solche Sätze schossen blitzartig durch seinen Geist. "Und wie geht es voran mit dem Fall?" Sie verlieh dem letzten Wort so viel Verächtlichkeit wie überhaupt nur zwischen vier Buchstaben hinein zu zwängen waren.
"Äh.. wir haben sicher neues herausgefunden. Glaube ich.", fügte er hinzu.
"Weißt du.", begann Helen ohne auf das vorhergesagte von Thymian genauer einzugehen. "-es begann alles mit Victors Frau. Victors Problem war nur, dass es damit nicht aufhörte.", fuhr sie geheimnisvoll fort.
"Wie meinst du das?"
Doch noch ehe er weiter etwas sagen konnte, war sie wieder aufgestanden, kam auf ihn zu, beugte sich zu ihm hinunter und ihr gekämmtes Gold raubte Thymian die Sicht und den Atem. Ihre Lippen brannten heiß auf seiner Wange, als hätte sie ihn gebrandmarkt. Doch es war nur ihr Abschiedskuss, er spürte wage noch wie sie über seine Brust strich, aber vielleicht war es auch nur eine Illusion gewesen. Vielleicht war alles nur eine Illusion gewesen. Sie ging nach draußen, er brachte kein Wort mehr heraus und erst als sie verschwunden war, erlaubte sich Thymian kraftlos auf seinem Bett zusammenzusacken. Er strich noch einmal mit der Hand ganz vorsichtig über die soeben geküsste Wange und schlief selig ein.
Am nächsten Morgen ging Thymian ungewöhnlich früh schon aus dem Haus, erfüllt mit der festen Entschlossenheit endlich den Oberleutnant zu finden. Denn er konnte ja unmöglich alleine weiter ermitteln. Drei Tage war er erst bei der Wache und bereits jetzt sah er sich in die merkwürdigsten Dinge verstrickt, die er jemals erlebt hatte. Noch dazu hatte er nicht einmal den Hauch einer Ahnung, worum es eigentlich ging. Vielleicht sollte er endlich anfangen sich über den Fall Gedanken zu machen, so würde sicher auch Oberleutnant Daemon vorgehen. Man muss herausfinden, was hinter all dem steckt, sagte sich Thymian im Stillen und ging durch die Straßen.
Plötzlich fiel ihm ein, wo er noch nicht nach dem Wächter gesucht hatte. Er war selber peinlich berührt von seiner eigenen Begriffsstutzigkeit.
Etwas später
"Aha, der neue Rekrut." Oberleutnant Daemon stand inmitten eines Chaos, was einmal sein Büro gewesen sein musste. "Wo warst du denn bloß?"
"Wo.. wo ich war? Wo warst äh du, Sir?"
"Ich habe Erkundigungen eingezogen." Er holte seinen Notizblock raus und blätterte darin. "Die Stammgäste im Klub."
"Äh, und?", fragte Thymian nach, der inzwischen wieder vergessen hatte, was er eigentlich hatte fragen wollen, so überrumpelt kam er sich vor den Oberleutnant tatsächlich in seinem Büro anzutreffen. (Es war wie das Gefühl, was einen überkommt, wenn man seine Schlüssel dort findet, wo sie sein sollten, man aber aus Prinzip dort zuletzt nachguckt, weil man sich völlig sicher ist, dass sie dort nicht sein können.)
"Wertlos. Allesamt. Schweigen wie ein Grab. Haben nichts gesehen, nichts gehört. Deswegen habe ich beauftragt die Verdächtigen und das Gildengebäude zu observieren."
"Wer ist denn äh verdächtigt?", fragte Thymian nach.
"Na, alle.", erwiderte der Oberleutnant und trank einen Schluck heißen Kaffees aus seiner Tasse.
"Aha.", machte Thymian.
"Mücke hat Vinni und Hatscha losgeschickt, mal sehen, ob uns das weiterbringt."
"Soso.", gab Thymian zurück.
"Der Makler hat mich übrigens einfach nur vor der Türe abgesetzt, ich dachte, es schadet nicht, wenn ich mich schon mal um die Stammgäste und Bekannte von Krunn kümmere.", redete Daemon weiter.
"Mhm.."
"Und dann hab ich die Schildkröte von unten gesehen."
"Aha.", sagte Thymian. Für einen Moment entstand Stille inmitten des Chaos von Daemons Büro, der Oberleutnant sah ihn an und erst da bemerkte Thymian, dass er kurzzeitig mit den Gedanken woanders gewesen war.
"Was ist passiert?", fragte Oberleutnant Daemon rundheraus. Der Rekrut senkte den Blick.
"Ich habe nach dir gesucht.. überall, Sir, ich dachte, es wäre was schlimmes passiert. Dann war ich bei dem Butler, doch er lief weg, bevor ich Fragen stellen konnte. Und dann..." Er brach ab.
"Nun, wie du siehst, geht es mir gut. Du wolltest noch etwas sagen?"
"Äh, nein.. war nicht so wichtig. Hier, ich habe diese ähm drei Blätter aus einer der Kisten von Krunn mitgenommen.", fügte Thymian schnell hinzu und holte die Rechnungen hervor. Er kramte in seiner Uniformtasche, aber merkwürdigerweise waren es nur zwei Seiten. "Komisch.. ich hätte schwören können, na ja, ist ja auch egal. Jedenfalls.. " Er übergab dem Oberleutnant die zwei Blätter. "vielleicht sind sie interessant.. ich weiß nicht genau." Und das war noch weit untertrieben, im Grunde hatte er keine, aber auch nicht die geringste Ahnung, ob irgendetwas, was er herausgefunden hatte von Belang war.
"Ist ja interessant.", stieß der Oberleutnant aus. Thymian blickte hoffnungsvoll auf.
"Ja?"
"Ja." Er tippte auf eines der Dokumente. "Das sind Rechnungen über eine große Lieferung an Salamandern, Maltöpfen und Ikonographen." Daemon kniff die Augen zusammen und las laut vor. "Der Salamander, Waren für den Anspruchsvollen Kunden. Neuer Flickschusterweg 29." Der Oberleutnant faltete die Papiere wieder und steckte sie ein. "Ich schätze, dann werden wir diesem Geschäft mal einen Besuch abstatten. Es ist zwar nicht viel, aber irgendwo müssen wir ja ansetzen." Er watete durch umherfliegende Memos und Ordner nach draußen auf den Flur und murmelte wieder etwas. "An der Sache ist was faul.. da steckt viel mehr dahinter.. wer Ikonographen kauft, der will auch Bilder machen.. nur von was?"
"Ich hab nicht die geringste Ahnung.", mischte sich Thymian ebenso leise ein. "Regel 2.. jeder weiß nichts.", setzte er noch leiser nach, so dass Oberleutnant Daemon noch nicht einmal den Kopf wandte. Sie gingen aus dem Boucherie Rouge und weiter durch die Straßen von Ankh-Morpork, während der DOG -Dobermann laut über den Fall nachdachte. Wobei seine Kommentare sich auf ein lang und breit hingemurmeltes 'Da ist was faul an der Sache' beschränkten und Thymian nicht die geringste Möglichkeit ließen irgendetwas von den genialen Geisteswinkelzügen seines Kollegen mitzubekommen.
Nach einer Weile kamen sie im Flickschusterweg an, quietschend bewegte sich ein Schild an einer Hauswand, wo mit viel gutem Willen ein Salamander drauf zu erkennen war.
"Wozu braucht man eigentlich Salamander beim Ikonographieren?", fragte Thymian, während sie durch die kleine, verdreckte Straße gingen. Daemon zuckte mit den Schultern und öffnete die verstaubte Glastüre zu dem Geschäft.
"Ich glaube, es hat irgendwas mit Licht und Magie zu tun.", erwiderte er. Über ihm ertönte das schrille Bimmeln einer Türglocke. Thymian zögerte beim Übertreten der Schwelle, er hatte zwar nie in der Narrengilde einen Wassereimer abbekommen, trotzdem beschlich in jedes Mal ein mulmiges Gefühl, wenn er irgendwo eintrat.
"Halloooooo! Hallo, Hallo!", wurden die Wächter von einer merkwürdigen Gestalt begrüßt, die blitzartig nach dem Gebimmel hinter der Ladentheke erschienen war. Es war ein kleiner, gebeugter Mann, der aalglattes gekämmtes Haar besaß, was vor Fett geradezu troff. Er sah die beiden hereinkommenden Wächter mit kleinen Augen an, wobei das rechte die merkwürdige Angewohnheit hatte dauernd einen Punkt unmittelbar neben dem linken Ohr des Gesprächspartners anzuvisieren. Ein nur halbherzig rasiertes Gesicht blickte Thymian entgegen, oberhalb des dünnen Mundes war ein noch dünnerer Oberlippenbart, der merkwürdig aussah.. als ob er verrutscht wäre.
"Und ihr seid? Ihr seid? Wer seid ihr?" Der Mann sprach schnell. Die Worte quollen sozusagen nur so aus ihm heraus, während er seine dünnen, langen Finger ungewöhnlich laut knacken ließ.
"Wir äh sind Wächter der Stadtwache.", erwiderte Thymian, wofür er von dem Oberleutnant einen scharfen Blick kassierte.
"Von Ankh-Morpork?", setzte der Mann hinter der Theke sofort nach. Erst jetzt sah sich Thymian in dem Laden um, wobei es nicht viel zu sehen gab, denn das Geschäft war mit einem Wort düster. Auf dreckigen, verstaubten Holzdielen, standen noch dreckigere, verstaubtere Regale mit irgendwelchen Dingen darin.
"Natürlich aus Ankh-Morpork. Woher denn sonst?", fragte Oberleutnant Daemon nach.
"Nun aus Syrrit zum Beispiel. Ihr seid aber nicht aus Syrrit oder? Nein, ihr seht mir nicht danach aus. Aber solltet ihr trotzdem aus Syrrit sein, so muss ich euch sagen, dass Thaddäus Hutt die Stadt verlassen hat und nicht mehr gewillt ist zurück zukehren und nein, dummerweise, weiß ich seine Adresse nicht. Genauer gesagt habe ich sie verlegt, aber für fünfzig Ankh-Morpork Dollar finde ich sie vielleicht wieder. Ihr seid also aus Ankh-Morpork, ja?", redete der Mann auf sie ein.
"Ähm, ja." Auch Oberleutnant Daemon schien darauf ein wenig verwirrt zu sein, außerdem sah ihn sein Gegenüber so komisch an, als stünde etwas hinter Daemon und er musste sich zwingen sich nicht umzudrehen.
"Na, dann ist ja alles bestens. Äußerst bestens sozusagen, wenn nicht sogar allerbestens!" Der Mann setzte ein Lächeln auf und entblößte somit sicherlich die schlecht geputztesten Zähne in Ankh-Morpork und Umgebung.
"Wir kommen wegen diesen Rechnungen. Die sind doch von dir oder Herr.. Herr, wie war gleich noch mal der Name?" Der Oberleutnant Daemon zeigte dem Mann die zwei Papiere, während Thymian auf das Regal hinter diesem blickte. Ganz oben saßen eine Reihe von kleinen Dämonen und starrten zu ihnen hinunter. Man hörte ganz leises Tuscheln von ihnen, ab und zu kicherte einer.
"Herr Hutt. Sagte ich das nicht bereits? Thaddäus Hutt. Was möchtet ihr denn erwerben?"
"Wir möchten nur eine Auskunft.", antwortete Daemon mit beherrschter Stimme. Daraufhin holte der Mann eine Liste raus und blätterte darin, schließlich sah er wieder auf.
"Was für eine Auskunft? Auskünfte über meine Waren zehn Dollar, Auskünfte über meine Kunden 20 Dollar. Sonstige Auskünfte Preis verhandelbar.", erklärte Herr Hutt und knackte mit seinen Fingern. Der Oberleutnant zog die Augenbrauen nach oben und betrachtete den merkwürdigen Mann misstrauisch.
"Du kennst nicht zufällig Schnapper?", fragte er.
"Nein, nie gehört den Namen." Daemon atmete erleichtert auf. "Aber für fünf Ankh-Morpork Dollar kenne ich ihn und für zehn beantworte ich sogar die ein oder andere Frage über ihn."
"Wir wollen gar nichts über Schnapper wissen, aber der Name Victor Krunn sagt dir sicher was.", gab der Oberleutnant zurück.
"Unter gewissen Umständen." Herr Hutt grinste und machte dann etwas, was zu widerlich war, um es genauer in Worte zu fassen. Man könnte es so ausdrücken... er spuckte mitten auf die Theke. Thymian verschluckte sich beinahe an einem Räuspern und stolperte nach hinten. Er fand den gesamten Mann ekelhaft, aber vermutlich gehörte es mit zum Tschob eines Wächters mit ekelhaften Leuten zu tun zu haben.
"Fällt das unter die gewissen Umstände?" Sein Kollege schob einige Münzen auf den Tisch.
"Das sind viel zu geringe." Der Mann würdigte die Münzen mit keinem einzigen Blick, sondern starrte weiter den Oberleutnant an (zumindest mit dem linken Auge).
"Hör mal.. Herr Hutt, wenn ich wollte, könnte ich deinen ganzen Laden mit nur einem Fingerwink hochnehmen lassen. Also nimmst du jetzt besser das Geld und fängst an zu erzählen.", sagte Daemon ruhig.
"Oh, ich zittre, ich zittre." Spott steckte in jedem einzelnen Wort von Herrn Hutt, dennoch nahm er das Geld an sich, schnüffelte kurzzeitig daran, sagte etwas wie 'Gutes Geld, ja, gutes Geld' und besah sich nun endlich die zwei Rechnungen. "Ja, die sind von Victor Krunn. Er hat oft hier eingekauft."
"Das ist eine Lieferung über eine Menge Salamander. Für was genau wollte er die?", hakte Daemon nach.
"Ihr wisst wohl gar nix oder? Aber das ist eine lange Geschichte und ich bin sehr erschöpft, jaja. Und viel verdiene ich auch nicht mehr. Ach, es ist schon ein schweres Leben. Meine Familie ist in alle Winde zerstreut, aber wir tätigen unsere Geschäfte überall.", redete der Mann weiter, bückte sich und holte unter der Theke einen verdeckten Käfig hervor.
"Auch welche in Syrrit, nehme ich an.", sagte Oberleutnant Daemon wie beiläufig, die Worte verfehlten nicht ihre Wirkung und Herr Hutt zuckte sofort zusammen. Thymian aber war viel zu beschäftigt sich nicht vorzustellen, dass dieser Mann auch eine Familie besaß.
"Äh, das war ein bedauerliches Missverständnis. Aber der Mann wurde nie gefunden und die Salamander habe ich alle erhalten.", sagte Thaddäus Hutt hastig und blinzelte mit seinen kleinen Augen.
"Ich will es gar nicht genau wissen, uns interessiert nur Victor Krunn. Also, was ist jetzt mit dieser Lieferung?"
"Hach, mein Gedächtnis ist so schlecht.. das passiert mir immer, wenn ich an einem Tag noch nichts verkauft habe. Wollt ihr nicht etwas kaufen?" Herr Hutt setzte ein strahlendes Verkaufslächeln aus und man konnte eine kleine, spitze und seltsam dunkle Zunge in seinem Mund sehen.
"Thymian, kauf was.", sagte Daemon nur, dann wandte er sich wieder dem Mann zu.
"Äh ja, Sir. Sofort, Sir.", erwiderte der Angesprochene und sah sich suchend in dem Laden um.
"So und jetzt möchte ich wissen, was es genau mit diesen Salamandern auf sich hat.", sprach der Oberleutnant weiter. Herr Hutt nickte und zog das Tuch von dem kleinen Käfig. Ein kleines glubschäugiges, glitschiges Tier starrte Daemon mit großen Augen an.
"Ein Salamander, beste Qualität. Aus äh Syrrit importiert. Die natürliche Art bewohnen Wüsten und sie ernähren sich von den oktadings Wellen der Sonne."
"Du meinst, oktarine Lichtwellen?", hörte Thymian den Oberleutnant fragen, während der Rekrut sich umsah. Er sollte etwas kaufen.. nur was? Zögernd ging er zu einem Regal und nahm einen großen Topf herunter. Neugierig öffnete er ihn und sah rote Farbe darin schwimmen. Zumindest glaubte er, dass es rot war, denn es war zu dunkel in der Ecke, um überhaupt etwas zu erkennen. Nein, das wollte er nicht kaufen. Thymian stellte es wieder beiseite und sein Blick richtete sich auf ein kleines Schächtelchen.
"Ja, genau die meine ich. Davon ernähren sie sich. Magische Energie und Licht. Es reicht also, wenn man sie offen irgendwo stehen lässt, damit sie sich aufladen. Dann sind sie einsatzbereit. Ein Exemplar kostet 35 Ankh-Morpork Dollar.", erklärte Herr Hutt. Von dem Salamander in dem Käfig drang schwaches, kaum wahrnehmbares Licht.
"Einsatzbereit für was?", hakte der Oberleutnant nach. Inzwischen hatte Thymian das Kästchen aufgenommen und schüttelte es sacht. Irgendwas rappelte darin. Er öffnete es und sah einen winzig kleinen Dämonen mit einem einzigen riesigen Auge. Angewidert schloss er das Kästchen schnell. Wohl eine Spezialanfertigung. Aber irgendwas musste er ja kaufen und warum nicht dieses merkwürdige Wesen.
"Na, wenn man im Dunklen oder bei wenig Licht Bilder macht, dann brauch man einen Salamander. Man muss sie nur erschrecken, dann geben sie in Form eines Blitzes Licht ab. In diesem Zeitpunkt kann der Dämon im Kasten genug sehen, um das Bild anzufertigen. Hier, pass auf!" Plötzlich ließ der Ladenbesitzer seine Hand auf den Käfig niedersausen und schlug mit Wucht dagegen. Oberleutnant Daemon hatte sich interessiert vorgebeugt. Was ein Fehler war, wie er sogleich bemerkte. Der Salamander entlud sich mit geräuschlosem Knall und ein gleißend helles Licht fraß sich durch Daemons Iris und brannte sich sekundenlang auf dessen Netzhaut ein.
"Argh!" Er hielt sich die flache Hand gegen das Auge und taumelte im Laden umher.
"Ach, hatte ich nicht gesagt, dass das blendet? Oh, das muss mir wohl entfallen sein. Vielleicht lag es daran, dass mich zu wenig Münzen daran erinnert haben." Thaddäus Hutt lächelte süffisant.
"Alles in Ordnung, Sir?" Thymian kam wieder zur Theke, doch sein Kollege hielt sich immer noch die Hand vors Auge und fluchte. "Ich möchte das hier kaufen.", sagte der Rekrut zu dem Mann hinter der Theke gewandt und zeigte ihm das Kästchen.
"Eine guuuuute Wahl, mein Herr!", rief Herr Hutt sofort aus. Man sah förmlich das Dollar-Zeichen in seinen Augen aufblitzen und er knackte geschäftig mit seinen dürren Fingern, die dafür jedoch ungewöhnlich dicke Fingerkuppen besaßen. Je mehr Thymian ihn ansah, desto mehr erinnerte er ihn selbst an eines dieser Salamander-Wesen. "Macht 250 Dollar.", flötete Herr Hutt und streckte die Hand aus.
"Äh, wis? Das muss ein Irrtum sein.. so ein kleines Ding kann niemals diese Summe kosten.", gab Thymian stotternd zurück.
"Natürlich, je kleiner desto teurer. Und das ist noch ein Freundschaftsangebot."
"Aber wozu braucht man so was?"
"Oh, der kommt natürlich in einen extra kleinen Kasten. Krunn hat auch einige davon gekauft. Er hatte das nötige Geld dazu." Ein harter Blick traf Thymian. "Solche Spezialanfertigungen benutzt man.. benutzt man, hach, jetzt ist mir doch glatt entfallen, was ich sagen wollte." Herr Hutt schlug sich in gespielter Überraschung gegen die Stirn. In diesem Moment meldete sich Oberleutnant Daemon wieder zurück.
"Sag.. es.. uns. Sofort.", presste er zwischen den Zähnen hindurch. "Wir haben gute Kontakte zu der Wache in Syrrit.", fügte er hinzu. Mit geröteten Augen sah er den Ladenbesitzer an, der ein wenig unsicher wirkte und sich das dunkle, fettige Haar nach hinten wischte.
"Na schön.. Krunn war bereits vor dem Tod seiner Frau ein guter Kunde von mir. Hat dauernd Ikonographien von seiner Frau gemacht. Völlig verrückt, sag ich euch. Aber nachdem sie gestorben war –ich erfuhr durch Zufall davon- tickte der völlig aus. Kam in meinen Laden, bot mir ne Menge Geld, er hatte ja genug, hat nur die besten Sachen bestellt. Spezialsachen."
"Wie speziell?", fragte der Oberleutnant.
"Sehr speziell. Kleine Sachen, unauffällige Sachen. Er wollte auch nicht die gewöhnlichen Salamander, sondern die Zwergsorte. Musste extra alte Kontakte wieder auffrischen, hat ihn ne ganz schöne Stange Geld gekostet." Herr Hutt tippte gegen die Rechnung. "Hier, Zwergsorte der Salamander, zehn Stück. Sehr klein, sehr unauffällig und vor allem leise. Außerdem sind sie in abgeschirmten Behältern, dass der Dämon im Kasten zwar was sieht, aber das Licht nicht nach außen dringt."
"Wozu soll das gut sein?"
"Nun, wenn man nachts Bilder machen will.. oder in dunklen Räumen." Der Mann unterstrich einen weiteren Punkt auf der Rechnung. "Hier, einer der Spezialdämonen. Sorte: extrawinzig, besondere Fähigkeit: erhöhte Sehfähigkeit. Fünf Stück aaaa 250 Dollar."
"Weißt du, wo er Ikonographen-Aufnahmen machen wollte?", hakte Daemon nach. Herr Hutt schüttelte den Kopf.
"Nein, darüber hat der nie ein Wort verloren. Irgendwann verschwand er dann von einen Tag auf den anderen. Ich erfuhr erst später, dass er an einer Herzattacke gestorben war. Aber witzig, dass ihr hier auftaucht."
"Warum?", fragte der Oberleutnant sofort, während er sich alles in seinem Notizblock notiert hatte.
"Och.. nur so. Nicht weiter wichtig. Wird euch sicher nicht interessieren." Herr Hutt leckte sich mit seiner dunklen Zunge über den breiten Mund.
"Rede endlich. Jedes Detail kann für unsere Ermittlung wichtig sein.", gab Daemon zurück.
"Erst zahlt der Kleine-." Der Mann deutete auf Thymian. "-den Winzdämon."
"Aber soviel Geld besitze ich nicht.", erwiderte der ehemalige Narr hilflos.
"Thymian, du hast doch normalerweise Glück oder hab ich das falsch verstanden?"
"Ja, Sir.. äh, nein, Sir. Ich meine, ich habe Glück."
"Nun, ich würde sagen, es wäre großes Glück, wenn per Zufall nun draußen auf der Straße jemand Geld verlieren würde.. findest du nicht auch?" Oberleutnant Daemon sah ihn durchdringend an und Thymian ging zur Türe.
"Ich äh werde mal nachsehen, Sir."
"Das ist eine gute Idee."
Thymian öffnete die Türe, die Glocke ertönte wieder schrill, er trat auf die Straße, sah sich um.. und erblickte einen Mann am anderen Ende der Straße. Er war zu weit weg, als dass er dessen Gesicht hätte sehen können, aber Thymian erstarrte augenblicklich und war unfähig sich zu rühren. Das war er. Der Pappmaskenmann. Der Mann kam auf ihn zu. Langsame, wiegende Schritte, die seine Agilität und Gewandtheit nur noch unterstrichen. Wieder hatte er diese Maske an.
Thymian wollte nach seinem Kollegen rufen, doch die Stimme versagte ihm. Zu welcher Partei gehörte dieser Mann nur? Die Hände von diesem waren locker in seiner Jacke vergraben, er trat bis auf wenige Schritte an Thymian heran.
"So, Kleiner, jetzt hab ich aber genug von dir.", schnarrte er. "Hör zu, ich will dieses Testament. Du hast mich ganz schön reingelegt mit deinen feinen Freunden. Aber ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass du es hast und dein Vorgesetzter kann auch nicht ewig auf dich aufpassen." Er spielte mit irgendwas in seiner Tasche und Thymian schluckte, als ihm wieder der Dolch einfiel. "Ich meins ja nur gut mit dir. Gib mir einfach das Testament und die Sache ist von der Welt."
"Aber- aber.. ich hab es doch nicht. Einer meiner Freunde hat es aufgegessen.", stotterte Thymian und trat ein paar Schritte zurück, doch der Mann mit der Maske folgte ihm sofort.
"Du willst wohl nicht verstehen? Bürschchen, dieser verdammte Mist ist ziemlich wichtig. Wichtiger, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Ich versuch es noch ein einziges Mal im Guten mit mir." Er holte seine rechte Hand aus der Jackentasche und Thymian dachte schon, es wäre der Dolch, aber es war nur ein kleiner Ledersack. "Deine letzte Chance.", fügte der Pappmaskenmann hinzu und hielt Thymian das Säckchen hin.
"Was.. was ist da drin?" Zögernd nahm der Rekrut den Sack entgegen.
"300 Ankh-Morpork Dollar. Du musst wahrscheinlich wieder in das Geschäft zurück, nicht wahr?" Thymian vermeinte ein kurzes Lachen hinter der Maske zu vernehmen. "Wahrscheinlich wird dein Kollege schon misstrauisch, also husch, geh wieder zu ihm. Du hast wenige Minuten Zeit."
"Für was?"
"Um dir zu überlegen, ob du die Chance wahrnimmst. Das Geld darfst du behalten. Ist doch ein hübsches Sümmchen. Vielleicht kannst du dich dann wieder erinnern, wo du das Testament hingetan hast." Er trat ganz nah an Thymian heran und beugte sich zu ihm hinunter. "Wenn du wieder draußen bist, lässt du diesen Kieselstein fallen, als Zeichen dafür, dass du bereit bist mit uns zusammen zu arbeiten." Der Mann drückte ihm in die andere Hand einen runden weißen Stein.
"O-o-okay... ich.. äh ich werd drüber nachdenken.", stotterte der Wächter. Eine Hand packte plötzlich seine Schulter und drückte fest zu.
"Solltest du vergessen, den Kieselstein fallen zu lassen, wird es dir schlecht ergehen. Denk dran, dies ist deine letzte Chance." Der Griff lockerte sich wieder. Der Mann rückte seine schlichte Maske zurecht, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging die Straße entlang.
Schreckliches Gebimmel der Glocke, das in Worten nicht auszumalen ist
"Ah, da bist du ja wieder. Hab mich schon gewundert, wo du bleibst. Hast du was gefunden?"
"Äh, ja, Sir." Thymian hielt Oberleutnant Daemon den Beutel entgegen.
"Gut, dann wäre das ja geklärt. Alles in Ordnung, du siehst so blass aus?" Daemon rieb sich seine immer noch geröteten Augen und übergab das Ledersäckchen weiter an Herrn Hutt. "Hier, dein Geld."
Mit gierigem Funkeln in den Augen öffnete Thaddäus Hutt den Beutel und betatschte mit seinen langen Fingern jede einzelne Münze.
"Gutes Geld, gutes Geld.", murmelte er wieder. Schließlich richtete er sich wieder auf (wobei er trotzdem immer noch irgendwie krumm dazustehen schien) und nickte zufrieden. "250 Dollar, stimmt genau."
"Aber.. ach, na ja, ich sage es dir später, Sir." Thymian bemühte sich gerade zu stehen, was etwas schwer war, denn seine Knie zitterten unkontrolliert. Was war nur los? Seit er in diesen Fall gekommen war, hatte sich alles verändert. Plötzlich schien er wichtig. Leute wollten etwas von ihm. Selbst der Patrizier –seine Knie zitterten noch mehr- hatte mit ihm geredet. Merkwürdige Dinge geredet und Thymian war sich unsicher, was er noch seinem Kollegen erzählen durfte und was nicht. Aber wurde nicht alles schlimmer, wenn er weiter schweigen würde?
"Gut, und nun, was ist jetzt so witzig?" Die Stimme des anderen Wächters riss Thymian ruckartig aus seinen Überlegungen.
"Jemand war bereits vor euch da und zeigte mir eine ähnliche Rechnung von Krunn.", antwortete Herr Hutt. Sofort drehte sich Daemon zu dem ehemaligen Narr um, verschränkte die Arme und sah ihn scharf an.
"Thymian Pech, was ist passiert???" Er schaffte es drei Fragezeichen zu sprechen und seine Stimme klang ungewohnt harsch. Thymian klammerte sich mit der rechten Hand an seiner Dienstmarke fest.
"Nichts, Sir. Gar nichts. Ich schwöre es!", beschwichtigte er.
"Hattest du doch drei Rechnungen mitgenommen? Hast du jemanden eine davon gegeben??"
"Nein, Sir, auf keinen Fall. Ich schwöre es."
"Hast du jemanden getroffen?", setzte der Oberleutnant blitzschnell nach. Herr Hutt verfolgte im Hintergrund interessiert das Gespräch und wog immer wieder das Geldsäckchen in seiner Hand, als müsse er sich vergewissern, dass es überhaupt da war.
"Ich.. äh, nein, Sir."
"Kannst du das auch beschwören?" Ein Blick traf Thymian, den er zum ersten Mal bei dem Oberleutnant sah und der mehr als alles andere zeigte, wer hier der Ranghöhere war. Der Rekrut senkte den Kopf.
"Nein, Sir..."
"Wen hast du getroffen?" Was sollte er darauf nur antworten? Der Pappmaskenmann? Gar Lord Vetinari? Oder Helen? Alle drei hätten ihm eine Rechnung entwenden können. Thymian war sich mittlerweile sicher, dass alle drei das nötige Geschick dazu besaßen ohne dass Thymian auch nur einen Hauch davon mitbekommen hätte. Nach einiger Überlegung merkte er, dass der Pappmaskenmann ausschied, da dieser ihn eben erst getroffen hatte und Thymian die dritte Rechnung schon in der Boucherie Rouge nicht mehr besessen hatte. Und würde sich der Patrizier überhaupt dazu herablassen ihn zu bestehlen? Es blieb nur noch Helen... aber doch nicht sie. Aber doch nicht Helen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Er musste sich irren, irgendwas hatte er sicher übersehen..
"Ich mach es einfacher für dich.", sagte Daemon in diesem Moment. "Herr Hutt, wann war derjenige hier?"
"Vor ungefähr zwei Stunden."
"Und wer war hier?"
"Eine Frau. Sehr hübsch. Sehr blond. Sehr reich." Herr Hutt grinste in einer ekelhaften Art und Weise.
"Helen.", stieß Thymian daraufhin hervor. Es klang wie ein leiser Entsetzensschrei.
"Was hat sie gefragt?", fragte der Oberleutnant weiter ohne auf Thymians Ruf genauer einzugehen.
"Oh, sie wollte wissen, was genau er für Geräte gekauft hat. Und ganz genau wollte sie über die Dämonen bescheid wissen und ob Krunn hier Ikonographien bei mir hinterlassen hätte. Ob ich Abzüge hätte. Aber das musste ich leider verneinen, so viel Geld sie mir auch bot." Herr Hutt lächelte verklärt bei dem Gedanken an das Geld. Er klimperte mit dem Beutel in seiner Hand. "Außerdem beschwor sie mich nicht zu verraten, dass sie hier war, doch Wächtern gegenüber sollte man ja nie etwas verheimlichen, nicht wahr?" Er kicherte und spuckte dabei auf die Theke.
"Besonders wenn sie auch noch Geld dafür bieten oder?" Oberleutnant Daemon nickte grimmig. Schließlich guckte er zu Thymian, der unruhig den Kieselstein zwischen seinen Fingern rieb und an seiner Unterlippe nagte.
"Hast du eine Taube dabei?"
"Nein, Sir. Mein Ausbilder Herr Zupfgut hat mir keine gegeben.", antwortete der Wächter.
"Hmm, na schön, dann muss es so gehen. Ich werde zurück zum D.O.G. Gebäude und beauftragen, dass man diese Helen ab sofort besonders aufmerksam beobachtet. Danach treffen wir uns, sagen wir, um 18 Uhr vor der Einbalsamiergilde." Der Oberleutnant hielt inne in seinen Anweisungen und sah zu Herrn Hutt, der sehr bemüht war möglichst desinteressiert zu wirken. "Verlassen wir erst einmal den Laden. Auf Wiedersehen, Herr Hutt."
"Es war mir ein äußerst großes Vergnügen."
"Vergiss deinen Winzdämonen nicht, Thymian."
"Ja, Sir." Der Rekrut nahm die kleine Schachtel an sich und Herr Hutt knurrte darauf etwas Unverständliches.
"Sag dem netten Herrn auf Wiedersehen."
"Ja, Sir. Auf Wiedersehen, Herr Hutt."
Schreckliches Gebimmel der Glocke, das in Worten nicht auszumalen ist
"Was wollen wir denn bei der Einbalsamiergilde?", fragte Thymian, als sie draußen waren. Der Oberleutnant sah ihn ungewohnt streng an.
"Erstens: Lüg mich nie wieder an. Wir hätten uns da drin viel Zeit ersparen können, wenn ich vorher über alles informiert gewesen wäre. Zeit, die uns jetzt woanders, befürchte ich fehlt. Zweitens: Triff dich nie wieder nach Dienstschluss mit Zeugen. Du bist noch unerfahren, du kannst noch nicht diese Kniffe erkennen mit denen Personen dir Kenntnisse des Falles entlocken ohne dass du es überhaupt bemerken würdest. Und drittens: Wir gehen zur Gilde der Einbalsamierer, weil Victor Krunn reich war und reiche Leute zuerst dort äh behandelt werden. Die Gilde weiß sicher wo genau Krunn begraben wurde und hat sicherlich auch eine Akte über ihn angelegt."
"Und äh wozu wollen wir das wissen?", fragte Thymian leise. Die Stimme des Oberleutnants war wieder milder geworden, doch trotzdem hallten immer noch die Worte seiner Belehrungen in Thymians Kopf wieder. Er nahm sich fest vor die Punkte zu befolgen, genau wie alle anderen Ratschläge des Oberleutnants.
"Anfangs sah es so aus, als hätte die Tänzerin-." Er räusperte sich. "-ihn ungewollt getötet, da Krunn wegen ihrer äh Darbietung einen Herzanfall bekam und starb, aber der Verdacht verdichtet sich, dass er ermordet wurde. Um das wie endgültig zu klären, müssen wir seinen Körper noch einmal begutachten.", schloss Daemon seine Ausführungen:
"Aber das ist Leichenfledderei!", entfuhr es Thymian. Der Oberleutnant sah ihn an.
"Nein.", erwiderte er schließlich. "Das sind Ermittlungen."
***Die Erkenntnisse***
Thymian saß in einer Kneipe, in irgendeiner, er konnte noch nicht einmal mehr sagen wie er dort hingekommen war. Zwischen seinen Händen drehte er den noch kaum angerührten Bierkrug hin und her und überlegte. Er hatte noch ein paar Stunden Zeit bis er sich wieder mit dem Oberleutnant treffen würde. Genug Zeit, um sich endlich einmal in Ruhe Gedanken zu machen. Er blickte zu dem weißen Kieselstein. Gedanken über sein weiteres Überleben. Natürlich hatte er ihn nicht fallen gelassen. Wie sollte er auch? Er hatte das Testament ja nicht. Nicht mehr, fügte er wehmütig hinzu. Wegen diesem einen Moment der Unaufmerksamkeit bei der Teegesellschaft verfluchte er sich eine Weile und trank zum Trotz ein Schluck des schalen Bieres. Und er hatte Daemon versäumt etwas von dem Kieselstein zu sagen. Er hatte es vorgehabt, doch im Laden hatte er nicht offen reden wollen und auf der Straße bestand immer die Gefahr, dass sie belauscht wurden.
Thymian besah kopfschüttelnd sein trübes hohlwangiges Spiegelbild in dem Krug. Er wurde langsam wirklich verrückt. Als ob er wichtig genug wäre, dass ihn jemand verfolgte. Wenn er sich nicht in Acht nahm, würde er bald schon unter Verfolgungswahn leiden. Thymian nippte wieder an seinem Bier und seufzte. Um ihn herum lachten und grölten Männer, ab und zu stieß jemand gegen seinen kleinen Tisch in der Ecke, irgendwo zersprang krachend ein Glas. Unter normalen Umständen hätte sich der Rekrut hier unwohl gefühlt, aber nichts war mehr normal. Und er musste dauernd an Helen denken. Hatte sie wirklich etwas damit zu tun, so wie es Oberleutnant Daemon vermutete?
Helen... war sie nur gekommen, um ihn zu benutzen? Trieb hier denn jeder sein falsches Spiel mit ihm? War irgendwer hier jemand wirklich der, der er vorgab zu sein? Thymian blickte zu dem Wirt, der dreckige Gläser an der Theke ausspülte. Zumindest spuckte er rein und wischte dann mit einem noch dreckigeren Lappen darin herum. Seine Augen ruhten auf der Masse an Raufbolden, Betrunkenen und anderen üblen Objekten. Nur ein bedachter Blick, um Streit zu dämpfen ehe es zu einer Schlägerei kam? Oder ein Blick, um sich bekannte Gesichter zu merken, die sich hier trafen?
Thymian trank schnell sein Bier aus und stellte es mit einem Ruck auf den Tisch. Nein, er musste damit aufhören. Er machte sich noch verrückt. Du wirst nicht verfolgt, niemand beobachtet dich. Niemand schert sich überhaupt einen Dreck um dich., sagte er zu sich selber. Das Bier besaß einen üblen Nachgeschmack und seine Zunge begann davon zu kribbeln. Dabei trank er eh sehr selten, aber wenn, schien er immer besonders miese Qualität abzubekommen, was ihn dazu veranlasste, beim nächsten Mal noch weniger zu trinken.
Thymian erhob sich und wollte schon die Kneipe verlassen, als ein junger Mann mit Schlapphut auf ihn zukam.
"Hey, Junge, ich soll dir das hier geben." Mit diesen Worten überreichte er ihm einen zusammengefalteten, kleinen Zettel, verbeugte sich dabei tief und kicherte, als würde ihn das höchst amüsieren.
"Äh, danke.. von wem denn?"
"Von dem Kerl da- oh, jetzt ist er weg. Naja, ich muss los. Hoffentlich sieht man sich.. nicht. Haha." Der Jüngling lachte, kaum älter als Thymian selbst, und tauchte wieder in dem Kneipengetümmel unter ehe Thymian ihn hätte etwas fragen können. Ratlos ging der Wächter endlich aus der Taverne und entfaltete den Zettel. Er seufzte auf. Schön, irgendwer hatte ihm eine Mitteilung zukommen lassen. Nur wer? Und vor allem.. was stand dort? Er kniff die Augen zusammen, starrte angestrengt auf die Buchstaben, aber einen Sinn vermochte er nicht darin zu erkennen. Schließlich steckte er den Zettel ein und ging die Straße entlang.
Also doch. Jemand hatte ihn beobachtet. Selbst in der Kneipe. Und der Pappmaskenmann würde sich sicher auch bald blicken lassen, um nach dem Kieselstein zu fragen.
Er wanderte ziellos durch Ankh-Morpork, ihm war unnatürlich heiß. Schweiß rann an seinem Rücken hinunter. Seine Hände waren klamm, zitterten unmerklich. Thymian lehnte sich erschöpft gegen eine Mauer. Der Fall war eindeutig zu viel für ihn. Er war doch nur Rekrut, für den Oberleutnant war das vielleicht eine normale Mission, doch Thymian war, und das gab er ehrlich zu, heillos überfordert. Er tupfte sich mit einem glöckchenbesetzten Tuch einzelne Schweißperlen von der Stirn und versuchte den Kragen seiner Uniform zu lockern.
Noch immer hielt sich der Nachgeschmack des Bieres in seiner Kehle und wollte nicht verschwinden.
"He, du!!", schnarrte plötzlich eine Stimme. Thymian strich sich seinen blonden Schopf aus dem Gesicht und sah auf. Vor ihm stand ein Wächter.
"Äh.. meinst du mich?", fragte Thymian Pech unnötigerweise.
"Ne, den Mann hinter dir." Der Rekrut drehte sich daraufhin entsetzt um, bis ihm wieder einfiel, dass er ja an einer Mauer lehnte. Der Wächter lachte. "Mann, bist du schreckhaft." Er musterte ihn lange. "He, bist du nicht der neue?"
"Äh.. äh, ich bin seit drei Tagen bei der Wache, Sir." Thymian erinnerte sich wieder an die Vorschriften und salutierte hastig, wobei er merkte, dass sein Körper zu schwanken begann bzw. der Boden unter ihm. Er klopfte leicht mit dem Fuß auf das Kopfsteinpflaster. Nein, es war fest, es bestand nicht aus Pudding.
"Seit drei Tagen? Bist du dieser Pech?", fragte sein Gegenüber. Plötzlich erkannte Thymian den Wächter und seine Augen weiteten sich.
"Ja, Sir, Chief-Korporal Zupfgut, Sir!"
"Ich hab es mir schon fast gedacht.", polterte Herr Zupfgut los. "Wo warst du bloß? Alle Welt sucht nach dir! Ich gab dir einen simplen Auftrag und danach verschwindest du einfach spurlos. Und Cim Bürstenkinn hat sich auch schon erkundigt, er meinte, das Testament wäre nicht bei S.U.S.I. angekommen!!"
"Sir, es tut mir leid, aber-.", setzte Thymian an.
"Nichts aber! Ich gebe dir einen einfachen Auftrag, aber noch nicht mal das schaffst du zu lösen! Und dann hast du noch nicht mal den Mumm zurück zur Wache zu kommen!!" Die Stimme des Chief-Korporals hob sich laut an, schwoll zu einem infernalen Getöse in Thymians Ohren und rauschte dort umher. "Aber das hätte ich mir ja denken können, bei einem ehemaligen Narrn!" "Narrn!" "Narrn!"
Thymian musste sich gegen die Wand lehnen, alles drehte sich um ihn herum. Das vor Wut rot verzerrte Gesicht des Chief-Korporals Zupfgut erschien plötzlich weit und fern. Seine Stimme nur noch ein Echo in Thymians Ohren. Und die Zunge in seinem Mund fühlte sich wie eine alte Schuhsohle an, auf der man zu lang herum gekaut hatte. Er blinzelte, versuchte so die Mattheit von sich zu streifen wie eine Hülle, aber es klappte nicht.
"He!" "He!" "He!", rief der andere Wächter laut, aber es klang, als hätte er in ein Kissen gemurmelt. "Hörst du mir überhaupt zu??" "Zu??" "Zu??"
"Ich.. das Testament... tut mir.. leid, Sir.", brachte Thymian unter Keuchen hervor. Er musste sich ausruhen, kurz hinsetzen, dann würde es schon wieder gehen. Nur eine Weile sitzen...
"So was Unverschämtes habe ich ja noch nie erlebt! Auch als Rekrut hat man Verantwortung, du kannst nicht einfach so verschwinden!" "Verschwinden!" "Schwinden!" Thymian hatte sich mittlerweile auf dem dreckigen Boden eingefunden, kraftlos hielt er sein Tuch in der Hand. Die Glöckchen klingelten zart in der Ferne. Der Fall war zu groß. Er war eindeutig zu groß. Und er hatte sich dabei übernommen. So sah es aus.
"Du.. du besitzt ja noch nicht einmal das nötige Rückgrat aufrecht zu stehen und deine gerechte Strafe hinzunehmen!!" Chief-Korporal Zupfgut geriet völlig außer sich. Er beugte sich zu Thymian hinunter und rüttelte ihn an den Schultern, wobei Thymians Kopf auf und abwippte, als wäre er nur lose angebunden. Wurde er gerade geschüttelt oder bewegte sich nur die Welt so ruckartig um ihn?
"Ach, das hat doch keinen Zweck. Ich glaub, es ist besser, wenn du zu Korporal Sidney in die Ausbildung kommst. Kann der sich doch mit dir rumschlagen! Verarschen kann ich mich auch alleine." "Alleine." "Leine."
Der Wächter drehte sich auf den Hacken herum und stapfte laut grummelnd davon, während einzelne Wortfetzen noch in Thymians Ohren nachhallten. Hatte er heute überhaupt schon etwas gegessen? Er wusste es nicht mehr. Vielleicht schaffte er es aufzustehen, zu seinem Onkel zu gehen und sich auszuruhen bis er sich wieder mit dem Oberleutnant traf. Ja, so würde er es machen. Gleich sofort. Nur noch eine Weile sitzen...
"Dinge Tätischjeit nennt man unlitschensiertes Bettln, doch da du bisher 45 Dolla, 17 Cent un enen Knopp einjenommen häst, nehmn wir des als Enschädichung.", sagte eine Stimme ins Nichts. Kleidung raschelte, das Scharren von alten Ledersohlen auf Stein, Klimpern von Münzen, wieder Kleiderrascheln. "Du entjehst der üblichen Beschtrafung aber nur, weil sich middlerwele en eijene Katejorie von de Glücksbettlern um dich herum jebildet hät, du bist sicher schon enemal dem en udder anderen davon bejegnet. Wie och immer." Eine Hand berührte eine Schulter. Seine Schulter. Er saß. Auf dem Boden. Thymian, ja das war er. "Tja, ich jeb et unjern zu, ävver du hättest jegroße Aufschtiegschancen in unserer Jilde. Bei denem Jlück so mitleid erreschend zu wirken. Han dich beobachtet, sin dauernd Lück he vürbei jekomm un sachten so wat wie 'Oh, sin nu, de arme Jung, de kann sich noch nich emal nen Bescher zum Betteln lesten.', aber sach ich immer, Schuster bliev bei dinge Lesten.", redete die Stimme weiter in einer merkwürdigen Sprache, die Thymian nicht so recht verstand. Er verstand auch nicht, was passiert war.
"Wo.. wo bin ich?", formulierte er erste Worte, seine Zunge fühlte sich an wie ein pelziger Ball. Er versuchte seine Augen zu öffnen, aber sie schienen wie festgeklebt.
"Du bis in de wundeschänen Schtädtsche An-Morporch. Un häse net eve mol en Dolla för mine Wenischket, min Fründ?" Thymian schaffte es das linke Auge zu öffnen, trotzdem blieb es dunkel, irgendeine dreckige Hand wedelte vor seinem Gesicht herum und Thymian spürte wie wieder Schwindelgefühle in ihm aufstiegen.
"Was.. wie, wo?" Der Rekrut versuchte sich zu sammeln, blinzelte den offensichtlichen Bettler an und war bemüht aufzustehen. Ein Zittern durchlief seinen gesamten Körper. Er musste mitten auf der Straße eingeschlafen sein. In seinem Kopf pochte es und die eine Hand zierte das Muster einer der Pflastersteine. Wankend und noch benommen richtete Thymian sich auf, sah sich um und bemerkte schlagartig, dass es Dunkel war. Das Treffen mit dem Oberleutnant, durchfuhr es ihn blitzartig. Was, wenn er es schon verpasst hatte?
"Ich äh.. muss los! War nett mit dir zu plaudern.", rief er dem merkwürdigen Bettler noch über die Schulter und begann zu rennen.
"Uf Widdersin.", hörte er noch und anschließend folgte ein meckerndes Lachen. Die Leute in dieser Stadt wurden auch immer merkwürdig, aber vielleicht lag es auch an ihm.
Atemlos schnaufend und taumelnd kam Thymian bei der Einbalsamiergilde an. Sein Herz wummerte wild in seiner Brust und er fühlte sich als sei er unendliche Meilen gelaufen, unendliche Stunden durch brennend heißen Wüsten gekrochen, als hätte er unendliche Male seinen Arm bewegt, unendlich viele Male den Kopf gedreht. Irgendwie wurde alles schwer, als wäre selbst die Luft körperlich spürbar erdrückend geworden. Plötzlich wurde selbst der nächste Schritt eine Qual, dumpf und langsam, schien ihm, bewegte er sich vorwärts, als wöge sein Körper Tonnen an Gestein. Vielleicht war der Tschob bei der Wache wirklich nichts für ihn, aber er wusste, es war bereits längst zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Er musste nur irgendwie diese Schwere bekämpfen, die sich über ihn gelegt hatte, dann würde es schon wieder gehen.
Thymian Pech blinzelte, wandte den Kopf hin und her, doch Oberleutnant Daemon war entweder schon weg oder noch nicht da.
"Pssst.", machte es plötzlich aus einer Seitengasse. Thymian warf dem Gildengebäude noch einen Blick zu, das mit mächtigen Trutzmauern und Steinfiguren einen sehr würdevollen Eindruck machte, und ging dann in die Gasse.
"Hallo?", rief er mit einer zittrigen Stimme, die ihn selbst innerlich vibrieren ließ. Was war nur los mit ihm? In seiner Tasche ruhte der Kieselstein und erinnerte ihn wieder an den Pappmaskenmann.
Halte dich von dunklen Gassen fern, hatte der Fröhliche Kurt gesagt und nun war Thymian entgegen aller Warnungen in einer! Natürlich mit dem unsichtbaren Frettchen.. Der ehemalige Narr schaffte es verächtlich mit dem Kopf zu schütteln, Kurt hatte doch keine Ahnung.
Gehetzt sah er sich um, sein Blick streifte ein paar Mülltonnen hinter denen es plötzlich raschelte und sich eine Gestalt erhob. Thymian schrie auf, drehte sich rasch um und wollte davon rennen, doch die Gestalt packte ihn an der Schulter und zog ihn wieder herum.
"Nein, tu mir nichts! Ich weiß doch nichts!" Er hielt sich abwehrend die Hände vors Gesicht und wartete auf den finalen Schlag seines Gegners. Doch als nichts weiter geschah und auch nach einer ganzen Weile nicht, wagte der ehemalige Narr zu blinzeln. "Oberleutnant Daemon?", brachte er endlich mit heiserer Stimme vor.
"Wen hast du erwartet? Den Schneevater?" Der Wächter lachte, doch als er merkte, dass Thymian bleich wie ein Laken war, hielt er inne und sah ihn lange an.
"Er ist nicht hier. Du bist sicher."
"Ich bin nirgends sicher! Er wird mich finden. Überall."
"Nein, das wird er nicht, er kann nicht überall sein.", widersprach Daemon. "Allerdings frage ich mich für wen der Pappmaskenmann arbeitet und warum das Testament so wichtig ist." Er blickte noch einmal zu Thymian, der angefangen hatte zu zittern. "Was ist los mit dir? Er ist nicht hier, ein Wächter muss solche Situationen auch verkraften können."
"Ich... ich versuchs." Thymian rieb sich die Hände, er hatte das Gefühl, dass alle Wärme aus seinen Fingerkuppen rann und in seinen Kopf stieg. Seine Zunge war zu einer einzigen platt gekauten Masse geworden. Vielleicht war die Narrengilde streng und ernst, aber sie besaß zumindest ein gewisses Maß an Ordnung und Sicherheit. Hier draußen, merkte Thymian, war keine Ordnung. Außerhalb der Mauer gab es keine Sicherheit.
In diesem Moment vermisste er die Gilde aufs schmerzlichste. Bis ihm wieder Bruder Kakao einfiel.
"Du bist sicher, dass du damit klar kommst? Ich gebe zu, der Fall nimmt neue Dimensionen an, aber ich habe dich bereits fest in meinen Plan miteinbezogen.", sagte der Oberleutnant.
"Welchen Plan?" Thymian sah ihn nichtsdestotrotz neugierig an, als ihm plötzlich etwas auffiel. "Was trägst du da für Sachen, Sir? Wo ist deine Uniform?" Daemon schlug sich theatralisch gegen die Stirn.
"Sowas, ich muss sie doch glatt vergessen haben! Habe wohl noch meine Zivilkleidung an."
"Äh, steht dir sehr ähm gut, Sir. Es sieht beinahe aus wie der Anzug eines Totengräbers."
Der Oberleutnant setzte einen schwarzen, hohen Zylinder auf.
"In der Tat, du hast Recht. Wie erstaunlich. Ich werde beim nächsten Mal darauf achten."
"Aha, äh, gut. Und du hast einen Plan, Sir?", fragte Thymian. Sein Kollege nickte und verstaute eine Messing Uhr in seiner Westentasche. Dann schlich er zu der Straßenecke und spähte zu dem Gildengebäude. Thymian folgte ihm und gemeinsam betrachteten sie die Straße, wo alles still und leer schien.
Thymian bemühte sich nicht zu zittern, aber kalte Schauer rückten wie ausgeschickte Streitmächte in kleinen Intervallen über seinen Rücken und in seinem Magen zog es sich krampfartig zusammen.
"Man sollte immer einen Plan haben.", flüsterte der D.O.G. -Wächter. "Man sollte besonders einen Plan haben, wenn man danach gefragt wird. Merk dir, Rekrut, man hat immer einen Plan."
Thymian wiederholte die Worte gedanklich, auch wenn er den Sinn nicht so ganz verstand. Er überlegte eine Weile.
"Wofür ist denn der äh Plan, Sir?"
"Um in die Einbalsamiergilde zu kommen, natürlich.", gab der Oberleutnant zurück.
"Können wir nicht einfach anklopfen und bitten herein gelassen zu werden? Wir sind doch Wächter."
"Ich dachte, seit der Sache bei Victor Krunns Haus hättest du es gelernt. Eben weil wir Wächter sind, werden sie uns nicht hereinlassen. Die Bürger von Ankh-Morpork würden uns nur helfen, wenn sie selber einen Vorteil daraus ziehen.", erklärte Daemon. Thymian schluckte.
"Jeder arbeitet nur für sich.", sagte er leise.
"Ganz genau, gut erkannt.", lobte der Wächter. Er sah an sich herunter und schüttelte fast tadelnd den Kopf über sich selbst. "Zu dumm, dass ich auch vergessen habe meine Uniform anzuziehen, die mich als Wächter ausgibt. Und meine Dienstmarke habe ich auch verlegt. Ach, ach, ach, es wird immer schlimmer mit mir."
"Äh..." Thymian wusste nicht was er darauf erwidern sollte, geschweige denn, was er davon halten sollte.
"Nun, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als so zur Gilde zu gehen und um Einlass zu bitten.", redete Oberleutnant Daemon weiter. Dann deutete er plötzlich auf Thymian. "Und da kommst du ins Spiel."
"Äh, ich, Sir? Was soll ich denn tun?"
"Du musst das tun, was jeder Rekrut einmal in seinem Leben tun muss."
"Sterben?" Gespannte Stille verstrich, die Daemon Zeit ließ sich ein Grinsen zu verkneifen.
"Ein Ablenkungsmanöver!", erwiderte er schließlich. Der Rekrut sah ihn entgeistert an.
"Aber wie, ich mein, ich weiß doch nichts, ich hab so was noch nie gemacht. Was genau soll ich denn machen?"
"Was weiß ich. Du warst doch bei der Narrengilde oder? Da wird dir ja sicher was passendes einfallen. Verschaff mir nur ein paar Sekunden und sollten wir uns zufällig sehen, finde ich es natürlich sehr betrüblich, dass du mich ohne Uniform nicht wieder erkennen wirst." Und mit diesen Worten schob er Thymian auf die offene Straße hinaus.
Verschaff mir nur ein paar Sekunden. Schön, ein paar Sekunden waren nicht viel, genauer gesagt, hatte er in ein paar Sekunden das Gildengebäude erreicht. Denk nach, Thymian, denk nach., sagte er zu sich selber, doch er war nicht mehr imstande zu denken. Es schien ihm, als sei sein Gehirn ebenso wie seine Zunge zu einer klumpigen Masse geworden, die in seinem Körper hin und her rutschte und einerseits stechende Schmerzen verschaffte und andererseits das Gefühl hinterließ eine dicke Socke im Mund zu haben. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund, aus dem ihm ein kleiner Speichelfaden rann. Die paar Sekunden waren bereits um, er hatte, trotz wackliger Beine, die wenigen Steinstufen zur großen Türe des Gildengebäudes erklommen.
Thymian legte den Kopf in den Nacken, unterdrückte aufkommenden Schwindel und betrachtete das Wappen, das oberhalb der schweren, mit Schnörkeln verzierten Eichentüre, eingelassen war. Eine silberne Spritze auf einem rot-grün geteilten Schild sah auf ihn herunter.
Er könnte an der großen, bedrohlichen Türe klopfen, überlegte Thymian. Und was sollte er dann sagen? Aber seine Motorik war erstaunlicherweise schneller als sein Geist, denn er hörte nur noch das nachhallende Echo seines Klopfens und bereits den beginnenden Klang von näher kommenden Schritten.
Ein Pförtner öffnete würdevoll die Türe, sah würdevoll zu Thymian hinüber und rümpfte dann weit weniger würdevoll die Nase.
"Ja?", fragte er kurz angebunden und ohne die Höflichkeit, die man gemeinhin von Pförtnern so erwartete, aber vielleicht lag es auch einfach nur an der Uniform oder der Gesamterscheinung, die Thymian ihm bot.
"Also, ich.. äh.. äh, ich.."
"Kann ich irgendwas für dich tun, Wächter?", unterbrach der Pförtner das Gestammel des Rekruten. In diesem Moment kam ein Mann in schwarzer Totengräberkleidung und einem hohen Zylinder zu ihnen auf die Treppe.
"Ist Mussorksi schon da?", polterte er los. Der Pförtner wollte etwas sagen, doch der Totengräber sprach einfach weiter. "Nein, bitte, keine Bemühungen, die würden eh zu nichts führen. Ich finde ihn schon selbst." Und dann stürmte er mit gesenktem Zylinder und hochgezogenen Schultern gleich einem Angriff an dem Pförtner vorbei, noch bevor der ein verdutztes 'Wa-' ausstoßen konnte. Er sah der eigentümlichen Gestalt, die sich rasch im dunklen Inneren des Gebäudes verlor, noch kopfschüttelnd nach, ehe er sich wieder Thymian zuwand.
"Ich hasse diese exzentrischen Gräber." Der Pförtner seufzte und rieb sich ärgerlich die Stirn. "So, was willst du nun?"
"Ähm, hinein?", versuchte es Thymian trotzdem.
"Ich bedauere, das geht nicht so ohne weiteres. Dazu bräuchtest du schon eine vom Gildenoberhaupt unterzeichnete Erlaubnis.", erklärte der Mann.
"Wie soll ich denn so eine Erlaubnis bekommen, wenn ich nicht in die Gilde kann?"
"Tja, das ist dein Problem. Nicht meins."
"Geht nicht nur eine vom Patrizier unterzeichnete Genehmigung?", fragte Thymian, doch daraufhin lachte der Pförtner nur schallend, plötzlich hörte er übergangslos damit auf, verengte seine Augen zu kleinen, dunklen Schlitzen und stieß ein gepresstes, böse klingendes "Nein." hervor. Die Tür war zu noch ehe Thymian reagieren konnte.
Daemon stapfte durch den Hauptgang wie es nur geschäftige und suchende Totengräber tun konnten (zumindest vermutete er das) und rauschte gleich einer Naturgewalt in ein kleines Büro, das neben der Türe die Aufschrift 'Archivunterlagen' besaß. Zwei junge Einbalsamierer hoben gleichzeitig die Köpfe und sahen ihn interessiert an.
"Aha, so wird hier also gearbeitet!", bellte Daemon los und deutete auf die dicken Ordner vor den jungen Männern.
"Äh-"
"Wer ist hierfür verantwortlich?"
"Äh, Herr Lindz.", antwortete einer der Einbalsamierer schüchtern.
"Den knöpf ich mir auch noch vor!", herrschte der Wächter beide Männer an. "Wann ist der hier mal anzutreffen?"
"Äh, nur selten, Herr. Recht selten. Und ihr seid?"
"Jemand, der dich noch weit lästigere Arbeit erledigen lassen kann, als das hier." Daemon machte eine fuchtelnde Handbewegung in den Raum hinein, der mit großen Schränken und Ordnern voll gestopft schien.
"Äh-", machte einer der beiden. Daemon rückte seinen Zylinder tiefer in die Stirn, hakte zwei seiner Finger in seine Weste und war sich sehr wohl bewusst, dass er von der Höhe her den ganzen Raum ausmaß und sein Zylinder nur Zentimeter von der Decke entfernt war. Mit dieser Wirkung im Rücken starrte er finster auf die zwei Einbalsamierer hinunter, die sich unter seinen Blicken duckten.
"Ich sehe euch ja immer noch nicht arbeiten."
"Äh, stimmt, äh sofort." Hastig steckten die beiden wieder geschäftig die Köpfe über die Bücher. Daemon deutete auf eine kleine, grau gestrichene Türe wo in großen roten Lettern ARCHIV stand.
"Ich nehme an, ihr habt die Fälle der letzten Monate ordnungsgemäß dort untergebracht.", sagte er. Die Männer nickten rasch, während sie gleichzeitig mit kratzenden Geräuschen ihre Federn über das Papier trieben. Der Oberleutnant stapfte mit zwei schnellen Schritten durch das Büro und öffnete die Türe.
"Gut, ich bin da drin, sollte ich gebraucht werden, aber nur bei etwas sehr wichtigem. Ich rufe, wenn ich was benötige."
"Äh, Herr, ihr dürft da nicht-."
"Weiterarbeiten. Zügig weiterarbeiten. Ich wünsche, dass alle Ordner und Bücher vom Tisch sind, wenn ich wieder durch diesen Raum komme."
"Äh-"
Krach! Daemon war im Archiv noch bevor sie ihn daran hindern konnten. Und er wusste, sie würden sich nicht trauen ihn hier rauszuholen. Er sah sich aufmerksam um und hustete mehrmals, als ihm eine Wolke aus abgestandener Luft, angereichert mit der nötigen Menge Staub, entgegen schwoll. Im Halbdüsterem standen dicht an dicht eingestaubte Regale mit Kartons und einigen Aktenschränken an der Seite.
Fast wie im Wachearchiv, fiel Daemon auf, nur dass dort in den Aktenschränken und Kartons oft nicht das war, was man glaubte dort zu finden.
Zielstrebig ging er zunächst zu den Aktenschränken, wo offensichtlich die Karteien der Verstorbenen des vorherigen Quartals untergebracht waren. Er zog die Schublade mit dem Zeitraum der letzten drei Wochen heraus und entdeckte ganz hinten die Akte von Victor Krunn. Als er sie aufklappte fiel ihm ein vereinsamtes, einzelnes Blatt entgegen.
Victor Krunn
Schätzchenpfad 4
Ankh-Morpork
Todesart: Herzversagen
Besonderheiten: Keine
Alter zum Zeitpunkt des Todes: 48
Auffundort: Gilde der Exotischen Tänze
Begrabungsstätte: Friedhof hinter dem Tempel der Geringen Götter, Reihe 4, Grab 15
Anmerkung: Victor Krunn wurde auf Veranlassung seines Notars einbalsamiert und beigesetzt so wie es in seinem Testament verfügt worden ist.
Daemon notierte sich den genauen Standpunkt des Grabes und sah noch einmal nachdenklich auf das Blatt. Es sagte absolut nichts aus, kein Hinweis, noch nicht einmal ein winzig kleiner Anhaltspunkt. Selbst der zuständige Einbalsamierer war nicht vermerkt. Die Akte war gesäubert worden. Zweifelsohne.
Irgendjemand war bemüht den Fall so undurchsichtig und unscheinbar zu machen, dass Daemon bereits leise Zweifel bekam, ob er zumindest einen Teil davon würde aufdecken können. Es war, als ob man einen Teppich ein Stück anhob und plötzlich darunter jede Menge Staub und Dreck vorfand von dem man selbst nicht wusste, wie er dort hin gekommen war.
Der Oberleutnant legte die Akte wieder ordnungsgemäß zurück, drehte sich zu den Regalen und schritt langsam die Reihen ab. Gut, was hatten sie bereits? Victor Krunn, ein reicher Mann, gutes Anwesen in der Stadt, besitzt eine Menge Ikonographen. Seine Frau stirbt, er beschafft sich noch mehr Ikonographen, sehr kleine Apparate mit noch kleineren Dämonen und unauffälligen Salamandern, damit er im Dunklen oder in dunklen Räumen Bilder machen kann. Daemon blätterte in seinem Notizblock. Nach dem Tod seiner Frau verkehrt er in der Stripperinnengilde. Nur geschah das erst danach oder war er davor schon ein häufiger Gast? Daemon machte sich eine Notiz am Rande und beschloss noch einmal Frau Wumm zu fragen oder die anderen Stammgäste, die aber sehr merkwürdig schweigsam waren, aber vielleicht lag es nur an seiner Uniform. Dann stirbt Krunn bei dem Auftritt von dieser gewissen Helen. Normale Herzattacke. D.O.G. legt den Fall ad acta.
Der Oberleutnant sah zu einer Reihe von Kartons, die alphabetisch geordnet waren und griff nach dem Kasten K-M. Nur warum kommt dann S.E.A.L.S. daher und will den Fall wieder aufrollen? Hatten die schon keine eigenen mehr? Daemon vermutete, dass er wohl sehr bald einmal mit einem bestimmten Hauptgefreiten reden müsste. Das hätte er eigentlich schon längst tun müssen. Vielleicht lag es auch daran, dass er nicht viel Glauben in die Tatsache setzte, dass Cim mehr raus gefunden hatte, als er. Nur eventuell ein Detail, das ihm fehlte. Irgendetwas, was er übersehen hatte.
Und schließlich diese Sache mit dem Testament. Ja, es wurde aufgegessen und ja, das war höchst ärgerlich. Aber -Glück im Unglück- so hat es auch nicht der Mann mit der Maske. Warum will er unbedingt das Testament und vor allem für wen will er es?
Daemon blätterte wieder durch die unzähligen Akten, die offenbar Fälle aus den letzten Jahren erhielten, und entdeckte schließlich das, was er gesucht hatte. Ruth Krunn. Es war eine bemerkenswert dünne Aktenmappe und sie enthielt noch nicht einmal ein einziges Dokument. Dafür eine Ikonographie. Er ging damit zu dem kleinen, vergitterten Fenster an der Vorderseite und versuchte in dem trotzdem spärlichen Licht einer Laterne etwas zu erkennen. Überrascht zog er eine Augenbraue hoch.
"So ist das also.", murmelte er. Er drehte die Ikonographie um und entdeckte ein geschnörkeltes 'In Liebe, Victor.', was gleich eine weitere Frage aufwarf. Was machte dieses Bild in der Gilde? Wer hatte es dort hin getan? Und was hatte dieser jemand dafür herausgenommen?
Daemon rieb sich nachdenklich die Stirn. Wie gut waren Krunns Kontakte gewesen? Hätte er die Möglichkeit gehabt hier rein... Daemon räumte die Ikonographie wieder zurück und blieb noch ein wenig zwischen den Regalen stehen. Kurzzeitig drang der Gedanke zu ihm, dass sicherlich beim nächsten Mal, wo er das Boucherie Rouge betreten würde, Mücke schon auf ihn warten würde um ihn zu fragen, was er überhaupt die ganze Zeit über mache. Im Moment und das ließ sich nicht leugnen stand er im Archiv der Gilde der Einbalsamierer. Ohne Genehmigung, wie ihm wieder einfiel. Doch er hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Zeit drängte. Irgendjemand räumte vor ihnen auf und ließ jedes Indiz oder Beweißstück verschwinden, denn soweit Daemon sich erinnerte, hatten sie bisher noch kein einziges davon aufstöbern können.
Die Zeit drängte. Nicht jedes Mal, wenn etwas in der Stadt schief geht, müssen Dinge, eine Verschwörung der Vitalisten oder Jemand, der die Macht an sich reißen will, dahinter stecken, aber es schadet nicht, an diese Möglichkeiten zu denken, fand Daemon.
Er straffte sich, sah auf die Uhr in seiner Westentasche, deren Uhrzeit sich irgendwo am späten Abend ansiedelte, doch die Zeiger waren locker geworden und ließen deswegen Platz für weitreichende Interpretationen.
Die Archivtüre wurde plötzlich geöffnet und der Totengräber rauschte in das Büro zurück, wo die zwei jungen Männer gerade eine Pause machten.
"Ein bisschen mehr Haltung, wenn ein Diener des Todes den Raum durchquert!", donnerte dieser.
"Äh, ja." Die Einbalsamierer sprangen hastig auf.
"Das Motto der Gilde!", befahl der in Schwarz gekleidete, große Mann laut.
"Farcimini!", riefen die verschüchterten Männer.
"Farcimini!", dröhnte der Totengräber zurück und stapfte dann noch irgendwas knurrend aus dem Raum.
"Lieber Himmel...", sagte einer der beiden, als die eigentümliche Gestalt außer Hörweite war.
"Sagen wir Herrn Lindz Bescheid?" Der andere sah ihn verblüfft an.
"Wo denkst du hin? Wer weiß, wer das war. Vielleicht ein hochrangiges Mitglied."
"Nun auf jeden Fall jemand sehr merkwürdiges."
"Sag ich doch."
Es war dunkel und leise zog der Nebel um die Gräber, wälzte sich über Kraut und feuchtes Gras und hüllte verwitterte Statuen ein. Mittendrin eine Lampe, die wie ein suchendes Auge in der Luft hin und her hüpfte. In dem schummrigen Licht erkannte man zwei Gestalten, in der Nacht nur bloße schwarze Scherenschnitte.
Die größere Gestalt hielt offensichtlich die Lampe empor und schwenkte sie mal dort, mal hier hin. Dahinter stand eine kleinere Gestalt, zwei Schaufeln geschultert. Totenstille hatte sich über den gesamten Friedhof gelegt. Nicht ein Lüftchen rührte sich. Nur der Nebel quoll neugierig auf die Besucher zu und umhüllte sie mit seinen fasrigen Spinnenfingern. Unterbrochen wurde die Stille schließlich von einem schlecht geölten Handkarren, den die kleinere Person hinter sich herzog und Mühe hatte, ihn über den unebenen Boden zu befördern.
"Reihe 1.. Reihe 2.. Reihe 3.", sagte die Gestalt mit der Lampe leise, von der Statur her ein Mann, und bewegte sich durch den Nebel, der von neuem aufwallte und mit aller Macht versuchte die zwei Eindringlinge von seinem angestammten Reich zu vertreiben. Kalt und klamm griff er nach ihrer Kleidung, ihren Haaren, streifte mit lebloser Hand ihren Nacken, um dann doch vor dem beharrlichen Licht der Lampe zurückzuweichen. Die zwei Männer schälten sich aus dem Nebel, erste Umrisse wurden erkennbar.
Man hätte sie für einen Totengräber und seinen Gehilfen halten können.
"Reihe 4, das ist die richtige. Und jetzt.. das 15. Grab.", sagte der Totengräber und ging weiter, während der Nebel sich bequemte gleichzeitig einen Zoll breit seinen Platz zu räumen.
"Sir, ist das wirklich eine gute Idee?", fragte der andere, kleinere Mann, seine Stimme hatte Mühe sich durch den Nebel zu kämpfen und sie verhallte zittrig im dumpfen Schleier, der über dem Gelände lag.
"Es ist die einzige Möglichkeit, die uns momentan bleibt.", erwiderte der andere. Er begann wieder zu zählen und blieb dann vor dem 15. Grab stehen, das nur durch einen großen Stein kenntlich gemacht wurde. Eine Weile herrschte wieder Stille, als auch endlich der Karren zum Stehen gekommen waren. "Du weißt, dass wir in Wirklichkeit hier nicht stehen.", fügte der große Mann nach einigem Schweigen hinzu.
"Ja, wir haben Feierabend und betrinken uns.", sagte der kleinere Mann, der um ein wesentliches jünger schien.
"So ist es. Und natürlich haben wir niemals das Grab Nummer 15 ausgehoben und betreffenden Inhalt herausgenommen, um ihn zu untersuchen."
"Natürlich, Sir." Der Jüngere reichte ihm eine der Schaufeln. Beleuchtet von dem flackernden Licht war ein kurzes Aufblitzen eines Lächelns bei dem Totengräber zu erkennen.
"So langsam hast du den Bogen raus." Er blickte zu dem Grabstein. "Hier liegt Victor Krunn.", las er vor. Der Mann setzte mit der Schaufel an. "Nun, nicht mehr lange."
Thymian stach mit der Schaufel in die feste Erde und bekam gleich Belehrungen des Oberleutnants, wie man das besser machte. Der Boden war voller kleiner Steine und reichlich hart, so dass Thymian noch mehr schwitzte als sonst. Schweiß rann über sein Gesicht, vor seinen Augen tanzten schwarze Flecken. Seine Knie zitterten, seine Zunge war belegt, er hatte rasendes Stechen im Kopf, was ihn beinahe verrückt machte. Kurz: Ihm war elendig schlecht. Er blickte auf den mageren Haufen Erde, den er bisher nur beiseite geschafft hatte, neben ihm hatte Daemon die Lampe abgestellt und hieb mit der Schaufel auf den Boden ein.
"Wenn ich das jemanden erzähle, glaubt mir das kein Mensch." Er warf einen großen Stein beiseite. "Das hat natürlich Vor- und Nachteile."
"Warum, Sir?", fragte Thymian, doch in diesem Augenblick stießen sie auf den Sarg, der schon etwas mitgenommen aussah. Immerhin hatte die Leiche bereits fast zwei Wochen hier gelegen.
"Schaffen wir ihn raus.", beschloss der Oberleutnant. Gemeinsam fassten sie den Sarg an den Kanten und hoben ihn mühsam aus der kleinen Mulde, während Thymian immer wieder mit seinen zittrigen, verkrampften Fingern abrutschte. Sie schoben den Holzsarg neben das Grab und der Oberleutnant klopfte sich den Dreck von der Kleidung.
"Hol mir meine Tasche vom Karren.", befahl er. Thymian stolperte über den Haufen Erde und beeilte sich die riesige Tasche zu seinem Kollegen zu bringen. "Gut, dann wollen wir mal." In der Nacht war nur das Klacken der Verschlüsse zu hören, als diese aufschnappten und den Inhalt der Tasche preisgaben.
"Meisel und Hammer, Sir?"
"Um den Sarg aufzukriegen." Mit leisem Klacken schlug der Wächter den Meisel an und stemmte so Schritt für Schritt den Sarg auf. Das Hämmern war leise, dennoch dröhnte es in Thymians Ohren. Ihm wurde kalt. Langsam, so schien es ihm, tanzten feine Nadelstiche auf seiner Haut. Was war nur los mit ihm?
"Da, sieh nur!", rief der Oberleutnant aus und mit einem Poltern ging der Deckel zu Boden. "Er hat noch seine normale Kleidung an! Also, wenn der einbalsamiert wurde, dann will ich.. ich jedenfalls anders als Daemon genannt werden.", fügte er leiser hinzu, als ihm kein passender Name einfiel. Penetranter Verwesungsgeruch trieb zu Thymian hinüber, der ihn noch benommener machte, seine Hand suchte halt an dem Karren.
Der Oberleutnant kniete weiterhin vor dem Sarg und beugte sich nun darüber. Man hörte das Abklopfen von Kleidung.
"Wir haben damals natürlich seine Taschen durchsucht, aber es muss irgendeiner der äh rangniederen Wächter gemacht haben und der hat wohl der ein oder anderen Sache keine Bedeutung beigemessen. Mal sehen..."
Thymians Hand glitt ins Leere, seine Knie gaben nach, er ging zu Boden, während die Stimme seines Kollegen noch in seinem Kopf tönte und widerhallte, als ob sie von einer Seite zur anderen schlug, wie die aufschäumenden Wellen in einem Fluss.
"Das ist ja interessant.", sagte der Oberleutnant. Thymian sah mit letzter Kraft auf, blinzelte durch die Nacht, den Nebel, das Blut. Daemon hatte einen lila Schlüpfer mit Spitze in der Hand und schwenkte ihn fast triumphierend in der Hand. "Wem der wohl gehört?" "Gehört?" "Hört?" Das geschwenkte Höschen wurde zu einem einzigen lila Strich in der Luft. Der ehemalige Narr und bald auch ehemaliger Wächter, so wie es sich anfühlte, schwanden die Sinne. Finsternis kroch in sein Blickfeld, zerfranste es an den Seiten und fraß sich bis zur Mitte.
Aber vielleicht war es auch nur die Erde, in der er halb lag. Er spürte wie eine warme, feucht klebrige Hand über seine Wange strich. Er wollte 'Helen' sagen, schaffte es aber nicht mehr. Er wollte nach Hilfe rufen, doch seine Zunge hatte angefangen zu bluten. Wahrscheinlich musste er sich beim Sturz drauf gebissen haben..
Ein letztes Mal versuchte Thymian es noch Worte hervorzubringen, aber es wurde nur ein leises Röcheln daraus.
Dann kam die Finsternis. Und in ihr zwei smaragdfarbene Augen, die ihn ansahen. Wie die geteilten Flügel eines Schmetterlings.
Thymian Pech. Thymian, ich rede mit dir. Verdammt...
Daemon rüttelte an dem leblosen Rekruten. Irgendwo lief Blut, aber er konnte nicht sehen woher, da Thymians Gesicht mitten in der Erde lag und die Dunkelheit es nicht besser machte.
"He, komm wieder zu dir." Keine Reaktion. Er fluchte zwischen zusammen gebissenen Zähnen, sah unschlüssig zwischen Sarg, Karren und Thymian hin und her. "Verdammt noch mal, wach auf!" Atmete er überhaupt noch? Hektisch drehte Daemon ihn auf den Rücken... und erstarrte. Der Brustkorb hob und senkte sich zwar noch schwach, aber der junge Wächter sah grauenvoll aus. Die Adern an den Schläfen und Armen waren dick hervorgetreten und aus dem linken Ohr floss ein leichtes Rinnsal an Blut. Kleine, hellblasse Flecken bedeckten die Ränder an der Stirn, fast wie Altersflecken. Daemon konnte nicht anders als wieder zu fluchen. Er klatschte mit dem Handrücken leicht gegen Thymians Wangen, doch der rührte sich nicht einmal.
Ohne genau zu wissen, was er tun sollte, durchsuchte er die Uniform des Rekruten ab, ganz so wie er es eben bei Krunn gemacht hatte. Nur, dass der zu diesem Zeitpunkt schon lange tot gewesen war.
In der linken Hosentasche fand Daemon auch etwas. Einen weisen Kieselstein. Etwas verblüfft guckte er darauf und wusste nicht, was er davon halten sollte.
"Habt ihr unerfahrenes Gemüse etwa nur Unsinn im Kopf?!", zischte er und stopfte den Stein wieder zurück. "Eine Adresse, falls euch mal was zustoßen sollte, habt ihr natürlich nicht dabei. Typisch!" Hastig griff er in die andere Tasche, barg einen kleinen Zettel daraus und faltete ihn beinahe wütend auseinander.
Für eine Weile war es wieder totenstill.
"Scheiße."
"Du gibst." Malachit nickte und verteilte die Karten unter den fünf Wächtern. Larius zog sich seinen Stuhl heran und nippte an seinem Bier.
"Wollte Humph nicht mitmachen?", fragte er und nahm seine Spielkarten auf. Atera schüttelte den Kopf.
"Er und Eca sind in seinem Büro... und reden." Sie spuckte das letzte Wort fast verächtlich aus und schwieg eine Weile, während sie ihre Miene hinter den Karten versteckte. "Du weißt schon, wegen der Sache mit den Spinnen."
"Oh, ich verstehe.", gab Larius leiser zurück. Er sah sich in dem leeren Warteraum um und horchte, doch von der Straße draußen war nichts zu hören. Zum Glück war es diese Nacht ausgesprochen ruhig und sie konnten gemütlich sitzen bleiben. Außer Malachit, Atera, Jolin, Vinni und ihm war keiner im Wachhaus. Mal abgesehen von Humph und Eca natürlich. Der Rest spielte 'Leg Herrn Zwiebel rein'. Jedenfalls versuchten sie es.
"Ich haben einen Zweier-Knöterich!", rief Malachit fröhlich. Larius seufzte.
"Nein, Malachit, der Sinn des Spieles besteht darin, dass keiner weiß was der andere hat. Sonst funktioniert es nicht.", erklärte er mit betont ruhiger Stimme. Immerhin hatten sie den Troll soweit gebracht, dass er nicht mehr seine Karten herumzeigte.
"Erzähl noch mal, was genau passierte, Vinni. Du kamst also nach Hause zurück und da war alles verwüstet?", fragte Jolin und der Korporal nickte heftig.
"Ja, draußen stand Abe mit ein paar Freunden, während drinnen alles auf den Kopf gestellt war." Vinni betrachtete seine Karten kritisch und warf nach genauer Überlegung einen Cent in die Mitte des Tisches.
"Du bist heute mal wieder so wagemutig, Vinni.", kommentierte Atera dies und lachte. Neben ihrem Platz standen drei leere Flaschen, was ihre Ausgelassenheit hinreichend erklärte. Jeder kannte zwar die Anweisung von IA, aber wenn man die Wächterin darauf ansprach, behauptete sie immer wieder, dass sie schon sehr bald mit dem Entzug anfangen würde. Seitdem waren zwei Wochen ins Land gegangen.
"Okay, dann zeigt mal, was ihr habt.", forderte die Untote. "Hosen runter und Karten auf den Tisch oder wie man so schön sagt, hehe." Sie sah zu Malachit hinüber. "Äh nein, es ist nur eine Redensart. Eine Metaffer."
"Oh." Der Troll legte nur seine Karten auf den Tisch.
"He, du hattest gar keinen Zweier-Knöterich, das ist eine dreifache Zwiebel!", rief Larius aus. Er sah zu Malachit, der ihm ein hochkarätiges Grinsen schenkte.
"Oh, stimmt. Ich dann wohl gelogen." Er schob seine riesigen Arme vor und raffte die Münzen zu sich. Larius de Garde fluchte.
"Na toll, ich bin von einem Troll überlistet worden, das glaubt mir niem-"
Paff! Mit einem Knall wurde die Türe aufgeschlagen und Oberleutnant Daemon mit einem Handkarren hinter sich kam keuchend herein. Die Wächter fuhren von ihren Sitzen herum und blickten erschrocken zu ihm. Kalte Nachtluft wehte in den Warteraum.
Daemon blickte zurück. Irgendwo fielen klimpernd die Münzen zu Boden.
"Schnell!", rief endlich der Oberleutnant und fuchtelte mit den Armen, um Bewegung in die erstarrten Wächter zu bringen. Nichts rührte sich. "Wir haben einen Code 2, verdammt!"
"Oh, bei allen Göttern, bei allen Göttern der Scheibe! Nur keine Panik, nur keine Panik." Atera war als erste aufgesprungen und verfiel in ein merkwürdiges Im-Kreis-rumrennen. "Wir geraten nicht in Panik, nein. Ist ja nur Code 2. Haha. Kein Code 1." Der Stabsspieß blieb abrupt stehen und deutete auf Malachit, der dabei war sein Geld einzusammeln. "Malachit, vergiss mal die Münzen, es gibt weit wichtigeres! Hol alle Waffen her, die wir haben. Auch jede M.U.T., statte damit jeden Troll aus, ihr werdet direkt an der Mauer kämpfen." Sie wirbelte im Kreis herum und ihr Finger verharrte bei Vintongo. "Vinni, trommel jeden Wächter aus dem Bett! Wir brauchen jeden Mann, Frau, Untote, äh, eben alle. Und dann mobilisier die Palastwache, wir müssen mit ihnen zusammen arbeiten, auch wenn's schwer fällt. Es geht immerhin um unsere Stadt!" Sie griff sich an den Kopf und wusste nicht, was sie als nächstes sagen sollte.
"Äh, Atera..."
"Nicht jetzt, Dae, ich muss nachdenken. Holt mir den Truppführer von F.R.O.G. her, er soll die Einsätze koordinieren. Funktionieren die alten Wachtürme noch? Sind die Tore zu? Larius, prüf das nach!"
"Hatte ich Code 2 gesagt? Ich glaube, ich meinte-"
"Herrje, Dae, fasel nicht rum, sag mir lieber, wo die Klatschianer durchgebrochen sind!" Stille breitete sich für Sekunden aus.
"Oh, das ist Code 2. Ich äh meinte, glaube ich, Code 3."
"Ah, sag das doch gleich, der vergiftete Wächter."
"Ja."
Wieder Stille. Daemon sah sie abwartend an. Als sich immer noch nichts tat, zog er den Karren vor und zeigte auf den leblosen Wächter.
"Verdammt, er liegt hier drin! Helft ihm endlich!"
***Die Vergiftung***
Tick-Tick-Tick-Tick-Tick-Tick.
"Bitte, Humph, muss diese Uhr sein?", gab Daemon gereizt von sich und ging in kleinen konzentrischen Kreisen unruhig hin und her. Der F.R.O.G. Abteilungsleiter saß hinter seinem Schreibtisch und nickte.
"Sie ist von Joschi.", sagte er nur matt. Er rieb sich erschöpft die Stirn und seufzte. "Ich habe alles getan, was in meiner-" Er hielt kurz inne und schien zu lauschen. "-gut, unserer Macht stand. Aber ich schicke es gleich vorab, es wird eine Menge Glück vonnöten sein, damit er über den Berg kommt. Die Vergiftung war schon in einem fortgeschrittenen Stadium."
"Und ich habe nichts bemerkt.", knurrte Daemon, er warf der kleinen Standuhr aus Metall einen garstigen Blick zu, die mit ineinander verschlungenen Kobolden verziert war. Mittlerweile war es kurz vor drei und er fühlte sich nicht weniger müde und erschöpft wie Humph es nach der Heilungsprozedur gehen musste.
"Warum hat er eigentlich nichts gesagt? Es gab doch diesen Zettel oder?"
"Ja, aber es ist alles was... komplizierter." Daemon setzte sich wieder und holte den Zettel erneut raus. "Hat das Bier nicht gerade etwas merkwürdig geschmeckt? Vielleicht liegt es an dem Gift, das dort drin war. Innerhalb des nächsten Tages wirst du einen qualvollen Tod sterben, solltest du nicht endlich mit dem Testament rausrücken. Lass einfach den Kieselstein fallen und ich werde verstehen. Denk dran, ich habe das Gegenmittel!", las er zum wiederholten Male vor. "Verdammt, Humph, er ist noch ein Rekrut, er.. er versteht nichts von diesen Dingen, wie man damit umgeht."
"Nun, trotzdem hätte er dir bescheid sagen müssen, er wird den Zettel ja wohl gelesen haben.", erwiderte der Leutnant.
"Ich bin mir da nicht sicher..", murmelte Daemon. Humph hob eine Augenbraue an, sagte aber nichts.
"Na, er wird schon durchkommen.", sagte dieser, als in diesem Moment Ecatherina eintrat. "Und?"
Sie schloss leise die Türe hinter sich und nickte kurz.
"Er schläft, sein Atem ist zwar noch schwach, seine Haut weiterhin blass, aber die Blutung am Ohr ist weg und die Schwellungen der Adern zurückgegangen. Du hast gute Arbeit geleistet, Bruderherz." Sie sah Humph an und grinste kurz. Dann wandte sie sich an Daemon. "Die Leiche ist mittlerweile hier. Was soll ich eigentlich mit ihr? Das ist eine Sache für die Leute von S.U.S.I."
"Die Zeit drängt aber und S.U.S.I. ist in letzter Zeit etwas überlastet und-", fing Daemon an.
"S.U.S.I. hat mehr Leute denn je, was ist los?"
"-und ich habe das Gefühl, dass dieser Fall mehr etwas für die beste Giftgas-Expertin von F.R.O.G. ist.", beendete der Oberleutnant seinen Satz.
"Das ist nicht schwer, ich bin die einzige GiGa hier.", gab Eca zurück. "Aber gut, ich werde ihn mir mal anschauen. Ich nehme an, du möchtest sofort einen Bericht, wenn ich etwas herausgefunden habe oder?"
"Natürlich. Ach und, Ecatherina?" Die Wächterin, die sich schon zum Gehen gewandt hatte, blickte noch einmal zurück.
"Nenn mich einfach Eca. Was denn noch?"
"Bei der Leiche müsste sich ein lila Schlüpfer befinden. Verwahr ihn bitte gut, ich denke, er ist ein wichtiges Beweisstück."
"Gut, dann untersuch ich ihn am besten gleich mit." Die Wächterin seufzte resigniert und ging dann aus dem Büro.
"Und, was gedenkst du jetzt zu tun?", fragte Humph MeckDwarf, als sie wieder alleine waren. Daemon erhob sich.
"Ich werde wohl mit Mücke reden müssen. Danke für deine Hilfe." Er setzte seinen Zylinder auf und ging zur Türe, als die Standuhr in diesem Augenblick zu schlagen begann.
-DONG-
"Ich weiß zwar nicht worum es geht, aber gib dir nicht die Schuld.", sagte der Leutnant.
"Ich trug aber die Verantwortung. Ich hätte es sehen müssen." Daemons Hand ging zur Klinke.
-DONG-
"Ich trug die Verantwortung.", wiederholte er noch einmal.
-DONG-
Am nächsten Morgen
Thymian blinzelte und brauchte erst einmal eine Weile, um wieder scharf zu sehen. Er lag in einem kleinen Bett in einem Schlafsaal. Wie war er hierher gekommen? Was war passiert? Er blickte um sich, neben dem Bett stand ein kleiner Nachttisch und darauf lagen das Kästchen mit dem Winzdämonen, sein Glückglöckchen und leider auch der Kieselstein.
"Guten Morgen.", sagte jemand auf einmal, Thymian drehte den Kopf und sah neben seinem Bett eine untote Wächterin sitzen.
"Äh, hallo, Mä'äm."
"Ich finde es unverantwortlich, dass ich auf dich aufpassen muss. Ich meine, ich bin die S.E.A.L.S. Schäffin, aber nein, Atera sagt man zu mir, Atera, hab ein Auge auf ihn und ehe ich mich versehe sage ich 'sogar beide' und nun saß ich hier die ganze restliche Nacht, während draußen das Chaos tobte.", brach ein Redeschwall über Thymian herein.
"Das Chaos?"
"Genau, das Chaos, weil ich nicht meine übliche Streife machen konnte. Wer weiß, was schon alles passiert ist. Aber nein, stattdessen sitze ich hier, warte ob du tot oder lebendig wirst. Du hattest verdammtes Glück, weißt du das?"
"Äh, so?" fragte Thymian verwirrt zurück. Die Wächterin nickte und nähte einen ihrer Arme fester an.
"Man hielt es natürlich auch für unnötig mir zu erzählen, worum es eigentlich geht.", sagte sie. "Aber bitte, bitte, ich will es gar nicht so genau wissen. Dae sagte nur, es hätte was mit Politik zu tun und mit solchen Dingen will ich nichts zu schaffen haben."
"Ich äh eigentlich auch nicht.", erwiderte Thymian, er setzte sich langsam auf und fühlte sich noch etwas schwach, in seinem Magen grummelte es.
"Kluges Kerlchen. Hast du Hunger?" Der ehemalige Narr nickte und die Wächtern, die anscheinend Atera hieß, zeigte auf ein Tablett auf dem Nachttisch.
"Ich hab dir was gekocht. Schon vor Stunden, dachte, du würdest früher aufwachen. Hab ewig nicht mehr gekocht, Jahrzehnte her scheint mir. Habs auch nicht probiert.", fügte sie hinzu. Vorsichtig nahm Thymian trotzdem das Tablett zu sich und blickte auf den Teller. Irgendetwas totes lag darauf, aber er konnte noch nicht mal feststellen, ob es was pflanzliches oder tierisches war.
"Äh danke." Er nahm die Gabel, stocherte in dem "Essen" rum und führte einen kleinen Bissen zum Mund. "Wo ist denn der Oberleutnant, Mä'äm?"
"Daemon? Oh der, ich vermute im D.O.G. Gebäude, aber er wollte bald vorbei kommen. Du isst ja gar nicht."
"Äh doch, jetzt sofort." Ein ekelhafter, verbrannter Geruch stieg ihm in die Nase und er öffnete betont langsam den Mund, während er gleichzeitig hoffte, jemand würde ihn von seinem Schicksal erlösen.
Sein Glück war ihm anscheinend wieder wohlgesonnen, denn kurz bevor er das erste Stück hinunterwürgen musste, kam Daemon herein. Doch er hatte eine ungewohnt ernste Miene aufgesetzt, nur kurz kam ein kleines Lächeln zum Vorschein. Die Totengräber Kleidung hatte er abgelegt und stand nun in voller Uniform vor dem Fußende seines Bettes.
"Es geht dir also wieder besser, sehe ich.", sagte er. Thymian nickte rasch und stellte das Tablett beiseite.
"Ja, Sir. Ich bin wieder vollkommen gesund, denke ich." Er salutierte, aber Daemon winkte ab und wandte sich an Atera. Er warf einen Blick auf den Teller.
"Willst du ihn ein zweites Mal vergiften?"
"Also ich bitte dich, das ist einmalige äh Hausfrauenkost.", gab dir Wächterin leicht empört zurück.
"Einmalig schon, nur das mit der Kost müssen wir noch mal bereden." Sie grinste, doch sein Gesicht blieb unberührt und Thymian rutschte unruhig im Bett hin und her.
"Ich äh wurde vergiftet?", stellte er schließlich die Frage, die ihm auf den Lippen brannte.
"Ja, und weder du und ich haben es bemerkt. Thymian, wir müssen reden." Er nickte Atera zu, die etwas von 'dumme Männergespräche' murmelte und aus dem Raum verschwand. Sobald sie gegangen war, setzte sich der Wächter und holte aus seiner Tasche einen Zettel. Er reichte ihn Thymian, der zu seinem Entsetzen bemerkte, dass Buchstaben darauf waren. Rasch verbarg er sein Entsetzen und nahm das kleine Stück Papier.
"Lies es mir vor.", forderte Oberleutnant Daemon vor.
"Ich äh, Sir?" Der Rekrut sah hilflos vom Zettel auf.
"Lies es einfach oder möchtest du mir etwas sagen?" Ihre Blicke trafen sich irgendwo in der Mitte des Bettes, aber Thymian musste so rasch den Kopf senken, dass Daemon sicher nur noch argwöhnischer wurde.
"Ich...." Er hielt noch mal kurz inne, wartete auf den Funken eines Glücksschimmers, aber er kam nicht. "Ich kann nicht lesen..."
"Und warum musstest du erst beinahe sterben ehe ich das erfahre?"
"Ich dachte, dann würde man mich wieder hinausschmeißen..."
"Ganz sicher nicht, nicht in dieser Stadt." Er hielt inne. "Thymian, was habe ich dir nach dem Besuch bei dem Salamandergeschäft gesagt?" Daemon sah ihn ernst an, Thymian wich seinem Blick aus und ließ die Schultern hängen.
"Ich soll dich nicht anlügen, Sir.", gab er schließlich sehr leise zu.
"Gut, dann sage mir jetzt was passiert ist. Ich will jede unwichtige Einzelheit hören, es könnte sehr wichtig sein." Thymian schwieg. "Unter dein Bier wurde Gift gemischt, es steht auf dem Zettel. Wenn du nicht sagst, was passiert ist, dann hilft dir beim nächsten Mal vielleicht nicht dein Glück. Es war verdammt knapp.", sagte Daemon, er strich über die Bettdecke und wartete geduldig bis der ehemalige Narr zu erzählen begann.
"Es ist der Mann mit der Maske... er verfolgt mich und ist felsenfest davon überzeugt, dass ich das Testament habe oder weiß wo es ist. Aber ich habe es doch nicht mehr, es existiert einfach nicht mehr. Doch er will mir einfach nicht glauben."
"Es ist ja auch eine absonderliche Geschichte.", entgegnete der Oberleutnant.
"Das liegt an meinen absonderlichen Freunden."
"Also ist die Nachricht von ihm.. hat er dir Geld geboten?"
"Anfangs ja..." Thymian zeigte zu dem Kästchen mit dem Winzdämonen. "Ich habe es dafür benutzt." Daemon rieb sich nachdenklich am Kinn und schwieg eine Weile.
"Nun, ich denke, das ist noch legitim." Er schien angestrengt zu überlegen. "Was ist mit Helen?"
"Mit.. mit Helen?", fragte Thymian zögernd zurück.
"Sie war vor uns im Salamandergeschäft. Irgendwie muss sie ja davon gewusst haben oder?"
"Sie.. sie war bei mir.", berichtete der Rekrut mit stockender Stimme. "Ich weiß gar nicht mehr, was sie eigentlich wollte. Sie.. sie hat irgendwas über Krunns Frau geredet." Daemon wäre beinahe aufgesprungen.
"Aha, ich wusste es!", rief er triumphierend aus. "Ich habe es dir noch nicht erzählt, aber in der Einbalsamierergilde habe ich nicht nur nach Victor Krunns Daten gesucht, sondern auch nach denen von Ruth Krunn. Das einzige was ich fand war eine Ikonographie." Er ließ eine kurze Pause entstehen, währenddessen Thymian ihn ungeduldig ansah. "Ruth war ebenfalls eine Tänzerin aus der Gilde. Genau wie Helen."
"Und er hat sie geheiratet?"
"Anscheinend.. ich muss noch einmal mit den Stammgästen aus dem Club reden.. und nicht nur wegen Ruth." Der Oberleutnant erhob sich.
"Und.. und was ist mit mir, Sir? Was soll ich tun?" Oberleutnant Daemon strich umständlich irgendwelche Falten aus seiner Uniform ehe er sich wieder Thymian zuwand.
"Deine einzige Aufgabe besteht nur noch darin, dich wieder vollständig zu erholen."
"Aber ich bin bereits gesund, mir ging es nie besser, Sir-"
"Keine Widerrede, der Fall ist für einen Rekruten längst einige Nummern zu groß, selbst wenn du nur dabei bist."
"Ich kann helfen, Sir. Ich-"
"Ich-", unterbrach ihn Daemon. "-trage die Verantwortung und ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst oder gebracht wirst. Hier bist du sicher." Und damit war das letzte Wort gesprochen, so sehr Thymian auch bat mit kommen zu dürfen, wenigstens in eine andere Richtung zu ermitteln oder simple Botenaufträge anzunehmen, der Oberleutnant blieb hart, er wünschte ihm noch eine gute Besserung und verließ dann ein wenig übereilt den Schlafsaal.
Thymian blieb in stummer Wut zurück und wusste nicht so recht was er jetzt tun sollte. Ein Sturzbach an Gefühlen rauschte auf ihn nieder. Unbemerkt ballte er die Hände zu kleinen Fäusten, rutschte vom Bett und erhob sich wacklig. Sein Blick wanderte zu dem weißen Stein auf dem Tisch.
"Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.", murmelte der Rekrut. Er sollte Recht behalten.
"An deiner Stelle würde ich ihn ja mitnehmen." Atera trat aus dem Schatten der Türe und sah ihn an.
"Du hast gelauscht.", stellte Daemon nur tonlos fest. Die Wächterin nickte.
"Natürlich, wir sind in Ankh-Morpork, hier kommt man nicht allzu weit, wenn man nicht ab und zu hört, was so geredet wird. Außerdem bin ich entsetzlich neugierig. Wie alle in Ankh-Morpork." Sie grinste.
"Ahja, schön, danke für deine Meinung und so, ich muss los." Er schob sich rasch an Atera vorbei und war schon auf den ersten Stufen der Treppe nach unten.
"Du weißt doch wie Rekruten sind, warte ein paar Minuten vor dem Wachhaus und er wird herauskommen, auf dem Wege etwas dummes anzustellen.", rief ihm Atera hinterher. Der Oberleutnant blieb stehen, nur noch sein Kopf lugte vom Treppenabsatz hervor, er starrte Atera an.
"Also meinst du, ich solle ihn lieber mitnehmen, damit er in meiner Aufsicht etwas dummes anstellen kann?"
"So äh im Prinzip." Sie wollte noch etwas sagen, aber gerade kam Rugosch vorbei, einer vom S.E.A.L.S. -Team. Er hielt ihr eine Flasche hin.
"Schäffin, dein Whi-" Der Stabsspieß hielt Rugosch schnell den Mund zu.
"Ach, du meinst sicher meinen wirklich wichtigen Fall? Nicht wahr? So ist es doch oder?" Sie sah ihn beschwörend an und der Gefreite nickte ergeben. Daemon schmunzelte.
"Bevor du mir hier Ratschläge gibst, empfehle ich dir endlich deine Kur anzutreten.", sagte er und ging nach unten.
"Trotzdem habe ich Recht!", wurde ihm noch von oben laut nachgerufen. Der Oberleutnant behielt sich eine Antwort vor und schwieg stattdessen. Immer musste sie das letzte Wort haben.
Aber dieses Mal war es sogar berechtigt.
Er spielte mit einem alten Centstück in der Hand und lehnte an der Mauer, während er wartete. Als Thymian herauskam, bemerkte dieser den Oberleutnant noch nicht einmal, sondern ging schnell weiter.
"Macht der Rekrut etwa einen Ausflug?"
Thymian fuhr sofort herum und starrte ihn entsetzt an bis er wieder anfing herumzustottern.
"Ich äh.. äh kann das erklären, Sir.", begann er und schaute abwechselnd zur Seite, auf die Wand hinter Daemon oder auf das Kopfsteinpflaster vor seinen Füßen.
"Ich will es gar nicht wissen, gehen wir." Daemon stieß sich von der Wand ab und ging mit großen Schritten los, Thymian folgte in hüpfender trippelnder Narrenart.
"Es ist nämlich so, zweimal in der Woche treffe ich mich mit meinen äh Freunden und Herr Kaninchen wird immer sehr erbost wenn-"
"Was auch immer du tun wolltest, es wäre sicher etwas unbedachtes gewesen.", unterbrach ihn Oberleutnant Daemon. Thymian schwieg betroffen und so musste Daemon weiterreden. "Wir gehen jetzt zu einem Mitglied der Assassinengilde."
"Sir, es tut mir leid, ich habe das alles nicht gewollt!!", rief der Rekrut mit piepsiger Stimme.
"Er ist einer der Stammgäste aus dem Club.", fügte Daemon hinzu.
"Achso." Thymian beschränkte sich für die nächsten Minuten sehr kleinlaut neben dem erfahrenen Wächter herzutrotten.
Wie sich herausstellte war Lord Schattenbeil urplötzlich verreist und die Bediensten zeigten mit betrübten Mienen auch großes Bedauern darüber, aber familiäre Angelegenheiten, man wisse ja wie das ist und nein, wann der Lord zurück kehren würde, das wüssten sie leider auch nicht. Aber sicher ganz bald.
Die beiden Wächter gingen über den kleinen gepflasterten Weg zurück zur Straße. Oberleutnant Daemon notierte sich etwas in seinem Notizblock.
"So was ähnliches habe ich schon befürchtet. Und ich denke bei den anderen Stammgästen wird es uns nicht anders ergehen." Er blätterte in dem Block und murmelte etwas. "Ich frage mich, was die alle zu verbergen haben."
"Wie viele sind es denn, die wir noch aufsuchen müssen?", fragte Thymian neugierig.
"Ich habe elf Namen, alles mehr oder weniger angesehene Mitglieder der Gesellschaft.. und der Gilden."
"Es sind alles Gildenmitglieder?"
"Nein, noch ein, zwei Adelige ohne Gildenstatus.. aber sicherlich mit guten Verbindungen. Hmm, Gildenangelegenheiten sind meistens kompliziert und es gibt viel Zwist untereinander. Selten, dass sie sich zusammenschließen und auffällig, dass es zwar alles Mitglieder sind, ihr Rang hoch genug, um geachtet zu werden, aber doch zu gering, um allzu wichtig zu sein. Sehr interessant, warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen?"
"Warum interessant?", versuchte Thymian einen halbwegs intelligenten Beitrag zu den Überlegungen seines Kollegen zu leisten.
"Wir haben ein paar Gäste, die sich regelmäßig im Club treffen... sicherlich nicht nur der netten Auftritte wegen.. wir starten unsere Ermittlungen und sie schweigen beharrlich, dann verschwinden sie einfach so. Lass uns noch einen Kontrollbesuch machen, nur um sicher zu gehen." Der Rekrut nickte darauf, er hatte sowieso keine Ahnung von was der Oberleutnant da redete, trotzdem stellte sich so etwas wie leichte euphorische Aufregung ein.
"Lösen wir jetzt den Fall?", fragte er.
"Nicht so ungeduldig, junger Rekrut. Ohne Beweise helfen uns selbst die besten Überlegungen nichts, aber es schadet nicht den Mörder im Voraus zu kennen."
"Kennen wir denn den Mörder?" Daemon sah Thymian daraufhin lange an.
"Halte nur deine Augen auf, dann wirst du ihn bald sehen."
Sie gingen eine Weile durch die Straßen zum nächsten Stammgast und schwiegen.
"Thymian Pech, es ist nicht unbedingt erforderlich die Augen wie ein kleines Reh aufzureißen und in der Gegend herumzugucken, als könne hier irgendwo der Mörder lauern."
"Oh.. achso." Sie schwiegen wieder, während Thymian versuchte ordentlich im Gleichschritt zu Schreiten wie es der Oberleutnant tat, aber irgendwie wollte es nicht so recht klappen. "Soll ich dir einen Witz erzählen, Sir? Ich kenne viele Witze.."
"Und ich kenne die Narrengilde, nein danke."
Wütend riss Daemon den Zettel von der Türe.
"Na, das hat sich ja schnell rumgesprochen.", brummte er. Der ehemalige Narr sah ihn fragend an bis der Oberleutnant begriff. "Äh, auf dem Zettel steht, er wäre in Urlaub in Viericks. Unterzeichnet mit Herr Notiz." Daemon hakte einen Namen auf seinem Block ab. "Jemand aus der Anwaltsgilde.", fügte er erklärend hinzu. "Dann bleibt uns also nur noch Edward."
"Edward?"
"Erinnerst du dich an den Mann in der Stripperinnengilde, er saß mit Frau Wumm in ihrem Büro und hat Geld gezählt.", antwortete Daemon und klappte den Notizblock zu. "Das war Edward die Schlange, er ist neben Frau Wumm für die geschäftlichen Dinge in der Gilde zuständig. Und er war an dem Abend vorne im Club.. er hat mir die Namen gegeben. Ja, so langsam fügt sich alles zusammen.."
"Tut es das?"
"Ja, ich befürchte, wir haben es hier mit einem alltäglichen Fall zu tun.", gab Oberleutnant Daemon nachdenklich von sich.
"Das ist ein alltäglicher Fall???" Wieder sah ihn der andere Wächter so merkwürdig an und es schien, als überlege er etwas. Kleine Sekunden verstrichen in denen Thymian höflich neben dem Oberleutnant stand und auf dessen klugen Schlussfolgerungen wartete.
"Ich denke, wir haben noch Zeit oder? Haben wir noch Zeit?", fragte Daemon an niemanden bestimmtes gerichtet.
"Zeit wofür, Sir?"
Etwas später
Innen im Turm war es kalt und leise heulte der Wind durch einzelne Ritzen im Gemäuer. Es roch nach feuchtem Moos, Taubenkot und dem Geruch von verwitterten Steinen. Nach genau 888 Stufen standen sie atemlos keuchend und hustend auf der obersten Plattform. Wind zerrte an ihrer Kleidung. Der Wächter hatte seine Hände in die Hüften gestützt, blickte zu Boden und schnaufte leise. Dann hob er den Kopf leicht. Und erstarrte.
Vor seinen Augen erstreckte sich die Stadt, ein großer Fleck auf der Landkarte. Die Häuser, Tempel und Straßen fügten sich zu einem kleinen Bild pulsierenden Lebens zusammen. Mittendrin schlängelte sich der Ankh langsam zum Runden Meer. Auf der anderen Seite waren hohe Berge zu sehen, ausgedehnte Täler und noch weiter in der Ferne einzelne Dörfer, Wälder und Schlösser. Eine Schar Tauben flog über den Kunstturm hinweg und segelte in immer enger werdenden Kreisen der Stadt entgegen.
"Beeindruckend, nicht wahr?" Thymian nickte langsam und sah zu dem Oberleutnant herüber, der sich locker hingesetzt hatte, die Beine baumeln ließ, als säße er überhaupt nicht auf einem 200 Meter hohen Gebäude. Vorsichtig gesellte sich Thymian dazu und starrte weiter hinunter zur Stadt, die nun zu seinen Füßen lag.
"Früher oder später sollte jeder Wächter einmal Die Stadt gesehen haben." Das Ratschen eines Zündelholzes über rauen Stein erklang, ein schwaches Licht flammte auf, dann trieben die ersten gekräuselten Rauchschwaden zu Thymian hinüber, der immer noch nicht wusste was er sagen sollte.
Nie hatte er die Stadt so gesehen. Ankh-Morpork. Wenn er genau hinsah, konnte er die Bewegungen in den Gassen und Straßen erahnen, den Geruch und das Stimmengewirr, wie das Summen in einem Bienenstock, vernehmen. Menschen (und andere Spezies) strömten ein und aus in die Stadt. Gerade verließ irgendwo ein Karren Ankh-Morpork und bewegte sich wie ein vereinsamtes Teilchen des Ganzen den Kohlfeldern der Sto-Lat Ebene zu.
"Was siehst du in ihr?" Der Oberleutnant stieß einen Rauchkringel aus, der noch versuchte seine Form zu wahren, doch vom Wind erfasst und zerstört wurde.
"Wie meinst du das, Sir?"
Der Wächter machte eine kreisende Bewegung mit dem Fuß, die die gesamte Stadt einnahm.
"Ankh-Morpork. Wie sieht es für dich von diesem Blickwinkel hier oben aus? Manche sehen einen Ameisenhaufen, einen Bienenstock, einen lebenden Organismus... Was siehst du?" Thymian dachte nach, ließ seinen Blick noch einmal über die Stadt schweifen, mit ihren Straßen, Bewohnern, Gebäuden.
"Ein Netz."
"Ein Netz?"
"Ja.. wie das Netz einer Spinne..", murmelte Thymian leise.
"Und wer ist die Spinne?" Thymian sagte es ihm.
"Ai, dann hoffe ich mal nicht, dass wir die Fliegen sind." Der Oberleutnant grinste und blies einen weiteren Rauchschwall in die kühle Luft. Es zischte kurz, als er die Zigarette auf dem Stein ausdrückte. "Was ist die Aufgabe eines jeden Wächters, junger Rekrut?"
"Die Bürger zu beschützen, Sir?", antwortete Thymian zögernd und fügte zaghaft hinzu: "Aber ich glaube nicht, dass wir das können, wenn wir hier oben auf dem äh Kunstturm sitzen."
"Nun, das stimmt vielleicht, aber es ist wichtig, dass du etwas lernst. Schließlich ist es vergeudete Zeit immer und immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Erstens: In dieser Stadt gibt es mehr Geheimgesellschaften, als ich an meinen Händen abzählen könnte. Und zweitens: Es gibt immer eine Verschwörung und ich denke, wir haben es hier mit einer zu tun. Was passiert, wenn sich das Netz gegen die Spinne wendet?"
"Es bricht zusammen?"
"Eben und deshalb müssen wir manchmal die Bürger vor sich selbst schützen." Er stand langsam auf und trat ein paar Schritte zurück. "Gehen wir, ich will schließlich nicht noch einmal vom Turm fliegen."
"Du bist mal hier herunter gestürzt? Vom Kunstturm? Und lebst noch??" Thymian sah den Oberleutnant zunächst überrascht, dann verwirrt und schließlich beeindruckt an. Der ältere Wächter nickte.
"Ja, aber das ist eine lange Geschichte.."
In der Mittagszeit war nicht viel los in der Gilde der Exotischen Tänze, in einer Ecke saßen ein paar Frauen in Kostümen, rauchten, redeten und lachten. Daemon trat ohne einen weiteren Blick an ihnen vorbei in den gildeneigenen Club. Nur ein Tisch war besetzt, der Mann hatte den Kopf zur leeren Bühne gewandt und hielt ein Glas mit goldgelbem Gin in der Hand. Der Oberleutnant durchmaß den halbdunklen Raum in nur wenigen Schritten, stützte sich mit den Handballen auf den Tisch und beugte sich zu dem anderen Mann hinunter.
Thymian konnte nicht verstehen, was sie besprachen, unschlüssig stand er in der Türe herum und wusste nicht so recht, was er jetzt tun sollte. Er sah zu den Frauen, die ihm sofort winkten und aufforderten, er solle doch herkommen. Zögernd kam er dem nach.
"Hallo, Süßer.", begrüßte ihn die erste und legte verführerisch die Beine übereinander.
"H-hallo.. kennt ihr zufällig Helen? Ist sie da?", fragte Thymian stotternd, als er sie unter den Tänzerinnen nicht entdecken konnte.
"Ja, sie ist auf der Toilette. Geh doch mal nachschauen, wo sie solange bleibt. Sicherlich freut sie sich." Die jüngeren Frauen steckten die Köpfe zusammen und kicherten mädchenhaft.
"Soll.. soll ich wirklich?", hakte er noch einmal unsicher nach.
"Klar, geh nur zu ihr hin. Sag Melissa schickt dich.", erwiderte die Frau, die ihn angesprochen hatte. Thymian nickte zögernd, sah noch einmal zum Oberleutnant, der sich inzwischen zu dem Mann gesetzt hatte und schlug dann den Weg zur Toilette ein.
Auf dem Weg durch den dunklen Flur merkte er selbst was das für eine dumme Idee gewesen war, er würde doch niemals zur Damentoilette hinein.. aber zurück konnte er auch nicht mehr, dann würden ihn die Tänzerinnen garantiert auslachen, wenn er noch nicht einmal den Mumm dazu hätte.
Er widerstand dem Drang an die Toilettentür, die ein Frauensymbol vorne hatte, zu klopfen und trat leise ein. Der Boden war mit kleinen weiß schwarzen Mosaiksteinen gekachelt und dort kniete sie. Sie hatte ihre langen Beinen angewinkelt und beugte sich über einen großen Wasserbottich, ihre blonden Haare fielen wie eine Flut über ihr Gesicht und verbargen es weitgehend. Sie trug ein rotes, enges Samtkleid, das seltsam gesprenkelt wirkte. Die Stöckelschuhe hatten sich gelöst und lagen einsam in der Gegend. Der Geruch der Abfall- und Kloakegrube von draußen trieb zu ihm herüber.
Thymian Pech wagte kaum zu atmen. Er versuchte sich zu sammeln, rieb sich verwirrt die Augen und starrte wieder zu der eigentümlichen Szenerie herüber.
"Helen...?" Seine Stimme begann mit dem kleinen piepsigen Ton eines Vogeljungen und endete in einem heiseren Krächzen. Sie rührte sich nicht und vorsichtig trat Thymian die wenigen Schritte zu ihr, es schien ihm wie eine halbe Ewigkeit.
"Geh weg.", sagte sie schließlich, mehr dumpf in den Bottich hinein, als zu ihm.
"Helen, was ist los?" Da endlich hob sie den Kopf, wischte die Haare ärgerlich nach hinten und sah ihn beinahe trotzig an.
"Du blutest ja.", konnte Thymian nur sagen. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Oberlippe. Aus ihrem linken Nasenloch quoll ein stetiges Rinnsal von Blut und ihr rechtes Auge war dick geschwollen.
"Ja und jetzt geh. Geh, bevor du noch tiefer drin steckst. Das ist nichts für dich." Sie benetzte ihr Gesicht noch einmal mit einigen Spritzern Wasser und richtete sich umständlich auf. Ihre Haare lagen wirr und ungeordnet über ihren Schultern, einer der Träger ihres Kleides war heruntergerutscht und auf ihrem Dekolletee waren getrocknete Blutstropfen zu erkennen.
"Helen.. wer, wer hat dir das angetan?" Thymian stand hilflos vor ihr und hob einen ihrer Schuhe auf.
"Das war ich selber. Arbeite niemals für zwei Parteien gleichzeitig." Sie nahm ihm den Schuh aus der Hand und zog ihn sich über.
"Welche Parteien, Helen? Was geht hier vor sich?"
"Sieh selbst.", sagte sie nur und deutete zu einem kleinen Schlitz oben in der gegenüberliegenden Wand. Helen streifte sich den anderen Schuh über und wischte behelfsmäßig das Blut von ihrem Ausschnitt und Gesicht. "Nimm den Hocker dort."
Thymian verstand zwar immer noch nicht, was das sollte, aber er tat wie geheißen, schob einen kleinen Schemel unterhalb des Schlitzes, stieg auf den Hocker und spähte wie ein kleiner Junge durch das Schlüsselloch des Elternschlafzimmers durch den kurzen Sehschlitz in der Wand. Er blickte in einen Hinterraum, der abgesehen von einem langen Tisch und Stühlen darum leer war. Nur in einer der Ecken lehnte eine billige Katze aus bemaltem Holz. Auf dem Tisch standen zwei saubere Aschenbecher.
"Da drin wird die Zukunft entschieden.", fügte Helen hinzu, als Thymian nichts sagte.
"Wessen Zukunft?", fragte er ohne groß nachzudenken.
"Die Zukunft der Stadt, die Zukunft des Landes, die Zukunft der Welt.. deine Zukunft. Such dir einfach eine passende Antwort aus. Darum geh jetzt lieber oder willst du enden wie Victor?"
"Victor?"
"Victor Krunn, du weißt schon, der Mann, der hier starb."
"Achso, ja, ich erinnere mich." Auch an seine Leiche, die wir ausbuddelten, fügte Thymian gedanklich hinzu. "Und was hatte er mit diesem Raum zu tun?"
"Alles.. und nichts. Halte deine süße Nase aus Dingen, die dir nur schaden, Pech." Helens Schuhe klackten über die Steine Richtung Türe. Thymian drehte sich rasch um und wäre beinahe vom Hocker gefallen.
"Warte doch!", rief er ihr hinterher.
"Ich muss mich beeilen, sobald ich diesen Raum verlasse wirst du das gleiche tun und mich verraten, aber gib mir wenigstens einen kleinen Vorsprung." Sie drehte sich bei den Worten nicht um, aber ihre schönen langen Beine zitterten leicht.
"Ich werd dich ganz sicherlich nicht verraten.", gab er zurück, doch er wusste im gleichen Moment, dass er log. "Du hast doch auch gar nichts unrechtes getan. Es war alles nur ein Unfall!", probierte er es erneut.
"Du bist zwar erst seit kurzem in der Wache, aber du hast wahrscheinlich bereits genug gelernt, um zu wissen, dass das nicht stimmt." Sie hielt inne, die Türklinke quietschte, als sie herunter gedrückt wurde. "Nun, vielleicht nicht wissen, aber fühlen. Habe ich recht? Euch Wächtern steckt das im Blut.. aber wir sind auch nicht ohne.. Instinkt."
"Wer ist wir?"
"Wir sind das Gefühl zweier Augen in deinem Nacken.", antwortete sie und verschwand.
Ecatherina hasste solche Arbeiten. Wer untersuchte auch gerne Schlüpfer anderer Leute? Besonders dann, wenn sie auch noch in der Tasche einer Leiche gesteckt hatten. Was war sie auch so dumm gewesen Daemon ohne irgendeinen Befehl anzubieten, sich darum zu kümmern. Was brachte sie dazu?
Na gut, sie war Gift und Gas Expertin und nicht irgendeine, sondern die beste. Ecatherina seufzte. Es war auch nicht weiter schwer, wenn man die einzige war. Sie blickte sich in dem kleinen Labor um, das zwar nicht an das von S.U.S.I. heranreichte, aber doch genügend eingerichtet war, um viele diverse Gifte, Kräuter und lehrreiche Bücher zu enthalten, die einem sagten, was man unbedingt nicht tun sollte.
Derzeit blätterte sie in einem großen, alten Schinken, ihr Finger glitt über die verschiedenen Abzeichnungen von Kräutern. Sie wusste nicht genau, wonach sie suchte, aber etwas ließ sie ahnen, dass der Mann nicht eines natürlichen Todes gestorben war. Wenn Daemon ihn schon zu ihr brachte, dann musste es ein Anschlag gewesen sein. Ein Anschlag mit Gift.. und dieser Schlüpfer..
Eca blickte zu dem lila Etwas hinüber, das unschuldig auf dem Labortisch lag und wartete. Was erwartete der Kerl? Dass sie hinging und es nach.. Spuren untersuchte? Sie schüttelte sich innerlich und blätterte weiter. Ein Gift, das zu einer Herzattacke, einhergehend mit raschem Herzversagen führte..
Das ärgerliche war, dass die Leiche schon ungefähr zwei Wochen alt war und sich nicht mehr viel nachweisen ließ, genauer gesagt hatte sie gar nichts gefunden. Oder sich vielmehr noch nicht die Mühe gemacht hatte genauer danach zu suchen, weil sie hoffte es auch so herauszubekommen.
Gift sollte immer unbemerkt bleiben.. es sollte alles nach einem Unfall aussehen, also nahm man kleine, konzentrierte Mengen. Und ein schnell wirksames Gift oder ein langsames? Dieser Rekrut war mit einem langsamen Stoff vergiftet worden, die spezielle Sorte, die man nahm, um dem Opfer die Gelegenheit zu geben ausreichend über sein künftiges Verhalten nach zu denken.
Hatte dieser Mann Gelegenheit gehabt? Er hätte das Gift auch bereits Stunden vorher eingenommen haben können. Vielleicht durch Essen oder Trinken..
War es Zufall gewesen, dass er in der Gilde starb? War es eine Warnung gewesen? Eca fluchte leise. Warum musste dieser gewisse Oberleutnant auch nur so ein verdammter Geheimniskrämer sein? Hätte er ihr nicht ein paar Fakten über den Fall geben können? So müsste sie nun nicht völlig im Dunkeln tappen, aber sie war die Dunkelheit gewöhnt. Sie würde schon zu Recht kommen.
Ecatherina schlug die nächste Seite des Buches auf und fuhr zusammen, als die Türe plötzlich aufgeschlagen wurde. Sie rieb sich seufzend die Stirn und sah auf.
"Ja, was gibt es denn, Rogi?" Der weibliche Igor trat zu ihr und reichte Eca einen zusammen gerollten Zettel.
"Daf kam eben per Taube an, Mä'äm." Die Gefreite salutierte und versuchte möglichst ungerade und igorhaft dazustehen, während Eca die Nachricht durchlas.
"Hmm, ich habe so etwas schon befürchtet. Siehst du den Slip dort drüben?"
"Er ift nicht zu überfehen.", antwortete Rogi wahrheitsgemäß.
"Er gehört Daemon.", fügte Eca erklärend hinzu. Kurzes Schweigen entstand.
"Verftehe, Mä'äm.", erwiderte die Kommunikationsexpertin in einem eindeutigen Tonfall.
"Äh nein, nein, so meinte ich das nicht. Es ist ein wichtiges Beweisstück, würdest du ihn bitte auf Spuren untersuchen, ich muss hier noch etwas wichtiges nachschlagen."
"Auf welche Fpuren?", fragte Rogi Feinstich nach und verschluckte sich beinahe an ihrer eigenen Aussprache.
"Ach, einfach auf alles. Der Oberleutnant hat mal wieder eine Theorie." Aber eine gar nicht mal so dumme, musste Eca zugeben.
"Wird der Flüpfer noch gebraucht?" Rogi stand mit einer großen Schere da und sah den Spieß fragend an. Eca winkte ab.
"Nein, ich glaube nicht."
Vinni und Hatscha standen unbemerkt an den Ecken des Gildenhauses, als Daemon und der Rekrut herausgelaufen kamen. Der Oberleutnant sah sich kurz um und entdeckte rasch seine Kollegen.
"Oh, hallo, Dae.", begrüßte Hatscha ihn und warf einen verächtlichen Blick auf Thymian. "Wer ist das denn??"
"Es ist nichts aufregendes passiert, die Gäste halten sich schon eine ganze Weile von der Gilde fern.", berichtete Vinni, er nickte Thymian freundlich zu.
"Jaja, das ist sehr schön. Was steht ihr hier noch herum? Warum habt ihr sie nicht verfolgt?", begann Daemon sofort und warf immer wieder Blicke auf die Straße.
"Sie?"
"Die große blonde Schönheit, die sicherlich an euch vorbei gekommen ist und um die ich euch extra gebeten habe, besonders acht zu geben.", erinnerte Daemon die beiden D.O.G. -Wächter eindringlich.
"Och, ach die. Dyn folgt ihr bereits.", antwortete Hatscha ruhig und biss in ein belegtes Brötchen. "Und ich fand sie gar nicht so hübsch.", fügte sie schmatzend hinzu.
"Dyn? Gefreiter Dyn verfolgt sie? Habe ich nicht so etwas gesagt wie 'Nur ihr beide observiert, sonst keiner'?" Daemon klopfte wartend mit dem Fuß auf das Kopfsteinpflaster.
"Naja.. äh weißt du, das war so..", begann Vinni und suchte noch nach einer geeigneten Antwort, als ihm Hatscha zur Hilfe kam.
"Uns war langweilig hier ständig rum zu stehen, wo doch eh nichts passiert. Wir sind Huskys, keine Terrier. Ich habe mir den Tschob extra ausgesucht, gerade damit ich mir eben nicht die Beine in den Bauch stehen muss. Und zu dritt spielt es sich besser Karten." Sie blickte in die Runde, während Vinni ihr (natürlich völlig unabsichtlich) mehrmals auf den Fuß trat. "Zu viert geht es eigentlich noch besser. Wollt ihr nicht mitmachen?"
"Junges Fräulein.. das.. ist.. hier.. kein.. Kaffeekränzchen.", brachte Daemon mühsam zwischen zusammen gepressten Zähnen heraus und versuchte sich zu beherrschen.
"Beruhig dich doch, äh denk an deinen Blutdruck.", redete Vinni beschwichtigend auf ihn ein und noch ehe Daemon darauf etwas erwidern konnte, deutete er die Straße runter. "Äh, Dyn ist da lang gelaufen. Hast du eine Taube dabei, dann können wir ihn kontaktieren."
"Nein, ich habe meine gerade zu Eca geschickt, sie soll für mich einen lila Schlüpfer untersuchen."
"Verstehe..."
"Mistundverflucht, ich hoffe Mücke erfährt nicht allzu schnell davon.", murmelte Daemon.
"Ist es sein Schlüpfer?"
"Hatscha!"
Dyn Amit sah sich vor ein Problem gestellt. Das Problem bestand, wie schon so oft, in Form einer großen gut aussehenden Frau mit langen blonden Haaren, die gerade damit beschäftigt war ungewohnt agil und geschickt an einem Regenrohr empor zuklettern, ihr Handtäschchen zu öffnen, einen Diamantzahn herauszuholen, damit ein kreisrundes Loch in das Fenster im ersten Stock zu schneiden, es lautlos zu öffnen und ebenso geräuschlos in das Haus hineinzuklettern. Dyn überlegte. Lag eine Straftat vor? Vielleicht war es ja ihr Haus und sie hatte nur den Schlüssel verlegt. Anderseits hatte man ihn damit beauftragt der Frau in dem roten Kleid zu folgen. Das hatte er auch getan. Es war nicht von ihm verlangt worden, dass er sich an rutschigen Regenrohren entlang schieben und sich hinüber in ein Fenster schwingen sollte, noch dazu in ein Haus, von dem er nichts wusste. Der Gefreite sah sich unschlüssig um, er stand in einer engen Gasse, die verlassen schien. Vor und hinter ihm waren jeweils die Rückfronten von einer langen Häuserreihe.
Er könnte zurück laufen und Hilfe holen. Das wäre eine gute Idee. Solange die Frau mitspielte und in dem Haus blieb. Dyn verwarf die Idee, was bedeutete, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als hier zusammen gekauert hinter einigen stinkenden Mülltonnen und Pappwänden abzuwarten. An Warten war nichts schlimmes. Solange die Umgebung stimmte. Ihm machte es zum Beispiel überhaupt nichts aus in einem gemütlichen Büro zu warten. Der Wächter schlang den Mantel enger um sich und starrte zu dem Fenster hoch. Oder war es seine Pflicht der Frau zu folgen und sie von was auch immer abzuhalten? In seine Überlegungen drängten sich jedoch Vorstellungen von verkrampften Fingern am Fensterbrett auf die mit aller Wucht spitze Centabsätze traten.
"Da hinten ist er! Dyn!", riss den Gefreiten plötzlich eine Stimme aus seinen Überlegungen.
"Hatscha, hast du denn gar nichts vom Oberservieren gelernt? Das oberste Gebot ist absolute Stille!", erwiderte eine Stimme ebenso laut und aufgebracht. Man hörte das Getrappel mehrer Stiefel und Dyn blickte aus seinem Versteck hervor. Drei Kollegen von D.O.G. kamen ihm entgegen gelaufen, sowie noch ein Rekrut, den er aber nicht kannte.
"Sie ist da rein.", sagte Dyn Amit betont leise und deutete auf das offene Fenster. Oberleutnant Daemon nickte und sah zu den Wächtern um sich.
"Vinni, Dyn, ihr wartet hier und gebt ein Zeichen, wenn sie wieder herauskommt.", befahl er knapp. "Ihr anderen kommt mit mir, wir schauen uns das Haus mal von vorne an." Die drei Wächter gingen wieder die Gasse zurück und bogen um die Ecke. Vinni gesellte sich zu Dyn und beide blickten eine Weile auf das Fenster im ersten Stock. Nichts rührte sich. Irgendwo weiter hinten kämpften zwei streunende Katzen.
"Was für ein Zeichen eigentlich?"
Das Haus entpuppte sich als Schuhmachergeschäft. Vor der Glastüre hing ein 'Geschlossen' -Schild, Daemon beugte sich vor und sah durch das Schaufenster in den Laden im Erdgeschoss. Drinnen lag alles im Dunkeln, niemand war zu sehen.
"Warum steigt sie in das Geschäft eines Schuhmachers ein?", murmelte Daemon nachdenklich.
"Vielleicht will sie ihre Schuhe abholen.", vermutete Hatscha und grinste. Der Oberleutnant warf ihr einen bösen Blick zu und drehte am Türknauf der Türe. Erstaunlicherweise war sie offen.
"Ob gleich zwei Einbrecher im Haus sind?", fragte Thymian und konnte seine Anspannung nicht ganz verbergen.
"Seid jetzt ganz still.", ermahnte der Oberleutnant noch einmal und betrat vorsichtig den Laden. Von hinten sah Thymian wie Daemons Hand zum Schwert glitt. Instinktiv wollte es ihm der Rekrut gleichtun, aber er hatte immer noch nur ein Holzschwert dabei und das half nicht einmal ein bisschen, um die flatternden Nerven zu beruhigen. Hintereinander schlichen sie in den Laden und Thymian zuckte unwillkürlich zusammen, als eine der Bodendielen unter ihrem Gewicht knarrte. In hohen Regalen türmten sich verschiedene Schuhe, irgendwo stand eine Holztheke mit einigen Arbeitsutensilien drauf. Ansonsten wirkte alles sauber und unberührt.
Daemon deutete auf einen Durchgang links hinter der Theke, der mit einem Vorhang verdeckt war. Schwaches Licht drang unten drunter hervor. Mit einer kurzen Handbewegung bedeutete er ihnen zu folgen und schlich sich weiter vorwärts. Thymian versuchte jedwedes Geräusch zu vermeiden, aber selbst sein Herzschlag schien ihm zu laut. Was machte er sich eigentlich solche Sorgen? Es war sicher nur der Schuhmacher, der in seiner Werkstatt saß. Oh bitte, lass es nur der Schuhmacher sein...
Und wo war dann Helen?
Daemons Hand glitt zum Vorhang, umfasste ihn mit zwei Fingern. Er drehte den Kopf und sah noch einmal zu Thymian und Hatscha. Die Gefreite nickte leicht und Thymian folgte rasch ihrem Beispiel. Der Oberleutnant wandte sich wieder dem Vorhang zu, wollte ihn gerade beiseite ziehen, als es von oben plötzlich laut krachte. Irgendetwas Schweres war sehr geräuschvoll umgekippt. Thymian wagte nicht zu atmen. Was jetzt? Doch die Antwort auf diese Frage wurde ihm präsentiert noch ehe er damit gerechnet hatte.
Jemand riss jäh den Vorhang von der anderen Seite weg und prallte prompt gegen Oberleutnant Daemon. Beide Gestalten verfingen sich im Vorhang, dieser gab unter dem Gewicht nach, riss und fiel mit samt seinem mehr oder weniger eingewickeltem Inhalt zu Boden.
"Im Namen der Wache, wer immer du bist, du bist vorläufig in Gewahrsam genommen!", rief eine Stimme unter dem Vorhang, merkwürdigerweise gab es eine Art Echo. Zwei Köpfe gruben sich umständlich aus dem Tuch und starrten sich gegenseitig an.
"Dae?"
"Cim?" Der Oberleutnant riss sich vom Vorhang los und stand hektisch auf. Er sammelte einige Abzeichen ein, die von der Uniform abgefallen waren und sah dann wieder zu dem Hauptgefreiten. "Verdammt.. ich meine, was.. äh was zum Geier machst du hier überhaupt?"
"Ich ermittle hier und du hast soeben die Umgebung des Tatortes entscheidend verändert." Cim Bürstenkinn deutete auf den Vorhang zu seinen Füßen.
"Ich? Wieso ich? Das war nun wirklich nicht-"
"Äh, entschuldigung.. sollten wir nicht nach dem Geräusch sehen?", brachte sich Thymian ganz kleinlaut ein und trat vorsichtshalber hinter die Gefreite. Er war nicht unbedingt darauf erpicht, dass ihn der S.E.A.L.S. -Wächter entdeckte.
"Die Treppe hoch!", rief Daemon sofort und eilte zu einer Treppe am Ende eines kleinen dunklen Flurs. Die anderen rannten ihm hinterher, ebenso Cim Bürstenkinn, der etwas rief, was Thymian jedoch unter ihren polternden Schritten auf dem Holzboden nicht verstehen konnte. Irgendwas ratschte leise, als der Oberleutnant die ersten Stufen nahm.
"Nicht da hoch! Bleibt stehen!", hörte Thymian endlich die fast verzweifelten Rufe des Hauptgefreiten, aber die Wächter waren schon oben angelangt, wieder war ein Reißen zu hören, aber der ehemalige Narr konnte nicht erkennen wo es seinen Ursprung hatte, er spürte nur, wie ihn etwas an der Hose streifte. Im oberen Flur drang Feuerschein aus einem Raum. Oberleutnant Daemon bog um die Ecke und eilte mit einem lauten "Ha!" in das Zimmer. Hatscha, Thymian und schließlich auch Cim folgten ihm und prallten direkt gegen den Oberleutnant, der sich groß im Türeingang aufgebaut hatte. Thymian hüpfte und versuchte über seine Schulter zu gucken.
"Ihr kommt zu spät, Wächter.", sagte eine Stimme, der Klang wie gekräuselter Rauch in einer kühlen Nachtluft. Rauch war auch schwach zu riechen; als Thymian endlich etwas sehen konnte, stand Helen hinter einem Schreibtisch. Ein Karteikasten lag umgestürzt auf dem Boden, einzelne Blätter wehten durch die Zugluft im Zimmer umher. Mit einer einzelnen zusammengeknüllten Kartei, die an einer Ecke brannte, zündete sich Helen gerade eine Zigarette in einer langen schwarzen Filterspitze an.
"Was geht hier vor sich?" Daemon sah die Tänzerin durchdringend an, doch diese zog nur genüsslich an ihrer Zigarette, blies den Rauch in seine Richtung und tat so, als bestünde rein gar nichts Schlimmes an der Tatsache in einem Büro zu stehen und sich mit einer brennenden Karteikarte eine Zigarette anzuzünden. Der Oberleutnant trat ein paar Schritte vor und gleichzeitig ging Helen zum offenen Fenster. Sie warf die letzten Fetzen der brennenden Kartei zu Boden, klemmte sich die Filterspitze in den Mundwinkel und schwang sich auf das Fensterbrett.
"Ihr kommt wie immer zu spät. Wenn bereits alles vorbei ist." Thymian war so, als zwinkere sie ihm zu, aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Hatscha schubste ihn weiter nach vorne, so dass die restlichen drei Wächter nun auch endlich in den Raum stolperten. Daemon rannte durch den Raum zum Fensterbrett, doch er kam einen Sekundenbruchteil zu spät, denn Helen schickte sich bereits an herunterzuklettern.
"Haltet sie auf!", brüllte er herunter und beugte sich aus dem Fenster.
Vinni und Dyn sprangen hinter den Mülltonnen hervor und hetzten zur Häuserwand, wo sich gerade die Frau in dem roten Kleid am Regenrohr herabließ. Oben am Fenster hatte sich Daemon bereits rausgewagt und kletterte am Sims entlang zum Regenrohr. Dyn war als erster am Haus angelangt, was ihm prompt zum Verhängnis wurde. Vermutlich hätte er nicht geahnt, dass manche Frauen auch in dieser Art umwerfend sein konnten. Die Frau rappelte sich wieder von dem benommenen Gefreiten auf und kam auf barfuss Vinni entgegen.
"Willst du mir Schwierigkeiten machen?", fragte sie ihn.
"Ich fürchte ja." Eigentlich war Vinni ein höflicher Mensch und unter normalen Umständen würde er auch niemals eine Frau schlagen, nur manchmal ließ sich dies leider nicht vermeiden. "Gibst du freiwillig auf?", fragte er trotzdem hoffnungsvoll. Die Frau trat ihm ohne Vorwarnung mit voller Wucht gegen das Schienbein und wollte an ihm vorbei. Vintongo besaß gerade noch genug Geistesgegenwart, um sie mit einem Schlag auf den Hinterkopf zu treffen. Sie stöhnte kurz auf und brach dann zusammen.
"Helen!" Sie lag regungslos in der Gasse, ihre Arme von sich gebreitet, ihr Haar wirr um ihren Kopf verteilt. Thymian rannte so schnell er konnte zu ihr und kniete neben ihr. "Helen.."
"He, was geht hier vor? Könnte mir mal bitte jemand erklären, wer diese Frau ist und was das alles soll?", ertönte die aufgebrachte Stimme von Cim am anderen Ende der Gasse. Thymian achtete nicht auf ihn und drehte Helen behutsam um, die kurz mit den Augen blinzelte und ihn dann matt lächelnd ansah.
"Alles in Ordnung, mir geht es gut." Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht.
"Du bist vorläufig festgenommen wegen Verdacht auf Mord, Aktenvernichtung, Fluchtversuch und tätlichen Angriff auf einen Wächter.", hörte Thymian den Oberleutnant sagen. Das Kratzen des Stiftes auf seinem Notizblock war zu vernehmen.
"Ha, Aktenvernichtung.. ihr wisst doch gar nicht, was hier wirklich vor sich geht."
"In der Tat, ich weiß absolut nicht, was hier vor sich geht.", mischte sich der Hauptgefreite an und trat zu Daemon hinüber. "Was soll das? Wisst ihr eigentlich, dass ihr gerade eben einen Tatort unwiderruflich für weitere Spurensicherungen unbrauchbar gemacht habt?"
"Was für ein Tatort?", fragte Oberleutnant Daemon verständnislos zurück.
"Die Treppe! War extra mit Absperrband gesichert! Der Fall ist schon vertrackt genug, macht es mir nicht noch schwerer als ohnehin schon, indem ihr eure Verfolgungsjagden dort abhaltet!" Cim zeigte beinahe anklagend auf die Frau. "Und wer ist sie?"
"Ich bin.. unwichtig." Helen stützte sich an Thymian ab, der ihr aufhalf. Die anderen Wächter (mitsamt Dyn, der sich inzwischen von seiner Aufgabe als lebendes Kissen erholt hatte) hatten sie umkreist und boten ihr so keine Fluchtmöglichkeiten mehr. Bereitwillig streckte sie die Hände aus, als Daemon die Handschellen von seinem Gürtel löste.
"Das würde mich auch interessieren.", merkte Daemon an. "Was hattest du in dem Schuhmacherladen zu suchen? Was waren das für Karteien?"
"Ihr Wächter solltet mehr miteinander zusammen arbeiten." Helen sah sich in der Gasse um. "Müssen wir das hier draußen bereden?", sagte sie etwas leiser. Daemon schüttelte den Kopf und mit einem Schnappen glitten die Handschellen um ihre Hände.
"Führt sie in den Laden. Ich denke, sie hat uns einiges zu sagen."
"Du hast mir einiges zu sagen!", warf Cim ein und schien sehr aufgebracht über die Tatsache, dass ihm niemand groß Beachtung schenkte.
Sie waren gerade aus der Gasse getreten, als eine Taube mit flatternden Flügeln über ihnen hinwegkreiste und in enger werdenden Kreisen zu ihnen hinunter geflogen kam. Sie landete auf Daemons Schulter und trippelte dort gurrend umher bis sie sich an einer bequemen Stelle niederließ, an ihrem Fuß war ein kleines Röhrchen befestigt. Mit einem geübten Handgriff langte Daemon zu der Taube und löste das Röhrchen von ihrer Kralle. Er schraubte den kleinen Deckel ab und ein zusammen gerollter Zettel glitt in seine geöffnete Hand. Unter den neugierigen Blicken der anderen las Daemon aufmerksam die Nachricht und nickte dann zufrieden.
"Das kommt genau zum richtigen Moment." Er wandte den Kopf und wich somit einem wütenden Blick des Hauptgefreiten aus. "Gehen wir."
"Hast du sie so zugerichtet, Vinni?" Daemon deutete auf die blauen Flecken und die geschwollene Nase Helens, doch Vintongo schüttelte entsetzt den Kopf.
"Ich hab ihr nur einen ganz leichten Schlag verpasst.", antwortete er wahrheitsgemäß. Daemon zog sich einen Stuhl heran, während Helen auf einem Hocker saß und ihre Haare wieder in Ordnung brachte. (Die Handschellen hatte man vorerst wieder entfernt.)
"Gut, was geht hier vor sich? Was wolltest du in diesem Laden?", fragte der Wächter.
"Eine Spur vernichten.", sagte Helen nur und zog an ihrer Zigarette, die erstaunlicherweise nicht ausgegangen war.
"Was für eine Spur?", hakte Daemon nach.
"Die Verbindung, aber jetzt ist es eh egal, früher oder später hättet ihr es herausgefunden." Trotz ihrer Worte wirkte sie nicht betrübt.
"Was ist hier los?? Hat sie Beweise vernichtet? Von meinem Fall??" Cims Gesicht rötete sich ein wenig. Da endlich drehte sich Daemon zu ihm um.
"Okay, damit du Ruhe gibst.. WAS ist dein Fall?"
"Ich ermittle in der Sache Unterpfand." Cim wies zum Treppenanfang. "Er stürzte die Treppe dort hinunter und brach sich das Genick. Meine Aufgabe ist es herauszufinden, ob es nicht doch Mord war. Und wenn diese Frau hier einbricht, muss ich wohl davon ausgehen, dass sie etwas damit zu tun hat.", schlussfolgerte er.
"Wer oder was ist Unterpfand?", fragte Daemon nach und stützte sich auf die Lehne des Stuhls.
"Er war der Schuhmacher dieses Geschäfts. Eigentlich wäre ich schon viel weiter in dem Fall, aber ein Rekrut aus G.R.U.N.D. verschwand einfach spurlos mit dem Testament, das er bei S.U.S.I. abliefern sollte... Ich glaube, er hieß-"
"Thymian Pech!!!", donnerte in diesem Moment Daemon so laut, dass alle zusammen zuckten.
"Ja, genau so war sein Name.. He, das ist er doch!" Cim hatte Thymian entdeckt, der noch versuchte sich hinter Vinni zu verbergen, aber der anklagende Finger des Oberleutnants holte ihn wieder hervor.
"Was hat das zu bedeuten?!!!"
"Ich.. äh.." Thymian fühlte sich wie bei einer von Herrn Kaninchens Anfällen und trat nach vorne wie ein geprügelter Hund. Er senkte den hochroten Kopf und traute sich weder den Oberleutnant noch den Hauptgefreiten in die Augen zu blicken.
"Ich warte auf eine Erklärung! Das Testament von Victor Krunn, hm?!"
"Aber der Pappmaskenmann sagte ganz deutlich den Namen... ich.. ich hab den anderen wieder vergessen... es tut mir so leid." Er klammerte sich an seine Dienstmarke. "Darf ich meine Marke behalten? Werde ich.. rausgeschmissen?"
"Wessen Testament hat dein Freund dann aufgegessen?!", fragte Daemon laut nach.
"Es wurde aufgegessen????", rief Cim dazwischen.
"Ich... ich." Thymian versuchte den Kloß in seinem Hals hinunter zu schlucken. "ich weiß es doch nicht, Sir.."
"Du weißt es nicht?! Was soll das heißen, du weißt es-" Der Oberleutnant brach urplötzlich ab, als ihm wieder etwas einfiel. "Oh.." Er dachte kurz nach. "Ich fürchte, wir haben ein Problem."
"Ein Problem?! Wo ist das Testament von Herrn Unterpfand???", fragte der Hauptgefreite, in seine Stimme mischte sich ein Anflug von beginnender Nervosität und Beunruhigung.
"Ich weiß es doch nicht!", heulte Thymian auf. "Immer fragen mich alle nach dem Testament. Ich habe es doch nicht, warum glaubt mir denn niemand?" Hatscha klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.
"Wir glauben dir ja, wurde es eben aufgegessen, ein bedauerlicher Zwischenfall." Oberleutnant Daemon wollte noch weiterreden, wurde jedoch von dem S.E.A.L.S. -Wächter unterbrochen.
"Ein bedauerlicher Zwischenfall?? Das ist Vernichtung von Beweismaterial! Das ist ein Fall für Intörnal Affärs!"
"Beruhig dich doch, äh denk an deinen Blutdruck.", versuchte Vinni beschwichtigend auf Cim einzureden.
"Gut, also gibt es ein Testament von Herrn Unterpfand, dass euch der Notar mitgab und ein Testament von Victor Krunn, welches der Mann mit der Maske unbedingt sucht. Sehr interessant... auch wenn es absolut keinen Sinn ergibt. Thymian, hat der Mann wirklich Victor Krunn gesagt, denk nach.", forderte Daemon auf.
"Ja, Sir.. ich bin mir sicher. Ich.. ich habe nur den Namen, den mir Herr Bürstenkinn sagte wieder vergessen. Ist das sehr schlimm, Sir?", fragte Thymian zaghaft zurück. Der Oberleutnant seufzte und rieb sich den Nasenrücken.
"Nein, nicht allzu sehr.. abgesehen von einigen Tagen Ermittlungen, die wir uns hätten sparen können."
"Gäbe es da nicht mich.", brachte sich urplötzlich Helen wieder in Erinnerung, die die ganze Zeit über abwartend dagesessen hatte. Sie wartete bis sie die gesamte Aufmerksamkeit hatte und erst dann nahm sie einen tiefen Zug von ihrer langen Zigarette, legte die Beine beinahe anzüglich übereinander und schenkte den Wächtern ein Blick, der alle, abgesehen von Hatscha, für einen Moment zum Räuspern brachte. "Ich muss mich bei dir entschuldigen, Thymian. Besonders bei dir. Es tut mir wirklich leid, dass du mit in diese Sache rein gelangt bist. Ich verstehe besser als alle anderen, wie schrecklich das ist. Aber irgendeinen musste es treffen und wärest du es nicht gewesen, dann ein anderer Wächter. Ich weiß, das tröstet nicht sehr." Sie wölbte die Lippen zu einem geöffneten Kussmund und blies den Rauch aus. "Eine beklemmende Vorstellung, wenn man so einfach austauschbar ist, nicht wahr? Aber man kann das Austauschen verhindern, durch zwei Dinge. Man muss gut sein. Und man muss viel Wissen ansammeln. Nur das Wissen birgt Risiko, es gibt Leute, die töten wegen Wissen. Deswegen sammelt man nur, schaut es sich nicht an und gibt es weiter. Wissen ist eine Ware. Informationen sind bares Geld. Ihr Wächter wisst das besser, als viele andere."
"Worauf willst du hinaus?", unterbrach sie Daemon.
"Hätte der Fröhliche Kurt das Testament nicht aufgegessen, dann wäre alles glatt verlaufen, dies sind Zwischenfälle, die selbst ein Profi nicht einkalkulieren kann. Und der Mann mit der Maske ist ein Profi, glaubt mir."
"Arbeitet ihr zusammen?"
"Ja und Nein.", antwortete sie geheimnisvoll.
"Sprich nicht in Rätseln. Was genau hat es mit dem Testament auf sich? Wo ist die Verbindung zwischen Unterpfand und Krunn? Der Notar gab der Wache das Testament von Unterpfand mit, der Pappmaskenmann überfiel Thymian, fragte aber nach dem Testament von Victor Krunn. Wo ist da der Zusammenhang? Es muss einen geben, sonst wärest du nicht hier." Helen schwieg und begnügte sich damit lasziv an ihrer Zigarette zu ziehen. "Was hat ein einfacher Schuhmacher mit einem reichen Mann zu tun, der die Stripperinnengilde besuchte?", versuchte es Daemon erneut. Mittlerweile hatte er sich gesetzt, während die anderen Wächter aufmerksam hinter oder neben ihm standen. Nur Cim schlich noch etwas aufgebracht hin und her, verstand er doch immer noch nicht so recht, was genau passiert war.
"Nichts, das ist ja das perfekte daran."
"Verstehe..", gab Daemon nachdenklich zurück.
"Versteh ich nicht."
"Darum trage ich auch mehr Abzeichen als du, Hatscha." Daemon blickte noch einmal auf den Zettel in seiner Hand und sah dann zu Helen. "Leugnen ist zwecklos, also gestehe lieber. Ich weiß auch bereits, dass du Krunn getötet hast und das geschah nicht durch deine Darbietung auf der Bühne."
"Wie denn dann?", traute sich Thymian dazwischen zu fragen.
"In der Gilde gibt es einen Brauch; nachdem die Tänzerin sich ausgezogen hat, wirft sie ihren Schlüpfer einem Gast zu. Helen hat dies auch bei Krunn getan, dieser hat, nach Aussagen von Edward, sich den Slip an den Mund gedrückt und daran gerochen. Nur dumm, dass der Stoff mit einem ätherischen starken Gift versetzt war, der über die Atemwege aufgenommen wird. Das Gift hat die Wirkung einen Herzanfall auszulösen und zum sofortigen Tod zu führen, die beste Giftgas Expertin in der gesamten Wache hat dies unzweifelsfrei herausgefunden. Die Beweise sind eindeutig." Er reichte den Zettel an Cim und die anderen weiter, die sich darüber beugten und nickten. Daemon sah wieder durchdringend zu Helen und schien auf ihre Antwort zu warten.
"Ja, ich gestehe. Ich habe ihn ermordet. Genau so, wie es gesagt worden ist." Es bereitete ihr anscheinend nicht viel Mühe darüber zu reden, im Gegenteil, es klang so, als sprächen sie über das Wetter. Thymian erschauderte. Wie konnte sie nur so eiskalt sein?
"Der Grund würde mich interessieren."
"Warum wollen die Leute immer einen Grund wissen? Vielleicht gibt es ja keinen, vielleicht hab ich ihn nur so zum Spaß getötet."
"Dafür macht man nicht solch einen Aufwand und dafür wird auch nicht das Testament von Krunn gesucht.", unterbrach sie Oberleutnant Daemon. "Also, der Reihe nach, warum hast du ihn vergiftet?"
"Soll ich eine Geschichte erzählen? Vielleicht war ich ja eifersüchtig auf Ruth, seine Frau, die er aus der Gilde holte in dem er sie heiratete und dann hab ich Ruth getötet, doch er beachtete mich immer noch nicht. Und was bringt Liebe, die nicht erhört wird? Wenn ich ihn nicht haben konnte, sollte ihn keine bekommen. Er musste sterben.", erzählte sie und sah spöttisch zu Daemon, der seine Hände zu Fäusten ballte und leise mit den Zähnen knirschte. Beide wussten, dass es eine Lüge war.
"Ich könnte mir vorstellen, dass du Ruth Krunn ermordet hast, aber aus anderen Gründen. Und für Eifersuchtsszenen nimmt man kein Gift, sondern meist ein erbost geschwungenes Nudelholz.", erwiderte er.
"Bist du etwa Experte darin?" Sie blies Rauch in seine Richtung und lachte kurz.
"Lass mich auch eine Geschichte erzählen. Angenommen Ruth war in dem gleichen.. Geschäft wie du es bist und es war tatsächlich Liebe im Spiel. Es gibt manche reiche Männer, die sich in eine hübsche Tänzerin verlieben. Er wollte sie aus dieser Organisation holen, doch sie wusste bereits zuviel und man brachte sie um. Krunn geriet darüber in Rage und setzte alles daran herauszufinden, was dahinter steckte. Er wollte die Mörder seiner Frau dran kriegen, den Sumpf dieser Organisation trocken setzen. Mit Ikonographien. Ich weiß zwar nicht, was darauf ist, doch sicher etwas, was es wert ist dafür zu töten oder?" Helen schwieg und der Oberleutnant fuhr fort. "Und was sind Ikonographien, wenn nicht festgehaltenes Wissen? Und die Dämonen in den Kästen lügen nie. Das musste natürlich aufhören, ihr habt herausgefunden, dass er Bilder machte und er verschwand. Alles sah wie ein natürlicher Tod aus. Wirklich gute Arbeit, Respekt. Möchtest du nicht den Rest erzählen?"
"Natürlich, aber nur, um dich nicht in Verlegenheit zu bringen, weil du das Ende der Geschichte nicht kennst, Wächter." Sie lehnte sich zurück und starrte zur Decke, als gäbe es dort etwas wichtiges. Die Wächter standen schweigend daneben, solch eine Art Verhör war ungewöhnlich. Niemand gab so schnell etwas zu.
"Der Punkt ist, dass Victor Vorkehrungen für diesen.. Fall getroffen hat. Die Bilder sind verschwunden, im Moment suchen alle danach. Wir vermuten, dass er einen Hinweis im Testament hinterlassen hat. Allerdings einen sehr verstecken, dafür muss das Testament untersucht werden." Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah entschuldigend zu Cim. "Das mit Herrn Unterpfand tut mir wirklich leid. Es war eine persönliche Sache für mich, ist .. war er immerhin mein eigener Schuhmacher, deswegen musste ich meine Kundenkartei vernichten, um die Spur zu mir zu verwischen. Leider habt ihr mich dabei entdeckt, aber das Risiko musste ich eingehen."
"Der Mörder kehrt immer zum Tatort zurück.", murmelte Cim leise.
"Also starb er nur, um ein weiteres Testament zu haben?", hakte Daemon nach. Helen nickte.
"Leider, ein betrüblicher Grund, um zu sterben oder? Sein Testament findet ihr im Ordner von Krunn, seht nach."
"Das werden wir tun, davon kannst du ausgehen. Nur verrat mir eins, wozu der ganze Aufwand? Warum wurde Krunns Testament nicht einfach rausgeschmuggelt? Abgesehen davon, dass es mittlerweile vernichtet worden ist."
"Oh, das fragt den Notar. Ich muss euch ja nicht alles verraten. Wo bliebe da der Spaß?"
"Bei Mord gibt es keinen Spaß.", gab Daemon scharf zurück. "Nun, eine Frage noch, die wichtigste: Für wen arbeitest du? Für wen arbeitet der Pappmaskenmann?"
"Kennst du die Regel noch nicht, Wächter?" Sie lächelte dabei.
"Welche Regel?", fragte schließlich Daemon, als sie nicht weiter redete.
"Jeder arbeitet nur für sich." Nach diesen Worten stand sie auf und streckte die Hände von sich. Daemon nickte nur und holte die Handschellen wieder hervor.
"Ich nehme an, es ist zwecklos weiter zu fragen. Das war es vorerst. Bringt sie zum Wachhaus und lasst drei Wachen vor ihrer Zelle stehen. Ich wünsche, eine Rund um die Uhr Bewachung. Es besteht erhöhte Fluchtgefahr.", befahl Oberleutnant Daemon und legte die Handschellen an. Korporal Vintongo beugte sich zu Daemon hinüber.
"Drei Wachen? Sie sieht nicht gerade aus, als ob sie fliehen will.", sagte er flüsternd.
"Ich erklär es dir später.", gab der Wächter ebenso leise zurück und etwas lauter: "Gute Arbeit, Männer! Und äh Frauen. Bringt sie zum Wachhaus am Pseudopolisplatz und benachrichtigt Eca, sie soll die Beweise vorbereiten. Danke, Cim, deine Ermittlungen haben uns entscheidend nach vorne gebracht."
"Du musst mir mal in einer ruhigen Minute erklären, wie das alles zusammen hängt.", erwiderte der S.E.A.L.S. -Wächter. Dyn und Vinni nahmen Helen in ihre Mitte und gemeinsam traten sie aus dem Schuhmacherladen. Cim folgte ihnen und Thymian wollte es ihnen schon gleich tun, als ihn die Stimme des Oberleutnants zurück hielt.
"Du nicht. Es ist noch nicht vorbei." Folgsam kam Thymian wieder zurück und sah zu dem Oberleutnant. Dieser deutete auf den Hocker auf dem bis eben noch Helen gesessen hatte. "Setz dich erstmal. Ich denke, wir müssen mal reden."
"Ja, Sir." Thymian schluckte und nahm zögernd Platz.
"Also, ich weiß, dass du das nicht gewollt hast und dass du den Namen Unterpfand wieder vergessen hast. Da du erst neu bei der Wache bist, versteht jeder, dass du darin noch nicht so geübt bist. Dennoch.. beim nächsten Mal hörst du genau zu, wenn andere Wächter dir etwas sagen. Versuche dir Namen zu merken. Ebenso bei Aussagen von Zeugen. Jedes Detail kann wichtig sein, jede noch so unwichtige Äußerung. Du musst dir alles einprägen. Du besonders. Ohne Notizen, die du auf einem Block machen kannst, bist du auf ein gutes Gedächtnis angewiesen. Und wenn dich ein Vorgesetzter nach geführten Gesprächen mit Zeugen fragt, darfst du nichts verschweigen und musst jede Kleinigkeit erwähnen. Ein ikonographisches Gedächtnis ist nur vom Vorteil." Daemon pausierte kurz und sah Thymian aufmunternd an, der immer kleiner auf dem Hocker zusammen gesunken war. "Ich weiß, das hört sich nach sehr viel an, aber du bist ja auch erst Rekrut. Wenn du es dir nicht ganz so schwer machen willst, würde ich dir empfehlen irgendwo Schreibunterricht zu nehmen.."
"Nein, Sir!", rief Thymian eine Spur zu laut. Daemon sah misstrauisch auf. "Äh.. äh." Thymian suchte schnell nach einer Ausrede, irgendetwas, was sein Ablehnen erklärte ohne dass der Name Vetinari fiel. "Meine Religion äh verbietet mir das Lesen und Schreiben."
"Eine sehr merkwürdige Religion. Nun ja, dann würde ich dir empfehlen ein perfektes Gedächtnis zu zulegen. Und nun.." Er holte seinen Notizblock raus und notierte sich einiges. "Während ich mit Edward in der Gilde geredet habe, hast du doch kurz Helen getroffen bevor du mir sagtest, dass sie das Gebäude verlassen hat oder?" Thymian nickte nur. "Dann möchte ich jetzt wissen, was sie dir gesagt hat."
"Sie schien sehr angeschlagen.. ich hab sie gefragt, wer das war, aber sie sagte nur, sie wäre das selber gewesen."
"Hmm, hat sie dazu noch etwas gesagt?"
"Ja, ich solle nie für zwei Parteien gleichzeitig arbeiten. Und dann bat sie mich zu gehen und nicht weiter zu fragen, ansonsten würde ich so enden wie Victor Krunn. Danach verschwand sie." Er hielt kurz inne. "Nur eines habe ich nicht verstanden, am Ende sagte Helen, sie wären auch nicht ohne Instinkt und ich fragte, wer 'sie' seien, da meinte sie nur, sie seien das Gefühl zweier Augen in meinem Nacken... Weißt du, was sie damit gemeint hat?"
"Ja.. ich fürchte ja. Thymian, Helen ist eine Spionin. Und so wie es sich anhört auch eine Doppelagentin. Nur, für wen arbeitet sie alles, frage ich mich.. Was hältst du von ihrem Geständnis?", wechselte der Oberleutnant abrupt das Thema. Der Rekrut zuckte ratlos mit den Schultern.
"Es kam ein wenig plötzlich. Ich fand es komisch, warum macht man so viel Geheimniskrämerei, wenn man am Ende doch alles preisgibt?"
"Du hast doch ihre Verletzungen im Gesicht gesehen. Das schien mir ganz nach einer Drohung von einer der zwei Parteien. Ich kann mir denken, dass man als Verräter nicht so gut dasteht. Verstehst du, was ich meine?" Daemon sah ihn abwartend an, doch Thymian konnte nur mit dem Kopf schütteln. "Sie ist ein Profi, durch und durch, die Sache mit dem Gift hat das nur gezeigt. Und sie ist Spionin, sie weiß, dass sie immer beobachtet wird. Trotzdem läuft sie durch die Straßen, dass ihr ein einfacher Gefreiter folgen kann, bricht hier am helllichten Tage ein, macht unnötig Lärm, so dass wir sie direkt erwischen müssen. Die ganze Zeit ist sie höchst professionell und urplötzlich verkommt sie zur Stümperin. Weißt du jetzt, was ich meine?"
"Sie.. sie wollte gefasst werden?", fragte Thymian ungläubig.
"Ja, sie hat Angst. Eine der beiden Parteien hat Helen verraten und als Verräterin lebt man nicht lange. Die drei Wachen dienen als Schutz, das war meine stillschweigende Gegenleistung für ihr bereitwilliges Geständnis.", erklärte Daemon und notierte sich noch etwas auf seinem Block. Dann erhob er sich und wartete bis Thymian ebenfalls aufstand.
"Aber warum hat sie sich nicht einfach gestellt?"
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir auf der Straße beobachtet wurden. Das war nur eine Schau für irgendjemanden. Ich frage mich, für wen genau." Der Oberleutnant ging zur Türe und öffnete sie. Draußen begann es bereits dunkel zu werden.
"Aber warum hat sie dann nicht drinnen im Laden gesagt, dass sie Schutzhaft will?" Daemon grinste, als Thymian die Frage stellte.
"Du weißt noch nicht viel über Frauen, hm? Stolz, Thymian, purer Stolz. Sie hätte niemals zugegeben, dass sie Hilfe braucht. Selbst jetzt noch, nachdem sie am Ende ist, Schau bis zuletzt. Ganz die Tänzerin unter der Hülle der Spionin. Oder umgekehrt." Daemon trat auf die Straße und sah noch einmal zurück, als er merkte, dass Thymian stehen geblieben war. "Was ist?"
"Du bist wirklich sehr schlau, Sir.", sagte er und kam nach. "Ich hätte das niemals alleine erkannt."
"Ich bin nicht viel schlauer, ich habe nur Erfahrung gesammelt."
"So, wie das Fallen vom Kunstturm?"
"Ja, aber es gibt auch Erfahrungen auf die man verzichten kann."
Der Abendhimmel legte sich über Ankh-Morpork, rote Strahlen der Sonne flossen durch die Straßen, spiegelten sich blass in den verdreckten Fenstern und strichen mit feuerrotem Glanz über die Schöpfe zweier Wächter, die gemächlich über eine Straße schlenderten. Wobei der größere mit erhobenen Kopf und durchgedrücktem Kreuz ging, während der kleinere wie ein freudig erregter Hund um seinen Kollegen hüpfte und tänzelte, euphorisch mit den Armen wedelte und lautstark erzählte.
"Und wie du das Verhör geführt hast, einmalig.", schwärmte er. Der andere Wächter winkte ab.
"In der Tat einmalig, da es dein erstes Verhör war dem du beigewohnt hast und du somit keine Vergleichsmöglichkeiten hast.", dämpfte er die Begeisterung des Jüngeren.
"In der Narrengilde gab es auch Verhöre.", erwiderte dieser eine Spur leiser. Die Wächter gingen schweigend weiter, vorbei an Geschäften, über größere Plätze auf denen sich noch die letzten schreienden Marktverkäufer befanden.
"Hast du deinen Winzdämonen noch?", fragte der größere Wächter unvermittelt.
"Äh ja, Sir." Der Rekrut namens Thymian Pech holte ein kleines Kästchen hervor und reichte es Oberleutnant Daemon. Dieser ließ mit einem Schnappen den Mechanismus aufspringen, holte einen winzig kleinen Dämonen mit einem dafür verhältnismäßig riesigem Auge und betrachtete das Wesen eingehend. Er hielt es sogar prüfend gegen das Licht, wendete es mehrmals, schaute-
Squieek!
Plitsch.
"Ups."
"Du hast meinen Winzdämonen zerquetscht!"
"Ups."
"Sieh ihn dir an, er ist tot, du hast ihn ermordet, sein kleiner Körper... sieh ihn dir an!", forderte Thymian etwas aufgebracht, wurde dann aber schnell wieder leise und hängte ein 'Sir' an den Ausruf.
"Ich seh ihn ja, es war ein Versehen, tut mir leid. Amer kleiner Kerl. Sein Geist weilt nun sicherlich in einer besseren Welt, extra für kleine äh Winzdämonen."
Puff!
Beide Wächter starrten auf Daemons Hand, wo bis gerade eben noch die Überbleibsel eines Dämonen gehaftet hatten.
"Nu-un..... ich nehme an, seinen Körper hat er gleich mitgenommen." Sie schwiegen eine Weile, Thymian schniefte in sein Taschentuch, die Glöckchen schellten leise. Schließlich wischte Daemon seine Hand an der Uniform ab. "Gehen wir."
"Wohin denn, Sir?"
"Etwas überprüfen. Ich hoffe, du weißt noch wie man ordentlich gräbt."
Die Sonne versteckte sich hinter der Mauer, das gelbe Haus lag im Schatten. Nur eine kleine Lampe stand einsam mitten im Garten, als wäre sie beim letzten Gartenfest vergessen worden. Sie beschränkte sich auf ein empörtes Flackern, jedes Mal wenn der Wind ihre Ruhe störte. Mittendrin ertönte ein Schaben, wie das Wegschaufeln von Erde. Dann ein leises Puffen; es klang ein wenig wie das Knallen von Sektkorken.
"Da, noch einer!" Erneutes Puffen.
"Ich hab auch einen, die verschwinden nur alle sofort."
Zwei Gestalten beugten sich über verschiedene Stellen in der Dunkelheit, Erde flog in hohem Bogen über ihre Schultern, nur ihre Rücken waren erhellt vom Schein der Lampe.
"Verflucht, warum verpuffen die denn alle? Verdammter Dreck!", fluchte der andere.
"Ich weiß auch nicht warum."
"Wir hätten Helen weiter ausquetschen sollen." Erde spritzte auf. Das Licht der Lampe warf kurz seinen Schein auf den Leib eines toten Kobolddämonen, der, kaum ausgegraben, auch wieder mit einem 'Puff' einfach verschwand. Hätten sie einmal den Kopf gewendet, hätten die zwei Gestalten zwei weitere Personen entdecken können, die eben ihre Köpfe über die Mauer schoben, kurz auf die Szenerie auf der anderen Seite starrten, um dann wieder leise zu verschwinden.
"Was treiben die da, Sir?", fragte eine Stimme leise. Der andere bedeutete ihm zu still zu sein und beide Personen entfernten sich schleichend, eine Schaufel jeweils geschultert. Als sie außer Hörweite waren, blieben sie stehen und schöpften Atem.
"Vermutlich das gleiche, was wir vorhatten.", antwortete der andere endlich.
"Können wir sie nicht festnehmen?"
"So? Das möchtest du? Dann geh hin zu ihnen und erklär ihnen das. Nein? Okay, dann werden wir etwas anderes machen. Rasch."
Thymian fragte sich, warum in letzter Zeit immer alles rasch gehen musste, aber vermutlich hatte der Oberleutnant einen guten Plan. Man hat immer einen guten Plan. Thymian versuchte sich den Spruch zu merken. Außerdem war er nicht wirklich darauf erpicht gewesen zurück zu gehen in den großen dunklen Garten zu den beiden finsteren Gestalten. Wenigstens der Pappmaskenmann war nicht dabei gewesen.
Sie liefen im Eilschritt durch die Gassen Ankh-Morporks, die Nacht war hereingebrochen, groß und bleich hing der Mond am Himmel und starrte auf sie herab. Zunächst hatte der ehemalige Narr mal wieder keine Ahnung wo sie hingingen, er hatte zwar solange er zurückdenken konnte, in Ankh-Morpork gelebt, aber immer nur hinter großen schützenden Mauern. Thymian schüttelte den Kopf. Er war eindeutig zu müde, seit heute früh war er ununterbrochen im Einsatz gewesen, dem Oberleutnant schien dies nichts auszumachen, aber Thymian hoffte im Stillen, dass das Wacheleben nicht immer so anstrengend sein würde. Er hob den Kopf, um den Mond nach seiner Meinung zu fragen... und entdeckte einen Salamander. Vielmehr das hässliche Abbild eines Salamanders auf einem dreckigen Schild.
"Was wollen wir bei ihm?"
"Eine Auskunft. Vielleicht auch zwei." Der Laden war natürlich längst geschlossen, was den Oberleutnant nicht daran hinderte, laut gegen die Türe zu schlagen und durch die Straße zu brüllen. "Aufmachen, im Namen der Wache!!" Irgendwo wurde krachend eine Fensterlade zugeschlagen, Stille herrschte in der Gasse, nur das Rascheln und Quieken von Ratten war zu hören. Daemon wollte und wollte nicht aufhören zu klopfen.
"Vielleicht ist er ja gar nicht da.", vermutete Thymian zaghaft, dem die Sache allmählich peinlich wurde, aber vermutlich brauchte man als Wächter ein wenig Taktlosigkeit.
"Er ist da, glaub mir. Der Kerl wittert doch ein Geschäft auf hundert Meilen gegen den Wind." Und wirklich waren nach einer geraumen Zeit Schritte zu hören, das Klimpern eines Schlüsselbundes war zu vernehmen, dann das Klacken, als ein Riegel weggeschoben wurde. Die Türe öffnete sich ein Spalt breit.
"Ich hoffe für euch, es ist wirklich wichtig. Der Nachtaufschlag, sage ich euch gleich, ist nicht gerade billig. Ich führe ein edles Geschäft.", erläuterte eine wispernde notorisch klingende Stimme. 'Ja, genauso edel wie du.', dachte Thymian. Eine glitschige lange Hand schob sich vor und öffnete die Türe gänzlich. Vor ihnen stand Thaddäus Hutt und blickte zu ihnen, ein hässliches Grinsen im Gesicht. Er hatte einen abgetragenen alten Kittel umgelegt, dazu eine zerschlissene Hose.
"Was wollt ihr also? Ich nehme an keinen Salamander, habe ich recht?"
"Du hast Recht, Herr Hutt. Wir brauchen eine Auskunft." Der Mann in der Türe nickte und versuchte gleichzeitig das habgierige Glitzern in seinen Augen zu verbergen.
"Die Preise für Auskünfte haben sich soeben leider verdoppelt, ich bedaure.", gab Herr Hutt gelassen zurück. Noch immer gab er den Weg in den Laden nicht frei, sondern klimperte stattdessen abwartend mit dem Schlüsselbund.
"Soeben erst? Was für ein Zufall. Nun, Herr Hutt.." Daemon hielt inne und ließ sich Zeit für den folgenden Satz. "Der Preis spielt keine Rolle." Und da veränderte sich etwas im Gesicht des Verkäufers. Er lächelte und seine gelblichen Zähne kamen zum Vorschein.
"Ah, ich liebe diesen Satz. Könntest du.. könntest du ihn noch einmal für mich sagen?" Der Oberleutnant verkniff sich ein Rollen mit den Augen, womit er erstaunlich viel Selbstbeherrschung bewies.
"Der Preis spielt keine Rolle." Die Wächter sahen Thaddäus Hutt abwartend an. "Zufrieden?"
"Ja ja, kommt doch herein... Freunde." Seine dunkle spitze Zunge kam zum Vorschein und er leckte sich fast begierig über die Lippen.
Im Geschäft war es so dunkel und dreckig wie bei ihrem letzten Besuch. Herr Hutt ging um die Theke herum und zu einem alten grauen Vorhang, den er ein Stück beiseite schlug, dann sah er wieder zu den Wächtern hinüber.
"Hier entlang, bitte.", forderte er und sie folgten ihm durch einen kleinen Flur in ein nicht viel größeres Zimmer. Überall waren Ikonographien aufgehängt, alte Apparate lagen auf Tischen und Stühlen. Herr Hutt räumte eine Sofaecke frei und fegte mit einer Handbewegung das Tischchen vor ihm leer. Zögernd setzten sich die Wächter, rostige alte Federn quietschten misstönend. Es roch nach viel Staub und alter Luft in dem Zimmer, so wie nach etwas unbestimmbaren... eine Art Geruch...
"Das kommt von den Ikonographen und den Malertöpfen.", erklärte der Verkäufer, der Thymians Schnüffeln bemerkt hatte.
"Aha. Also wegen der Auskunft...", begann Daemon. Herr Hutt wandte sich ihm sofort zu.
"Ja?", fragte er betont gelassen, aber der vibrierende Unterton von Neugier und Habsucht schwang unverkennbar darin mit.
"Was passiert mit Dämonen, wenn sie sterben?"
"Sie verpuffen und verschwinden wieder in ihre Dimension. War das alles? Kommt ihr extra wegen dieser Frage mitten in der Nacht zu mir?" Der Verkäufer schien ein wenig empört und seltsamerweise auch enttäuscht.
"Im Prinzip... äh ja. Wäre es möglich ihre toten Körper im Boden festzuhalten?" Herr Hutt überlegte eine zeitlang.
"Nun, es sollte gehen, aber beim Ausgraben werden sie höchst wahrscheinlich verpuffen. Nur warum sollte jemand so etwas tun?"
"Vielleicht als Hinweis..", murmelte Daemon leise. Thymian saß still daneben und nutzte die Zeit sich umzusehen. An der gegenüberliegenden Wand hing ein sehr großes Bild mit einer Gruppe Personen, die allesamt ausgesprochen hässlich, eklig, abstoßend oder in sonst irgendeiner Weise widerlich aussahen. Es stellte vermutlich den gesamten Hutt-Clan dar. Thymian schauderte bei dem Gedanken, dass es noch mehr von diesen Gestalten gab.
"Warum sollte man überhaupt Dämonen töten, wenn sie einem doch immerhin nützlich sind?", fragte der Oberleutnant.
"Ah, eine gute Frage." Thaddäus Hutt notierte sich etwas auf einem Zettel. "Die etwas kostet, aber ich denke über den Preis brauchen wir nicht zu reden oder?"
"Nein."
"Guuuuuuuut." Der Mann dehnte das Wort in die Länge, knackte geräuschvoll mit den Fingern und notierte sich wieder etwas. "Wenn man Dämonen tötet, kann das meist nur einen Grund haben. Man will unter keinen Umständen eine Kopie der gemachten Ikonographie, denn Dämonen besitzen für so etwas ein perfektes Gedächtnis, deswegen heißt es ja auch ikonographisches Gedächtnis. Kobolddämonen können jede Ikonographien, die sie jemals in ihrem Leben gemacht haben wieder reproduzieren."
"Verstehe, das erklärt einiges. Er war ein kluger Mann."
"Oh ja, das war er." Daemon sah Herrn Hutt misstrauisch an. "Äh, von wem auch immer du gerade redest.", fügte dieser schnell hinzu.
"Besitzt du wirklich keine Ikonographien von Victor Krunn? Oder Dämonen, die er dir zurückgab?" Thaddäus Hutt schüttelte den Kopf. "Schade, da kann man nichts machen. Trotzdem; du hast uns sehr weitergeholfen. Bis bald mal wieder." Daemon erhob sich und Thymian kam rasch hinter ihm her bis zur Türe.
"Einen Moment, was ist mit meinem Geld?"
"Geld? Sagte ich etwas von Geld? Ich glaube, ich erwähnte etwas von 'Der Preis spielt keine Rolle' Damit warst du doch einverstanden, wenn ich dich richtig verstanden habe oder, Herr Hutt?" Der Besitzer des Salamandergeschäfts beeilte sich zu nicken. Daemon holte einen kleinen Geldbeutel hervor, Herr Hutt streckte gierig die Hand aus.
"Da der Preis ja keine Rolle spielt, kann ich dir genauso gut einen Dollar als Entlohnung geben." Er öffnete das Säckchen und ließ eine einzelne Münze in die hohle Handfläche des verblüfften Verkäufers gleiten. "Habe die Ehre, es war ein Vergnügen mit dir Geschäfte zu machen. Komm, Thymian." Er zog den Rekruten am Ärmel, sie ließen den immer noch verdutzten Thaddäus Hutt stehen und gingen aus dem Laden.
Im finsteren "Salamander" stand Herr Hutt, starrte auf seine Hand. Es vergingen einige Minuten in denen er sich nicht regte, sondern nur schnaufend Atem aus seiner Nase entweichen ließ.
"Einen Dollar... einen Dollar...", murmelte der Mann in der Dunkelheit. Dann plötzlich schloss sich die Hand blitzschnell um das Geldstück, um verkrampft zu einer Faust zu werden, weiß trat die Haut hervor. "Niemand legt sich ungestraft mit einem Hutt an." Er blieb noch eine Weile so stehen, wippte auf seinen Füßen, lauschte. Hinter ihm kicherten zwei Dämonen. "Niemand.", sagte er in die Düsternis. Schließlich steckte er die Münze trotzdem ein. Hutts besaßen keine Würde. Hutts besaßen nur Geiz. Geiz und Geld.
Diese Nacht schlief Thymian unruhig, immer wieder wachte er auf, nass geschwitzt und lauthals keuchend. Er musste an den Fall denken, an Helen, an seine Zeit vor der Wache. Da war alles noch einfach gewesen, keine Verschwörungen, keine Männer mit Maske... gut, Männer mit Masken hatte es auch gegeben, aber die hatten nie Testamente von ihm gewollt, die er nicht besaß. Durch die Nacht drang ein langgezogener Schrei, dumpf und melancholisch, wie das Heulen eines einsamen Banshees. Thymian zog sich die Decke bis über die Nasenspitze und hielt die Augenlider fest zusammengepresst. Morgen wollten Oberleutnant Daemon und er den Notar besuchen und ihn zur Rede stellen. Thymian hatte keine Ahnung wie man jemanden zur Rede stellte, war sich aber sicher, dass der Oberleutnant darüber Bescheid wusste.
Er wiederholte leise murmelnd seine auswendig gelernten Witze bis er schließlich über "Na so was, na so was, na so was." einschlief.
"Ihr könnt da jetzt nicht rein." Die Sekretärin eilte mit trippelnden Schritten hinter den Wächtern her.
"Und ob wir können.", entgegnete Daemon und stieß die Türe zum Büro auf. Herr Türmichgut schreckte auf und stieß einen leichten Schrei aus. "Stadtwache Ankh-Morpork, wir hätten ein paar Fragen!", rief Daemon, in Thymians Ohren klang es eher wie 'Du bist verhaftet!' Nervös und aufgeregt huschte er mit ins Zimmer und wartete ab, was wohl als nächstes passieren würde.
"Was fällt euch ein-", fand der Notar seine Sprache wieder, erbost hob er seinen verbundenen Zeigefinger in die Höhe.
"Wo ist der Ordner Victor Krunn?", fragte Daemon ohne Umschweife. "Und keine Tricks, wir wissen über die ganze Sache Bescheid."
"Was, aber-?", begann Herr Türmichgut von neuem und erhob sich von seinem Stuhl, doch der Wächter ließ ihm keine Zeit zum Ausreden.
"Der Ordner Victor Krunn!", forderte er erneut und schritt die Regalreihen ab. "Aha, 'K', ist er das?" Daemon zog einen Ordner heraus und blätterte darin.
"Was soll das? Habt ihr einen Durchsuchungsbefehl?" Der Notar kam um den Tisch geeilt und wollte dem Oberleutnant den Ordner entreißen, doch Daemon hielt die Akte weit genug über sich und trat ein paar Schritte zurück.
"Bevor ich diesen Ordner öffne, hast du noch die Gelegenheit vorher ein Geständnis abzulegen und so mildernde Umstände zu bekommen."
"Ich habe mir nichts vorzuwerfen.", gab Herr Türmichgut zurück und nestelte an seinem verbundenen Finger, er sah blass im Gesicht aus. Hastig tupfte er sich mit einem Tuch Schweiß von der Stirn. Der Oberleutnant nickte und blätterte in dem Ordner, bis er gefunden hatte, was er suchte.
"Sieh mal an, das Testament von Herrn Unterpfand, wir haben es schon vermisst. Wie kommt das denn da rein?" Er sah den Notar an.
"Das muss ein Versehen gewesen sein. Ich weiß gar nicht, was ihr hier überhaupt wollt."
"Wir wollen Antworten. Warum wurden die beiden Testamente vertauscht? Hätte das nicht auch einfacher gehen können, wenn alle Welt Victor Krunns Ikonographien will?" Der Notar wich nach hinten, die Hände beschwichtigend gehoben.
"Was soll das? Warum mischt ihr euch in Dinge, die euch nichts angehen?" Seine Stimme bebte, wurde lauter, er stieß an die Ecke seines Schreibtisches.
"Weil das nun mal die Aufgabe der Wache ist."
"Ach, ihr steht doch auch alle unter dem Pantoffel des Patriziers! Jeder hier ist doch ein Intrigant und erzählt mir nicht, dass ich unrecht habe!", rief Herr Türmichgut aufgebracht. "Jeder ist käuflich! Es kommt nur auf den Preis an!"
"Wie hoch ist denn dein Preis? Wie lange arbeitest du denn schon für deine Organisation?" So wie der Notar ein Schritt hinter seinen schützenden Schreibtisch trat, so machte Oberleutnant Daemon eine Bewegung nach vorne. "Rede und wir garantieren dir ausreichende Schutzhaft."
"In der Stadt ist man nicht vor der Stadt sicher."
"Dann verschaffen wir dir einen Unterschlupf weit außerhalb von Ankh-Morpork, eine neue Identität." Doch der Notar schüttelte nur ausdruckslos den Kopf und trat noch weiter zurück bis er an das Fenster hinter seinem Schreibtisch stieß. Das Licht der Sonne spiegelte sich auf dem blank polierten Tisch, zeichnete für einen kurzen Moment die Konturen des Mannes nach.
Dann klirrten die Scheiben, Glas spritzte, ergoss sich über das Marmor und die Sonne sammelte sich glitzernd auf den einzelnen Scherben. Es knirschte, als die Stiefel des Oberleutnants an das Fenster heran traten. Frische Luft zog an seinen Haaren. Der Rekrut folgte, gemeinsam blickten sie auf die Straße unter ihnen.
"Weißt du, was schlimmer als der Tod ist?", fragte Daemon.
"Nein, Sir."
"Er muss es gewusst haben."
Die Tür öffnete sich und die Sekretärin steckte den Kopf in den Raum, sah sich um.
"Er hatte Paranoia.", sagte sie und schloss die Türe hinter sich. Die Wächter drehten sich zu ihr um. "Hat Verschwörungen und Verräter gesehen, wo keine waren. Dachte ständig, er würde beobachtet werden." Cynthia ging zum Schreibtisch und zog eine Schublade heraus. "Er änderte mit Spezialtinte die Testamente um und vertauschte sie, dachte wohl, ich würde das nicht bemerken." Sie wies auf ein großes Tintenfass, mehrere Federn und anderen unbekannten Schreibutensilien. "Hab nie verstanden, warum er das tat. Faselte dauernd davon, der Patrizier würde ihn beobachten und ich musste oft anderen genauso paranoiden Männern oder Frauen Nachrichten überbringen. Habe ich jetzt etwas falsch gemacht? Komme ich ins Gefängnis?" Sie nagte an der Unterlippe und sah zu den beiden Wächtern.
"Nein, ich denke nicht." Der Größere schüttelte den Kopf. "Hat er sonst noch etwas gesagt? Weißt du, mit wem er verkehrte?"
"Ja, da war ein Mann mit so einem komischen Pappding vor dem Gesicht, kam sich wohl besonders toll damit vor.", erzählte sie und drehte an einem ihrer Zöpfe.
"Hast du von dem den Namen erfahren? Weißt du, wo er wohnt?", hakte der Wächter nach. Cynthia schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
"Nun gut, immerhin etwas. Ich denke, du musst dir leider eine neue Arbeit suchen. Das Büro wird von der Stadtwache Ankh-Morpork vorübergehend abgesperrt bis alle Untersuchungen abgeschlossen sind."
"Ich arbeite eh nur für mich." Sie knabberte an den Fingernägeln. "Kann ich jetzt gehen?" Cynthia wich dem Blick von dem kleineren Wächter aus, der sie mit weit aufgerissenen Augen anglotzte.
"Einen Moment noch." Die Sekretärin war schon halb aus der Türe raus, als sie zurückgerufen wurde. Pflichtschuldig drehte sie sich um und sah zu den zwei Männern. "Hat Herr Türmichgut jemals Ikonographien erwähnt? Dass er welche sucht oder hat?"
"Nein, erinner mich nicht mehr. Bilder habe ich jedenfalls nie gesehen." Cynthia huschte aus dem Raum, eilte die Treppe hinunter und verschwand in dem Gewirr der Menschen, die sich um einen verdrehten Körper inmitten von Glasscherben drängten. Das Gesicht lag seitlich auf dem Kopfsteinpflaster. Die Augen waren geöffnet und starrten in eine unbestimmbare Ferne, sahen nur die Schuhe, Hosen- und Rockanfänge der Menschenmassen. Zwischen den Beinen hindurch, zwei dünne kleine Frauenbeine, die sich durch den Pulk schoben und zu rannen begannen sobald sie die unbelebtere Gegend erreicht hatten.
"Und nun?"
"Der Fall ist noch nicht zuende. Wenn wir nur eine einzige dieser Verschwörungen aufdecken könnten, nur ein wahres Geständnis erlangen könnten. Verdammt, noch nicht einmal der Pappmaskenmann ist zu erwischen."
"Ich glaube, das wäre möglich, Sir.", erwiderte Thymian. Daemon sah ihn fragend an und ganz langsam holte der Rekrut den weißen Kieselstein hervor. Da grinste der Oberleutnant.
"Verwenden wir also ihre eigenen Methoden."
***Das Ende***
Es klackte zweimal, als der Stein auf die Straße auftraf. Thymian zitterte in der Dunkelheit und wartete. Kleine Atemwölkchen bildeten sich vor seinem Mund, er schlang die Arme um seine Uniform und versuchte sich so wenigstens ein bisschen zu wärmen.
"Hast du also endlich begriffen?" Thymian fuhr herum und sah einen Mann im Schatten stehen.
"Wer bist du?", hauchte der ehemalige Narr.
"Es gibt immer einen Mann fürs Grobe." Die Person trat weiter auf die Straße. Das Gesicht war durch eine Pappmaske verdeckt. "Ich bin einer davon."
"Ich habe das Testament nicht.", platzte Thymian hervor. Ein Dolch schnappte aus seiner Fassung und blitzte im Mondlicht.
"Das ist... schlecht. Was willst du dann?"
"Für wen arbeitest du?", fragte der Wächter.
"Du bist hier nicht in der Position Fragen zu stellen.", herrschte der Mann zurück und trat näher auf Thymian zu. "Bürschchen, du lebst gefährlich. Weißt du das?"
"Herr Türmichgut ist tot, Helen festgenommen. Es ist vorbei."
"Du bist auch nicht in der Position zu bestimmen, wann es vorbei ist." Der Pappmaskenmann kam näher, sie waren nun nicht weniger als einen Handbreit voneinander entfernt. Er hob den Dolch. "Ich würde dich mir liebend gerne entledigen." Der Mann ließ die Waffe sinken. Thymian zuckte zusammen, aber nichts passierte. "Leider ist das gegen die Regeln."
"Gegen wessen Regeln?" Die Stimme des ehemaligen Narren bebte. Der Mann öffnete den Mund, sagte aber nichts, sondern kippte nur geräuschlos nach hinten, zuckte noch zweimal kurz und rührte sich dann nicht mehr. Entsetzt starrte Thymian auf ihn hinab und wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Auch dann nicht, als schon längst der Trupp versteckter Wächter durch die Straßen eilte und nach dem Schützen suchte.
Zwei Tage später
Verleihe ich im Namen der Stadt Oberleutnant Daemon für seinen unerschütterlichen Einsatz den beiliegenden Orden. Der Fall ist hiermit abgeschlossen. Die Kosten der Beisetzung der zwei verstorbenen Männer übernimmt die Stadt.
Gez. Lord Vetinari
Daemon starrte in die Flammen des Kamins, wo sich die letzten Überreste des Schreibens im Feuer wanden. Die Ecken kräuselten sich, wurden schwarz, schrumpften in sich zusammen und wurden schließlich zu bloßer Asche. Der Wächter ging zu dem Fenster, öffnete es und konnte gerade noch verhindern, dass seine Tasse hinunter fiel. Er nahm sie an sich und bemerkte die eingetrockneten Kaffeereste im Inneren.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass etwas die ganze Zeit über gefehlt hatte. Daemon setzte sich auf sein Bett und wartete.
"Der Patrizier hat nun Zeit für dich.", sagte der Sekretär und wieselte wieder davon. Unschlüssig ging Thymian zu der Türe, die man ihm zugewiesen hatte und trat nach seinem Anklopfen ein. Thymian senkte den Kopf und stammelte etwas von:
"Euer Excellenz..."
"Ich habe etwas von Herrn Weißgesicht für dich.", sagte Havelock Vetinari ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. Er saß an einem großen Tisch und hielt ein kleines Kästchen in den Händen. Ehrfurchtsvoll trat Thymian näher. Der Patrizier schob ihm das hölzerne Kästchen zu und Thymian beugte sich nach einem Nicken vor und öffnete es langsam. Als er sah, was in dem mit rotem Samt ausgeschlagenen Kasten in einer Einbuchtung lag, schnappte er erstaunt nach Luft.
"Das ist.. ich dachte man hätte es vernichtet."
"Nein, ich habe veranlasst, dass man es aufbewahrt. Herr Weißgesicht ist der Meinung, dass du es dir verdient hättest. Du kannst damit jederzeit in die Gilde zurück, wenn du möchtest. Man sagt, dir stünde dort eine große Karriere bevor." Thymian blickte auf das geschminkte Ei in dem Kästchen und schluckte. Sein eigenes Gesicht... "Natürlich kannst du auch in der Wache weiterkommen. Es steht dir völlig frei.", fügte der Patrizier hinzu. Thymian nickte und schloss das Kästchen.
"Danke, euer Excellenz, aber ich denke, das kann ich nicht annehmen. Man würde so etwas Bestechung nennen oder?" Er hatte die Worte gesprochen, noch ehe sein Verstand dies verhindern konnte. Vetinari sah ihn durchdringend an.
"Ich gebe dir nur dein Gesicht wieder. Ich erwarte keine Gegenleistung dafür. Das würde unter Bestechung fallen, da hast du vollkommen recht und ich nehme an, du hattest nicht vor so respektlos zu sein, da du eigentlich hergekommen bist, um mich um etwas zu bitten. Ist es nicht so?"
"Äh, zu bitten? Ich dachte.. also.." Thymian sah hilflos um sich. Ein Bote war zu ihm in Onkel Jeskos Kneipe gekommen und hatte ihn aufgefordert mitzukommen. Er war ganz und gar nicht freiwillig hier.
"Ich habe die Summe schon vorbereitet." Der Patrizier legte einen Beutel auf den Tisch. "Es ist auch nicht nötig mir das Geld zurück zu zahlen, irgendwann wird sich schon die Gelegenheit finden es geeignet zu verrechnen."
"Das äh Geld? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz." Thymian trat nervös von einen Fuß auf den anderen, die Blicke des Stadtoberhauptes verursachten allmählich stechende Kopfschmerzen.
"Die ausgeschriebene Kaution für Miss Helen. Ich habe gehört, ihr steht euch sehr nahe."
"Woher wisst ihr davon?", fragte Thymian ohne Nachzudenken. Der Patrizier faltete die Hände zusammen und wirkte unberührt.
"Ich weiß vieles, Wächter und Narr.", erwiderte er.
"Ich hatte Recht. Ihr.. ihr... seid wirklich wie eine Spinne und die Stadt ist euer Netz und wir eure Fäden und ihr braucht bloß daran zu zupfen und auf die Schwingungen zu hören, um zu erfahren was am anderen Ende des Netzes geschieht."
"Thymian." Der Patrizier lächelte dünn. "Es gibt nur sehr wenige, die je so offen zu mir gesprochen haben." Und noch wenigere, die auch davon berichten können, sagte er nicht. "Aber ich will nachgiebig sein, Thymian, denn dir war gar nicht bewusst, dass du so offen gesprochen hast. Ist es nicht so, Thymian?" Die dauernde Erwähnung seines Namens machte Thymian nervöser als alles andere.
"Äh ja, euer Excellenz." Er senkte ergeben den Kopf.
"Und jetzt nimmst du dir fest vor es dir zu merken und beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein, ist es nicht so?"
"Ja, euer Excellenz.", antwortete Thymian, der tatsächlich so etwas gedacht hatte.
"Gut... und nun nimm das Geld und kauf deine Angebetete frei."
"Sie ist nicht-", begann Thymian.
"Aber wäre es nicht schön, sie wäre es?"
Wolken sammelten sich am Himmel und zogen sich zusammen. Die Sonne verblasste. Kalter Wind rüttelte an den alten Fensterläden. Dann kam der Regen. Erste Tropfen streiften die Fenster und Dächer, flossen gluckernd die Regenrinnen hinab. Kleine Sturzbäche spülten die Gossen vom Dreck frei. Der Regen füllte auch Tropfen für Tropfen eine Tasse, die einsam auf dem Sims vor einem Fenster stand.
Den Mantelkragen weit hoch geschlagen rannte ein großer hagerer Mann durch den strömenden Regen.
Es war wieder alles beim alten.
E N D E
Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster
und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.