Die Nacht der lebenden Toten

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von Gefreite Kanndra (FROG)
Online seit 31. 10. 2002
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Warum gräbt jemand Leichen aus? Und was hat es mit dem heruntergekommenen Haus auf sich?

Dafür vergebene Note: 9

Die Schaufel fuhr knirschend in die feuchte Erde und ließ ihre Fracht neben dem Grab dumpf wieder fallen. Knirsch-bumpf, Knirsch-bumpf. Immer wieder.
"Beeilt euch ein bisschen. Mir ist irgendwie unheimlich." Die Hand mit der Laterne zitterte.
"Wir sind nachts -keuch- auf einem Friedhof und wir graben -keuch- zwei Leichen aus, da ist jedem -keuch- unheimlich. Du kannst mich ja mal ablösen."
"Hört auf zu quatschen und geht wieder an die Arbeit. Wir haben nicht mehr viel Zeit."

Kanndra Mambosamba, frischgebackene Gefreite, hatte vor ein paar Tagen ihren Dienst bei FROG angetreten und fühlte sich immer noch etwas fremd in der neuen Umgebung. Ihr Büro gefiel ihr allerdings schon besser als die Besenkammer bei GRUND und ihre neuen Kollegen hatten sie nett begrüßt. Außerdem war Bregs ebenfalls zu FROG gewechselt. Sie hoffte, es war kein schlechtes Zeichen, dass sie der 13. Wächter in der Abteilung war.
Doch heute war der Morgen vor einer besonderen Nacht. Durch ihr Dämonenerbe spürte Kanndra eine Unruhe, die sie immer an diesem Tag befiel. Die Durchlässigkeit zur Welt der Toten und Geister wurde noch höher als sie es sowieso schon war. Es war, als wollte etwas in ihr sich Bahn brechen, schaffte es jedoch nicht. Watwerbistdudenn machte die Sache auch nicht besser. Er quatschte fast ununterbrochen. Kanndra schüttelte sich. Irgendwas würde heute noch passieren, das spürte sie.
"Und dann noch dieser Traum heute Nacht."
"Was für ein Traum?" fragte Gold Moon, die gerade den Raum betreten und den letzten, laut ausgesprochenen Satz gehört hatte.
"Guten Morgen, Ma'am. Ach, ich habe geträumt, dass ich mich einen riesigen Käfer verwandelt habe. Aber nicht so wie sonst. Ich hatte gar keine Kontrolle darüber und konnte mich nicht zurückverwandeln. Und alle in der Wache haben sich vor mir geekelt und mich in meinem Büro eingesperrt. Muss an dem ganzen Neuen liegen."
"Mhmm, hört sich ja grässlich an. Doch nun an die Arbeit. Wir haben einen Fall. Heute Nacht sind auf dem Friedhof zwei Leichen ausgegraben und mitgenommen worden. Der Friedhofsgärtner hat Anzeige erstattet. Wir sollten uns das mal ansehen."

Der Friedhofsgärtner machte einen verängstigten Eindruck. Er schaute sich ständig über die Schulter.
"Das waren bestimmt nur die ersten. Jemand klaut meine Leichen, um ihnen etwas anzutun. Er will ihnen bestimmt etwas antun. Meine armen Herzchen..."
Gold Moon und Kanndra schauten sich an.
"Wie kommen Sie darauf?"
"Psst! Das ist eine Verschwörung. Ich darf Ihnen nichts darüber sagen", mit irrem Blick starrte er die Wächterinnen an.
"Ich glaube, dieser Beruf ist seinem Verstand nicht gut bekommen. Schauen wir lieber mal nach, ob SUSI was gefunden hat."

Larius schüttelte den Kopf.
"Das einzige, was ich sagen kann, ist, das es mehrere Personen gewesen sein müssen. Mindestens fünf. Es gibt einfach zu viele Spuren rundherum, um etwas Eindeutiges sagen zu können. Die Leichen wurden jedoch wahrscheinlich mit zwei friedhofseigenen Schubkarren abtransportiert. Ach ja, und das hier haben wir noch gefunden."
Kanndra besah sich den roten Stofffetzen.
"Ziemlich teurer Stoff. Seide würde ich sagen. Vico wüsste bestimmt auch noch von welchem Schneider er stammt", grinste sie.
Larius zuckte die Schultern.
"Du kannst ihn ja mal fragen."
"Aber warum sollte gerade jemand, der rote Seide trägt", sie warf einen Blick auf die Grabsteine, "Romeo Moderglue und Julia Kaputtler ausgraben?"

"Treibt es dich schon zurück an deine alte Wirkungsstätte, meine Liebe?"
Vico wedelte mit seinem weißen Spitzentüchlein.
"Ähmm, tja. Ich wollte dich etwas fragen. Bei unserem Fall könnten wir deinen fachmännischen Rat gebrauchen. Schau dir mal den Stoff an. Kannst du etwas Besonderes daran erkennen?"
Der ehemalige Schauspieler stieß einen spitzen Schrei aus.
"Und ob, meine Liebe. Und ob. Das ist ganz traumhafte Seide aus dem Achatenen Reich. Die vertreibt nur Karl Lagerregal in der Pfirsichblütenstrasse. Hach, wenn ich so darüber nachdenke, könnte ich glatt noch ein neues Hemd gebrauchen. Vielleicht in rosa..."
Kanndra überließ Vico seinen Träumen von einem Seidenhemd und machte sich gleich auf den Weg zu dem Schneider. Es war jedoch nicht so einfach, wie sie gedacht hatte, mit diesem ein Gespräch zu bekommen. Sie brauchte all ihre Überzeugungskraft und nur der Hinweis auf eventuelle Ermittlungen wegen Behinderung der Wache brachte sie schließlich weiter. Karl Lagerregal sah sie an als wäre sie ein besonders ekliges Insekt, das in seinen Laden eingedrungen war. Gleich musste Kanndra wieder an ihren Traum denken, verdrängte diesen Gedanken jedoch schnell wieder.
"Können Sie mir sagen, für wen Sie in letzter Zeit Kleidung aus diesem Stoff und in dieser Farbe geliefert haben?"
"Wir geben grundsätzlich keine Auskünfte über unsere Kunden."
"Herr Lagerregal, ich hatte Ihnen doch bereits erklärt, das die Behinderung der Wache bei Ermittlungen..."
"Na gut, ich schaue einmal nach. Ja, da wäre der Baron von Kieselstein und Herr Moderglue."

"Nehmen wir einmal an, Herr Moderglue hätte wirklich seinen Sohn ausgegraben. Wäre das dann überhaupt strafbar?"
"Gute Frage. Es kommt wahrscheinlich darauf an, was er mit der Leiche vorhat."
Die beiden Späherinnen waren gerade von einer erfolglosen Befragung desselben in die Wache zurückgekehrt und genehmigten sich erst einmal einen schönen Kaffee, wobei sie den Fall weiter diskutierten.
"Er hat beharrlich geleugnet, etwas damit zu tun zu haben. Der Fetzen Stoff reicht nicht, um ihm etwas nachzuweisen. Er könnte ihn ja auch bei einem Besuch auf dem Friedhof verloren haben", Gold Moon nahm einen Schluck Kaffee.
"Aber jetzt mal zu deiner Spezialausbildung. Heute Abend üben wir das unauffällige Eindringen in einen Raum", kündigte sie an.
"Heute Abend? Aber heute ist die Nacht der lebenden Toten..."
"Na und? Das ist doch eine gute Gelegenheit für ein wenig Träning."
"Und was für ein Raum soll das sein?"
"Lass dich überraschen. Übrigens, gehört das zufällig dir?"
Die Elfe zog ein kleines Lederbeutelchen aus ihrer Tasche, das Kanndra sehr bekannt vorkam.
"Habe ich gefunden", grinste sie, "Aber jetzt ruh dich erst mal ein wenig aus, damit du heute Abend fit bist. Wir treffen uns um zehn Uhr in der Esoterischen Strasse."

Nebel wallte über dem Ankh und Raben flatterten durch die Luft. Es war Nacht, eine sehr dunkle Nacht [1]. Es war die Nacht der lebenden Toten...
Überall auf der Scheibenwelt zogen Untote um die Häuser, betranken sich in der Bahre und anderen Kneipen und klingelten bei unbescholtenen Bürgern, um von ihnen Lebensmittel und Süßigkeiten zu erpressen. Das war ein alter Brauch und wurde vorzugsweise von den schon leicht Angetrunkenen ausgeübt. Weigerte sich ein Bürger, ihnen etwas zu geben, fand er am nächsten Morgen meist eine tote Katze oder einen abgetrennten Finger vor seiner Tür.
Kurz gesagt: heute Nacht gehörte die Scheibe ihnen.


Das Haus sah nicht besonders gemütlich aus. Einige Scheiben waren bereits kaputt und überall wucherten undefinierbare Pflanzen vor sich hin. Der Vorgarten war mit Müll übersät und hatte schon lange keinen Gärtner mehr gesehen.
"Da wollen wir rein?" Die angehende Späherin schaute skeptisch auf die vor sich hin gammelnde Ruine.
"Wir fangen zu Übungszwecken erst mal mit einem leer stehenden Haus an."
"Es sieht nicht besonders schwierig aus, in das Haus hineinzukommen."
"Hineinzukommen ist vielleicht auch nicht die Schwierigkeit. Aber du solltest eine Aufgabe nicht unterschätzen, auch wenn sie noch so leicht aussieht. Merk dir das!" war die etwas kryptische Antwort.
Kanndra sah sich das Haus noch mal genau an und konnte einen weiteren Schauer nicht unterdrücken. Ihr ungutes Gefühl verdichtete sich. In diesem Augenblick begann ein Sturm den Nebel zu vertreiben und um die Ecken zu heulen [2].
"Wem gehört es?"
"Die Stadt hat es von einem alten Geizhals ohne Erben bekommen. Im Grunde also Niemandem."
Kanndra wollte sich lieber nicht vorstellen, was Lord Vetinari von diesen Worten halten würde.
"Siehst du die Ratten? Wir scheuchen sie besser nicht auf, wenn wir uns dem Haus nähern. Halte dich mehr hier am Rand", wisperte Gold Moon.
Sie schlichen über den Rasen und wichen Müll und Nagern so geschickt aus, dass es ihnen gelang, die Hintertür ohne Zwischenfall zu erreichen. Von der Strasse war gelegentliches, fernes Grölen zu hören wie:
"Gib mir endlich mein Bein wieder, du dämlicher Vampir!"
"Holss dir doch -hick-, holss dir doch!"
Gold Moon holte eine Haarnadel hervor und begann damit das Schloss zu knacken.
"Als Späherin solltest du immer eine dabei haben. Sind äußerst praktisch, diese Dinger", grinste die Elfe.
"Ähh, gehen auch andere Nadeln?"
Dann betraten beide das Haus und begannen, sich umzusehen. Kanndra konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, als ein Spinnengewebe durch ihr Gesicht strich.
"Du siehst dich oben um, ich bleibe hier unten", befahl der Chief-Korporal.
Kanndra stieg vorsichtig die Treppe hinauf, die leise knarrte. Für einen Moment hielt sie den Atem an, doch nichts passierte. Nur der Sturm rüttelte an einem Fenster.
"Was sollte auch passieren, ist ja niemand hier", sie schüttelte den Kopf.
In dem Dämmergrau hier oben, das der Dunkelheit unten gewichen war, öffnete die Gefreite leise einen Schrank.
"Wenn ich bloß wüsste, was wir eigentlich suchen", dachte sie.
Dann schrie sie auf. Aus dem Schrank fiel ihr Charlotta entgegen, die Hände um ein Messer in ihrer Brust verkrampft. Eine Fledermaus flatterte ins Erdgeschoss, vermutlich durch den Schrei aufgeschreckt.
"Furchtbarrr", röchelte die Werwölfin.
"Um Offlers willen, was ist denn passiert?"
Doch Charlotta antwortete nicht mehr. Als Kanndra sich umdrehte, um nach Gold Moon zu rufen, hörte sie diese bereits einen grässlichen Schrei ausstoßen.
Schnell lief sie zur Treppe, wo sie beinahe über einen abgetrennten Arm stolperte. Sie war sicher, dass er zuvor noch nicht dort gelegen hatte. Aber sie hatte keine Zeit, um sich zu wundern
"Hilfe, Kanndra. Hilfe!", hörte man von unten rufen.
Als sie im Erdgeschoss angekommen war, packte sie von hinten eine Hand an der Schulter.
"Da würde ich nicht hineingehen", warnte Rogi Feinstich sie, die plötzlich vor ihr stand.
"Aber Gold Moon hat geschrieen und oben liegt Charlotta, sie..."
"Ich weif. Komm hier lang."
Die Igor war wieder im Dunkel verschwunden. Kanndra folgte ihr, doch nach ein paar Schritten fiel sie...

Würde sie jetzt TOD gegenübertreten? Oder ihrem Vater? Sah man in solchen Augenblicken nicht immer sein Leben an seinem geistigen Auge vorüberziehen?


...und landete auf ein paar Strohsäcken. Langsam dämmerte ihr die Erkenntnis, dass ihre Kollegen ihr einen ganz schönen Streich gespielt hatten. Da sah sie auch schon Rogi, Kamikhan und Gold Moon lachend auf sie zu kommen.
"Reingefallen! Herzlichen Glückwunsch, Kanndra. Deine Feuertaufe hättest du überstanden", grinste der Vampir. Charlotta kam ebenfalls um die Ecke und wedelte mit einem Trickmesser.
"Aus Aldi Babbas Wunderladen und dazu noch ein wenig von Schnappers extra scharfer Soße. Hier hast du übrigens deinen Arm wieder, Rogi."
"Ich hoffe, ihr habt ihn gut behandelt, er gehörte meinem Coufin Igor."

Ein sehr kleiner, sehr alter Gott schaute auf die Scheibenwelt und war entzückt, dass sich endlich wieder jemand an ihn erinnerte. Früher, da kannten ihn alle. Da war er ein sehr großer, ein sehr mächtiger Gott gewesen. Doch dann kamen diese neumodischen Jünglinge daher und nahmen ihm langsam, aber sicher seine Gläubigen. Sein heiliges Fest verkam zu einem Besäufnis. Aber jetzt schienen wenigstens einige wieder seiner zu bedürfen. Samhain nickte und beschloss großzügig, ihnen ihren Wunsch zu erfüllen.

Die FROG-Wächter wollten gerade den Keller verlassen, als sie auf zwei Schubkarren mit der Aufschrift "Friedhoff, Kuschelthierstrasse" stießen.
"Waren nicht die beiden ausgegrabenen Leichen mit Schubkarren weggebracht worden?" fragte Gold Moon.
"Ja, das sagte Larius. Wartet, ich glaube, ich habe etwas gehört."
Die Wächter gingen ein Stück den Flur hinunter.
"Dort drüben fällt Licht unter einer Tür durch", flüsterte Kamikhan.
"Schauen wir mal, was da los ist."
Sie spähten durch einen Türspalt und konnten kaum glauben, was sie sahen. Auf dem Boden lagen zwei Leichen, von denen hier und da noch Erde abbröckelte. Überall in dem Raum waren ausgehöhlte Kürbisse verteilt, in die jemand unheimliche Gesichter geschnitzt hatte und die von innen beleuchtet wurden. Sie tauchten den Raum in ein unstetes Licht. Um die Leichen, von denen eine männlich und die andere weiblich war, saßen etwa sechs Leute verteilt, die leise vor sich hin murmelten und...
"Was tun die da?"
"Sieht so aus, als würden sie die Leichen füttern. Igitt!" Gold Moon verzog das Gesicht. "Es scheint sich dabei um die Vermissten zu handeln."

"Wir...wir wollten nichts Böses. Die beiden", Heinrich Moderglue zeigte in Richtung der Leichen, "sind ein unglückliches Liebespaar. Der eine ist mein Sohn Romeo. Unsere Familie und die von Julia waren von jeher verfeindet. Also wollten wir es nicht zulassen, das die beiden heiraten. Aus Kummer darüber sind sie in den Tod gegangen. Heute Nacht wollten wir wiedergutmachen, was wir angerichtet hatten."
"Ich verstehe nicht ganz..."
"Wir haben zu Samhain gebetet, den alten Gott des Winters und des Todes. Er hat die Macht, Toten ihr Leben wiederzugeben. Gut, sie wären dann Zombies geworden. Aber sie hätten die Möglichkeit gehabt, ihr weiteres Leben miteinander zu verbringen. So, wie sie es wollten."
Gold Moon, die einige Zombies kannte, die nicht unbedingt einen unglücklichen Eindruck machten, nickte. Trotzdem nahm sie sich vor, die beiden Püschologen der Abteilung auf die Familien anzusetzen. Mehr konnte man hier wohl nicht tun.
"Nur aus Neugier: Wieso in diesem verfallenen Haus? Ich meine, ihre Villa ist doch groß genug...", mischte Kanndra sich ein.
Heinrich Moderglue wurde rot. "Wir, also die Moderglues und die Kaputtlers konnten uns schon wieder nicht einigen. Wir haben uns gestritten, in welchem Haus die Zeremonie stattfinden sollte. Dann hat Detlef Kaputtler dieses Haus hier gefunden. Es steht leer und ist nah beim Friedhof, also eignete es sich gut." Er seufzte.
"Aber es hat anscheinend nicht geklappt. Vielleicht ist Samhain schon zu lange vergessen und es gibt ihn gar nicht mehr."

Romeo und Julia setzten sich ruckartig auf, schauten sich verwirrt um und als sie sich bemerkten, zog ein Lächeln über ihre Gesichter. Dann standen sie auf und verließen Hand in Hand und ohne sich um die Anderen zu kümmern, das unwirtliche Haus in der Esoterischen Strasse.

[1] Trotzdem war Vollmond - ein narratives Gesetz

[2] Ebenfalls narrativ dringend notwendig




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