Memoiren eines mittelmäßigen Wächters

Bisher hat keiner bewertet.

von Spieß Harry (DOG)
Online seit 03. 10. 2002
PDF-Version

Eine Geschichte von einem Gnom und dem Traum, ein Held zu werden

Dafür vergebene Note: 14

"Du kommst hier nicht vorbei", sprach Freddy Frettchentöter mit fester Stimme und blickte der Todeskobra herausfordernd entgegen, das glänzende Schwert zum Angriff bereit. "Ich habe den Heldeneid geleistet, dieses Dorf vor allen Gefahren zu beschützen, und genau das werde ich tun."
Aus 'Freddy Frettchentöter und das Gift der Todeskobra'

"In dieser Stadt gibt's keine Helden."
'Kleiner Irrer' Arthur, Rattenfänger

"Im Prinzip ist diese ganze Einrichtung nichts anderes als eine vom Patrizier entwickelte Beschäftigungstherapie für Leute, die sonst zu einer Gefahr für die Menschheit werden würden."
Rince, Kommandeur der Wache



"Harry, du bist der dienstälteste und meistdekorierte Gnom in der Wache. Die Leser unserer 'großen Wache-Chronik' wüssten sicherlich gerne, wie du zu diesem Beruf gekommen bist."
"Oh, das ist eine lange Geschichte. Ich hoffe, du hast genug Zeit mitgebracht."
"Na klar. Moment, ich wecke nur schnell den Aufzeichnungsdämon."
*Zack*
"Autsch!"
"Also, ich war schon als... möchtest du Kaffee? Auf dem Tisch dort steht welcher."
"Danke."
"Wie gesagt, schon als kleiner Junge war es mein größter Traum, Abenteuer zu erleben..."


"Harry! Harrylein!" Wie aus weiter Ferne drang der Ruf an Freddy Frettchentöters Ohren. Aber er hatte keine Zeit, denn die Prinzessin war in Gefahr...
Nur mühsam fand Harry in die Realität zurück. Er war nicht Freddy, sondern nur ein kleiner Junge, und Freddy Frettchentöter existierte nur in dem Buch, das er gerade las. Er hatte die komplette Serie - sogar den ersten Teil "Freddy Frettchentöter gegen den Todesfalken" (und zwar eine Erstausgabe, keine der späteren Neuauflagen). Auf dem Einband jedes Buches stand unter dem jeweiligen Titel in etwas kleinerer Schrift der Text "Ein neues Abenteuer des Helden mit glänzendem Schwert und strahlender Rüstung".
Harry hatte all diese Bücher schon mindestens fünfmal gelesen, und als zwei Dörfer weiter einmal eine Laien-Schauspieltruppe "Freddy Frettchentöter jagt den Hummer mit den Todesscheren" aufgeführt hatte, hatte er so lange bei seinen Eltern gebettelt, bis sie ihn die ganzen drei Kilometer bis zu diesem Dorf fuhren.
Das Stück hatte Harry enttäuscht: Weder Freddy noch der Hummer sahen so aus, wie er sie sich vorgestellt hatte (das Schwert glänzte nicht, und der Hummer war nur ein rot angemalter Gnom mit Holzscheren an den Händen), aber hinterher war sein Entschluss, ein echter Held zu werden, noch fester als zuvor.
Jetzt jedoch steckte er seufzend das Lesezeichen in "Freddy Frettchentöter und der Schatz der Todeselster" und legte das Buch auf den Boden. "Ja, Mama, was ist denn?" brüllte er nach unten.
"Das Essen ist fertig, Harrylein!"
"Ich komme gleich!"
"Ach ja - und es ist Post von Arthur da!"
Sofort stürmte Harry los und rannte den Tunnel herunter, der sein Schlafzimmer mit der großen Wohnhöhle verband. Sein Vetter war sein großes Vorbild, so lange er zurückdenken konnte. Arthur wohnte in Ankh-Morpork - schon allein das war aufregend genug (von all seinen Büchern hatte er "Freddy Frettchentöter und der Todeskristall von Ankh-Morpork" mit Abstand am häufigsten gelesen). Aber außerdem war er Rattenjäger, und das machte ihn in Harrys Augen zu einem fast so großen Helden wie Freddy. Wenn Arthur Briefe nach Hause schickte (besser gesagt, wenn diese Briefe ankamen), war dies für Harry ein freudigeres Ereignis als jeder Geburtstag, und er las mit großen Augen die Berichte aus dieser fremden Stadt der Riesen und von den Heldentaten seines Vetters[1]. Manchmal träumte er davon, mit Arthur zusammen durch die unterirdischen Kanäle Ankh- Morporks zu ziehen, Ratten und andere Monster zu töten, Prinzessinnen zu retten und reich und berühmt zu werden.
"Junge, nicht so schnell!" begrüßte ihn seine Mutter mit missbilligend gerunzelter Stirn, als er aus dem Tunnel gestürmt kam. "Du brichst dir irgendwann noch einmal die Knochen!"
"Kann ich den Brief haben?" fragte Harry atemlos, ohne auf den Vorwurf einzugehen.
"Nichts da, zuerst wird gegessen. Kommst du, Paps?"
Harrys Vater, der wie gewohnt schweigend und pfeiferauchend in seinem Sessel saß, erhob sich und setzte sich stumm zu den anderen an den Tisch.
"Ich habe aber gar keinen Hunger", beschwerte Harry sich ungeduldig.
"Wenn es Essen gibt, dann wird auch gegessen. Den Brief gibt es erst, wenn du aufgegessen hast."
Das war das gewohnte Druckmittel seiner Mutter, und Harry wusste, dass er dagegen machtlos war. "Na gut..."
Seufzend machte er sich daran, das Essen so schnell er konnte herunterzuschlingen.

"...und da mein Vetter nach Ankh-Morpork gezogen war, hatte ich mich schon früh entschlossen, es ihm gleichzutun. Irgendwann, als ich alt genug war, war es dann so weit. Meine Eltern waren natürlich dagegen..."

"Das kommt nicht in Frage!" rief Harrys Mutter aus. "Ein Verrückter in der Familie ist schon schlimm genug, aber mein Sohn geht mir nicht in so eine götterverlassene Riesenstadt!"
"Lass ihn doch, wenn er will", entgegnete Harrys Vater mit der Pfeife im Mundwinkel von seinem Sessel aus und sagte damit mehr als sonst in einer gesamten Woche.
"Niemals! Du bleibst hier, heiratest ein hübsches Mädchen und machst uns zu Großeltern. Keine Hirngespinste mehr über Helden und Abenteuer!"
"Mama, ich bin erwachsen! Und ich habe mich entschieden: Ich ziehe nach Ankh-Morpork."
"Daran sind nur diese Briefe und deine Schundromane Schuld. Du wirst uns eines Tages noch ins Grab bringen!" Und, an ihren Mann gewandt: "Jetzt sag doch auch mal was, Paps!"
Harrys Vater grunzte eine unverständliche Antwort.

"...na ja, es sind ein paar unschöne Worte gefallen, aber irgendwann habe ich dann meine Sachen gepackt und bin losgezogen."

Alle vier Monate zog ein Konvoi mit Handelswaren aus dem Hügelland herunter nach Ankh-Morpork. Er brachte feinste Schmuckstücke, die beim Adel der Stadt wegen ihrer filigranen Machart besonders geschätzt waren, und kehrte mit der neuesten (Puppen-)Mode, Briefen der wenigen wagemutigen Gnome, die in der Stadt blieben, und ein paar Hundert Gramm Gold und anderen Metallen als Bezahlung und Rohmaterial zurück.
Allein der Anblick dieser Karawane hatte Harrys Herz früher höher schlagen lassen, und stundenlang konnte er den Berichten der Händler lauschen, wenn sie auf dem Dorfplatz von ihren Erlebnissen berichteten. Schon oft hatte er sich geschworen, eines Tages mit diesem Trupp mitzuziehen - aber jetzt, wo es so weit war, wurde ihm dennoch mulmig.
Seine Mutter hatte ihm eine riesige Tasche voll mit Proviant gepackt und sich tränenreich und mit tausend guten Wünschen von ihm verabschiedet, und sein Vater hatte ihm die Hand geschüttelt und zum Abschied tief in die Augen geblickt. Jetzt setzte sich der Treck in Bewegung, und Harry warf einen letzten Blick zurück auf sein Dorf und seine Eltern.
Der Zug bestand aus fünf Händlern, die aus verschiedenen Dörfern der Gegend kamen, noch einmal so vielen kampferprobten Geleitgnomen, die die Ware gegen Raubtiere verteidigten, und drei voll beladenen Mäusekarren und ihren Lenkern. Das Hügelland der Gnome lag am Rande der Sto- Ebene, für den Weg nach Ankh-Morpork brauchte der Konvoi bei gutem Wetter etwa einen Monat. Die meiste Zeit führte der Weg im Schutze von Unterholz entlang oder durch verlassene Fuchsbauten, nur gelegentlich musste man über offenes Terrain. Dann taxierten die erfahrenen Begleiter vorher minutenlang den Himmel, bis sie das Kommando "Los!" gaben, und alle über die Wiese scheuchten, während sie mit Pfeil und Bogen nach allen Seiten zielten und nach Gefahren Ausschau hielten. Manchmal entschieden sie auch, dass der Trupp erst nachts die Überquerung wagen sollte, dann wurde am Rande der offenen Fläche ein Lager aufgeschlagen.
Harry verbrachte den größten Teil der Reise damit, seine Freddy-Frettchentöter-Geschichten zu lesen (schweren Herzens hatte er aus Platzgründen nur seine drei absoluten Lieblingsbücher mitgenommen - eines davon natürlich "Freddy Frettchentöter und der Todeskristall von Ankh-Morpork"), und die Mitreisenden nach Berichten über diese fantastische Riesenstadt auszuhorchen.

"Ich reiste mit einer der Handelskarawanen, die regelmäßig aus unserem Hügelland nach Ankh-Morpork aufbrachen. Die Reise dauerte gut vier Wochen, und unterwegs lernte ich von den Händlern die ersten Brocken Morporkianisch."
"Und was war dein erster Eindruck von Ankh-Morpork?"
"Na ja, wie sagt man so schön? Ich war 'hin und weg'."


Von einer Anhöhe aus blickte Harry mit weit geöffnetem Mund auf die Stadt vor sich. Auf der Reise hatten sie aus einiger Entfernung gelegentlich eine Menschenbehausung gesehen, aber ihr Weg hatte sie immer in sicherem Abstand daran vorbei geführt. Für das, was er jetzt sah, gab es nur noch eine Beschreibung: Überwältigend.
Dicht an dicht standen Häuser, so groß wie Berge, umgeben von einer gewaltigen Mauer, in der sich ein riesiges, weit offen stehendes Tor befand. Etwas abseits vom Tor stand eine Gruppe von Riesen - es waren die ersten Menschen, die Harry in seinem Leben sah. Fast zehnmal so groß wie ein durchschnittlicher Gnom wirkten sie wie Fleisch gewordene Berge, und ihre seltsam helle und glatte Haut ließ sie noch unwirklicher erscheinen. Seine Augen glänzten bei dem Gedanken an all die Heldentaten, die er hier vollbringen konnte.
"Das sind die Händler dieser Stadt", klärte ihn einer seiner Mitreisenden auf. "Sie warten schon auf uns."

"Die Dörfer unserer Gegend hatten zu der Zeit ein Handelsabkommen mit Ankh-Morporks Händlergilde. Wie lieferten Schmuck und bekamen dafür Metalle und Kleidungsstücke - hochwertige Puppenkleidung aus feinen Stoffen war damals sehr gefragt bei uns. Diese Gelegenheit nutzten die wenigen in der Stadt wohnenden Gnome auch immer, um den Händlern Briefe nach Hause mitzugeben - und so traf ich meinen Vetter."

Harry versuchte zu verstehen, worum es in dem Gespräch zwischen dem Karawanenführer und dem Menschen-Chef ging, aber dafür reichte sein Morporkianisch noch nicht aus. Deshalb stand er etwas verloren herum und sah zu, wie um ihn herum die Karren be- und entladen wurden, als ihm jemand von hinten auf die Schulter klopfte. Er drehte sich um und stand einem schmutzigen, unrasierten und übel riechenden Gnom gegenüber.
"Sach ma, ich hab' hier 'n Brief", begann dieser, "könnt'ste den wieder mit nach... Harry???"
"Äh... Arthur?" fragte Harry zögernd.
"Das gib's ja nich! Der kleine Harry? Junge, was treibt dich denn hierher? Das letzte Mal, wie ich dich g'sehen hab', warst du noch so'n kleiner Knirps..."
"Ich... bin von zu Hause ausgezogen, um ein Held zu werden." Harry sah Arthur verwundert an. Er sah nicht so aus wie ein Held nach Art von Freddy Frettchentöter: Arthur trug weder ein glänzendes Schwert noch eine strahlende Rüstung, und in den Büchern stand auch nicht, dass Freddy so unangenehm roch.
"Ein Held? Hör zu, du Landei, in dieser Stadt gib's keine Helden. Hier gib's nur harte und schmutzige Arbeit."
"Aber du tötest doch Ratten, oder nicht?" fragte Harry verwundert nach.
"Ja, Junge, genau das sach ich doch."
"Könntest du mir das beibringen? Wir könnten gemeinsam auf Rattenjagd gehen!" schlug der Gnom aus der Provinz strahlend vor.
Arthur rollte mit den Augen. "So'n Landei wie dich kann ich so gut brauchn wie'n Ausschlag am Sack", knurrte er. "Aber ich nehm mal an, ich kann dich hier schlecht dem Schicksal überlassn - du gehörst immerhin zur Familie. Also, komm mit..."

"Arthur war hocherfreut, mich zu sehen, und willigte ein, mich in der Kunst des Rattenfangens auszubilden. Die ersten Wochen meines Lebens in Ankh-Morpork verbrachte ich also größtenteils in den unterirdischen Kanälen."

In "Freddy Frettchentöter und der Todeskristall von Ankh-Morpork" wanderte der Held durch ein Labyrinth aus Tunneln unter der Stadt, um ein uraltes dämonisches Artefakt zu vernichten. Mit keinem einzigen Wort wurde in diesem Buch allerdings der bestialische Gestank erwähnt, der in den Gängen allgegenwärtig war.
In Arthurs Wohnung, die etwas abseits vom "Hauptfluss" lag, war der Geruch noch erträglich und fiel nach einiger Zeit gar nicht mehr auf, aber sobald man die Wohnung verließ, musste man eine Nasenklammer tragen, um sich nicht zu übergeben.
Auch Arthurs Wohnung sah nicht gerade aus, wie Harry sie sich vorgestellt hatte. Freddy Frettchentöter hatte keinen festen Wohnsitz, weil er immer von einem Abenteuer zum nächsten zog, aber Harry zweifelte nicht daran, dass seine Wohnung sauber und aufgeräumt gewesen wäre - vielleicht mit einem hübschen Kleiderständer für das glänzende Schwert und die strahlende Rüstung.
Weder das eine noch das andere besaß Arthur, und sein Wohnraum - eine kleine natürliche Kammer hinter einer Mauer in der Kanalisation - war kaum mehr als ein schmutziges Loch, in dessen Ecken Rattenschwänze gestapelt waren. Je länger Harry dort wohnte, um so mehr kam er zu der Überzeugung, dass Arthur kein richtiger Held war. Nur die Tatsache, dass sein Vetter Ratten tötete - was ja definitiv eine Heldenaufgabe war - machte ihn nachdenklich, und er begann, Arthur zu drängen, ihn doch auf die Jagd mitzunehmen.

"Arthur brachte mir Morporkianisch bei - und im Gegenzug half ich ihm bei der Rattenjagd."

"Du Landei willst Ratten jagen? Das issn Job für Männer, nich für Milchbubis!"
"Aber ich bin ein Mann!" Harry sah seinen Vetter trotzig an.
"Na sicher. Hastu schonma 'ne Waffe inner Hand gehabt?"
"Nein, aber ich habe gelesen, wie man kämpft."
Arthur rollte mit den Augen. "Hör zu: Ich nehm' dich einmal - ein einziges Mal - mit, aber nur, weil du zur Familie gehörst. Danach wirste die Hose gestrichn voll ham und mitter nächstn Karawane heim zu Mutti fahrn."
"Nein, das werde ich nicht!" entgegnete Harry wütend. Ich bin mindestens ein so guter Held wie du. Du wirst sehen!"
"Mit Heldentum hat das nix zu tun, Milchbubi - und das wirst du bald sehen."

"Es stellte sich bald heraus, dass ich eine natürliche Begabung für die Rattenjagd hatte. Arthur war froh über meine Hilfe."

"Stich zu! Stich zu!"
Fauchend stürmte die Ratte auf ihn zu. Harry blickte starr vor Angst auf die monströse Kreatur und hielt Arthurs Messer vor sich wie ein Schutzamulett. Alle guten Ratschläge seiner Mutter fielen ihm wieder ein, und jetzt bedauerte er es, sie nicht befolgt zu haben.
Wie sollte er mit diesem kleinen Messer so ein Monster besiegen? Es war lächerlich. Er war eben doch nicht Freddy Frettchentö...
Etwas packte ihn und riss ihn zur Seite, so dass er unsanft auf den Boden fiel. Er hörte ein Fiepen, und sah, als er sich aufgerichtet hatte, wie Arthur die Ratte am Schwanz festhielt und so an der Flucht hinderte. Dann machte sein Vetter einen Satz über das Monster hinweg und verpasste ihm zwei Kopfnüsse zwischen die Augen, so dass es sich nicht mehr rührte.
"Gib mir das Messer, Landei!" Regungslos ließ Harry sich die Klinge aus der Hand nehmen.
Arthur krempelte sich die Ärmel hoch. "Pass auf, Junge, das wird gleich spritzen!"
Er hob das Messer und stach es der bewusstlosen Ratte mit aller Kraft ins Herz. Ein Schwall Blut spritzte aus der Wunde, aber Arthur zog den Arm so schnell zurück, dass er nur wenige Spritzer abbekam.
Harry betrachtete das alles wie durch einen Schleier. Ob Freddy Frettchentöter bei seinen Kämpfen auch immer Angst hatte, in wenigen Sekunden tot zu sein? Bei ihm gab es jedenfalls kein Blut, und auch der Gestank, der von der Ratte ausging, passte nicht ins Bild. Erst jetzt merkte er, dass er sich beim Angriff der Ratte in die Hose gemacht hatte - und das passte definitiv nicht ins Bild eines Helden. War es denn so schwer, einer zu sein? In den Büchern wirkte alles immer so einfach...
Arthur warf ihm einen kurzen Blick zu und zog dann die Ratte hinter sich her in Richtung Wohnung, ohne sich umzudrehen.

"Trotzdem fand ich dabei nicht die Erfüllung, die ich mir erhofft hatte. Ich wusste nicht, was es war, aber irgendetwas fehlte. Und dann... dann landete ich auf einmal mitten in meinem ersten Kriminalfall."

Seit vier Tagen hatte Harry Arthurs Wohnung nicht mehr verlassen. Sein Schlafplatz war eine kleine Kammer neben dem Hauptraum, die sonst zum Gerben von Rattenfellen genutzt wurde (und auch entsprechend roch, aber das machte ihm inzwischen nichts mehr aus). Nach dem Desaster mit der Ratte wuchs in ihm langsam der Verdacht, dass das Heldenleben deutlich schwerer war, als er es sich vorgestellt hatte - und zum ersten Mal überhaupt fragte er sich, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte. Arthur hatte ihn nicht auf das angesprochen, was vorgefallen war, und dafür war Harry ihm unendlich dankbar. Sein Vetter schien der Überzeugung zu sein, dass Harry den nächsten Konvoi wieder in Richtung Heimat begleiten würde, aber noch wollte dieser sich nicht geschlagen geben.
Während er grübelte, hörte er von draußen auf einmal Stimmen - und das war merkwürdig: Seit Wochen waren Arthur und die Ratten die einzigen anderen lebenden Wesen, die er gesehen hatte.
"Don Krimpik sagt, du sollst mitkommen", erklärte die eine Stimme gerade.
"Ich hab mit'm Don nix zu schaffn!" Das war Arthur.
"Nein, aber mit der Gilde." Eine zweite Stimme. Nicht so brutal wie die erste, sondern ölig und schmierig. "Und die Gilde hat Don Krimpik viel Geld gegeben, damit du ihr keine Probleme mehr machst."
Die Gilde. Arthur hatte in seinen Briefen oft von der Gilde geschrieben. Es waren menschliche Rattenfänger, die aus irgendwelchen Gründen etwas dagegen hatten, dass Arthur auch Ratten fing. Ab und zu hatten sie Schläger auf ihn angesetzt, aber Arthur hatte sie immer mit gebrochenen Kniescheiben nach Hause geschickt. Man sah es Gnomen zwar nicht an, aber sie konnten es durchaus mit einem ausgewachsenen Menschen aufnehmen.
Die Stimmen, die Harry jetzt hörte, kamen jedoch eindeutig von Gnomen, und nicht von Menschen...
"Der Don lässt sich von Menschn herumkommandiern? Wie armselig!" meinte Arthur spöttisch.
"Genug gequatscht", meinte die erste Stimme. "Nach dir, Luigi."
Schläge, ein Schrei, ein leiser Seufzer, dann das Geräusch einen Körpers, der über den Boden gezogen wird. Stille.
Zehn Minuten später traute Harry sich aus seinem Versteck.

"Mein Vetter wurde vom Gnomenkartell im Auftrag der Rattenfängergilde entführt. Damals wusste ich natürlich noch nichts vom Kartell, aber später als Wächter lernte ich es kennen. Der Don schickte einen ganzen Schlägertrupp - ich half Arthur, so gut ich konnte, aber schließlich wurde ich niedergeschlagen. Es waren einfach zu viele.
Als ich wieder zu mir kam, war Arthur verschwunden."
"Und was passierte dann?"
"Dann wandte ich mich an die Wache."


Zum ersten Mal seit Wochen stand Harry wieder im Freien. Es war früher Morgen, und die Sonne ging gerade erst auf. Der Gnom sah inzwischen kaum anders aus als Arthur: Er war schmutzig, unrasiert, trug zerschlissene Kleidung und stank wie eine Jauchegrube.
Lange hatte er unten in der Kanalisation darüber nachgedacht, was er tun sollte. Er wusste, dass er kein Held war - aber in "Freddy Frettchentöter und der Todeskristall von Ankh-Morpork" stand etwas über andere, über menschliche Helden. In dem Buch baten sie Freddy um Hilfe, weil sie es nicht schafften, den Todeskristall zu zerstören, aber vielleicht waren sie ja heldenhaft genug, einen entführten Gnom wiederzufinden.
Wenn er jetzt noch gewusst hätte, wo er diese 'Wächter' finden konnte...

"Ich hatte viel über Ankh-Morporks Wache gehört, und dachte mir, dass die Wächter mir sicher helfen könnten."
"Und, konnten sie das?"
"Na ja, nicht direkt..."


Harry hätte nie gedacht, dass es so schwer sein würde, Menschen auf sich aufmerksam zu machen. Er konnte brüllen und schreien, so viel er wollte, die meisten sahen sich nur einmal suchend um und gingen dann weiter. Erst als er aus reiner Frustration jemandem gegen das Bein trat, sah dieser nach unten - und reagierte dann so überrascht, als hätte er noch nie einen Gnom gesehen. Eine Stunde später war Harry auf einem Platz namens "Pseudopolisplatz" angekommen und stand vor der Tür des Wachhauses, in dem die Helden der Stadt wohnen sollten.
Die Tür erwies sich als unüberwindbares Hindernis - bis sie von innen geöffnet wurde und eine missmutig dreinblickende Menschenfrau mit einem großen Schirm in der Hand über ihn hinweg stürmte. Harry nutzte die Gelegenheit und schlüpfte in das Gebäude herein, bevor die Tür wieder zufiel.

"Was heißt 'nicht direkt'?"
"Nun ja, zunächst muss man sagen, dass die Wache damals in keinster Weise mit der heutigen Wache zu vergleichen ist."


Im Inneren des Gebäudes stand ein großer Schreibtisch, hinter dem ein unglaublich fetter Mann saß und eine Scheibe Brot aß. Der Raum sah aus, als wäre er schon lange nicht mehr gesäubert worden, und vor allem deutete der Staub auf dem Boden darauf hin, dass nur sehr wenige Leute hier ein und aus gingen.
Harry lief zum Schreibtisch und räusperte sich. "Hallo, Herr Wächter?"
Der fette Mensch stutzte, und versuchte, von seinem Platz aus über den Schreibtisch zu sehen, der Harry vor seinen Blicken verbarg. "Hallo... bist du ein Zwerg?"
"Nein, ich bin ein Gnom."
"Ein was?"
"Ein Gnom!"
"Nie gehört." Der Mensch wuchtete sich keuchend aus seinem Stuhl, der protestierend knirschte, um besser auf Harry blicken zu können[2]. "Ein Gnom? Was hast du denn in der Stadt verloren?"
"Meinen Vetter", entgegnete Harry, der mit morporkianischen Redewendungen noch nicht vertraut war. "Könnt ihr ihn finden?"
"Tut mir Leid, kleiner Mann", schmunzelte der Mensch, "aber die Wache ist für große Leute da. Also für Menschen, und - wenn wir gerade gut drauf sind - auch mal für Zwerge."
"Aber ihr seid doch die Helden hier?"
Der Mensch lachte laut auf. "Aber sicher. Wir sind die Helden der Stadt. Hör zu, kleiner Mann, ich weiß nicht, wo du das her hast, aber in dieser Stadt gibt es keine Helden." Harry stutzte - genau den selben Satz hatte auch Arthur verwendet. "Hier gibt es nur harte und schmutzige Arbeit - und Wege, sich vor ihr zu drücken." Er legte das angebissene Brot auf den Schreibtisch und nahm einen großen Schluck aus einem Becher mit heißer Flüssigkeit, der vor ihm stand. Der Becher verströmte einen betörenden Geruch, wie Harry ihn noch nie zuvor gerochen hatte.
"Aber ich dachte, die Wache würde Leuten helfen?"
"Pass mal auf, kleiner Mann: Wir sind hier acht Leute, und wir sollen uns um eine Million Menschen kümmern. Wenn jetzt noch ein Gnom dazu kommt, wird das langsam zu viel." Er griff wieder nach seinem Brot und biss herzhaft hinein.
"Nur acht Leute?" fragte Harry ungläubig.
"Ja, und jeder von uns ist froh, wenn er nicht arbeiten muss. Obwohl... du könntest mal Korporal Tod fragen. Der ist so ziemlich der einzige hier, der gerne arbeitet."
"Einer der Wächter heißt Tod? Der muss sich bestimmt ständig dumme Witze über seinen Namen anhören, oder?"
"Nein, eigentlich nicht", entgegnete der Mensch.
"Nicht? Fragen ihn die Leute nicht Dinge wie 'Wo hast du denn deinen Umhang und deine Sense gelassen'?"
"Nein", erwiderte der Mensch nachdenklich. "Er hat sie eigentlich immer dabei."
"Wie bitte?" Harry sah den Wächter an und versuchte, sich zu überzeugen, dass dieser einen Witz gemacht hatte.
"Er ist der Tod. Er meint, hier zu arbeiten, würde ihm helfen, die Menschen besser zu verstehen."
"Und er... ich meine... muss er nicht Seelen sammeln, und so?"
"Zeit scheint kein Problem für ihn zu sein."
"Also... das heißt, ihr könnt Mörder verhaften, bevor die Morde geschehen? Solche Sachen?"
"Nein, als Wächter hält er sich an die Regeln. Er sagt, alles andere wäre geschummelt." Er beugte sich nach vorne. "Hör mal gut zu, kleiner Mann. Außer mir sind hier in der Wache" - er zählte an seinen Fingern mit - "Astfgl, ein ausgestoßener Dämon aus der Hölle; Tod, eine ant... anthro... menschliche Personifizierung mit Menschlichkeitskomplex; Atera, ein Zombie dem ständig die Arme abfallen; Synthie, eine Art künstlicher Priester, der an alles glaubt, was man ihm sagt; Ptracy, eine ehemalige Wüstenprinzessin, und ein paar andere, die mindestens genau so verrückt sind. Im Prinzip ist diese ganze Einrichtung nichts anderes als eine vom Patrizier entwickelte Beschäftigungstherapie für Leute, die sonst zu einer Gefahr für die Menschheit werden würden. Wenn es anders wäre, hätte er uns schon lange aufgelöst. Außerdem hat von uns weder jemand Erfahrung mit Gnomen, noch würde sich jemand freiwillig für Gnome zuständig erklären. Ich wünschte, es wäre anders, aber so ist es nun einmal."
"Na gut." Harry wandte sich enttäuscht zum Gehen, als er sich noch einmal umdrehte: "Was trinkst du da eigentlich?"
"Das? Das ist nur Kaffee, wieso?"
"Kann ich mal probieren?"

"In welcher Hinsicht?"
"Vor allem war sie völlig unterbesetzt und unterfinanziert. Es fehlte das nötige Personal, um meinen Fall bearbeiten zu können."
"Und was tatest du dann?"


Der Mensch namens Rince war recht nett zu Harry. Er bemühte sich, ihm zu erklären, wie diese Stadt ohne Helden funktionierte - was es mit den Gilden auf sich hatte, und wie die Wache im Laufe der Jahre so klein und überflüssig geworden war. Außerdem schmeckte dieses Getränk namens "Kaffee" einfach großartig.
Rince hatte es ausdrücklich bedauert, dass die Wache nicht helfen konnte, aber seine Meinung hatte sich nicht geändert. Im Gegenteil, er war noch entschiedener, als er hörte, dass eine Gilde in die Angelegenheit verwickelt war: "In Gildenangelegenheiten darf die Wache sich sowieso nicht einmischen."
Jetzt stand der Gnom wieder vor dem Wachhaus und fragte sich, was er tun sollte. Ganz verstanden hatte er nicht, was Rince ihm über die Gilden und die Wache erzählt hatte. Es hatte viel mit etwas zu tun, das sich "Politik" nannte, und das war ihm viel zu komplex.
Aber eines hatte er begriffen: In dieser Stadt gab es keine Helden wie Freddy Frettchentöter. Es gab keinen, der ihm dabei hätte helfen können, Arthur zu retten - und das hieß, er war also auf sich allein gestellt.

"Ich tat nur das, was jeder an meiner Stelle getan hätte: Ich zog los, um Arthur auf eigene Faust zu befreien."

Was hätte Freddy an seiner Stelle jetzt getan? (Bei ihm waren es zwar meistens Prinzessinnen, die entführt wurden, aber das Prinzip, so hoffte Harry, war ja wohl das gleiche) In "Freddy Frettchentöter und der Schatz der Todeselster" hatte ein Verbrecherbaron die Prinzessin entführt, um ihr Amulett zu bekommen, in dem die Lage des sagenumwobenen Elsterhorts eingraviert war. Freddy hatte in der Schlafhöhle der Prinzessin einen Dolch gefunden, den der Handlanger des Bösewichts dabei verloren hatte, und mit dessen Hilfe hatte er von einem Verbündeten in der Unterwelt den Aufenthaltsort der Entführer erfahren und sich bis zum Verbrecherbaron durchgekämpft.
Wie konnte ihm diese Geschichte helfen? Er hatte keine Verbündeten in der Stadt, und er konnte schon gar nicht gegen eine ganze Verbrecherbande kämpfen. Aber vielleicht konnte er wenigstens eine Spur finden.

"Und wie bist du dabei vorgegangen?"

Nachdem er zwischendurch an der frischen Luft gewesen war, traf ihn der Gestank der Kanäle wieder mit der Wucht eines Schmiedehammers. Arthurs Wohnung war, wie er sie zurückgelassen hatte - leer und unordentlich. Im Schein einer Kerze suchte er den Boden ab, auf der Suche nach Hinweisen. Er hatte keine Ahnung, woran er einen Hinweis erkennen sollte, wenn er ihn sah: Bei Freddy Frettchentöter waren es meistens Schmuckstücke oder kleine Fetzen Pergament, manchmal auch ein Stück eines Mantels - aber nichts von alledem fand Harry hier. Nur das Messer, das Arthur bei der Rattenjagd benutzt hatte, lag in einer Ecke. Nachdenklich nahm Harry es in die Hand und setzte sich auf den Boden. Freddy hatte immer Spuren gefunden, egal ob es nun der Dolch des Entführers war oder...
...Fußspuren?
Er sprang auf und lief zum Loch, das Arthurs Wohnung mit dem Haupttunnel verband. Unscharf waren die Umrisse von Stiefeln im Schlamm zu erkennen, aber Harry konnte beim besten Willen nicht sagen, ob es die von ihm und Arthur waren, oder tatsächlich die der Entführer. Und dichter am Tunnel stand das Wasser sowieso einen Millimeter hoch und verhinderte so, dass Fußabdrücke entstanden.
Ein Quieken ließ ihn herumfahren: Von der anderen Seite des Tunnels näherte sich ihm neugierig eine wohlgenährte, braune Ratte. Ihre Schnurrhaare vibrierten leicht und sie sah ihm in die Augen, als wollte sie sagen "Komm, lass uns spielen!"
Harry schrie auf, drehte sich um und lief den Kanal so schnell er konnte in die entgegengesetzte Richtung herunter.

"Mein erster Anhaltspunkt war natürlich die Rattenfängergilde. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Gnome Arthur direkt zur Gilde gebracht hatten. Also entwickelte ich einen Plan, um ins Gildengebäude zu gelangen."

Erst als er wieder das Tageslicht sah, verlangsamte er seine Schritte. Dies war nicht der Weg, den er und Arthur immer genommen hatten, aber in seiner Panik hatte er nicht auf die eingeschlagene Richtung geachtet. Er hatte nur das Trippeln vieler Pfoten gehört, die ihn anscheinend alle verfolgten um in einem Moment der Unachtsamkeit zuzuschlagen. Wahllos war er deshalb in den Tunneln mal nach links und mal nach rechts abgebogen, bis er jetzt vor sich eine Öffnung sah, durch die helles Licht schien.
Erfreut lief er darauf zu, als sein Blick auf einen großen Holzkasten fiel, der im Tunneleingang stand. Er war quaderförmig und hatte etwa 30 Zentimeter Kantenlänge und eine Höhe von 10 Zentimetern, sowie eine kleine Luke an der Vorderseite. Bei dem wenigen Tageslicht, dass durch den Eingang schien, konnte er sich nicht sicher sein, aber irgendetwas befand sich darin.
Ihm fiel eine Szene aus "Freddy Frettchentöter gegen die Armee der Todestermiten" ein, in der Freddy auf der Suche nach einem mächtigen magischen Dolch war, und schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, als er im Wald zufällig über eine Schatulle stolperte, in der ein Hinweis auf die Lage des Dolches verborgen war. Manchmal traf man auf Spuren, wenn man gerade geglaubt hatte, die Lage sei aussichtslos...
Er legte sich vor dem Kasten auf den Bauch, um besser hineinsehen zu können. Was auch immer dort lag - es war klein und gelb. Es hätte ein Stück Pergament sein können, wie in "Freddy Frettchentöter und das Gift der Todeskobra"...
Er robbte in die Kiste hinein, um nach dem Objekt zu greifen...
...und hinter ihm fiel eine Klappe mit einem lauten Knall zu.

"Ich dachte mir, der schnellste Weg wäre sicherlich, sich in einer von den Rattenfallen der Gilde zu verstecken."
"War das nicht riskant?"
"Natürlich, aber in diesem Moment dachte ich nicht an das Risiko, sondern nur an Arthur."


Harry betrachtete das Stück Käse in seiner Hand. Was war das? Er war gefangen! Der Köder hatte ganz an der hinteren Wand gelegen, und er hatte nach vorne und hinten nicht mehr als fünf Zentimeter Spielraum. Aufrichten war bei der geringen Deckenhöhe ebenso wenig möglich.
Versuchsweise trat er mit dem Fuß kräftig gegen die Klappe, ohne dass diese nachgab. Er war gefangen - wie Freddy in "Freddy Frettchentöter und das Versteck des Todeshamsters". Nur dass es hier keine geheimen, halb verschütteten Gänge gab - und keine Wächter, die man überwältigen konnte, wie in "Freddy Frettchentöter gegen die Armee der Todestermiten".
Frustriert trommelte er gegen die Kistenwand. Nicht einmal umdrehen konnte er sich - der Platz reichte dafür nicht aus.
Er bemühte sich, sich zu beruhigen und nachzudenken...

"Und der Trick hat funktioniert?"
"Ja. Auf diese Weise gelangte ich in das Gildengebäude."


Harry schreckte hoch, als die Kiste sich bewegte. Anscheinend hatte die Erschöpfung ihn überwältigt... wie lange lag er schon hier? Stunden? Menschliche Stimmen unterhielten sich.
"Hier ist noch ein besonders fettes Exemplar."
"Pack sie zu den anderen. Aber sei sanft - Gimlet mag es nicht, wenn sie verletzt sind."
Er wurde hochgehoben und durchgeschüttelt. Kurz dachte er daran, um Hilfe zu schreien, aber seine Angst hielt ihn davon ab. Wer wusste schon, was diese Leute mit ihm machen würden, wenn sie ihn entdeckten?
Eine Weile ging das Rütteln weiter, dann lag er wieder still, wenn auch in einer etwas unbequemeren Position. Den Geräuschen nach lag er auf einem Pferdewagen, der jetzt losfuhr.

"Die Gildenmitglieder, die die Lebendfallen an den Kanaleingängen überwachten - das sind Fallen, in denen Ratten lebend gefangen werden, um sie dann zum Mästen an zwergische Feinschmeckerrestaurants zu verkaufen - packten mich mit den anderen gefüllten Rattenfallen zusammen in einen Sack und fuhren mich direkt ins Hauptquartier der Rattenfängergilde - genau, wie es mein Plan war."

Er hörte das aufgeregte Quieken von Ratten, das nervöse Scharren von Pfoten. Fieberhaft dachte Harry darüber nach, was er tun sollte. Wer waren diese Menschen? Was hatten sie mit ihm vor? Wo brachten sie ihn hin? Und vor allem: War Freddy auch schon einmal in einer derart ausweglosen Situation gewesen?
Ein echter Held hätte jetzt sein glänzendes Schwert gezogen und damit die Klappe aufgebrochen - aber er hatte kein Schwert. Obwohl...
...er hatte Arthurs Messer. Es steckte in seinem Gürtel, wo er es auf der Flucht vor der Ratte hingesteckt hatte. Er rollte sich auf die Seite und nahm es in die Hand. Ein Schwert wäre besser - heldenhafter - gewesen, aber ein Messer war besser als gar nichts. Jetzt gab es nur noch ein Problem: Um die Luke zu erreichen, musst er sich umdrehen - und dafür war der Platz verdammt eng.
Versuchsweise winkelte er das linke Bein an und drückte es gegen die Seitenwand. Sein Kniegelenk protestierte gegen die ungewohnte Beanspruchung. Er zog das zweite Bein hinterher und kauerte jetzt in einer unbequemen Embryonalstellung in seiner Falle. Trotzdem war er dem Ziel, sich zu drehen, kein bisschen näher gekommen. Er zog seine Schultern ein und versuchte, weiter zu rutschen, obwohl weder seine Knie noch sein Rücken ihm eigentlich den Platz dazu ließen. Die Enge und die Anstrengung ließen ihm den Schweiß ins Gesicht laufen.
Mit zusammengebissenen Zähnen quetschte er seine Schultern fester gegen die Wand, als er es für möglich gehalten hätte, und gab so seinen Knien noch ein paar Millimeter Platz zum rutschen. Die Lage war alles andere als bequem, aber über den kritischen Punkt war er fast hinaus. Es fehlten nur noch wenige Millimeter...
...aber die schaffte er nicht. Und zu allem Überfluss steckte er jetzt so fest, dass auch eine Bewegung in die Gegenrichtung unmöglich war - er war in der denkbar unangenehmsten Position gefangen.
Harry spürte, wie sich Tränen der Verzweiflung mit seinem Schweiß mischten. Nein, Freddy wäre nie in eine solch erbärmliche Situation geraten. Er schloss die Augen und versuchte, Kräfte zu sammeln, um einen erneuten Anlauf zu wagen.
Er schrak hoch, als seine Falle in Bewegung geriet: Anscheinend hatte der Karren angehalten, ohne dass er es gemerkt hatte. Stimmen waren zu hören: "Vorsicht!" - "Hier, nimm!" - "Hast du ihn?"; und wieder wurde er durchgeschüttelt.
Erneut versuchte er, sich das letzte Stückchen zu drehen, und spürte, wie seine Knochen protestierten. Viel fehlte nicht mehr, aber es passte einfach nicht. Sein Bein war zu dick - oder der Kasten zu schmal.
Unsanft wurde er auf den Boden fallen gelassen, und mit einem letzten schmerzhaften Ruck nahm sein Bein die letzte Hürde. Benommen von dem Sturz drehte Harry sich weiter, bis er endlich wieder gerade lag und seine schmerzenden Beine ausstrecken konnte. Stimmen und Schritte waren von draußen zu hören.
Harry stach mit dem Messer in den Spalt der Klappe und hebelte sie auf. Er lag in einem großen Sack, zusammen mit vielen anderen hölzernen Kisten, aus denen aufgeregtes und ängstliches Quieken zu hören war.
Gerade war er mühsam aus dem Kasten gekrochen, als eine Menschenhand in den Sack griff und einen der anderen Kästen herausnahm. Harry duckte sich, um nicht entdeckt zu werden.
Die Hand entfernte sich mit dem Kasten, und der Gnom kletterte aus dem Sack und sah sich um.

"Ich wurde in die 'Werkstatt' der Gilde gebracht; das ist eine große Halle, in der die gefangenen - lebenden und toten - Ratten gesammelt, sortiert und verarbeitet werden."

Er stand in einem großen Raum, in dem es von Ratten nur so wimmelte: Lebende Ratten in Käfigen, an den Schwänzen aufgehängte Kadaver, Rattenhäute, Rattenschwänze und ausgestopfte Ratten in allen Farben und Größen.
Mehrere Menschen waren damit beschäftigt, die Ratten aus den Holzkästen in einen großen Käfig zu stecken.

"Ich machte mich sofort auf die Suche nach Arthur."

Ich muss hier raus! war sein erster Gedanke. Dies musste die gefürchtete Gilde sein - und die war, wenn er Arthur richtig verstanden hatte, nicht gut auf Gnome zu sprechen.
Er versteckte sich hinter einem großen Karton und dachte nach.
Die Situation war dieselbe wie in "Freddy Frettchentöter gegen die Armee der Todestermiten": Er befand sich in der Festung des Gegners und suchte nach einem Ausweg. Freddy hatte sich den Panzer einer der riesigen Todestermiten umgeschnallt und so seine Gegner überlistet, aber auch das war wieder eine Taktik, die hier nicht funktionieren würde, denn schließlich konnte er sich schlecht als Mensch verkleiden. Immer mehr wurde ihm klar, dass Heldentum in der Realität viel schwieriger als in den Büchern war.

Der Raum war groß und hatte kleine, vergitterte Fenster knapp unterhalb der Decke - also unerreichbar für den Gnom. Er herrschte geschäftiges Treiben: Fallen wurden geleert, Rattenkadaver nach ihrere Größe sortiert und gewogen. Der einzige Ausgang war eine angelehnte Tür, zu der fünf schmale Treppenstufen führten. Um dorthin zu gelangen, musste er einmal quer durch den Raum laufen - und es gab keine Deckung.
Auf der Suche nach einer Eingebung sah er sich um. An einer Wäscheleine waren Rattenfelle zum Trocknen aufgehängt...

"Ich nahm mir eines der unverarbeiteten Rattenfelle, um mich zu tarnen."

Harry atmete tief durch und hoffte, das keiner hinsah. Mit dem Rattenfell über den Schultern betete er zu allen möglicherweise anwesenden Göttern und versuchte, seinen Herzschlag zu beruhigen - es pochte so laut, dass er Angst hatte, die Menschen könnten es hören.
Dann lief er, auf allen Vieren, los.
Einer der Rattenfänger stieß seinen Kollegen an: "He, Kurt - eine Ratte ist abgehauen!"
Der als Kurt angesprochene drehte sich um. "Das ist keine Ratte", rief er, als Harry anfing, die Treppenstufen heraufzuklettern. "Das ist so ein verdammtes Wichtelmännchen!"
"Was, noch eines? Das schnappen wir uns!"

"Dank meines Verkleidungstalentes schaffte ich es, den Raum unbemerkt zu verlassen."

Harry kletterte die letzten zwei Stufen hoch und schlüpfte durch die Tür, als die Rattenfänger, die in der Werkstatt arbeiteten, losliefen.
Auf der anderen Seite befand sich ein etwa sechs Meter langer Korridor mit Türen an beiden Seiten. Die Menschen in der Werkstatt kamen gerade die Stufen hochgelaufen, als sich eine der Türen am vorderen Ende des Flures öffnete und ein älterer, bärtiger Mann seinen Kopf hindurchstreckte: "Was ist das hier für ein Lärm?"
Harry nutzte die Gelegenheit, um ungesehen in den Raum dahinter zu laufen, bevor die Männer in Sichtweite waren.
"Wir haben noch ein Wichtelmännchen gesehen, Boss. Es ist hier hochgelaufen."
"Noch so ein Viech? Lasst die Katzen los, die werden es schon finden."
Der Gnom sah sich schnell um: Er stand in einem ziemlich protzig eingerichteten Arbeitszimmer, in dem das Rattenmotiv allgegenwärtig war. Rattenbilder zierten die Tapete, ausgestopfte Ratten standen in den Bücherregalen und auf dem Schreibtisch stand ein Briefbeschwerer in Form einer goldenen Ratte. Neben diesem stand ein Vogelkäfig...
...in dem Arthur steckte und verdrossen auf den Boden sah.

"Ich fand unentdeckt das Büro des Gildenleiters, wo mein Vetter festgehalten wurde."

"Alles klar, Chef."
"Gut. Dann lasst mich in Frieden."
Die Tür wurde zugeschlagen und Harry huschte schnell hinter einen Papierkorb.
"So, zurück zu dir." Der 'Chef' genannte drehte sich zu dem Gnom im Vogelkäfig um. "Wo waren wir? Ach ja... ich wollte dir ein Angebot machen, das - wie sagt man so schön - das du nicht ablehnen kannst. Die Gilde braucht... ähem... 'Männer' deines, wenn du mir das Wortspiel gestattest, Formats. Wenn du endlich bereit bist, bei uns mitzuarbeiten und deine Beiträge zu zahlen, dann kannst du dieses Gebäude als freier... äh... Gnom verlassen. Wenn nicht, dann bekommen unsere Katzen ein neues Spielzeug."
"Du kannst mich mal, Fettsack", kam die Antwort aus dem Käfig.
"Das war nicht die Antwort, die ich hören wollte. Aber vielleicht überlegst du es dir ja nach ein paar Minuten mit unseren Maskottchen anders."
Er war in den Privatgemächern des Bösewichts und musste den unschuldigen Gefangenen aus dessen Klauen befreien. Auch das war eine Situation, in der Freddy mindestens ein Dutzend mal gesteckt hatte. Meistens hatte er sein glänzendes Schwert gezückt und damit den Schurken besiegt - aber Harry zweifelte daran, dass er mit seinem Messer etwas gegen den Rattenfänger ausrichten konnte.
Freddy hätte jetzt für ein Ablenkungsmanöver gesorgt - ein Feuer gelegt, eine Glocke geläutet, oder etwas ähnliches. Nur dumm, dass er keine Streichhölzer hatte und auch im ganzen Raum keine einzige Glocke sehen konnte.
Andererseits konnte er seinen Vetter auch nicht einfach seinem Schicksal überlassen...

"Ich kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er vom Gildenleiter brutal gefoltert wurde - und ich wusste, ich hatte nicht mehr viel Zeit, um ihn zu retten. Also dachte ich mir einen waghalsigen Plan aus."

Ein Geräusch ließ den Gildenleiter aufhorchen. Es kam von seinen Bücherregalen. War der kleine Winzling etwa in sein Büro geflüchtet? Er stand auf, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Harry seufzte innerlich auf. Der alte "Stein-werfen-um-Gegner-abzulenken"-Trick, den Freddy in jedem zweiten Buch anwandte, hatte funktioniert. Er kletterte auf den Schreibtisch und drehte den Schlüssel - der glücklicherweise im Schloss steckte - um, als der Gildenleiter sich, vor den Bücherregalen stehend, umdrehte.
"Milchbubi?" Arthur sah auf und stieß die Tür auf. "Wie kommst du denn..."
"Was? Hiergeblieben!" Mit einem Satz war der Gildenleiter beim Käfig.
"Aus dem Weg, Landei!" Arthur riss Harry das Messer aus dem Gürtel und stieß ihn beiseite. "Das wird jetzt kein schöner Anblick für zarte Gemüter."

"Ich schaffte es, den Gildenleiter auszuschalten, und befreite danach Arthur, der von der Folter ziemlich mitgenommen war."

Harry wandte seinen Blick ab - es war wirklich kein schöner Anblick. Als er sich wieder traute, hinzusehen, lag der Gildenleiter am Boden. Arthur stand auf seiner Brust und hielt ihm sein Messer an die Kehle.
"So, Großer - wer ist jetzt am Drücker, hm? Und du wolltest mich den Katzen zum Spielen geben, ja?"
"Das war doch nicht so gemeint... ich..." Der Gildenleiter schluckte.
"Das will ich dir auch geraten haben", knurrte Arthur. "Also, ich würd' sagen, wir..."
"Äh... Arthur?" unterbrach Harry zaghaft.
"Nicht jetzt, Milchbubi. Ich muss mich um Geschäfte kümmern."
"Aber die Katzen..."
"Was?"
"Die Katzen sind hier!"
Zwei große Perserkatzen waren durch eine Katzenklappe in der Tür, die Harry beim Eintreten nicht bemerkt hatte, gekommen, und betrachteten die beiden Gnome fasziniert.

"Dann hetzten die Rattenfänger ihre Katzen auf uns."

"Verdammt!" Arthur wandte sich an den Gildenleiter: "Nochmal Glück gehabt, Großer." Mit einer gezielten Kopfnuss schickte er ihn ins Reich der Träume.
"Komm, Milchbubi." Er packte den vor Angst wieder einmal erstarrten Harry an der Hand und rannte mit ihnen in einem Bogen zur Katzenklappe. Eine der Katzen machte einen Satz auf ihn zu, und Arthur verpasste ihr mit dem Messer einen Hieb, so dass sie sich fauchend zurückzog.

"Mit Arthur an der Hand kämpfte ich uns den Weg frei... und schließlich standen wir draußen auf der Straße."

"Ich weiß nicht, wie du's geschafft hast, Landei, aber du hast mich wohl tatsächlich gerade gerettet. Bist wohl doch so eine Art Held... jedenfalls fast." Arthurs undurchschaubare Mine machte kurz etwas Platz, was beinahe ein Lächeln hätte sein können. Die Gnome waren durch die Katzenklappen in den Türen nach draußen geflohen und hatten einen ausreichend großen Sicherheitsabstand zwischen sich und das Gildengebäude gebracht.
"Nein, ich bin kein Held", wehrte Harry ab. "Ich weiß jetzt, dass es außer in Büchern keine Helden gibt. Die Realität ist viel zu kompliziert für Helden."
"Dann haste ja doch noch was gelernt", grinste Arthur. "Und, haste dich schon entschieden, ob du zurück ins Hügelland fährst oder nich?"

"Und dann entschied ich mich, zur Wache zu gehen. Ich wusste, dass die Wächter Verstärkung brauchen konnten - und vor allem, dass sich dort keiner mit Gnomen auskannte. Also dachte ich mir, ich könnte sicher eine wertvolle Bereicherung der Truppe sein."

"Nein, ich bleibe hier", entgegnete Harry. "Es muss hier doch einen Platz geben, wo man ein Dach über dem Kopf hat, etwas Geld verdient und vor allem keine Abenteuer bestehen muss."
Eine Erinnerung zog vor seinem geistigen Auge vorbei - die Erinnerung an einen Becher mit einem köstlichen, dampfend heißen Getränk, und an eine Gruppe von Leuten, denen jede Ausrede recht war, um nichts tun zu müssen.
"Ich glaube, ich werde Wächter."

"Das bist du auf jeden Fall. Danke für das Gespräch, Harry."
"Keine Ursache - es war mir ein Vergnügen."

[1] Seine Briefe lauteten meist wie folgt: "Hab fiele Ratten getötet. Hab zwei Schleger der Gilde verprühgelt. Alles Gute, Arthur"

[2] Nicht der Stuhl knirschte, um besser auf Harry blicken zu können, sondern... na ja, ihr versteht schon.




Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung