Fernweh

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von Wächter Araghast Breguyar (GRUND)
Online seit 03. 08. 2002
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Für Rekruten/Ausbilder:
In der Wache trifft die Nachricht ein, dass ein alter Mann in Seebutts "Die Bucht der Stürme"(siehe Archiv) an einer Fischgräte erstickt ist. Traurig, aber nichts besonderes, wäre da nicht seine Verwandtschaft, die sich um das bescheidene Erbe des Mannes streitet. Schlichte den Streit.

Dafür vergebene Note: 12

Mein Freund Julius sagte einmal, das Meer in seiner scheinbaren Unendlichkeit sei die beliebteste Projektionsfläche für verlorene Träume und verpaßte Chancen. Die weite, sich fortwährend wandelnde Oberfläche suggeriere eine Vorstellung von Freiheit, die mit nichts anderem zu vergleichen sei.
Zugegebenermaßen neigt der gute Julius dazu, sich ein wenig arg schwülstig auszudrücken, aber er ist ja auch Schriftsteller. Und im Grunde genommen hat er recht.
Das Meer ist eine einzige Verlockung.



Mein neues Leben als Wächter im Dienste der Stadt Ankh-Morpork hatte einiges in meinem Leben entscheidend verändert. Vor allem das regelmäßige frühe Aufstehen kam einem chronischen Langschläfer wie mir überhaupt nicht entgegen. Aber als Wächter mußte man einen gewisse Disziplin wahren und so quälte ich mich aus meinem warmen, kuscheligen Sarg, schmiß mich in die Uniform und schlurfte noch mehr oder weniger schlafend im typischen Wächtergang in Richtung Wachhaus in der Kröselstraße. Die leisen, metallisch scharrenden Schnarchgeräusche auf meinem Rücken ließen erkennen, daß Magnarox auch nicht wacher war als ich, was eigentlich ziemlich angenehm war- Wenigstens ließ es mich mit seinem Gejammer über diverse Kratzer, Scharten und andere Wehwehchen in Ruhe. Ich frage mich immer noch, wieso sich zwei Assassinen gegenseitig inhumieren ließen nur um an Magnarox zu kommen. Aber Habgier macht bei gewissen Personen nicht mal vor einem chronisch verschlafenen, hypochondrischen magischen Schwert Halt.

Mittlerweile ein wenig wacher (in anderen Worten im Halbschlaf) betrat ich das Wachhaus und schlurfte in Richtung des Büros, das ich mir mit meinem Mitrekruten Johann Wadenklotz teilte. Johann war bereits ein wenig länger in der Wache als ich und war daher anscheinend schon hinter die Vorzüge des Früh-Ins-Bett-Gehens gekommen. Sein Gruß kam mir jedenfalls erschreckend munter für sieben Uhr morgens vor. Ich brummelte eine Antwort, lehnte Magnarox, das immer noch vor sich hinschnarchte, an die Wand und ließ mich in meinen Stuhl plumpsen. Manchmal beneidete ich die Klinge. Sie konnte wenigstens schlafen wann sie wollte.
Ein Koboldkaffee weckte meine Lebensgeister wieder soweit, daß ich in der Lage war, mich mit meinem Schreibtisch zu befassen. Mißmutig betrachtete ich den Stapel Akten der sich auf meinem Schreibtisch türmte. Niemand hatte mich bei meinem Eintritt in die Wache gewarnt, daß neue Rekruten neben dem Streifendienst grundsätzlich erst einmal zur Aufarbeitung von alten Akten verdonnert wurden. Vermutlich hatte es etwas mit Abhärtung zu tun.
Seufzend griff ich nach dem obersten Hefter und blätterte ihn durch. Der Fall handelte vom entlaufenen Hündchen einer alten Dame das, wie sich am Ende herausgestellt hatte, lediglich in den Abort gefallen war. Sehnsüchtig dachte ich an das Exemplar von P. H. Kraftliebs 'Cthulhupalhulhu', das in der obersten Schreibtischschublade auf mich wartete.
In anderen Worten: Es war ein ganz normaler Morgen im Leben eines Rekruten.

Während meiner Zeit als Schiffsjunge und Matrose habe ich so ziemlich alle Länder der Scheibenwelt bereist. Normalerweise bewahre ich meine diversen Erinnerungsstücke in einer Seekiste in meinem Kellerloch auf, aber ein Stück trage ich immer bei mir: Mein Augapfel, Mein Lieblingsspielzeug, der kleine Kollegenreinleger für zwischendurch.
Die achatene Fingerfalle.
Von außen betrachtet sieht sie nicht besonders raffiniert oder gar gefährlich aus. Sie besteht aus einem 20 Zentimeter langen Metallrohr mit je einem Drachenkopf an beiden Enden. Aber das harmlose Aussehen täuscht. Schiebt jemand seine Finger in die weit geöffneten Mäuler der beiden Drachen, löst er einen Mechanismus aus, der dafür sorgt, daß die Finger unweigerlich festsitzen. Lösen läßt sich das Ganze nur mit einer ganz bestimmten Griffkombination an den Drachenköpfen. Und ich wäre schön dumm wenn ich sie hier verraten würde...
Auf dem Gegengewicht-Kontinent war die Fingerfalle zur Zeit der Zong-Dynastie Teil eines kleinen aber feinen Rituals am Hof des Sonnenkaisers. Diese Zeremonie wurde auch als 'Pung-Gings Hintertür' bezeichnet: Wurde ein Mitglied der königlichen Familie eines Verbrechens beschuldigt, legte man ihm die Fingerfalle an und gab ihm fünfzehn Minuten Zeit, sich daraus zu befreien. Gelang es ihm, war seine Unschuld bewiesen und er war frei. Gelang es ihm jedoch nicht, wurden ihm beide Finger abgehackt und der Prozeß gemacht. Inzwischen fand die Fingerfalle nur noch Verwendung in Schulen. Dort wurde sie gern zur Ruhigstellung wild herumzappelnder Kinder verwendet.
Oh je, ich schweife schon wieder ab. Wenn ich erst einmal angefangen habe zu reden... Na ja, egal. Zurück zum Wachhaus.

Mittlerweile war es Neun Uhr geworden und wenn ich genau hinsah konnte ich bereits feststellen, daß sich der Aktenstapel ein wenig niedriger geworden war.
"He, Wadenklotz!" rief ich zu meinem Bürokumpanen herüber.
"Ja?" Er sah auf, sichtlich glücklich über die Unterbrechung.
"Kleine Kaffeepause?" Ich winkte demonstrativ mit meiner Tasse.
"Oh ja! Gerne!" Wie der Blitz schoß Johann mit seiner Tasse in der Hand aus seinem Stuhl und gemeinsam begaben wir uns zum Kaffeedämonen, der bereits von unseren Mitrekruten Kanndra und Alberich belagert wurde, die sich im Nachbarbüro ebenfalls durch Berge alter Akten kämpfen durften.
"Hoffentlich fangen die Schießübungen bald mal an." stöhnte Kanndra. "Ich bin schon halb am Aktenstaub erstickt!"
"Damit wollen sie die Rekruten mürbe machen." vermutete Alberich.
"Genau den Verdacht habe ich auch." antwortete ich und verbrannte mir die Zunge am noch viel zu heißen Kaffee.
Johann grinste.
"Du bist zu gierig, Bregs." stellte er fest. "Du bist wohl zu sehr an die trinkfreundliche Temperatur von Blut gewöhnt."
"He!" sagte ich. "Ich mag zwar ein halber Vampir sein, aber ich habe noch nie im Leben etwas Lebendiges ausgesaugt, nur um das mal klarzustellen!"
"Tschuldigung" murmelte Johann. "Wir müssen uns halt erst ein bißchen besser kennenlernen."
"Schon gut," antwortete ich und versuchte einen freundlichen Blick, was sich mit nur einem Auge allerdings ein wenig schwierig gestaltete. "Die Ausbildung ist lang, wir haben also noch eine Menge Zeit."
"Ääh wenn wir gerade übers Kennenlernen reden, ich bin auch nicht in dem Sinne ganz normal..." warf Kanndra ein und errötete leicht.
Alberich winkte ab.
"Was ist schon normal?" brummte er.
"Vermutlich gar nichts." spekulierte Johann. "Jedenfalls nicht hier. Dieses ständige Schwarz macht mich noch ganz kirre."
In der Tat wirkte die Inneneinrichtung des Wachhauses und vor allem die in der Eingangshalle stehende Sense für neue Rekruten ziemlich irritierend. Zumindest bis auch ihm die Geschichte von Kommandeur Tod zu Ohren kam. Dann machte sie plötzlich Sinn. Allerdings hielt sich hartnäckig das Gerücht, die Sense stehe dort so sichtbar für alle, um die Rekruten daran zu erinnern, wie gefährlich die Stadt war und daß man doch besser auf sich aufpassen sollte. Nun, falls dieses Gerücht der Wahrheit entspricht, erfüllt die Sense ihren Zweck offensichtlich bestens: Jedenfalls habe ich bis jetzt noch nicht gehört, daß je ein Rekrut in der Grundausbildung ums Leben kam.
Eine vor meinem Gesicht herumwedelnde Hand riß mich aus meinen Gedanken.
"Bregs?" fragte Johann besorgt.
"Was ist denn?"
"Du starrst sein einer Minute an die Wand!"
"Wie? Oh." Die Wirklichkeit hatte mich wieder. "Hab nur gerade über die Inneneinrichtung nachgedacht und ob es stimmt, was man sich über die Sense erzählt."
"Wer weiß..." meinte Kanndra.
Der Pegelstand in unseren Kaffeebechern hatte sich unaufhaltsam dem Becherboden genähert, ein Zeichen dafür, daß wir uns in Kürze wieder über unsere Akten hermachen mußten. Als wir wieder zurück in unsere Büros schlurften, hielt Alberich mich noch zurück.
"Sag mal Bregs," fragte er, "Du hast doch dieses Schwert, von dem Johann felsenfest behauptet, es würde schnarchen."
"Ja, das kann nachts manchmal ziemlich nerven."
"Könnte ich es mir vielleicht nachher mal ansehen? Ich habe bevor ich in die Wache gekommen bin mit magischen Schwertern gearbeitet. Vielleicht kann ich was gegen das Schnarchen tun."
"Oh, das ist wirklich schön." freute ich mich. "Sag Bescheid wenn du mal Zeit hast. Aber sei gewarnt, die Klinge bildet sich dauernd irgendwelche Wehwehchen ein und tut das der Umgebung in allen Einzelheiten kund. Deswegen bin ich eigentlich immer froh wenn sie schläft."
"Wie hast du sie eigentlich bekommen?" wollte Alberich wissen. "Ich meine nur, magische Schwerter wachsen nicht auf Bäumen."
"Das ist eine ziemlich lange und verrückte Geschichte." erklärte ich. "Ich kann sie dir beim nächsten Tresendienst mal erzählen."
"Aber immer gern." antwortete der Zwerg und verschwand in seinem Büro.
Ich war verwundert. Wenn ich ihnen mit einem Schwank aus meinem Leben drohte ergriffen die meisten Leute automatisch die Flucht. Vermutlich weil sie meine Angewohnheit, dauernd abzuschweifen und mich in unnötigen Details zu verheddern, bereits kannten. Genaugenommen war Julius der einzige Mensch der mir überhaupt bis zum Ende zuhörte, und das vermutlich nur aus beruflichem Interesse. Aber nun schweife ich schon wieder ab. Sehen Sie, was ich meine?

Eigentlich war das Leben als Wächter gar nicht schlecht. Man hatte geregelte Arbeitszeiten, freie Tage, ein festes Gehalt und es war, trotz der Risiken, immer noch sicherer als ein Leben auf See, wo der nasse Tod einem jeden Tag drohte. Hinzu kamen ein Büropartner mit dem ich mich von ein paar Mißverständnissen abgesehen ziemlich gut verstand und mit meiner Ausbilderin hatte ich auch Glück gehabt. Sie war gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen und demnach auch wieder motiviert, sich mit dämlichen Rekrutenfragen herumzuschlagen.
Bis Elf Uhr hatte ich mich durch vier weitere Akten gewühlt, ein weiteres Kapitel aus 'Cthulhupalhulhu' gelesen, Johann die Fingerfalle vorgeführt bzw. seine Finger darin festgeklemmt und beschloß gerade, daß es mal wieder Kaffeezeit war, als es an der Tür klopfte und Fähnrich Irina Lanfear, ihres Zeichens Ausbilderin von Johann und mir, unser Büro betrat.
Wir sprangen auf und salutierten, wobei mir mein Buch vom Schoß rutschte und lautstark auf den Boden knallte. Ich zuckte zusammen und hoffte, daß Irina nichts gemerkt hatte, bloß leider schien sie ziemlich schnell hinter die kleinen Schliche ihrer Rekruten zu kommen.
"Steht bequem." sagte sie, bückte sich blitzschnell unter den Tisch und hob das Corpus Delicti auf.
"Soso." bemerkte sie, als sie ein paar Seiten überflog. "Ist es möglich, daß du dich ein wenig langweilst, Araghast?"
Ich grinste schief und wartete auf die offensichtliche Standpauke.
Aber der Fähnrich lächelte nur.
"Ich glaube, da kann ich abhelfen. So langsam wird es Zeit, daß du auch mal ein wenig praktische Erfahrungen sammelst."
Sie legte einen Fallaufnahmebogen auf meinen Schreibtisch.
"Eben hat sich jemand über Lärmbelästigung in der Heimlichen Gasse beschwert. Du gehst da jetzt hin und guckst nach was da los ist. Alles weitere steht hier drauf."
Sie wies auf das Blatt.
Ich salutierte erneut.
"Ja, Ma'am. Mach ich."
Irina klopfte auf den Rücken meines Buches.
"Und das hier," sagte sie, "Nehme ich erstmal mit. Du kannst es dir nach Dienstschluß in meinem Büro wieder abholen."
Sie nickte mir zu.
"Und Viel Erfolg."
Dann war sie, zu meinem Leidwesen mit meiner Lektüre, wieder verschwunden. Aber immerhin- Ich hatte meinen ersten Fall!
"Da hast du aber noch mal Schwein gehabt." bemerkte Johann und wandte sich wieder seinem Aktenstapel zu.
Voller Tatendrang schnappte ich mir den Aufnahmebericht, stürmte aus dem Büro- und rannte geradewegs in Korporal Sidney.
"Na na na, du hast es aber eilig..." kommentierte er.
"Ääh, Entschuldigung, Sir!" brachte ich heraus und salutierte rein reflexartig.
Sidney lächelte.
"Erster Fall?" fragte er.
"Ja Sir!" strahlte ich glückselig.
"Na dann gutes Gelingen." wünschte mir der Korporal und wandte sich zum Gehen.
"Danke Sir!" rief ich ihm hinterher und ging, nun um einiges vorsichtiger, durch die Eingangshalle.
Dort saß meine Mitrekrutin Arista Crinis gerade hinter dem Tresen und stritt sich mit einer Frau herum. Soweit ich es hören konnte ging es einen mutwillig zerstörten Regenschirm. Ich winkte ihr zu und trat nach draußen.

Das Studium des Aufnahmeberichts brachte schlagartige Ernüchterung: Es handelte sich bei der Ruhestörung offenbar um zwei Frauen, die sich schon seit geraumer Zeit in voller Lautstärke anschrieen. Und ich als armer kleiner Rekrut hatte die undankbare Aufgabe erhalten, den Streit zu schlichten. Mir graute allein schon bei der Vorstellung, zwischen zwei aus vollem Halse brüllenden walkürenartigen Gestalten eingeklemmt zu sein, die sich gegenseitig die Augen auszukratzen versuchten.
Schon von weitem konnte ich die Stimmen hören. Dort schien es ja wirklich heiß herzugehen.
"Er hat es mir aber versprochen gehabt!"
"Na und? Im Testament steht's aber nicht!"
"Er war immerhin zweiunddreißig Jahre lang mein Ehemann!"
"Na und? Er hat dir jedenfalls nichts vererbt."
"Ich habe aber das Recht darauf!"
"Hast du gar nicht!"
"Ach nein? Und du glaubst wirklich, daß ich diesem... diesem Fischkopf 500 Ankh-Morpork-Dollar so einfach überlasse? Er hat Erwin doch gewissermaßen auf dem Gewissen! Ich gehe zur Anwaltsgilde!"
"Schön, wenn du meinst, das Geld gleich wieder für einen Anwalt ausgeben zu müssen..."
"Es gehört aber trotzdem mir!"
Ich bog um die letzte Ecke und wie ich es mir ausgemalt hatte, keiften sich wirklich zwei, nun ja, kräftig gebaute Frauen durch ein Fenster in voller Lautstärke an. Um sie herum hatte sich bereits die übliche Gruppe von Schaulustigen gebildet. Die draußen stehende Frau schwang drohend ihre Handtasche.
"Ich gehe hier nicht eher weg, bevor du nicht mit mir zu diesem Herrn Seebutt gehst und erklärst, daß das ganze ein Mißverständnis war!"
"Vererbt ist vererbt, begreif es endlich, Eulalie!"
"Aber ich als Ehefrau habe das Recht..."
In meinem Leben hatte ich bereits einiges an gefährlichen Situationen überstanden und so manches Mal nur durch Zufall oder Glück (oder auch beides) überlebt. Aber dieses hier war schlimmer. Ein Sturm ist ein Sturm, da wußte man, woran man war. Aber zwei brüllende Furien, von der eine zu allem Überfluß noch mit einer überdimensionalen Handtasche bewaffnet war, waren völliges Neuland für mich.
Ich nahm meinem Mut zusammen, zog meine Dienstmarke und trat vor.
"Araghast Breguyar, Ankh-Morpork Stadtwache," sagte ich mit möglichst fester Stimme, "Ich habe hier eine Beschwerde über Lärmbelästigung vorliegen."
Die beiden Frauen starrten mich an als wäre ich der Patrizier persönlich. Dann deutete die sich im Haus befindende Frau auf die unter dem Fenster stehende.
"Sie hat angefangen!"
"Stimmt ja gar nicht!" beschwerte sich die Frau mit der Handtasche.
"DU bist hier aufgetaucht und hast rumgeschrieen!" ereiferte sich die erste wieder.
"Meine Damen," ging ich dazwischen, "Was halten Sie davon, wenn Sie die Diskussion im Haus fortsetzen würden?"
"Was mischen Sie sich da ein, junger Mann?" fauchte mich die Draußenstehende an und hob drohend ihre Handtasche.
Ich hielt ihr meine Dienstmarke direkt unter die Nase.
"Ah, Stadtwache." kommentierte sie und zog die Brauen hoch. "Nun, Sie können mir dann sicherlich helfen, an mein rechtmäßiges Erbe zu kommen."
Ich bezweifelte, daß ich es konnte, beschloß aber trotzdem, die Gelegenheit zu nutzen.
"Also gut," sagte ich, "Wenn wir ins Haus gehen und das ganze rekonstruieren, kann ich Ihnen vielleicht helfen."
Rekonstruieren. Ein schönes Wort. Ich hatte es vor ein paar Tagen von Charlie Holm aufgeschnappt.
Die Frau im Fenster schnaubte.
"Na schön, kommen Sie rein."
Sie ging zur Tür und öffnete.
Auf der Straße löste sich die Menge langsam auf. Sie hatten begriffen, daß das Straßentheater für heute vorbei war.

"Also, mein Name ist Eulalie Nachtigall, Witwe des verstorbenen Erwin Nachtigall." stellte sich die Handtaschenfrau vor.
"Und ich bin Ilse Nachtigall, Schwester des Verstorbenen." gab die andere zu Protokoll.
Mittlerweile hatte ich es geschafft, die beiden Frauen soweit zu beschwichtigen, daß sie am Küchentisch platzgenommen hatten.
"Und worum geht es jetzt genau?" fragte ich.
Die Witwe Nachtigall holte tief Luft.
"Mein verstorbener Mann hat im Laufe seines Lebens etwa 500 Ankh-Morpork-Dollar zusammengespart. Und nun hat er das Geld nicht mir, sondern so einem komischen Gastwirt vermacht, und das sehe ich nicht ein. Ich will mein Erbe zurück, was Ilse nicht einsehen will."
Ihr Gesicht war immer noch rot vor Zorn.
"Ich bin auch nicht glücklich damit, aber Testament ist Testament, Eulalie." warf Ilse ein.
"Waren Ihr Mann und der Gastwirt enger befreundet?" forschte ich weiter.
"Nun, Erwin hat im Hafen gearbeitet und ging nach der Arbeit meistens noch in diese Kneipe mit diesem komischen seemännischen Namen. Bei der Zeit die er da vergeudet hat muß er sich wohl mit dem Kerl angefreundet haben. Erwin war eh ein Trottel. Redete dauernd von Seefahrt und Abenteuern."
Frau Nachtigall kräuselte mißbilligend ihre Lippen.
"Und nun ist er in eben jenem Laden an einer Fischgräte erstickt. Und so einem Menschen vererbt er einfach mein Geld!"
Sie schnaubte.
Ich bat darum, mir das Testament ansehen zu dürfen. Es war korrekt, mit dem Stempel der Anwaltsgilde und allem.
"Tut mir leid, meine Damen," sagte ich, "Das Testament ist leider nicht anfechtbar. Alles was ich tun kann, ist mit dem Gastwirt zu reden. Wenn Sie so nett wären, mir den Namen des Lokals zu nennen?"
"Die Bucht der Stürme." sagte die Witwe Nachtigall knapp.
"Dann werde ich dort einmal vorbeischauen. Ich komme dann wieder vorbei und sage Ihnen, ob er bereit ist, Ihnen das Geld zurückzuerstatten."
Ich verabschiedete mich von den Frauen Nachtigall und machte mich auf den Weg zur 'Bucht der Stürme'.
Draußen lehnte ich mich erst mal an die Wand und atmete tief durch. Mittlerweile keimte in mir so etwas wie Verständnis für Herrn Nachtigall- Wenn ich solch einen Ehedrachen gehabt hätte, hätte ich das Heimkommen auch so oft wie möglich verzögert. Einen Erfolg hatte ich aber immerhin zu verbuchen: Ich war weder von den Frauen erdrückt worden noch hatte ich die vermutlich unter das Waffengesetz fallende Handtasche abbekommen.

Die 'Bucht der Stürme' befand sich in einer kleinen Seitenstraße unweit des Flusses und allein der Werbespruch über der Tür ließ schon das Schlimmste vermuten: Frischer Fisch aus dem Ankh. Nach meinen Erfahrungen schlossen sich diese beiden Begriffe gegenseitig aus. Aber dies war erst der Anfang...
Ich betrat das Lokal und wäre vor Entsetzen beinahe wieder rückwärts aus der Tür gefallen- Für jemanden der, wie ich, einen guten Teil seines Lebens auf See verbracht hatte, war die Innenausstattung einfach nur geschmacklos. Nur Menschen die noch nie in ihrem Leben die Planken eines Schiffes unter ihren Füßen gespürt hatten, konnten eine solche Anhäufung von geballter Geschmacklosigkeit als authentische Hafenkneipe bezeichnen. Eine richtige Hafenkneipe befand sich meistens in einem möglichst schalldichten Keller mit einer extrem leicht schwingenden Tür und so wenigen Möbeln wie nur möglich- Betrunkene Matrosen konnten aus so ziemlich allem eine Waffe improvisieren und mit singenden Fischen und falschen Seesternen, so wie sie hier an den Wänden hingen, hätte man durchaus eine Menge in dieser Richtung anstellen können.
Ich drängelte mich durch eine Gruppe Dockarbeiter zur Theke vor. Dort stand der Barkeeper und polierte das obligatorische Glas. Ich lehnte mich über die Bar und hielt dem Mann meine Dienstmarke unter die Nase.
"Araghast Breguyar, Stadtwache Ankh-Morpork. Ich hätte gern den Herrn Seebutt gesprochen."
Der Mann verzog das Gesicht.
"Das bin ich." sagte er. "Und ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich bin ein ehrbarer Wirt. Mit dem Einbruch ins Frachtlager Nummer 5 und den Löchern im Rumpf der 'Meerkuh' habe ich nichts zu tun, beim Klabautermann. Und ich weiß auch nicht, wer..."
"Schon gut, schon gut." beschwichtigte ich ihn. "Und das 'Beim Klabautermann' brauchen Sie bei mir nicht dauernd zu benutzen, ich bin lange genug zur See gefahren um zu wissen, daß solche Ausdrücke nur benutzt werden um Landratten zu beeindrucken. Alles was ich möchte ist etwas über einen gewissen Erwin Nachtigall. Er soll hier an einer Fischgräte erstickt sein."
Herr Seebutt nuckelte an seiner Pfeife und schien angestrengt nachzudenken.
"Nachtigall... Nachtigall..."
Plötzlich erhellte sich sein Gesicht.
"Nachtigall, das ist doch der Kerl der mir die fünfhundert Dollar vererbt hat. Ein komischer Kauz. Kam hier fast jeden Abend vorbei und wollte immer neues Seemannsgarn hören. Seebutt, sagte er einmal, eines Tages packe ich meine Sachen und heuere auf dem nächstbesten Schiff an. Und dann jammerte er stundenlang darüber, daß seine Frau ihn unterdrücken würde und am liebsten würde er gleich weglaufen und so weiter. Tja, und dann hat er sich letzte Woche ein Schlammaalgericht bestellt und ist an einer Gräte erstickt. Tja, so ist das Leben halt."
"Nun, Frau Nachtigall ist felsenfest überzeugt, daß das Geld ihr gehört." erklärte ich. Allein die Erwähnung von Schlammaal ließ mich schaudern. "Zu ihrem Bedauern ist das Testament aber unanfechtbar. Und ich glaube nicht, daß Sie sich freiwillig wieder davon trennen."
Herr Seebutt schnaubte.
"Was denkt diese Frau sich eigentlich? Vererbt ist vererbt. Und da können Sie auch nichts dran ändern, auch wenn sie zehnmal von der Stadtwache kommen."
"Das habe ich auch gar nicht vor." antwortete ich.
"Na dann, was wollen Sie dann noch hier?" fragte Herr Seebutt. "Ich habe Kundschaft zu bedienen und keine Zeit für dumme Fragen!"
Ich verabschiedete mich und ging. Ich hatte gehört was ich wissen wollte.

Langsam schlenderte ich zurück zur Wohnung von Fräulein Ilse Nachtigall. Ich hatte es nicht eilig. Herr Seebutt war unanfechtbar im Recht und mich beschlich das miese Gefühl, daß Frau Nachtigall ihre Wut darüber an mir auslassen würde. Schon sah ich vor meinem geistigen Auge die große, kastenförmige Handtasche auf meinen Kopf zusausen. Unterwegs macht ich mir so meine Gedanken.
Fernweh hatte Erwin Nachtigall immer wieder in die 'Bucht der Stürme' getrieben. Wenn jemand jahrzehntelang an den Docks arbeitete und täglich all die Dinge aus fernen Ländern sehen mußte, wünschte er sich vermutlich irgendwann, einfach auf dem nächsten Schiff anzuheuern und fortzusegeln, weg von all seinen Problemen, wie zum Beispiel keifende Ehefrauen mit schmerzhaft geschwungenen Handtaschen. Und ich wußte aus Erfahrung: Wen einmal die Sehnsucht nach dem Meer gepackt hat, der wird sie nie wieder los. Für Erwin Nachtigall aber war der Traum von der See nicht mehr in Erfüllung gegangen.
Gedankenverloren fiel ich in den Wächtergang und schob die Hände in die Hosentaschen.
Ich erinnerte mich an meine eigene Zeit auf See und dieses ganz besondere Gefühl das nur das Meer hervorrufen konnte: Wenn man ganz oben im Mastkorb stand und über das scheinbar endlose Wasser bis zum Horizont blickte, dann wußte man, was Freiheit war.
Plötzlich befand ich mich wieder komplett in der Realität. Etwas fehlte in meinem üblichen Tascheninventar. Etwas längliches, metallenes. Meine achatene Fingerfalle war weg!
Ich überlegte fieberhaft, wann ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Weder bei Nachtigalls noch im Lokal hatte ich sie in der Hand gehabt. Eine genauere Überprüfung der Hosentasche auf Löcher fiel ebenfalls negativ aus. Da gab es nur noch eine Möglichkeit: Ich mußte sie in meiner Vorfreude auf meinen ersten Fall auf meinem Schreibtisch liegengelassen haben.

So lange ich es auch herausgezögert hatte, schließlich stand ich doch wieder vor Fräulein Nachtigalls Haustür. Zaghaft klopfte ich.
Frau Eulalie riß schwungvoll die Haustür auf.
"Ah, der Herr von der Wache." sagte sie. "Na das hat aber lange gedauert."
"Nun, ich habe mit Herrn Seebutt gesprochen." erklärte ich.
"Und? Was ist nun mit meinem Geld"" fragte Frau Eulalie und verschränkte die Arme über ihrer Handtasche.
Ich schluckte.
"Es tut mir leid, Frau Nachtigall, aber Herr Seebutt ist nicht bereit, Ihnen das Geld zu überlassen. Allerdings gehört es auch rechtens ihm..."
-SWUUUSCH- -RUMMMS-
Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig. Wo ich eben noch gestanden hatte, schlug die Handtasche in der Wand ein.
"Un-er-hört!" tobte Frau Nachtigall. "Und so was schimpft sich Stadtwache! Schaffen es nicht einmal, einer alten Frau ihr rechtmäßiges Erbe zu verschaffen! Ein Haufen Stümper seid ihr!"
Sie holte zu einer neuen Attacke aus.
"Eulalie!" rief das Fräulein Ilse aus der Küche. "Jetzt reiß dich mal zusammen! Der arme Wächter kann doch nichts dafür..."
Den Rest bekam ich nicht mehr mit. Ich hatte auf meinen Selbsterhaltungstrieb gehört und die Flucht ergriffen.

Mit hängendem Kopf betrat ich das Wachhaus in der Kröselstraße.
"He Bregs, was ist los?" rief mir Arista von ihrem Platz hinter dem Tresen aus zu.
Ich schlurfte zu ihr hinüber und ließ mich auf einen freien Stuhl fallen.
"Nun, ich bin gerade mit Mühe und Not dem Tode entronnen." stöhnte ich.
"Oh." Arista war sichtlich erschrocken.
Ich grinste schief.
"Na ja, eine ziemlich wütende Alte wollte mich mit ihrer Handtasche verdreschen. Und ich dachte, als Wächter würde man respektiert."
Arista konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Dein erster Einsatz?" fragte sie.
"Ja." brummte ich düster. "Und ich fürchte, ich habe mich nicht gerade mit Ruhm bekleckert."
Arista klopfte mir auf die Schulter.
"Mach dir nichts draus. Schitt häppenß, wie man in Sto Lat sagt. Ach ja, und Fähnrich Lanfear hat vorhin gefragt, wann du denn wiederkommen würdest. Sie wirkte ein wenig... nun ja, genervt."
Ich schluckte. Konnte der Tag denn noch schlimmer werden?
"Na dann gehe ich besser mal hin."
Widerstrebend erhob ich mich und schlich in Richtung des Büros meiner Ausbilderin. Ich fragte mich was ich nun schon wieder vermasselt hatte.

Ich klopfte an.
"Herein" hörte ich Irinas Stimme.
Arista hatte rechtgehabt. Sie klang wirklich etwas gereizt.
Ich betrat das Büro und salutierte.
"Und, hast du Erfolg gehabt?" fragte der Fähnrich und lächelte dünn. Seltsamerweise hielt sie ihre rechte Hand unter der Schreibtischplatte verborgen.
Ich erzählte kurz, was passiert war, wobei ich meinen abschließenden unrühmlichen Rückzug wohlweislich verschwieg.
"Soso." sagte Irina. "Na das hört sich für den allerersten Fall ja gar nicht so schlecht an. Bis Morgen hätte ich dann gern den Bericht."
"Sicher, Ma'am." Ich atmete auf.
"Aber," fuhr sie fort, "Bevor du gehst, möchte ich dich noch um einen kleinen Gefallen bitten, Araghast." Sie legte ihre rechte Hand auf die Tischplatte. "Würdest du bitte dieses...Ding von meinem Finger entfernen?"
An jenem Tag schien ich wirklich alle Fettnäpfchen nördlich der klatschianischen Wüste zu beehren. Am Finger meiner Ausbilderin steckte meine vermißte achatene Fingerfalle!
"Oh je..." stammelte ich. "Wo haben Sie die denn gefunden?"
"Sie lag auf deinem Schreibtisch, Araghast. Ich habe sie mir angeschaut als ich dein Buch zurückgelegt habe und zack, steckte der Finger drin. Was ist das eigentlich?"
"Das ist eine achatene Fingerfalle." erklärte ich und griff den Drachenkopf an den richtigen Stellen. Mit einem leisen Knacken löste sich der Mechanismus und gab den Finger des Fähnrichs frei. Sie schüttelte versuchsweise ihre Hand.
"Danke." sagte sie kühl. "Ach ja, und bitte sei so nett und laß den Apparat nicht mehr öffentlich rumliegen. Wer weiß wer sich sonst noch darin festklemmt."
"Aber klar, Ma'am." versicherte ich. "Ich habe die Falle auch sonst eigentlich immer in meiner Hosentasche. Bloß vorhin muß ich sie in der Eile wohl vergessen haben. Es tut mir wirklich leid!"
Irina lächelte.
"Schon gut." sagte sie. "Mir sind bei Rekruten schon ganz andere Dinge untergekommen. Und nun sieh zu, daß du den Bericht heute noch fertigkriegst. Morgen wirst du keine Zeit dazu haben, denn morgen fängt das Schießtraining an."
Ich jubelte innerlich, salutierte und machte mich auf den Weg zum Büro, um Johann die frohe Nachricht zu überbringen. Endlich hatte der Tag mal etwas Erfreuliches hervorgebracht. Aktenstaub Ade!

Julius hätte gesagt, nur wer sich auch kleinen Momenten des Glücks erfreuen kann hat es verdient, irgendwann einmal auch das große Glück zu finden.



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