Deduktionen: Schnappers Würstchen

Bisher hat keiner bewertet.

von Wächter Charlie Holm (GRUND)
Online seit 28. 07. 2002
PDF-Version

Ein Gespräch über Logik, Schlussfolgerungen und... nun ja, Würstchen.

Dafür vergebene Note: 14

Bericht von Irina Lanfear

"Deduktionen?" fragte ich Charlie Holm, den neuen Rekruten, während ich mit ihm über das Pflaster des Breiten Weges marschierte. Ich gehe mit neuen Wächtern gerne die Streifen-Strecken ab und unterhalte mich dabei mit ihnen - auf diese Art lernt man sie kennen, während sie gleichzeitig etwas über ihre neuen Pflichten erfahren können. Charlie hatte gerade begonnen, mir von seinem Hobby zu erzählen.
"Schlussfolgerungen", erklärte er. "Im Grunde lässt sich sämtliche Polizeiarbeit doch auf das Auswerten und Aneinanderfügen von Spuren reduzieren. All diese Kämpfe und Verfolgungsjagden sind überflüssig, wenn man sich nur genug auf die Spuren konzentriert - und auf das, was sie aussagen."
"Spuren sagen aber eben nicht alles aus, was man wissen muss, um einen Täter zu finden", widersprach ich. "Es gehört viel Glück und einiges an Püschologie dazu."
"Nur, wenn man die Spuren nicht gut genug zu lesen versteht", konterte er, und ich meinte, einen Anflug von Arroganz in seiner Stimme zu hören. "Meiner Meinung nach findet man immer eine Spur, die einem alles sagen kann, was man wissen muss. Sei es ein Zigarettenstummel, ein Fußabdruck oder auch ein Satz."
Unsere Schritte hatten uns inzwischen zum Hiergibt'salles-Platz getragen, und Charlie kramte in seiner Tasche nach Kleingeld, während er zielstrebig auf einen Zeitungsverkäufer zuschritt. Auf dem Platz herrschte reges Treiben: Es war drei Tage vor Khabad'Duz, einem zwergischen Feiertag, und viele Zwerge aus dem Umland waren gekommen, um mit ihren Verwandten in der Stadt an einer der großen Paraden teilzunehmen. Wie immer um diese Jahreszeit verdoppelte sich dadurch die Zwegenpopulation der Stadt und für uns Wächter begann die Zeit, in der man täglich randalierende und betrunkene Zwerge[1] von Trollen herunterpflücken und in Ausnüchterungszellen stecken musste.
"Ein Satz?" fragte ich nach.
"Natürlich. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass man bei jedem Verhör anhand des Gesagten den Täter einwandfrei überführen kann."
"Nicht alle Täter sind so zuvorkommend, in einem Verhör die Wahrheit zu sagen", grinste ich.
Er warf mir einen verwirrten Blick zu, als hätte er den Sinn meiner Aussage nicht verstanden. "Das meine ich nicht. Auch in scheinbar unbedeutenden Nebensätzen können sich Unmengen an Informationen verbergen. Sag mir irgendeinen Satz von zehn bis vierzehn Worten, und ich konstruiere dir daraus eine Kette logischer Schlussfolgerungen, auf die du im Traum nicht gekommen wärst, als du dir den Satz ausgedacht hast."
Das Treiben auf dem Platz trennte mich kurz von dem Rekruten, während er sich dem Zeitungsverkäufer zuwandte und eine Times erstand. Ich sah, dass seine Lippen sich dabei weiterbewegten, als hätte er meine Abwesenheit in keinster Weise registriert. Dann steckte er die Zeitung in eine Tasche seines weiten Mantels und merkte schließlich, dass ich nicht mehr bei ihm stand.
Als wir uns unweit von Schnappers Würstchenstand im Gedränge wiedertrafen, sagte ich: "Wenn man so lange nur Äpfel gegessen hat, schmecken sogar Schnappers Würstchen gut."
"Das muss dann aber sehr lange gewesen sein", stimmte er geistesabwesend zu. Dann blieb er ganz plötzlich stehen und sah mich scharf an. "Wovon redest du eigentlich?"
"Es ist ein Satz, er hat dreizehn Worte." Ich wiederholte ihn und zählte die Worte an den Fingern ab.
"Und was soll das?"
"Du hast doch gesagt, dass du aus irgendeinem Satz von zehn bis vierzehn Worten..."
"Ach so." Er betrachtete mich argwöhnisch. "Wo hast du den Satz her?"
"Der ist mir plötzlich in den Kopf gekommen. So, nun fang mal mit deinen Folgerungen an."
"Ist das dein voller Ernst?" Seine blauen Augen glitzerten amüsiert. "Soll ich wirklich?"
"Fang schon an - oder gib zu, dass du Unsinn redest."
"Gut", sagte er ruhig. "Ich spiele mit. Hm, mal überlegen... Wie war der Satz? 'Wenn man so lange nur Äpfel gegessen hat, schmecken sogar Schnappers Würstchen gut.' Damit ist auf den ersten Blick nicht viel anzufangen."
"Es sind mehr als zehn und weniger als vierzehn Worte", wiederholte ich.
"Okay." Seine Stimme wurde lebhaft, während er in Gedanken das Problem erwog. "Erste Folgerung: Der Sprecher kennt Schnapper."
"Das erkenne ich an", sagte ich, "obwohl es eigentlich keine Schlussfolgerung ist. Es geht schon aus dem Satz hervor."
Er nickte ungeduldig. "Nächste Folgerung: Der Sprecher mag Schnappers Würstchen normalerweise nicht."
"Ich akzeptiere das, obwohl es ziemlich selbstverständlich ist."
"Die ersten Folgerungen sollten immer selbstverständlich sein", erklärte Charlie mit einem Anflug von Überheblichkeit in der Stimme.
Ich ließ es dabei bewenden.
"Nächste Folgerung: Der Sprecher befand sich lange - schätzungsweise mindestens drei Wochen - an einem Ort, an dem es nichts anderes zu essen gab als Äpfel."
"Das musst du mir genauer erklären."
"Wie lange müsstest du nichts anderes als Äpfel essen, damit dir Schnappers Würstchen gut schmecken? Ich meine nicht, dass du sie essen würdest, sondern dass sie dir auch noch schmecken? Ich denke, drei Wochen sind schon eine ziemlich konservative Schätzung."
"Unter normalen Umständen hast du damit recht", sagte ich. "Aber es gibt andere Möglichkeiten: Der Sprecher könnte auch über ein Ereignis reden, von dem er nur gehört hat, oder..."
"Ja", unterbrach Charlie sarkastisch. "Der Sprecher könnte auch ein Dämon sein, der sich gerade neue höllische Qualen für seine Opfer ausdenkt. Nein, ehe ich weitermache, müssen einige Voraussetzungen geklärt sein."
"Wie meinst du das?" fragte ich argwöhnisch.
"Vergiss nicht, dass ich diesen Satz aus dem luftleeren Raum nehme. Ich weiß nicht, wer ihn bei welcher Gelegenheit gesagt hat. Normalerweise gehört ein Satz in den Rahmen einer bestimmten Situation."
"Gut. Und von welchen Voraussetzungen möchtest du ausgehen?"
"Zunächst einmal möchte ich annehmen, dass es um keinen Scherz geht, sondern dass der Sprecher diese 'Apfel-Diät' tatsächlich gemacht hat. Und zwar nicht freiwillig, also aufgrund einer Wette oder etwas ähnlichem, sondern aus einem triftigen Grund."
"Das scheint mir sinnvoll zu sein", gestand ich ein.
"Dann möchte ich voraussetzen, dass dieses Ereignis in Ankh-Morpork stattgefunden hat - und zwar in der Gegenwart. Also in den letzten paar Wochen."
"Einverstanden."
"Schön, wenn du mir diese Annahme gestattest, dann musst du mir auch noch die letzte Voraussetzung - besser gesagt, meine Schlussfolgerung - genehmigen, nämlich die, dass der Sprecher mehrere Wochen lang nichts anderes als Äpfel zu essen hatte."
"Na schön. Mach weiter."
"Mit diesen Voraussetzungen können wir schon den Ort festlegen, an dem der Sprecher sich die ganze Zeit aufgehalten hat."
"Wie denn das?"
"Es gibt in der ganzen Stadt nur einen einzigen Ort, an dem - gerade jetzt im Herbst - so viele Äpfel gelagert werden, dass man sich von ihnen wochenlang ernäheren kann. Und dieser Ort ist die Knieweich-Destille."
"Die was?"
"Es gibt eine große Destille in der Stadt, in der um diese Jahreszeit fässerweise Äpfel aus dem Umland gelagert werden, aus denen dann Knieweich gebrannt wird. Vor einigen Monaten gab es darüber einen großen Artikel mit der Überschrift 'Größtenteils Äpfel' in der Times."
"Du liest viel Zeitung, oder?"
"Ja, natürlich. Es gibt keine bessere Informationsquelle."
"Und du sagst, der Sprecher hat sich in dieser Destille aufgehalten?"
"Ja. Wenn angeliefert wird, stehen die Tore praktisch rund um die Uhr offen, man kann sich also ohne Probleme im Keller verstecken. In der Zeitung war eine Ikonographie von dem Keller - wenn sich darin jemand versteckt, findet man ihn nie."
"Du meinst, er hat sich dort versteckt?"
"Ja, einen anderen Grund kann es nicht geben. Er kann nicht gefangen worden sein, da, wie gesagt, die Tore immer geöffnet sind."
"Und wieso versteckt man sich dort?"
"Dazu kommen wir gleich", wehrte Charlie unwirsch ab. "Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass kein anderer gewusst hat, wo der Sprecher sich versteckt - denn dieser andere hätte ohne Probleme die Gelegenheit gehabt, ihn mit anderer Nahrung zu versorgen."
"Einverstanden. Und vor wem sollte er sich verstecken?"
"Vor einer Person oder Organisation, in deren Macht es steht, so ziemlich die ganze Stadt rund um die Uhr zu überwachen. Sonst hätte er problemlos nachts herausschleichen können, um sich etwas Abwechslung auf den Speiseplan zu bringen. Einerseits weiß diese Gruppe oder Person nicht, wo er sich aufhält - sonst hätte sie ihn holen können - , aber andererseits hat sie, jedenfalls nach Meinung unseres Sprechers, genug Ressourcen, um die ganze Stadt auf der Suche nach ihm zu überwachen."
"Das klingt nach der einzigen plausiblen Erklärung", musste ich zugeben, "aber die Sache hat einen Haken: Eine solche Gruppe gibt es in der Stadt nicht. Selbst die Gilden haben nicht genug Leute, um die ganze Stadt zu observieren."
"Doch", widersprach Charlie, "eine schon."
"Welche?"
"Die Bettlergilde. Ich weiß nicht, wie viele Mitglieder sie genau hat, aber man findet in dieser Stadt doch Tag und Nacht an jeder Straßenecke einen Bettler, oder nicht? Und wenn eine andere Gilde all ihre Mitglieder zur Observierung der Stadt mobilisieren würde, würde das sicherlich auffallen. Nicht so bei den Bettlern, die so sehr zum Stadtbild gehören, dass sie meistens sowieso übersehen werden."
An die Bettlergilde hatte ich überhaupt nicht gedacht - wie die meisten Morporkianer dachte ich nur selten daran, dass auch die Bettler in einer Gilde organisiert waren. "Das gebe ich zu", sagte ich, "obwohl ich keinen Grund sehe, wieso die Bettlergilde so etwas tun sollte."
"Dazu kommen wir schon noch", prahlte er. "Aber zunächst ist die Frage: Wieso hat er sein Versteck verlassen?"
"Weil er es nicht mehr ausgehalten hat?" mutmaßte ich. "Irgendwann ist man bereit, das Risiko einzugehen."
Er sah mich leicht spöttisch an. "Wir hatten vorausgesetzt, dass das Ganze jetzt gerade stattgefunden haben soll, richtig?"
"Ja, wieso..."
"In drei Tagen ist Khabad'Duz, dann finden hier in der Stadt Dutzende von Paraden statt. Wenn unser Sprecher einfach nur raus wollte, hätte er sicher auf eine solche Gelegenheit gewartet, da diese die Gefahr einer Entdeckung minimiert, nicht wahr? Und drei Tage mehr hätte er sicherlich noch verkraftet. Die einzige sinnvolle Erklärung ist also, dass ein Ereignis eingetreten ist, welches ihn davon überzeugte, dass er nichts mehr zu fürchten hat."
"Und was für ein Ereignis?"
"Eines, das in der Zeitung steht."
Mein Gesicht muss pure Verständnislosigkeit ausgedrückt haben.
Mit einem lehrerhaften Tonfall in der Stimme setzte Charlie zu einer Erklärung an. "Pass auf: Wir wissen, dass der Sprecher es nicht im Voraus geplant hat, dass er sich verstecken muss - denn sonst hätte er sich ein vernünftiges Versteck mit genügend Vorräten anlegen können. Es ist also etwas passiert, womit er nicht gerechnet hat."
"Was hat das mit Zeitungen zu tun?"
"Es bedeutet, dass wir uns ziemlich sicher sein können, dass er nicht vorher ausführlich darüber nachgedacht hat, wie lange er sich verstecken muss. Da es außerdem, wie wir festgestellt hatten, keine Mitwisser gab, gibt es nur zwei Wege, wie er an die Information gekommen sein kann: Entweder ist dieses Ereignis allgemein bekannt und er wusste schon vorher, dass - und wann - es eintreten wird: In dem Fall steht es mit Sicherheit auch in der Zeitung." Er klopfte gegen die Manteltasche, in der er die Times verstaut hatte. "Oder aber er wusste vorher nichts davon. In dem Fall muss es erst recht ein Ereignis sein, über das in der Times berichtet wird."
"Wieso das?"
"Weil das die einzige Informationsquelle ist, die unser Sprecher zur Verfügung hatte. Wenn es keine Mitwisser gab, gab es auch keine anderen Informanten."
"So, so", meinte ich sarkastisch, und war aus einem unerfindlichen Grunde froh, endlich eine Lücke in der Argumentationskette gefunden zu haben. "Sich etwas zu essen zu holen traut er sich nicht, aber für eine Zeitung verlässt unser Sprecher auch gerne mal sein Versteck, ja?"
"Nein, natürlich nicht." Der belehrende Tonfall war wieder in Charlies Stimme zu vernehmen, und erneut überkam mich das Gefühl, dass dieser neue Rekrut mit Ironie fast so wenig anfangen konnte wie ein Zwerg. "In dem Artikel über die Destille schrieb der Reporter, dass die Kästen, in denen die Äpfel transportiert werden, aus Hügiene-Gründen mit Papier von alten Zeitungen ausgelegt werden. Das heißt, unser Sprecher bekam zwar nicht die neueste Ausgabe, aber immerhin immer die von vor ein paar Tagen, und zwar", er grinste, "im Abonnement frei Haus."
Wir waren inzwischen wieder vor dem Wachhaus an der Kröselstraße angekommen. Gewöhnlich endeten meine Streifen-Gespräche hier, aber ich hatte an Charlies Beweisführung Feuer gefangen und lud ihn ein, noch ein paar Minuten mitzukommen.
Als wir in meinem Büro saßen, fragte ich: "Also weiter, Charlie, was hat unser Mann verbrochen, damit die Gilde hinter ihm her ist?"
"Etwas, das für die Bettlergilde ein Kapitalverbrechen darstellt: Mord an einem Bettler, Diebstahl an einem Bettler, unlizensiertes Betteln... etwas in der Art."
"Ist die Gilde so rabiat zu unlizensierten Bettlern?"
"Natürlich! In der Times stand einmal ein Bericht, dass ein Mann verschwunden ist, nur weil er an einer Mauer sitzend eingeschlafen ist und ein Windstoß ihm seinen Hut vom Kopf und vor die Füße geweht hat. Die Gilde hat das wohl missverstanden. Es gibt bei ihnen zwar keine 'Eingreiftruppe', wie bei der Näherinnen- oder der Musikergilde, aber in solchen Fällen sind alle Mitglieder gemeinsam für die Bestrafung zuständig."
"Aber Mord an einem Bettler, oder ein anderes Kapitalverbrechen, welches die gesamte Gilde gegen ihn aufbringt, kann wohl kaum wieder ungeschehen gemacht werden. Das heißt, unsere Person hätte keinen Grund zu der Annahme, dass sie wieder in Sicherheit wäre."
"Genau. Deshalb wird es etwas gewesen sein, dass auf die Gilde zwar wie ein solches Kapitalverbrechen gewirkt hat, aber dennoch keines war. Ich denke, eine zulässige Folgerung wäre, dass unser Mann etwas getan hat und dabei von einem Bettler beobachtet wurde, der die Tat für ein solches Verbrechen hielt und den Rest der Gilde alarmiert hat."
"Wie das?"
"Mit einem Käuzchenschrei[2], oder etwas ähnlichem, vielleicht. Etwas, was schnell geht. Unser Mann suchte, als er dies bemerkte, sofort das erstbeste Versteck auf. Er muss also gewusst haben, dass die Bettlergilde ihn für das, was er anscheinend getan hat, bestrafen würde. Das wiederum heißt, dass er entweder keinen Beweis dafür hatte, dass er kein Verbrechen gegen die Gilde begangen hat, oder jedoch aus irgendeinem Grund gezwungen war, diesen Beweis vorerst nicht zu offenbaren."
Ich dachte eine Weile nach, aber mir fiel nichts ein, was ich seinen Argumenten hätte entgegensetzen können.
"Und ich denke, man kann davon ausgehen", ergänzte er, "dass der Bettler unseren Sprecher kannte."
"Wie kommst du darauf?" Ich hatte schon lange aufgegeben, den verschlungenen Argumentationsketten zu folgen.
"Sonst wäre der Drang, sich zu verstecken, für unseren Mann nicht so groß gewesen. Hätte der Bettler ihn nur ein einziges Mal gesehen, hätte der Sprecher gute Aussichten gehabt, unerkannt irgendwo in der Stadt unterzutauchen, ohne sich wochenlang an einem Ort zu verstecken. War er dem Bettler andererseits bekannt, dann kann dieser ihn den anderen beschreiben - und kennt vielleicht sogar dessen Namen und Wohnort. Dann bliebe unserem Mann wirklich nichts anderes übrig, als sich so gut wie möglich zu verstecken. - Das ist natürlich kein Beweis", fügte er fast entschuldigend hinzu, "aber dennoch eine begründete Annahme. Da die Bettler der Stadt wiederum alle Stammplätze haben, an welchen sie fast den ganzen Tag über anzutreffen sind, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass das Ereignis, welches unseren Mann in sein Versteck zwang, am Stammplatz des Bettlers stattfand - und dass dies ein Ort ist, an dem sich auch unser Mann häufig aufhält."
"Kann der Sprecher nicht selbst ein Bettler sein? Vielleicht hatte er gegen eine Vorschrift verstoßen und hatte deshalb Angst vor der Gilde", schlug ich vor.
"Nein. Und zwar aus dem einfachen Grunde nicht, dass Bettler so ziemlich die einzige Bevölkerungsschicht der Stadt sind, von denen man einen solchen Satz über Schnappers Würstchen nicht erwarten würde. Wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Bettler sogar Stiefel kocht und isst, ist es unwahrscheinlich, dass er so etwas wie 'dann schmecken sogar Schnappers Würstchen gut' sagen würde."
Ich schwieg - was hätte ich auch sagen sollen?
"Das Ereignis, welches ihn dazu bewegt hat, wieder in Erscheinung zu treten", fuhr Charlie fort, während er von seinem Platz aufstand und sich der Feuerstelle in meinem Büro näherte, neben der ich mehrere alte Zeitungen zum Feuermachen gestapelt hatte, "muss auf jeden Fall entweder der Gilde den Beweis für seine Unschuld geliefert haben, oder unseren Mann von seiner Verpflichtung, den Beweis geheimzuhalten, entbunden haben."
Eine Weile schwieg ich und dachte erfolglos über mögliche Gegenargumente zu Charlies Argumentationskette nach, während er die alten Zeitungen durchsah. Mir war klar, dass diese ganze Schlussfolgerung nichts als Unsinn war, aber gleichzeitig fiel mir keine Lücke auf, an der ich die Kette hätte zerreißen können.
"Hier!" rief der Rekrut auf einmal mit einem breiten Grinsen, und seine Augen funkelten. "Das ist doch genau das, wonach wir suchen. Die Zeitung ist drei Tage alt, das heißt, es würde genau mit meiner Theorie übereinstimmen, dass unser Mann seine Information aus den Zeitungen erhielt, mit denen die Apfelkörbe ausgelegt sind."
Er legte die Zeitung aufgeschlagen auf meinen Schreibtisch, und sein langer, dürrer Finger pochte auf die beliebte Kolumne "Leiche des Tages", in der jeden Tag über den sonderbarsten Todesfall der Stadt berichtet wurde.


Bettler stirbt zweimal

Spielende Kinder fanden gestern in einer leerstehenden Wohnung am Quirmer Platz eine stark verweste Leiche. Nachdem sie eine Weile mit ihr "Töte den Zombie" gespielt hatten, benachrichtigten sie die Wache.
Das allein würde sicherlich nicht den Titel "Leiche des Tages" rechtfertigen, aber die Forensiker der Wache waren mit Hilfe der Bettlergilde in der Lage, die Leiche als "Krummer Kurt" zu identifizieren, den stummen Bettler, über den wir schon vor einem Monat an dieser Stelle berichteten (damals, weil er an seinem Stammplatz von einem Wasserspeier erschlagen wurde). Damit gebührt dem Krummen Kurt die Ehre, der erste zu sein, der unseren begehrten Titel zweimal gewinnen konnte.
Hat die Wache damals bei der Identifizierung geschlampt? Hauptfeldwebel Pismire, Leiter der Abteilung SUSI, sagte der Times: "Na ja, der Wasserspeier hat ihm das Gesicht nun einmal völlig zerquetscht, wie soll man da schon jemanden groß identifizieren... möchstest du einen Kräutertee?"
Der Sprecher der Bettlergilde, der Brüllende Ben, kommentierte die Ereignisse auf Anfrage der Times mit: "DAS IST GILDENSACHE!!! HALTET EUCH DA RAUS!!!"


"Und die Destille liegt gar nicht weit vom Quirmer Platz entfernt", ergänzte Charlie triumphierend, nachdem ich fertig gelesen hatte.
"Das ist wirklich ein erstaunlicher Zufall", musste ich zugeben, "dass deine Schlussfolgerungen so perfekt mit dem Artikel übereinstimmen." Insgeheim fragte ich mich, ob er nicht den Zeitungsartikel schon vorher kannte und das ganze Gespräch über auf dieses Ziel hingearbeitet hatte, um mich zu beeindrucken.
"Ich glaube nicht, dass das Zufall ist", entgegnete Charlie mit leiser Stimme. "Woher hattest du den Satz?"
"Es war einfach ein Satz. Er ist mir plötzlich gekommen."
"Ausgeschlossen. So ein Satz fällt einem nicht einfach ein. Normalerweise bekommt man auf die Frage nach einem Satz von zehn bis vierzehn Worten einen normalen Aussagesatz, wie zum Beispiel 'Trolle sind dumm' - und die fehlenden Worte werden dann angehängt, wie 'weil ihr Kopf fast komplett aus massivem Fels besteht'. Dein Satz aber bezog sich auf einen ganz bestimmten Vorfall."
"Aber ich habe heute bisher nur mit Wächtern gesprochen. Und auf unserer Streife waren wir ja auch immer zusammen."
"Auf dem Platz haben wir uns im Gedränge kurz aus den Augen verloren", sagte er rasch. "Vielleicht, als du bei Schnapper auf mich gewartet hast? Wo sonst sollte man auch über Schnappers Würstchen reden, wenn nicht dort? Denk mal nach... hatte er gerade Kunden?"
Jetzt fielen mir wieder die beiden Gestalten ein, die neben Schnapper standen und fortgingen, als ich ankam. "Da waren zwei Leute... einer von ihnen sah aus, als hätte er schon lange kein Bad mehr genommen."
"Na bitte!" rief Charlie triumphierend aus.
"Das ist doch sicher nichts als ein unglaublicher Zufall", murmelte ich. "Man kann doch nicht wirklich auf Basis eines einzigen Satzes..."
Ich wurde leiser, während ich redete. Wenn es nun doch stimmte?
"Angenommen, du hast Recht - was würdest du aus dem Artikel folgern?"
Charlie dachte kurz nach. "Zunächst einmal, dass unser Sprecher eine Person getötet hat, die die Bettlergilde für einen der ihren hielt. Dieser Zeitungsartikel zeigte unserem Mann dann, dass die Bettlergilde inzwischen weiß, dass die Leiche kein Bettler war. Vorher konnte er es nicht beweisen, da der Kopf laut dem Artikel bei dem Mord zerquetscht wurde. Ich erinnere mich an den Artikel von damals - der Wasserspeier hatte ausgesagt, dass er geschlafen hatte und erst aufgewacht war, als er schon fiel. Die Wache ging davon aus, dass er schlafgewandelt ist."
Er schwieg eine Weile und bewegte stumm seine Lippen. Dann fing er an, in einem Tonfall, als ob er einen Vortrag halten würde, zu reden: "Der Quirmer Platz besteht im Prinzip nur aus grauen Wohnblöcken mit neumodischen Mietwohnungen. Unser falscher Bettler - nennen wir ihn Person A - hat wohl den echten Kurt getötet und dessen Platz eingenommen. Ein stummer, und dem Namen nach vielleicht auch noch gebückt sitzender, Bettler dürfte die perfekte Tarnung sein, wenn man jemanden observieren möchte. Wie wir festgestellt haben, muss das Ganze an einem Ort stattgefunden haben, an dem unser Sprecher - Person B - sich häufig aufhält. Man kann also davon ausgehen, dass B in einer dieser Mietwohnungen wohnt. Person B hat Person A getötet, indem sie einen Wasserspeier vom Dach stieß. Warum?" Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: "Die einzige logische Erklärung ist, dass B erkannt hat, wer A in Wirklichkeit ist. A und B müssen sich also relativ gut kennen, so dass B in der Lage war, A trotz Verkleidung zu erkennen."
Er holte einmal kurz Luft und fuhr dann im gleichen Tonfall fort: "Warum hat A die Wohnung observiert? Um B zu folgen, wenn er sie verlässt? Nein, dann hätte er sich nicht als jemand ausgegeben, der normalerweise ständig an der Hauswand sitzt. Es wäre aufgefallen, wenn er aufgestanden wäre. Also um zu sehen, wer die Wohnung betritt. Wusste er nicht, dass B in der Wohnung ist, und hat also auf B gewartet? Auch das scheint unwahrscheinlich, denn dann hätte er sicherlich zuerst nachgeprüft, ob B anwesend ist. Er wartete also auf eine dritte Person - Person C - von der er annahm, dass diese Person B besuchen würde."
"Person C?"
"Ja. Möglicherweise ist das sogar die Person, mit der B sich bei Schnapper unterhalten hat - aber das ist natürlich reine Spekulation."
"Natürlich", murmelte ich.
"Außerdem kann man davon ausgehen, dass weder A noch B wussten, wann genau C kommen wird. Wenn A sich als Bettler verkleidet hat, dann heißt das, er hat sich auf eine längere Observierung eingestellt. Außerdem wusste A nicht, wo C sich aufhält, sonst hätte er sich die Observierung sparen können. Und höchstwahrscheinlich wusste auch B dies nicht - oder zumindest dachte A, dass B dies nicht weiß."
"Wieso das?"
"A ist offensichtlich ein Mann, der über Leichen geht. Um an C heranzukommen, hätte er sich den Aufwand also einfach sparen und stattdessen B einfach gewaltsam dazu bringen können, ihm den Aufenthaltsort von C mitzuteilen. Meine Vermutung - auch dies ist wieder nur Spekulation, aber immerhin eine naheliegende - wäre, dass C ein Besucher von außerhalb der Stadt ist. A wusste, dass C vorhatte, B zu besuchen, kannte aber den genauen Zeitpunkt nicht. Deshalb tötete er den Krummen Kurt und nahm seinen Platz ein, um Bs Wohnung zu observieren. B erkannte A, tötete ihn, und tauchte dann unter, um der Verfolgung durch die Bettlergilde zu entgehen."
"Und warum das alles?"
"C muss etwas ziemlich wertvolles besitzen, was er B bringen wollte, und für das sich A ebenfalls interessierte. Ich..." er verstummte, und seine Augen weiteten sich. "Das Ei!"
"Ei?" Ich verstand inzwischen gar nichts mehr.
"Das stand vor fünf Wochen oder so in der Times, das würde also genau passen..." murmelte er, als hätte er mich nicht gehört. "Von Überwald nach Ankh-Morpork in einer Woche... dann..."
"Würdest du mir jetzt endlich sagen, um was es hier geht, Rekrut?" Ich war mit meiner Geduld langsam am Ende.
"Vor fünf Wochen wurde einem Baron in Überwald sein unbezahlbares Eisbergé-Ei gestohlen. Von dem Täter fehlte jede Spur."
"Und du meinst..."
"Wenn der Dieb sich gleich auf den Weg nach Ankh-Morpork gemacht hat, wäre er ziemlich genau um diese Zeit hier gewesen. Was ist, wenn B ein Hehler ist, und für C einen Kunden gefunden hatte? Oder B ist selbst der Kunde? Ich weiß, das ist reine Spekulation, aber das Datum passt genau. Und wo kann man Diebesgut besser verkaufen als hier in der Stadt? A könnte ein rivalisierender Hehler, oder auch ein ehemaliger Kunde von B gewesen sein, der von dem Handel erfahren hat und daraus Profit schlagen wollte."
"Das ist alles ziemlich weit hergeholt."
"Aber es passt doch!" widersprach Charlie. "Du musst unbedingt..."
"Was ich muss oder nicht muss, Rekrut, das ist meine Angelegenheit. Ist das klar?" Ich war inzwischen mehr als genervt von der überheblichen Art dieses Rekruten. Er musste unbedingt noch die Disziplin und den Gehorsam lernen, die für den Beruf des Wächters unerlässlich sind.
"Aber..."
"Ist das klar, Rekrut?"
"Ja, Mäm."
"Gut. Dann geh jetzt runter in den Ausbildungsraum und lerne weiter für den Rekrutentest, ja? Ich habe noch zu tun."
Nachdem die Tür sich hinter Charlie geschlossen hatte (und er hatte vergessen zu salutieren - ich nahm mir vor, ihn darauf anzusprechen, sobald ich ihn wieder sah), setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb einen Bericht an RUM. Ich beschrieb die beiden Leute, die ich auf dem Platz getroffen hatte, so gut ich konnte, fügte den mutmaßlichen Wohnort des einen hinzu und fasste Charlies Schlussfolgerungen zusammen. Mir war klar, dass das alles höchstwahrscheinlich nur eine Sammlung von Trugschlüssen und Zufällen war, und dass ich mich damit vielleicht zum Gespött der Wache machte, aber irgendwie erschien mir das, was der neue Rekrut gesagt hatte, logisch...
Außerdem nahm ich mir vor, bei SUSI nachzufragen, ob sie noch einen Spurensicherer gebrauchen konnten.


Ende des Berichts

Anm. des Autors: Idee und Stil dieser Geschichte stammen aus der Kurzgeschichte "Ein Fußmarsch von neun Meilen" ("The Nine Mile Walk") von Harry Kemelman
[1] Wobei das eigentlich eine Tautologie ist.

[2] Tatsächlich sind Nachtvogel-Schreie in Ankh-Morpork streng reglementiert, da viele Gilden ein nächtliches Erkennungssignal benutzen. Früher kam es häufig zu peinlichen Überschneidungen, wenn beispielsweise das Signal der Diebesgilde für 'Vorsicht, hier kommen Wächter' mit dem der Näherinnengilde für 'Hier kommt angetrunkene und willige Kundschaft' verwechselt wurde. Deswegen wurde jeder Gilde ihr eigener Nachtvogel zugeteilt. Außerdem wurden, um weitere Verwirrungen zu vermeiden, alle tatsächlich in der Stadt vorhandenen Eulen und Käuzchen erlegt.




Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung