Im Alptraum hört dich niemand schreien

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von Spieß Harry (DOG)
Online seit 17. 06. 2002
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 Außerdem kommen vor: Damien G. BleichtHumph MeckDwarfRascaal OhnedurstMückensturm

Leute verlieren aus heiterem Himmel das Bewusstsein, und Kollegen benehmen sich auf einmal merkwürdig... stecken die Zauberer dahinter?

Dafür vergebene Note: 14

Eigentlich hatte er schon Feierabend.
Es war später Nachmittag, und Spieß Harry war nach einer Routine-Observierungsmission (die Zahnarztgilde hatte sich beschwert, dass die Konditorengilde nicht mehr die vorgeschriebene Mindest-Zuckerquote einhält, und Harry sollte dies überprüfen) auf dem Weg nach Hause zur Boucherie Rouge und in sein Puppenhaus. Nach einem anstrengenden Tag freute er sich auf einen ruhigen und gemütlichen Abend daheim.
Der Einsatz war ziemlich anstrengend gewesen - er hatte mehrere Konditoreien in der Stadt abklappern müssen um die Gildenmitglieder bei der Arbeit zu beobachten. Beweise hatte er trotz alledem keine gefunden - und das bedeutete, dass Fähnrich Mückensturm, Abteilungsleiter der DOG, ihm wahrscheinlich die undankbare Aufgabe aufdrücken würde, dem Leiter der Zahnarztgilde mitzuteilen, dass ihr Verdacht falsch war. Undankbar war diese Aufgabe deshalb, weil man es häufig ziemlich schnell - spätestens bei der nächsten Behandlung - bereute, wenn man die Zahnarztgilde verärgert hatte.
Aber jetzt schmerzten dem Gnom zunächst einmal die Füße, und nicht die Zähne. Er war erschöpft und ausgelaugt, und deshalb auf dem schnellsten Weg unterwegs zurück zum DOG-Hauptquartier im Viertel Käuflicher Zuneigung.

Er überquerte gerade den Platz der Zerbrochenen Monde, direkt neben der Unsichtbaren Universität, als ihm die Menschenmenge auffiel.
Nun sind Menschenmengen in einer Stadt wie Ankh-Morpork ja etwas Alltägliches, aber als Wächter wird man spätestens dann neugierig, wenn die Menschenmenge im Kreis steht und den Blick auf etwas richtet, was sich in der Mitte des Kreises auf dem Boden befindet. Dann gibt es eigentlich immer nur zwei Möglichkeiten: Es handelt sich entweder um eine oder mehrere Leichen, oder um Wertgegenstände, die jeder der Anwesenden gerne hätte aber sich keiner zu nehmen traut, da er weiß, dass dann alle anderen über ihn herfallen würden. [1]
Harry zögerte noch kurz ob er, trotz seines Feierabends, die Sache untersuchen sollte, aber dann siegte sein Pflichtbewusstsein und er lief zu der Menge hin.
Einer der Vorteile, die man als Gnom hat, ist es, dass man sich durch jede Menschenmenge problemlos hindurch wühlen kann - man muss nur darauf achten, nicht versehentlich zertreten zu werden. Harry hatte in seiner Dienstzeit schon reichlich Gelegenheit gehabt, seine Technik zu verfeinern.
"Sie gingen hier ganz normal lang - und plötzlich ist sie umgekippt!" erklärte ein untersetzter Mann mit rotem Gesicht jedem, der es wissen wollte.
Harry hatte sich zwischen den Beinen der Umstehenden hindurch geschlängelt und stand jetzt im Inneren des Kreises. Eine Frau lag auf dem Boden, die Augen geschlossen, in den Armen ein vielleicht zwei Jahre altes Mädchen.
"Ganz plötzlich - wie aus heiterem Himmel!" unterstrich der Mann noch einmal, wohl weil er das Gefühl hatte, dass er nicht genug beachtet wurde - und fügte, damit es wirklich jeder begriff, hinzu: "Ich habe es selbst gesehen!"
Harry ging zu der Frau hin und fühlte ihren Puls. Sie lebte - und sie atmete ruhig und gleichmäßig, ebenso wie das Kind.
"He, was machst du da?" fragte einer der Zuschauer, der den Gnom inzwischen bemerkt hatte. "Denkst du, du kannst hier einfach der armen Frau das Geld klauen, während alle zusehen?"
"Genau", warf ein anderer ein. "Du musst es schon gerecht aufteilen!"
Harry räusperte sich und zog seine Miniatur-Dienstmarke. "Seht ihr das hier?"
"Ehrlich gesagt, nein", meinte der, der zuletzt gesprochen hatte, bedauernd, und kniff die Augen zusammen. "Was ist das?"
"Meine Dienstmarke. Ich bin Wächter, und ihr..."
Harry kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen, denn der Mann mit dem roten Gesicht, der gerade noch erzählt hatte, dass er alles gesehen hatte, sackte auf einmal auf die Knie und fiel mit einem "Uff!" zu Boden.
Spontan vergrößerte sich der Radius des Zuschauer-Kreises um einige Meter - kostenloses Schauspiel war schön und gut, aber wenn dabei das Risiko bestand, Teil der Vorstellung zu werden, zogen die meisten Ankh-Morporkianer doch lieber einen größeren Sicherheitsabstand vor.
Harry lief zu dem Mann hin und sah ihn sich an: Wie die anderen lag er friedlich schlummernd am Boden. Versuchsweise gab er im links und rechts eine Ohrfeige - ohne Resultat.
Er sah auf und wandte sich an die Menschenmenge: "Hört zu, ich möchte, dass einer von euch zum Pseudopolisplatz läuft und der Wache Bescheid sagt, dass sie ein paar Leute von FROG und SUSI schicken soll."
Die Menge reagierte nicht.
Harry seufzte - er hätte es wissen können. "Wer am schnellsten ist, bekommt zwei Dollar Botenlohn", ergänzte er seinen Satz.
Als sich der Staub der Stiefel wieder gelegt hatte, sah er sich auf dem nun leeren Platz um: Drei Leute waren plötzlich und ohne ersichtlichen Grund eingeschlafen, und die Unsichtbare Universität war nur eine Mauer weit entfernt. Man musste wahrlich kein Genie sein, um eins und eins zusammenzuzählen. Wahrscheinlich war es wieder ein Fall, der in den Akten unter Kennzeichen 'Z/E' abgeheftet werden würde [2].

"Was ist denn hier passiert?"
Harry wandte seinen Blick von der Mauer wieder dem Platz zu: Ein pickeliger Junge mit Schultasche stand neben den drei Schläfern und sah sie interessiert an.
Wo waren nur die Tatortsicherer, wenn man sie brauchte? Der Gnom lief zu dem Jungen. "Ich glaube, du solltest besser von den Leuten fortgehen", schlug er vor.
"Wieso?" Der Junge machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
"Weil, was auch immer diese Leute haben... oh." Der Junge war kopfüber aufs Pflaster gekippt, noch bevor Harry den Satz zu Ende bringen konnte.
Schnell brachte er wieder ein paar Meter Distanz zwischen sich und die auf dem Platz liegenden Gestalten. Die Wache musste sich unbedingt ein Kommunikationsmittel einfallen lassen, das auch für Gnome geeignet war - weder Brieftauben noch Nachrichtendämonen waren sehr nützlich, wenn sie ebenso groß sind wie man selbst, und auch die Signalfahnen für die Nachrichtentürme wurden von den Turmbedienern in der Regel übersehen, wenn sie nur ein paar Zentimeter lang waren.
In einiger Entfernung von den schlafenden Gestalten setzte er sich auf den Boden, um auf Verstärkung zu warten und gleichzeitig Schaulustige zu vertreiben.

Es dauerte fast eine Stunde, bis die Verstärkung endlich kam. Der Nachmittag ging langsam in den Abend über, und die Sonne spielte mittlerweile ernsthaft mit dem Gedanken, hinter den Horizont zu sinken. Glücklicherweise war es in der Zeit zu keinerlei Vorfällen mehr gekommen - Harry hatte alle, die sich neugierig den auf dem Boden liegenden Gestalten näherten, abwimmeln können.
Die Verstärkung bestand aus Hauptmann Rascaal Ohnedurst und einer kleinen Gruppe von FROG und SUSI - Mitarbeitern. Ein Tatortsicherer machte sich gleich daran, den gesamten Platz mit gelbem Absperrband zu sichern. [3]
"Ist das hier denn ein Fall für IA?" fragte Harry den Vampir irritiert, nachdem sie sich begrüßt hatten.
"Nein, aber mir ist im Wachhaus langsam die Decke auf den Kopf gefallen. Und Humph war gerade verhindert, deswegen habe ich noch einmal ausgeholfen. FROG ist schließlich meine alte Abteilung." Er nickte in Richtung der Schläfer. "Was genau ist hier passiert?"
"Keine Ahnung. Als ich kam, lagen hier zwei Leute so - die anderen beiden sind später eingeschlafen. Einfach umgekippt."
"Hm..." Rascaal sah über die angrenzende Mauer hinweg auf die Universitätsgebäude, und Harry wusste, dass der Hauptmann das gleiche dachte wie er selbst. "Ich glaube, jemand muss mal mit den Zauberern reden. - Nein, noch nicht untersuchen!" rief er einem SUSI-Mitarbeiter zu, der sich die Schläfer näher ansehen wollte. "Bleibt alle auf der anderen Seite der Absperrung - wir wollen nicht, dass auch noch ein Wächter einschläft!"
Er sah wieder zum Gnom herab. "Halte du hier die Stellung, Harry, ja? Ich werde mal ein paar Takte mit Ridcully reden, ob der etwas hierüber weiß."
Harry sah dem Vampir nach, als dieser das Universitätsgelände betrat.

Eine gute halbe Stunde später kam Rascaal wieder. Die Wächter hatten sich inzwischen die Zeit abwechselnd mit Kartenspielen und Passanten- Vertreiben totgeschlagen.
"Ridcully sagt, die Zauberer haben damit nichts zu tun", erklärte der Vampir dem Gnom. Dann wandte er sich an einen Gefreiten: "Besorge einen Eselskarren, wir nehmen die Leute mit ins Wachhaus."
"Ins Wachhaus?" fragte Harry verblüfft nach. "So ansteckend wie dieser Schlaf zu sein scheint... meinst du, das ist eine gute Idee?"
"Wer ist hier der Hauptmann, du oder ich?" Rascaal warf dem Gnom einen kurzen Blick zu. "Wir können die Leute hier nicht einfach auf dem Platz liegen lassen, oder? Außerdem gehört Risiko zum Job."
Harry wusste, wann es besser war, zu schweigen.
Schnell hatte ein Wächter einen Eselskarren beschlagnahmt und Rascaal beauftragte einige FROGs, die Schläfer zu verladen. Harry rechnete damit, dass mindestens einer der Wächter bei der Arbeit ebenfalls einschlafen würde, aber erstaunlicherweise ging alles glatt, und alle vier Gestalten lagen schnell auf dem Wagen.
"So... wir fahren mit dem Wagen zum Pseudopolisplatz. Harry, ich möchte, dass du nachher noch einmal vorbeischaust, um einen Bericht über die Ereignisse abzugeben. Alles klar?"
"Kannst du mich nicht gleich mitnehmen? Ich habe sowieso Feierabend..."
"Würde ich ja, aber der Wagen ist voll, wie du siehst."
Harry stutzte: Der Wagen war tatsächlich durch die vier Schläfer und die Wächter vollkommen überladen, aber Gnome hätten sicherlich noch ein Dutzend raufgepasst.
"Aber..." setzte er an.
"Bis gleich dann, Harry!" Der Wagen setzte sich schwerfällig in Bewegung, und Harry sah ihm irritiert nach, bevor er sich auf den langen Weg zum Pseudopolisplatz machte.

***

Längst war die Dämmerung in Dunkelheit übergegangen, als der Gnom schließlich das Wachhaus erreichte. Er hatte Blasen an den Füßen und fühlte sich, als ob er keinen einzigen Schritt mehr schaffen würde.
Das Wachhaus war ungewöhnlich leer - im Vorraum war kein anderer Wächter zu sehen, bis auf einen Gefreiten, der zum Tresendienst abkommandiert war. Harry kannte ihn flüchtig vom Sehen her, hatte aber nie mit ihm gesprochen - es war ein Vampir namens Damien G. Bleicht, der selbst für ein Mitglied seiner Spezies ungewöhnlich blass war und den der Gnom immer etwas unheimlich gefunden hatte.
"Hallo, Sör!" grüßte Damien und salutierte, als die Gnomenklappe in der Eingangstür aufschwang und Harry hindurchtrat.
"Hallo, Gefreiter. Ist der Kommandeur zu sprechen?"
"Hauptmann Ohnedurst sagte, der Kommandeur musste zu einer kranken Tante nach Quirm, Sör!"
"Nach Quirm? Verstehe. Und wo ist Hauptmann Ohnedurst?"
"Im Keller, bei den auf dem Platz der Zerbrochenen Monde aufgefundenen schlafenden Personen, Sör!"
"Danke, Gefreiter."
Bei einer kranken Tante in Quirm? Eine billigere Ausrede für einen freien Tag war dem Kommandeur wohl nicht eingefallen...
Harry sprang die Treppen zum Keller herunter. Es war das erste Mal, dass er ihn betrat: Auch in der Zeit, in der er noch in diesem Wachhaus gearbeitet hatte, war er nie im Keller gewesen. Als es noch keine Abteilungen gab, wurde der Keller nicht - noch nicht einmal als Abstellraum - genutzt, und danach war er ja zu den DOG in die Boucherie Rouge gezogen.
Entsprechend überrascht war er, als er den schummrigen Kellerraum betrat: Auf den Gnom wirkte er wie eine riesige, alte Kathedrale. Hohe Säulen stützten die Decke, flackernde Kerzen tauchten den Raum in ein diffuses Licht, und von irgendwo her kam sogar das Tropfen von Wasser, welches ein gespenstisches Echo verursachte.
In der Mitte der Halle lagen die vier Schläfer im Kreis, und Rascaal stand in der Mitte des Kreises mit dem Rücken zu Harry und untersuchte eine der Gestalten gerade eingehender.
Harry machte zwei Schritte auf den Vampir zu, als dieser sich erhob und das Licht der Kerzen auf sein Gesicht fiel.
Um ein Haar hätte der Gnom laut aufgeschrieen.
Rascaals Eckzähne waren entblößt, sein Gesicht war blutverschmiert und seine Augen funkelten rötlich im Kerzenlicht. Mit einem schmatzenden Geräusch leckte er sich die Lippen und schritt weiter zur nächsten der vier Gestalten.
Erst jetzt sah Harry auch das Pentagramm, das in roter Farbe auf den Boden gemalt war. Die vier Schläfer lagen an vier der Ecken des Symbols, die fünfte war noch frei.
Als der Vampir sich über die zweite Person beugte und mit einem widerlichen Geräusch anfing, zu saugen, floh Harry, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, nach oben.

"Alles in Ordnung, Sör?" fragte Damien hinter dem Empfangsschreibtisch, als Harry kreidebleich und keuchend am Kopf der Treppe erschien.
"Nein", keuchte der Gnom. "Ruf alle Wächter hier im Haus zusammen, ja?"
"Hier ist niemand, Sör."
"Wie bitte?"
"Alle sind ihre Tanten in Quirm besuchen gegangen."
"Wie bitte???"
"Sie sollten am besten hier bei Hauptmann Ohnedurst bleiben, bis alle wiederkommen, Sör." Der Gefreite legte seine Hand auf den Schwertknauf.
"Moment, ich..."
"Gehen Sie lieber wieder in den Keller, Sör." Damien stand auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Sein Mund öffnete sich halb und Harry konnte einen besseren Blick auf die spitzen Eckzähne erhaschen, als ihm lieb gewesen wäre. Seine Instinkte übernahmen seinen gelähmten Verstand und er sprintete durch die Gnomenklappe nach draußen in das abendliche Treiben des Pseudopolisplatzes. "Stehen bleiben, Sör!" rief Damien hinter ihm her, aber folgte dem Gnom nicht.
Was hatte das zu bedeuten? Eine globale Vampirverschwörung? Ein böser Zauber? Was war mit den anderen Wächtern passiert? Im Dauerlauf machte er sich, ohne auf die immer schrilleren Proteste seiner Füße oder den zu allem Überfluss einsetzenden Regen zu achten, auf den Weg zum DOG- Hauptquartier. Er brauchte Verstärkung.

***

"Er hat sie ausgesogen?" fragte der Fähnrich ungläubig nach.
"Wenn ich es doch sage! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!"
"Unser Ras? Der Rote-Bete-Ras? Der Knollenjäger?"
"Genau der."
"Hm... unter normalen Umständen würde ich ja sagen, du müsstest dich unbedingt an IA wenden, aber da Rascaal selbst 50% von IA darstellt... was ist mit Rince?"
"Das ist auch seltsam... am Pseudopolisplatz hieß es, er musste ganz plötzlich eine Tante in Quirm besuchen. Und auch sonst war niemand da, außer einem anderen Vampir."
"Alle Wächter sind fort? Oh je." Mückensturm schwieg nachdenklich.
"Wollen wir die beiden zur Rede stellen? Wenn wir mit allen DOG anmarschiert kommen, sollten wir sie problemlos überwältigen können."
"Das könnte gefährlich sein - wir wissen nicht, was mit den anderen Wächtern los ist. Vielleicht bringen wir sie, wenn wir überstürzt handeln, unnötig in Gefahr. Wir sollten erst einmal den Grund für dieses seltsame Verhalten herausfinden."
"Ich tippe auf die Zauberer. Ras hat sich seltsam benommen, seit er in der Universität war, um Ridcully zu diesem Schläfer-Fall zu befragen."
Mückensturm dachte kurz nach. "Die Universität... die fällt ja wohl in unseren Zuständigkeitsbereich. Wir müssen vorsichtig sein - wenn bei den Zauberern wirklich etwas vorgeht, und sie etwas mit Ras angestellt haben, wissen wir nicht, wem wir noch trauen können. Harry, hiermit gebe ich dir den Auftrag, die Universität zu observieren. Am besten fängst du gleich an..."
Seufzend sah der Gnom hinaus in den Regen. Irgendwie hatte er ein Deja vu... "Na schön", murmelte er.
"...und zwar nackt."
"Wie bitte???" Harry war sich sicher, sich verhört zu haben.
"Nackt. Wir wollen doch nicht, dass deine schöne Uniform durch den Regen schmutzig wird. Das kostet nur wieder unnötig Geld, sie reinigen zu lassen."
"Aber... ich... du..."
"Zieh sie doch einfach schon einmal aus, ja?"
"Aber Mücke..."
"NICHT MÜCKE!" fuhr ihn der Fähnrich abrupt an. Speichel spritzte von seinen Lippen und nebelte den Spieß ein. "FÜR DICH BIN ICH 'FÄHNRICH MÜCKENSTURM', ODER 'SÖR'!"
"M... Sör... ich..."
"SCHLUSS JETZT! TU, WAS ICH SAGE!" Mückensturms Stimme beruhigte sich so schnell wieder, wie der Ausbruch gekommen war - allerdings behielt sie einen drohenden Unterton bei. "Du weißt doch, wie die Wache mit Befehlsverweigerern umgeht?"
"Sör, ihr Fall wird von Intörnel Affärs untersucht und dann stimmen die Abteilungsleiter über das Strafmaß ab, Sör", entgegnete Harry mit zittriger Stimme. Was war hier los? Waren denn alle durchgedreht?
"Falsch." Der Fähnrich nahm seine Armbrust vom Haken an der Wand und lächelte freundlich. "Rate noch einmal."
"Was..."
"Harry", meinte Mückensturm, immer noch lächelnd, "ich hatte Geduld mit dir. Ich habe dir alle Freiheiten durchgehen lassen, die du dir ständig genommen hast. Aber wenn du kleiner, minderwertiger, schmutziger Gnom nicht gehorchst, dann muss ich dir wohl Beine machen."
Mit diesen Worten packte er Harry und schmiss ihn mit Schwung aus dem Fenster.

Mit einem dumpfen Aufprall landete der Spieß ein Stockwerk tiefer auf dem Straßenpflaster. Der Schmerz raubte ihm kurz die Sinne, und er spürte, wie sich Blut in seinem Mund sammelte. Angewidert spuckte er aus und richtete sich mühsam auf. Was war nur in alle gefahren? Und vor allem: Wer konnte ihm helfen?"
"Harry!" Die Tür der Boucherie öffnete sich und Oberstleutnant Daemon kam herausgelaufen. "Was ist passiert? Ich habe dich schreien gehört!"
"Dae! Alle sind verrückt geworden!" nuschelte der Gnom, dessen Unterlippe bereits anschwoll. "Ich... was ist denn das da über dir?"
"Wo?" Daemon sah hoch, und jetzt sah auch er die kleine graue Wolke, die nicht größer als ein Fußball war und in etwa einem halben Meter Höhe über seinem Kopf schwebte.
"Nein, verschwinde!" schrie er, mit einem Anflug von Frustration in der Stimme. "Dich gibt es nicht!" Er fuchtelte über seinem Kopf herum, aber die Hand glitt durch die Wolke wie... nun ja, wie durch eine Wolke. Das einzige Ergebnis war, dass die Wolke dunkler wurde und anfing, winzige Regentropfen auf Daemon herabregnen zu lassen - was bei dem derzeitigen Wetter allerdings keinen Unterschied machte.
"Ich versuche ständig, sie davon zu überzeugen, dass es sie nicht gibt", erklärte er, "aber sie glaubt mir einfach nicht [42]."
"[42]? Was soll das heißen?"
Daemon runzelte die Stirn. "Komisch... wenn ich normalerweise so etwas sage wie '[42]', dann kommt immer eine Erklärung."
Harry verstand gar nichts mehr, und sagte das auch: "Ich verstehe gar nichts mehr", sagte er.
"Dafür ist ja die Erklärung da, um es zu erklären", erklärte Daemon zur Erklärung. "Ich versuche es noch einmal." Er räusperte sich und wiederholte: "Ich versuche, die Wolke davon zu überzeugen, dass es sie nicht gibt, aber sie glaubt mir einfach nicht[4]. - Na bitte, jetzt klappt es ja wieder."
"Wer ist Descartes?" wunderte sich Harry, dem langsam schwindelig wurde.
"Er ist... RUNTER!"
Während Harry sich noch fragte, was das nun wieder zu bedeuten hatte, schmiss sich der Oberstleutnant bäuchlings zu Boden und der Gnom fühlte, wie sich ihm etwas schmerzhaft durch die Uniform in die Schultern bohrte und ihn anhob.
Eine riesige Fledermaus hatte ihn gepackt und gewann langsam mit ihm an Höhe. Vergebens wandte der Gnom sich in ihren Klauen, um sich loszureißen - der Griff war fester als der eines Schraubstocks.
Etwas an den Augen des Tieres kam ihm bekannt vor...
"Ras? Ras, bist du das?" brachte er hervor, aber die Fledermaus antwortete nicht. Stattdessen flog sie immer höher und trug den strampelnden Gnom in Richtung Stadtmitte.
Harry bemühte sich krampfhaft, nicht nach unten zu sehen, während das Tier zielstrebig und mit viel zu hoher Geschwindigkeit (für Harrys Geschmack) auf die Unsichtbare Universität zuflog. Der Fahrtwind peitschte ihm die Regentropfen ins Gesicht, und Blut tropfte von der Stelle herab, wo die Krallen ihn gepackt hatten, um sich mit dem Regen zu vermischen und auf den Boden zu fallen.
Gegen seinen Willen fiel sein Blick auf den Boden - und was er sah, ließ ihn spontan mit dem Strampeln aufhören und stattdessen zu allen möglicherweise anwesenden Göttern beten, dass dieses Monster ihn nicht loslassen möge. Bisher hatte er nie die Chance gehabt, festzustellen, ob er Höhenangst hat - sein einziges bisheriges Erlebnis, das diesem auch nur im Entferntesten ähnelte[5], hatte ihn nicht im mindesten auf diese Höhen vorbereiten können.
Das Universitätsgelände rückte näher, und Harry erkannte, dass die Fledermaus geradewegs auf den Kunstturm, das höchste Gebäude der Stadt, zuhielt, dessen Silhouette sich dunkel vor dem hellen Licht des Vollmondes abhob. Steckten also doch die Zauberer hinter alledem?
Zielsicher ließ das Tier ihn aus etwa einem Meter Höhe auf die Turmspitze fallen und flog davon.
Mühsam kam der Gnom wieder auf die Beine und sah sich um. In viel zu vielen Metern Tiefe unter ihm konnte er durch den Regen im Mondlicht das auch nachts noch geschäftige Ankh-Morporker Treiben erkennen, das von hier oben mehr denn je einem Ameisenhaufen glich[6].
Schnell machte er ein paar Schritte vom Rand des Daches weg und legte sich flach auf den Bauch. Bei seinem Glück würde gleich eine magische Windböe kommen und ihn vom Turm pusten...
Was für Optionen hatte er? So sehr er auch nachdachte, ihm fielen nur zwei ein. Er konnte a) herunterfallen, oder b) warten und hoffen, dass jemand kam. Beide Möglichkeiten gefielen ihm nicht sonderlich gut.
So weit war er mit seinen Gedanken gekommen, als ihm etwas gegen den Hintern pickte. Mit einem Aufschrei drehte er sich um und sah direkt einer Taube ins Gesicht, die ihn neugierig - und, wie er meinte, hungrig - betrachtete.
"Wieso ausgerechnet Tauben? Ich hasse Tauben", knurrte der Gnom und robbte im Krebsgang ein paar Schritte von dem Tier weg, nur um gegen den Schnabel einer zweiten Taube zu stoßen.
"Kusch! Verschwindet!" Harry stand auf und wedelte mit seinen Armen, was die Vögel nicht weiter beeindruckte. Stattdessen schritten sie von beiden Seiten langsam auf ihn zu und begannen, auf ihn einzupicken.
Harry griff nach seinem Schwert, um festzustellen, dass es nicht da war - hatte er es auf dem Flug verloren, oder schon vorher? Aber das spielte jetzt auch keine Rolle.
Seit seine Eltern ihm früher Horrorgeschichten über gnomfressende Tauben erzählt hatten (so wurde seine Großtante von einer getötet), litt Harry an Columbinaphobie[7], und jetzt Mittelpunkt des Interesses von zwei besonders aufdringlichen Vertretern dieser Spezies zu sein, behagte ihm überhaupt nicht. Andererseits blieben ihm auch keine Fluchtmöglichkeiten...
Eine dritte Taube landete auf dem Turm und begann, ihn an den Rand zu drängen. Verzweifelt sah Harry sich nach einem Ausweg um - aber sie waren in der Mehrheit, und der einzige Weg führte nach unten.
Nach kurzer Gegenwehr nahm er ihn - es blieb ihm auch nichts anderes übrig.

Schreiend fuhr der Gnom hoch. Fledermaus... Tauben... Sturz... Was? Ein Traum?
Er lag in seinem Bett in der Puppenstube; der Vorhang, der die offene Seite des Puppenhauses vom Rest der Boucherie abtrennte, war zugezogen. Alles war, gut, alles war in Ordnung...
Seufzend ließ er sich wieder zurück ins Bett sinken.
Eine kleine Hand tastete zwischen den Bettdecken nach ihm, und eine schläfrige Stimme frage: "Was ist denn los, Gnömchen? Hast du schlecht geträumt?"
"Ja, Schatz", antwortete Harry schlaftrunken. "Nur ein böser Traum."
"Armer Harry..." Die Hand streichelte ihm über das Gesicht und eine Gestalt beugte sich über ihn und gab ihm einen zärtlichen Kuss. "Komm, schlaf weiter."
Harry schloss die Augen...
...vier Sekunden später machte er sie schlagartig wieder auf und griff ruckartig nach dem Band, mit dem er vom Bett aus den Vorhang aufziehen konnte.
Helles Tageslicht strömte in Harrys Schlafzimmer, und erhellte eine gnomengroße Gestalt, die neben ihm im Bett lag.
Panisch zog er die Bettdecke von ihr fort und enthüllte eine Puppe - und zwar eine von den Näherinnen-Puppen, die früher die 'Bewohner' dieses Hauses waren. Sie trug das, was der Ankh-Morporker Volksmund scherzhaft "Näherinnen-Uniform" nannte - und ein grünes, daran angestecktes Miniatur-FROG-Abzeichen.
"Was zum..." murmelte der Gnom und sah sich um. "In Ordnung, was soll das hier?" fragte er laut. "Eca, ist das ein Witz? Wenn ja, dann kann ich nicht darüber lachen!"
"Nicht?" Eine Gestalt trat vor das Puppenhaus. Es war nicht Ecatherina, sondern der Mann, mit dem alles angefangen hatte: Rascaal Ohnedurst. Der Wächter war kaum wiederzuerkennen: Seine Augen funkelten, als würde ein Feuer hinter ihnen brennen, und er trug das klassische schwarze Vampirbösewichts-Cape[7a]. Seine Eckzähne waren vollständig entblößt und blutig.
"Ich dachte, so ein kleiner Spaß würde dir deine letzten Lebensminuten angenehmer gestalten", kicherte Rascaal, und der Wahnsinn in seiner Stimme war unüberhörbar. "Anscheinend hast du weniger Humor, als ich gedacht habe. Na ja, dein Pech."
Mit diesen Worten griff er den Spieß aus seinem Bett, bevor dieser sich wehren konnte, und hob ihn in die Höhe.
"Ich habe mich schon lange gefragt, wie Gnomenblut schmeckt", grinste er. "Viel ist in euch ja nicht drin, aber vielleicht ist es dafür ja um so intensiver."
Er leckte sich die Lippen und hob den strampelnden Gnom weiter in die Höhe. Dann öffnete er genüsslich seinen Mund und biss Harry den Kopf ab.

***

Kaleidoskopartig tanzten wirre Bilder an dem Gnom vorbei: Leutnant Humph MeckDwarf rannte mit einem Speer hinter ihm her und brüllte "Wo ist er, der Spieß? Ich werde ich aufSPIESSen! Muahahahaha!!", seine Eltern, die er seit

harry


Jahren nicht mehr gesehen hatte, fesselten ihn an einen Stuhl und seine Mutter kreischte: "Nach Ankh-Morpork? Nach Ankh-Morpork willst du? Na schön, aber erst isst du auf, was wir feines für dich gekocht haben!"; und auf einmal

harry, kannst du mich hören


landete er kopfüber in einem riesigen Topf voll von stinkendem Wahoonie-Eintopf. Keuchend schwamm er an den Rand und stellte fest, dass er an die Küste der Kannibalengnom-Insel gespült worden war, von der er vor einiger Zeit Vinni

harry, antworte


gerettet hatte.
Was war das? Eine Stimme, ganz am Rand seiner Wahrnehmung... und dennoch wirkte sie realer als alles andere um ihn herum.
"Hallo?" rief er versuchsweise.

na endlich! harry, hör mir zu: du träumst. du liegst auf dem platz der zerbrochenen monde und bist in einem traum gefangen


"Wie das? Und wer bist du?"

ich bin's, humph. jemand hat eine nachricht von dir zum pseudopolisplatz gebracht und wir sind so schnell es ging gekommen. dann haben wir dich so vorgefunden


"Was ist denn passiert?"

dem professor für angewandte kryptozoologie[9] ist ein alp entflogen


"Ein was?"

ein alp. auch nachtmahr genannt. eine schattenartige kreatur, die menschen befällt und sich von ihren ängsten ernährt. der professor ist hier bei uns, er hat es auch möglich gemacht, dass ich jetzt mit dir rede


Harry setzte sich und ließ etwas von dem Sand durch seine Finger rieseln. Er fühlte sich real an - und doch ergab so alles einen Sinn. "Was muss ich tun, um aufzuwachen?"

zuerst musst du die anderen finden. wir haben außer dir noch vier andere schläfer gefunden: eine mutter mit tochter, einen älteren mann und einen jugendlichen. genau wie der alp in euch steckt, seid ihr auch alle auf eine gewisse art in ihm - das heißt, eure träume sind alle miteinander verwoben


"Und wie soll ich das anstellen?"

es ist dein traum, harry - du kannst ihn auch kontrollieren. zumindest die teile, die aus deiner phantasie stammen


"Wie das?"

probiere es am besten einfach aus. was brauchst du


"Waffen. Jede Menge Waffen." sprach Harry das erste aus, was ihm in den Sinn kam.
Ein Rattern ließ ihn herumfahren: Von irgendwo aus dem Nichts schoben sich Hunderte von Regalen voll von Miniaturbögen, -schwertern, - armbrüsten, -blasrohren und allen nur erdenklichen und unerdenklichen anderen Waffen auf den Strand. Der Gnom stand mit offenem Mund davor: "Das habe wirklich ich gemacht?"

ja. aber was willst du mit waffen? dies ist doch alles nur deine phantasie


"Ich fühle mich sicherer damit, okay?" meinte Harry und nahm sich ein Schwert und eine Armbrust von den Regalen. Wenn diese Insel und alles andere nur ein Produkt seiner Phantasie war, konnte er sie dann einfach verschwinden lassen?
Kaum hatte er den Gedanken gedacht, löste sich um ihn herum das Szenario auf und er stand in einem riesigen Raum, dessen schwarze Wände aus irgendeinem unerfindlichen Grund von einem gelben Gittermuster überzogen waren. Das Wort 'riesig' ist hier durchaus ernst zu nehmen: Die Wände und die Decke gingen irgendwo am Horizont ineinander über, so dass es unmöglich war, eine Größe abzuschätzen.
Er drehte sich einmal im Kreis und sah, dass nicht der ganze Raum leer war. An vier Stellen, frei im Raum schwebend, befanden sich bunte, formlose Wirbel, in denen es blinkte und flackerte, als ob ein Blitz eine Ladung Feuerwerk in einer Diskothek entzündet hätte.

du musst die anderen finden. nur wenn ihr alle gemeinsam versucht, aufzuwachen, wird es funktionieren


Harry nickte. Diese vier Flecken mussten die Träume der anderen Schläfer sein. "Und was passiert dann?"

der alp verlässt seine wirte nur, wenn sie alle entweder wach oder tot sind. dann wird er sich einen neuen wirtskörper suchen wollen, und wir werden ihn fangen


"In Ordnung. Äh..."

ja, was ist


"Könntet ihr mir ein Kissen unterlegen, oder so? Sonst bin ich wieder so verspannt, wenn ich aufwache..."

(lachen) klar, kein problem. viel glück, harry. ich kann nicht länger mit dir reden, da die kraft des professors nachlässt. du bist auf dich allein gestellt. aber beeile dich - je länger ihr schlaft, umso mehr schwächt ihr eure körper


"Na großartig." Der Gnom drehte sich zum nächstgelegenen Wirbel um und stieß sich intuitiv, ohne lange nachzudenken, vom Boden ab.
Er flog! Er konnte tatsächlich fliegen! Harry jauchzte und drehte übermütig einen Salto. Das Gefühl war unbeschreiblich - und hier gab es auch nichts, was in ihm hätte Höhenangst auslösen können, weil er weder Größen noch Entfernungen abschätzen konnte. Der Wirbel, auf den er zuflog, konnte ebenso eine hundert Meter entfernte Gewitterwolke wie eine Lichtjahre entfernte Galaxie sein, das war unmöglich zu sagen.
Aber wie weit sein Ziel auch entfernt war, seine Geschwindigkeit war so groß, dass er es nach einer Minute erreicht hatte. Er flog hinein und...

...hatte festen Boden unter den Füßen.
Er stand in einem dunklen Raum. Der durch ein Fenster hereinscheinende Vollmond erhellte ihn weniger, als dass er die Dunkelheit noch betonte. Es war ein Wohnzimmer - allerdings wirkte es auf eine gewisse Art verzerrt: Harry war es gewohnt, dass Stühle dreimal so hoch waren wie er selbst, aber hier schien die gesamte Perspektive aus den Fugen zu geraten, als würde man alles durch einen dieser Jahrmarkts- Zerrspiegel betrachten. Die Stuhlbeine erschienen wir Baumstämme, und ein Sofa wirkte so groß wie ein kleiner Dreimaster.
In der Dunkelheit waren Geräusche zu hören: Es knarrte, jemand (oder etwas?) atmete schwer. Die Schatten, deren Konturen das Mondlicht so präzise hervortreten ließ, schienen auf einen Moment der Unachtsamkeit zu lauern, um ihn von hinten anzufallen. Harry schluckte und legte spannte die Armbrust. Er hoffte inständig, dass seine Phantasie ihn zu einem besseren Schützen machte, als er es in der Realität war.
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken: Etwas schälte sich vor ihm aus den Schatten und lief an ihm vorbei. In der Dunkelheit sah es aus wie eine aus schwarzem Papier geschnittene Menschen-Silhouette: ein kreisrunder Kopf, je zwei dicke Stricke als Arme und Beine, und keine erkennbaren Konturen. Der Schemen huschte in ein Nebenzimmer - und jetzt konnte Harry ein leises Wimmern von dort hören.
Vorsichtig lief er dorthin und betrat den Raum: Das ganze Zimmer wurde von einem riesigen Bett dominiert, in dessen Mitte eine kleine Gestalt hockte. Dunkle Schemen hatten sich um das Bett versammelt. Sie atmeten laut und stoßartig - Geräusche, die durch die sie umgebende Stille umso unheimlicher wirkten.
Die Gestalt, die auf dem Bett lag und leise schluchzte, war das kleine Mädchen, das Harry schlafend in den Armen seiner Mutter auf dem Platz der Zerbrochenen Monde gefunden hatte. Er lief quer durch den Raum und sprang auf das Bett, ohne auf die Monster zu achten (schließlich waren es nur Träume, oder nicht?). Behutsam ging er auf das Mädchen zu.
"Hallo, Kleines!" grüßte er (auch wenn er sich etwas dumm dabei vorkam, ein Kind, das fünfmal so groß war wie er selbst, 'Kleines' zu nennen).
Das Mädchen hob den Kopf und sah sich mit tränennassen Augen um. Beim Anblick des Gnomes huschte ein Lächeln über ihr Gesicht: "Hihi... Puppe!"
"Nein, Gnom, nicht Puppe", korrigierte Harry und wehrte die neugierig nach ihm tastende Hand so höflich wie möglich ab. "Hör mal, das ist alles nur ein Traum, ja? Die Monster hier gibt es in Wirklichkeit nicht."
"Monsta!" Das Mädchen sah in den Raum und fing schlagartig wieder an, zu weinen. "Monsta!"
"Das kann ja heiter werden", murmelte der Spieß zu sich selbst. "Ich bin Wächter, und kein Babysitter."
"Hör mal", fuhr er an das Kind gewandt fort, "wir machen einfach mal Licht, ja?"
Er versuchte, es im Zimmer hell werden zu lassen. Er stellte sich einen wunderschönen Sonnenaufgang vor, der den Raum in helles Licht tauchte und alle bösen Monster verschwinden ließ.
Nichts geschah. Das Mädchen sah ihn stumm mit bebender Unterlippe an.
Anscheinend konnte er den Traum des Mädchens nicht so kontrollieren wie seinen eigenen - das heißt, er brauchte ihre Mitarbeit. "Hör mir zu, Kleine", versuchte er es erneut. "Dies ist nur ein Traum - und du kannst ihn steuern. Stell dir einfach vor, dass es die Monster nicht gibt, ja?"
"Monsta!" antwortete das Mädchen nach kurzem Zögern. Und: "Puppe!"
Das war nicht die Reaktion, die sich Harry erhofft hatte. Wieso mussten kleine Kinder so schwer von Begriff sein?
Wenn er in diesem Zimmer schon nichts im großen Stil steuern konnte, dann vielleicht wenigstens...
...eine leuchtende Laterne materialisierte sich in seinen Armen.
Wenigstens etwas, dachte er erfreut. "Kleine, schau mal her!" Er hielt dem Mädchen die Laterne hin. "Das ist eine Zauberlaterne! Wenn man damit auf ein Monster leuchtet, dann geht es weg."
Das Kind sah die Laterne fasziniert an. "Monsta weg?" fragte es ungläubig nach.
"Monster weg, genau", bestätigte Harry. "Hier, versuch es!"
Zögernd, als könnte sie beißen, nahm das Mädchen die Laterne aus den Armen des Gnoms und hielt sie in Richtung eines schwarzen Schattens, der gerade um das Kopfende des Bettes kroch. Als das Licht der Laterne ihn traf, verschwand er tatsächlich, und zwar völlig unspektakulär: Er verschmolz mit den natürlichen Schatten im Hintergrund, als hätte es ihn nie gegeben.
"Monsta weg!" jauchzte das Kind erfreut und krabbelte mit der Laterne in der Hand zur anderen Seite des Bettes.
Kurz darauf waren alle Monster im Raum 'weggeleuchtet', und das Mädchen strahlte Harry glücklich an, die Laterne eng umschlungen.
"Monsta weg!" stellte es fest.
"Ja", bestätigte Harry. "Und jetzt gehen wir beide deine Mama suchen, was hältst du davon?"
"Mama!" jubelte das Mädchen, klatschte in die Hände und sah ihn erwartungsvoll an.
Harry dachte kurz nach. "Wie machen wir das jetzt am besten... mal sehen, vielleicht klappt das ja."
Er konzentrierte sich und wuchs innerhalb von Sekunden auf Menschengröße.
"Puppe?" fragte das kleine Mädchen ungläubig nach.
"Ja, Kleine - eine große Puppe", grinste der Gnom und nahm das Kind in die Arme. "Suchen wir die anderen, ja?"
Er stieß sich vom Boden ab und...

...stand mit dem Kind im Arm in einer riesigen, natürlichen Höhle. Schmale, steinerne Stege verbanden kleine Felsinseln miteinander, der Rest bestand aus brodelnder Lava, die eine kaum auszuhaltende Hitze verströmte.
In der Höhle herrschte geschäftiges Treiben: Unzählige Gestalten in maßgeschneiderten Anzügen und mit Aktenkoffern in der Hand eilten über die Stege, redeten miteinander, tauschten Dokumente aus oder wirkten einfach nur beschäftigt. Sie alle glichen sich wie ein Ei dem andern: Alle hatten glühende rote Augen, ein beinahe dreieckiges Gesicht und zwei Hörner.
"Monsta!" flüsterte das Mädchen ängstlich und umklammerte seine Anti-Monster-Laterne fester.
Noch etwas befand sich in der Höhle: Auf einigen Felsinseln waren an den Wänden und auf dem Boden in regelmäßigen Abständen Menschen festgekettet. Jedes Mal, wenn einer der Teufel an so einem Menschen vorbeikam, griff er einen bereitliegenden Dreizack und durchbohrte die festgekettete Gestalt, bevor er weiter seinen Beschäftigungen nachging. Das Geschrei der Gefolterten ging beinahe im Brodeln der Lava unter.
Wessen Traum mochte das sein? Der der Mutter, des Mannes, oder des Jungen? Harry blieb nichts anderes übrig als die ganze Höhle zu durchsuchen um den Träumer zu finden.
Mit dem Kind auf dem Arm wanderte er los. Keiner der Teufel nahm Notiz von ihm, sie gingen ihrer Arbeit nach, als ob er nicht existieren würde. Die Arbeit, fand Harry schnell heraus, bestand darin (neben dem Foltern) mit jedem anderen Teufel, dem sie begegneten, einen belanglosen Satz über das Wetter zu wechseln ("Die Lava ist heute wieder besonders heiß, nicht wahr?"), mit dem jeweiligen Gegenüber einen Zettel aus den Aktentaschen auszutauschen (die, soweit Harry das erkennen konnte, alle mit sinnlosem Kauderwelsch beschrieben waren), und dann genauso ziellos wie zuvor weiterzuwandern.
Nicht nur die Teufel, auch die gefolterten Menschen sahen alle identisch aus. Sie alle hatten puppenartige Gesichter, und das einzige, was sich in ihrem Gesichtsausdruck änderte, war der Mund, der immer wie mechanisch aufklappte und monoton schrie, wenn sie von einem Dreizack durchbohrt wurden.
Mehr oder weniger ziellos wanderte der Gnom durch die Höhle, bis er auf den Mann stieß, der auf dem Platz der Zerbrochenen Monde vor seinen Augen eingeschlafen war. Er war an die Wand gekettet und blutete aus mehreren tiefen Wunden. Harry lief zu ihm und räusperte sich.
Der Mann sah auf und betrachtete den 1,80 Meter großen Gnom irritiert. "Dich habe ich irgendwo schon einmal gesehen", krächzte er. "Bist du auch tot?"
"Nein... und es mag dich überraschen, aber du bist auch nicht tot. Du träumst nur."
"Das ist ein Trick, oder?"
"Ja", bestätigte ein gerade vorbeikommender Teufel und zog einen Zettel aus seiner Aktentasche. "Hier steht es: 'Gemeine Tricks der Hölle, Nummer 128. Erzähle der gemarterten Seele, dass ihre Qualen nur ein Traum sind. Wenn sie gerade Hoffnung geschöpft hat, durchbohre sie mit einem Dreizack.'" Er steckte den Zettel wieder ein, griff nach einem Dreizack, der auf dem Boden bereitlag, und durchbohrte den Mann, bevor Harry reagieren konnte.
"Bitte, glaube mir!" sagte er, während der Teufel wieder weiter marschierte. "Dies ist alles nur ein Produkt deiner Phantasie. Wenn du dir vorstellst, dass es nicht mehr existiert, dann existiert es auch nicht mehr."
"Moment..." meinte der Mann, "dich und das Kind habe ich doch auf diesem Platz gesehen, oder? Aber da warst du irgendwie... kleiner..."
"Wir sind beide dort eingeschlafen und träumen. Glaube mir einfach!" Harry erzählte, was er über den Alp wusste.
"Und das hier ist alles nicht real?"
"Nein. Es existiert nur, solange du daran glaubst."
Der Mann zögerte kurz...
...und die drei standen in absolutem Nichts. Rings um sie herum erstreckte sich eine endlose blaue Weite, die nur durch zwei weit entfernt im Raum schwebende Kugeln unterbrochen wurde.
"Den Göttern sei Dank", seufzte der Mann. "Solch einen Alptraum möchte ich kein zweites Mal erleben. Und nun?"
"Wir müssen die beiden anderen finden, um aufwachen zu können. Äh... könntest du die Kleine nehmen?" Harry hielt dem Mann das Mädchen entgegen, der es nach kurzem Zögern etwas unbeholfen entgegennahm. "Ich fühle mich irgendwie seltsam, wenn ich mit einem Menschen rede, der so groß ist wie ich selbst." Der Gnom schrumpfte wieder auf seine eigentliche Größe. "Übrigens, mein Name ist Harry."
"Rolf... Rolf Baumeister", stellte der Mann sich vor.
"Also, Rolf - die beiden Kugeln dort dürften die Träume der beiden sein, die noch fehlen. Auf geht's!"
Er stieß sich ab und...

...stand mit seinen Kameraden in einem endlosen, schnurgeraden Korridor. Zumindest war er so lang, dass in keiner Richtung ein Ende zu erkennen war - er reichte weiter, als man blicken konnte. Etwa alle drei Meter befand sich sowohl links als auch rechts eine Tür.
"Wo sind wir?" fragte Rolf nach.
"In einem anderen Traum, vermute ich", entgegnete Harry.
In diesem Moment öffnete sich dort, wo sie standen, eine der Türen und eine zierliche, dunkelhaarige Frau trat auf den Flur. Sie trug eine Schürze und ein Kopftuch, und in den Händen einen Eimer und einen Feudel.
"Mama!" jubelte das Mädchen, als es die Frau sah.
"Nicht jetzt, Sarah", antwortete die Mutter müde, ohne aufzusehen. "Mama muss noch schnell diesen Flur zu Ende wischen, dann hat sie Zeit für dich, ja?"
"Moment!" brüllte eine donnernde Stimme, die alle bis auf die Frau zusammenzucken ließ, durch den Raum. Sarah sah auf und fing an zu weinen. "Erst muss sie mir noch das Essen machen und Wäsche waschen, danach hat sie vielleicht Zeit. Natürlich nur, wenn das Geschirr schon gespült ist."
Das Echo der Stimme hallte noch eine ganze Weile durch den Raum, bevor es verstummte, und Rolf versuchte etwas ungeschickt, die kleine Sarah zu beruhigen.
"Hör, was Papa sagt, Schatz, ja?" meinte die Frau zu ihrer Tochter.
"Äh... Entschuldigung", meinte Harry, der von der Szene etwas peinlich berührt war, "aber ich würde gerne darauf hinweisen, dass..."
Erst jetzt schien die Frau die beiden anderen wahrzunehmen. "Wer seid ihr? Was habt ihr mit meiner Sarah gemacht?"
"Es ist vielleicht etwas schwer zu glauben", versuchte Harry zu erklären, "aber das hier ist nicht real. Ich bin von der Stadtwache, und..."
"Mona?" donnerte die Stimmer erneut, "wer ist da?"
"Ein Wächter, Schatz!" rief die Frau zurück.
"Sag ihm, wir geben nichts, und komm endlich!"
"Es tut mir Leid, mein Herr, aber wir geben nichts", wandte die Mutter sich an Harry.
"Denk doch bitte einmal kurz nach", entgegnete der Gnom. "Du stehst hier in einem kilometerlangen Flur und redest mit einer körperlosen Stimme, die in Fettdruck spricht. Glaubst du wirklich, dass das real ist?"
Die Frau sah ihn irritiert an.

***

Die Gasse war schmal, dunkel und schmutzig. Überquellende Mülltonnen standen an den Seiten, und Fliegen brummten irgendwo in den Schatten. In einiger Entfernung waren die typischen Hinterhof-Geräusche zu hören - das Bellen von Hunden, das Weinen kleiner Kinder und das Gezanke alter Ehepaare.
Rupert rannte - die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er war nicht der Typ zum rennen: seine Beine waren etwas zu kurz, sein Bauch etwas zu dick, und sein Gesicht sah aus, als hätte es in den letzten Monaten viel zu wenig frische Luft abbekommen. Langsam verließ ihn seine Ausdauer, und das Ende der Gasse war noch nicht zu sehen. Er sah nicht nach hinten, weil ihn das wertvolle Sekunden gekostet hätte, aber er wusste, dass seine Verfolger aufholten. Sicher war es nur noch eine Frage der...
...jemand stellte ihm ein Bein, und mit einem lauten Aufschrei fiel er kopfüber auf das Straßenpflaster.
"Ups - entschuldige bitte, ich habe dich gar nicht kommen sehen", sagte eine höhnische Stimme.
Eine Mischung aus Blut und Tränen floss das Gesicht des Jungen herunter, als er sich umdrehte. Sie hatten ihn überholt? Wie war das möglich?
Seine Brille war ihm bei dem Sturz von der Nase gefallen. Er tastete mit seinen Händen den Straßenboden ab, als er es knirschen hörte.
"Oh - das tut mir Leid", meinte die Stimme. "Sieht so aus, als wäre ich versehentlich auf deine Brille getreten."
Der Junge konnte nur die Umrisse seiner Peiniger erkennen, aber er wusste auch so, wer es war: Die drei schlimmsten Rüpel seiner Klasse. Die, deren Lebenssinn es zu sein schien, ihm das Leben zur Hölle zu machen.
"Wer so blind ist wie du, sollte eben nicht so schnell laufen", meinte eine zweite Stimme. "Kein Wunder, wenn dann so etwas passiert. Komm, ich helfe dir auf, ja?"
Eine Hand griff nach ihm und riss ihn mit aller Gewalt auf die Beine. Der Schwung war so groß, dass der Junge gleich wieder das Gleichgewicht verlor und gegen eine der Mülltonnen taumelte.
"Was ist denn los?" fragte eine dritte Stimme. "Ach so, ich verstehe. Du möchtest etwas von dem Müll haben, ja?"
"Nein, bitte nicht", wimmerte Rupert, obwohl er wusste, dass das alles nur noch schlimmer machen würde. Konnte nicht einmal eine Woche vergehen, ohne dass er seiner Mutter die blauen Flecken erklären musste? Andererseits war es ihr auch egal, was er trieb. Solange sie jeden Monat einen neuen Freund anschleppen konnte, war sie glücklich und kümmerte sich kaum um ihn.
"He, Junge!"
Rupert sah sich um: Mitten in der Gasse waren auf einmal vier Gestalten erschienen. Zwei davon waren erwachsene Menschen, eines ein kleines Kind, und die vierte war der Größe nach unverkennbar ein Gnom.
Einer seiner Peiniger leerte eine der Mülltonnen über ihm aus und begrub ihn unter einer Ladung stinkenden Abfalls.
Rupert spuckte angewidert aus und blinzelte die Neuankömmlinge an. Irgendwie kamen sie ihm bekannt vor... aber wieso?
"Helft mir!" bat er sie.
"Du musst dir selber helfen, Junge", meinte einer der Erwachsenen. "Das hier ist nur ein Traum - und du kannst ihn steuern."
Ein Traum? Da war doch etwas...
Und dann erinnerte er sich: Vor kurzem erst hatte er einen Gnom gesehen, und zwar auf dem Platz der Zerbrochenen Monde. Dort hatten auch drei Menschen gelegen, und... geschlafen. Und dann...
...muss er selbst eingeschlafen sein.
Rupert stand auf und sah seine Widersacher an. Was dies wirklich nicht real? War es sein Traum, und konnte er ihn steuern, wie der Mann es gesagt hatte?
Er hob seine Hand und...
...die Jungen, die ihm gegenüber standen und ihn herausfordernd ansahen, gingen in Flammen auf. Das Feuer versengte ihr Haar, zerschmolz ihnen das Gesicht und ließ die Flüssigkeit in ihren Augäpfeln zischend verdampfen. Die drei Jungen schrien markerschütternd, schrien selbst dann noch, als sie eigentlich schon lange hätten tot sein müssen. Wie angewurzelt standen sie in der Gasse und schrien, während sich ihre Haut von ihnen abschälte und als Asche zu Boden fiel.
Die Flammen spiegelten sich in Ruperts Augen, während er dem Spektakel aufgeregt zusah. Es stimmte! Es war nur ein Traum - und was für einer! Ein Traum, den er selbst steuern und kontrollieren konnte, ein Traum, in dem er die Macht hatte, das zu tun, was er tun wollte.
Die anderen standen währenddessen ruhig da, ohne etwas zu sagen. Mona hielt der kleinen Sarah, die ihre Anti-Monster-Laterne umklammerte, die Augen und Ohren zu, während Harry und Rolf darauf warteten, dass der Junge sich abreagiert hatte.
"Hör zu, Junge," sagte Harry schließlich, nachdem die Flammen erloschen waren und von den drei Jugendlichen nur noch kleine Aschehaufen übrig waren. Rupert drehte sich zu ihm um, und ein seltsames Funkeln war in seinen Augen.
"Du hattest deinen Spaß, und jetzt komm mit, ja? Wir müssen alle Träume beenden, um wieder aufwachen zu können."
"Nein."
"Doch, der Professor für angewandte..."
"Ich meine: Nein, ich komme nicht. Noch nicht."
Rupert sah den Gnom fest an. Dies war die Welt, die er sich immer gewünscht hatte. Eine Welt, in der er stark war und ihn niemand herumschubsen würde. Er dachte nicht im Tra... er dachte keinesfalls daran, sie jetzt schon wieder zu verlassen.
"Aber ohne deine Kooperation sind wir hier alle gefangen!"
"Euer Pech, würde ich sagen." Er hatte etwas gut bei der Welt - und er würde seine Chance nutzen.
"Hör mal zu, du verzogener kleiner Lümmel..." Rolf machte einen Schritt auf Rupert zu, als plötzlich zwei mit Schwertern und Schilden bewaffnete Skelettkrieger aus dem Boden wuchsen.
"Was zum..." Rolf taumelte zurück, und die Skelette stellten sich links und rechts von dem Jungen auf.
"Dies ist sein Traum", meinte Harry niedergeschlagen zu seinen Kameraden. "Leider hat er hier wohl alle Trümpfe in der Hand."
"Aber die können uns doch nichts tun, oder?" fragte Mona irritiert nach. "Ich meine, Traumwesen können uns ja wohl kaum verletzen... oder?"
"Ich weiß es nicht - und ehrlich gesagt, möchte ich das Risiko nicht eingehen. Wer weiß, was für Regeln hier gelten."
Während sie sprachen, veränderte sich um sie herum die Landschaft: Aus der dunklen Seitengasse wurde ein prächtiger Thronsaal mit einer hohen Decke und kunstvoll verzierten Marmorsäulen. Zwei äußerst leicht bekleidete Mädchen hockten neben dem Thron und sahen Rupert mit einladendem Schlafzimmerblick an.
Auch der Junge selbst hatte sich verändert: Er war größer, schlanker und muskulöser geworden. Sein Gesicht war männlicher und erwachsener: Die Pickel waren verschwunden, und ein kleiner Spitzbart schmückte das Kinn.
Mit glasigen Augen sah er sich um und dachte an all die Möglichkeiten, die sich ihm eröffneten.
"Hör mal..." Harry versuchte, an die Vernunft des Jungen zu appellieren. "Das bringt doch alles nichts. Es ist nicht real!"
"Na und? Es ist besser als die Realität! Und jetzt verschwindet aus meinem Traum, ja?" Er klatschte in die Hände, und die Skelettkrieger setzten sich in Bewegung.
"Monsta!" Die kleine Sarah klammerte sich ängstlich an ihre Mutter.
"Kommt, wir sollten hier fürs erste verschwinden." Harry nickte seinen Mitstreitern zu und...

...sie alle standen wieder im Nichts zwischen den Träumen.
"So ein arroganter, verkommener, kleiner..." Rolf begann, erregt auf und ab zu wandern. Ein Teppich materialisierte sich unter ihm - anscheinend ertrug es sein Unterbewusstsein nicht, dass er auf purem Nichts entlang ging. "Ich meine... was bringt es einem, in einer Phantasiewelt ein großer Held zu sein, wenn man nicht einmal die Probleme in der Realität bekämpfen kann? Wie krank im Kopf muss man nur sein, um an so etwas Gefallen zu finden? Wenn ich den..."
"Das hilft doch jetzt alles nichts", warf Mona ein. "Wenn wir hier raus wollen, dann müssen wir den Jungen irgendwie davon überzeugen, zu kooperieren."
"Und wie? Er kam mir nicht gerade so vor, als könnte man vernünftig mit ihm reden. Und wenn er in seinem Traum allmächtig ist, dürfte es schon schwer sein, an ihn heran zu kommen."
"Ich habe jedenfalls keine Lust, hier zu warten, bis er wieder zur Vernunft kommt. Wahrscheinlich würden unsere Körper verdursten, bevor es so weit ist."
Die drei schwiegen eine Weile nachdenklich. Die kleine Sarah krabbelte auf dem Teppich herum und spielte mit einem Teddybären, der beinahe so groß war wie sie selbst.
"Ein bisschen Einfluss haben wir wohl auch in anderen Träumen", überlegte Harry laut und betrachtete das Mädchen nachdenklich. Eine gemütliche Sofagarnitur mit Beistelltisch erschien auf dem Teppich, und Rolf und Mona setzten sich darauf. Harry materialisierte sich einen passenden Miniatur-Sessel auf dem Tischchen und nahm ebenfalls Platz.
"Ich konnte in Sarahs Traum meine Größe ändern und eine Laterne 'beschwören', fuhr er fort. "Aber die Sonne aufgehen lassen... das konnte ich zum Beispiel nicht."
"Und du meinst, damit haben wir eine Chance?" entgegnete Mona. "Wir haben doch gesehen, was er kann: alles!"
"Vielleicht schaffen wir es so zumindest, bis zu dem Jungen vorzustoßen. Und dann..." Harry verstummte.
"Was dann?" hakte Rolf nach. "Dann fragst du ihn nett, ob er es sich nicht vielleicht doch noch einmal überlegen könnte?"
"Ich weiß auch nicht", erwiderte der Gnom. "Vielleicht hört er ja auf uns, wenn wir vernünftige Argumente bringen."
"Blödsinn!" widersprach Rolf erregt. "Der Bengel wird nicht auf uns hören. Ich schlage vor, wir schlagen ihn von hinten nieder, bevor er reagieren kann, dann dürfte sein Traum auch aufhören, oder?"
"Das bezweifle ich. Technisch gesehen sind wir alle schon bewusstlos, wie sollten wir also im Traum das Bewusstsein verlieren können?"
"Wir sollten es wenigstens versuchen! Besser, als hier untätig herum zu sitzen, ist es allemal."
"Bist du sicher? Was ist denn, wenn wir einfach erst einmal abwarten?" überlegte Mona. "In ein paar Stunden hat er sich vielleicht abgeregt und ist bereit, dies hier zu beenden."
"Warten? Ich denke nicht dran!" empörte sich Rolf. "Dieser Rotzlöffel..."
"Ich glaube auch nicht, dass das etwas bringt", unterbrach Harry. "Der Junge sah mir nicht so aus, als würden ihm einige Stunden in dieser Scheinwelt ausreichen. Außerdem schadet es unseren Körpern, wenn wir länger hier bleiben."
Wieder schwiegen die drei eine Zeitlang. Sarah spielte inzwischen Fangen mit dem Teddybären, der etwas unbeholfen hinter ihr her tapste, und juchzte dabei vor Freude.
"Ich habe jedenfalls keine Lust, hier weiter tatenlos zu sitzen", meinte Rolf schließlich und stand auf. "Wir sollten es einfach versuchen, ihn zu überwältigen und bewusstlos zu schlagen. Vielleicht klappt es ja."
"Ich habe wirklich nicht das Bedürfnis, mich auf einen Kampf einzulassen", meinte der Gnom und Mona nickte. "Wie gesagt: wir wissen nicht, was passiert, wenn wir hier im Traum verletzt werden oder gar sterben."
"Und? Hat einer von euch eine bessere Idee?"
"Ich nicht", musste Harry zugeben.
"Wenn es nicht klappt, können wir den Traum doch einfach wieder verlassen", hakte Rolf nach.
"Na gut, von mir aus versuchen wir es", gab der Gnom schließlich nach. Und, an Mona gewandt: "Was ist mit dir und deiner Tochter? Wollt ihr hier warten?"
"Nein." Mona schüttelte energisch den Kopf. "Wir bleiben hier nicht allein zurück."

***

Der Traum hatte sich komplett verwandelt: Von den Gassen und Hinterhöfen Ankh-Morporks war nichts mehr zu sehen. Stattdessen erstreckten sich goldene Kornfelder und dichte Wälder, so weit das Auge reichte, und mitten in der Landschaft stand ein atemberaubendes, alles überragendes Schloss. Die ganze Szenerie wirkte wie aus einem Bilderbuch: Vögel zwitscherten, die Sonne schien, und die Kornfelder waren so perfekt goldgelb, dass sie beinahe leuchteten.
Die drei Menschen und der Gnom standen unweit des Schlosses und sahen sich um. Fröhlicher Gesang war von mehreren Stellen zu hören: Er stammte von den Bauern, die über beide Ohren lächelnd auf den Feldern standen und pflügten.
Harrys (zugegebenermaßen geringen) Erfahrungen mit Landwirtschaft zufolge sangen und lächelten nur die wenigsten Bauern bei der Arbeit - eigentlich nur die, die auf ihren Feldern illegale Pflanzen für den Eigenkonsum anbauten. Aber diese sahen tatsächlich so aus, als würde ihnen die Arbeit Spaß machen.
"Seid willkommen, oh fremde Wanderer!" rief einer der Bauern ihnen zu und winkte lachend. "Willkommen im großartigen Königreich unseres geliebten Herrschers Rupert I.!"
"Jetzt ist er vollkommen übergeschnappt", knurrte Rolf. "Los, gehen wir zum Schloss."
An noch mehr singenden Landwirten und an mehreren Gruppen bildhübscher Mädchen, die auf den Wiesen Reigen tanzten und sich gegenseitig Blumen ins Haar flochten, gingen sie vorbei und näherten sich dem Schloss.
"Es ist bewacht", stellte Mona fest. "Was ist, wenn sie uns nicht reinlassen?"
"Dann kämpfen wir uns durch", entgegnete Rolf, und eine halbautomatische Repetierarmbrust[10] erschien in seiner Hand.
Mona nickte und nahm ihre Tochter wieder auf den Arm.

Die beiden Torwachen nahmen Haltung an, als die Gruppe sich näherte. "Niemand darf das Schloss betreten", erklärte eine von ihnen. "Befehl des großartigen Königs Rupert I."
Rolf musterte die beiden. "Glaubt mir, das würde ich nicht machen, wenn ihr real wärt." Er zog die Armbrust, die er hinter seinem Rücken versteckt hatte, und drückte ab.
Die Brust des Wächters explodierte in einem Schauer aus Blut, Fleisch und Knochensplittern. Mona schrie auf und hielt ihrer Tochter die Augen zu. Rolf war so überrascht, dass er nicht merkte, wie die andere Wache mit ihrem Speer ausholte - Harry, der auf Rolfs Schulter saß, hatte gerade noch Zeit, einen Bolzen aus seiner eigenen Armbrust abzuschießen.
Der Bolzen traf die Wache in die Seite, und ein enormer Schwall Blut spritzte aus der Wunde. Der Wächter taumelte zurück und fiel auf den Boden, wo er noch eine Weile zuckte und das Blut stoßweise aus der Wunde schwoll, bis es versiegte und der Wächter still lag.
"Was bei allen Dämonen war denn das?" Rolf starrte entgeistert auf das blutige Chaos vor ihm.
"Das muss alles an der Phantasie des Jungen liegen", murmelte Harry. "Anscheinend ist die ziemlich blutig."
"Ekelhaft." Rolf schüttelte sich. "Na los, schnappen wir uns den Burschen."

Das Innere des Schlosses war erstaunlich leer und düster: Das ganze Schloss war nicht mehr als ein riesiger, leerer, verstaubter Raum, in dessen Mitte sich eine große Falltür befand.
"Was ist das jetzt?" fragte Mona verwundert.
"Keine Ahnung, aber wir müssen hier wohl runter." Rolf öffnete die Tür und ein abgestandener Geruch schlug der Gruppe entgegen. "Hier ist eine Leiter. Seid ihr sicher, dass ihr mitkommen wollt?"
"Ich bleibe hier nicht allein", wiederholte Mona mit Nachdruck.
"Na gut. Ich und Harry gehen vor, ihr kommt hinterher."
Rolf kletterte mit dem Gnom auf der Schulter die Leiter herunter. Die beiden fanden sich in einem langen, von Fackeln erleuchteten Gang wieder, der in beiden Richtungen nach einer Weile abknickte.
"Alles klar, gib mir die Kleine!" rief er Mona zu, die zuerst Sarah herunterreichte und dann selbst herabstieg.
"In welche Richtung wollen wir gehen?"
"Gute Frage. Ich denke, wir..."

harry


"Humph, bist du das?"
"Was?"

ja, ich bin's. was


"Nein, nicht du - hört ihr das nicht?"

ist los? warum wacht ihr nicht auf


"Nein, was denn?" Rolf und Mona schüttelten den Kopf.

"Mein Kollege - der, der mir gesagt hatte, dass ich träume. Er redet mit mir." Und, in Richtung Tunneldecke: "Wir haben ein Problem - der Junge möchte nicht aufwachen."

wieso möchte er nicht aufwachen


"Er ist irgendwie nicht ganz richtig im Kopf... wir haben einen Plan, aber falls der nicht klappen sollte, pass auf: Wir brauchen..." Der Gnom redete eine Weile mit der Tunneldecke.

bist du sicher? das ist ziemlich riskant


"Tu es einfach. Wenn sonst nichts funktioniert, dann vielleicht das."

in ordnung. viel glück euch allen


"Gute Idee", meinte Rolf anerkennend. "Aber das löst nicht die Frage, in welche Richtung wir gehen sollten."
"Eine ist so gut wie jede andere, würde ich sagen. Los geht's!"
Die Gruppe setzte sich in Bewegung und war vielleicht fünf Meter gegangen, als ein trippelndes Geräusch sie anhalten ließ. Von beiden Seiten des Korridors kamen auf einmal dutzende von hundegroßen Spinnen angelaufen.
"Zurück nach oben!" rief Rolf Mona zu, aber die Spinnen hatten die Leiter schon erreicht. Harry zückte seine Armbrust, und Rolf ließ ein Schwert in seiner Hand erscheinen.
"Monsta!" rief Sarah erschrocken, und ihre Anti-Monster-Laterne materialisierte sich in ihrer Hand. Schon hatten die Spinnen die Gruppe eingekreist und gingen mit messerscharfen Beißwerkzeugen auf sie los. Harry und Rolf schlugen und schossen auf die Ungetüme ein, und Sarah beleuchtete eines nach dem anderen, welche alle, sobald das Licht sie berührte, zerplatzten.
"Monsta weg!" stellte Sarah schließlich zufrieden fest. Alle Spinnen waren tot und lagen in Lachen aus grünem Schleim.
"Ja, Kleines, das hast du gut gemacht", lächelte Harry.
"Wie kann denn das sein?" fragte Rolf verwirrt. "Wenn in diesem Traum die Regeln des Jungen gelten, wieso hilft dann die Laterne von dem Mädchen gegen die Viecher hier?"
"Ich weiß es nicht", entgegnete Harry. "Vielleicht ist ihre Phantasie stärker, weil sie noch so jung ist? Auf jeden Fall dürfte uns das einen Vorteil verschaffen."
"Wollen wir mal hoffen, dass du Recht... was ist das?" Rolfs Blick war auf etwas zwischen den schleimtriefenden Spinnenstücken gefallen. Mit angewidertem Gesichtsausdruck hockte er sich auf den Boden und wühlte zwischen den Brocken herum, bis er es gefunden hatte. "Eine Goldmünze. Und dort drüben liegt noch eine. Was hat das zu bedeuten?"
"Und in dieser Spinne hier steckt ein rostiger Dolch", bemerkte Mona, und deutete auf einen anderen Kadaver. "Warum? Haben die das Zeug gefressen?"
"Das weiß wohl nur der Junge", meinte Harry.

***

Rupert war glücklich. Er konnte sich nicht erinnern, ob er schon einmal so glücklich gewesen war - wenn ja, musste das schon lange her sein. Er war ein guter Herrscher, sein Volk liebte ihn, und jeder respektierte und achtete ihn. Außerdem... er lächelte und streichelte die beiden nackten Gestalten, die rechts und links neben ihm lagen und sich an ihn schmiegten. Er hatte ihnen das Aussehen von den beiden schönsten und beliebtesten Schülerinnen seiner Klasse gegeben - Mädchen, die ihn in der Realität nie auch nur angesehen hätten. Warum konnte nicht jeder Traum so sein wie dieser?
Es war ja nicht so, dass er vorgehabt hätte, nie mehr aufzuwachen. Aber die anderen mussten doch einsehen, dass er diese Chance nutzen wollte, oder nicht? Sie konnten doch sicher ihm zuliebe noch eine Weile mit dem Aufwachen warten.
Und wenn sie versuchten, ihn hier herauszureißen, wenn er das noch nicht wollte? Nun ja, er hatte ja sein kleines diabolisches Labyrinth eingerichtet. Bis sie sich durch die zehn unterirdischen Stockwerke mit immer brutaleren und gefährlicheren Monstern zu ihm durchgekämpft hatten, würden ein paar Stunden vergehen, die er noch nutzen konnte.
Natürlich wollte er nicht, dass ihnen etwas passierte - schließlich war er ein gütiger König, kein tyrannischer Mörder. Deshalb hatte er an einigen Stellen im Verlies magische Waffen, Rüstungen und Heiltränke versteckt, damit sie es zwar überlebten, aber eine Weile brauchen würden. Und aus einer puren Laune heraus hatte er noch Goldstücke hinzugefügt.
Wenn sie es zu ihm schafften, nahm er sich vor, dann würde er auch wieder aufwachen - aber die Zeit bis dahin musste er so gut es ging auskosten. Er weckte die beiden Mädchen neben sich auf. "He, ihr beiden Hübschen, wie wäre es, wenn ihr noch einmal..."

Weiter kam er nicht, da sich in diesem Moment die Tür öffnete und die anderen eintraten. Sie alle trugen verschiedene Waffen (nur das Kind hielt eine leuchtende Laterne) und waren besudelt mit Blut und Schleim in allen erdenklichen Farben.
"Ihr?" Rupert stand auf und zauberte sich schnell einen langen, schwarzen Trenchcoat herbei, um seine Nacktheit zu bedecken. "Was macht ihr denn schon hier? Ihr habt es durch mein Labyrinth geschafft?"
"Ja", bestätigte der Mann.
"Alle zehn Etagen?"
"Ja."
"Und ihr habt auch den Riesigen Dreiköpfigen Todesteufel des Verderbens besiegt?"
"Du meinst, das Ding hier direkt vor der Tür? Ja."
"Wie denn das? Mit dem Silbernen Eisbogen der Verbesserten Treffsicherheit? Oder mit dem Leuchtenden Paladin-Flammenschwert der Vernichtung des Bösen?"
"Dem was? Nein, mit einer Laterne."
"Mit einer Laterne? Ich hatte keine Laterne im Labyrinth... Das gilt nicht! Ihr habt geschummelt! Na wartet, ich..." Rupert war wütend. Das konnten die doch nicht machen! Denen würde er es zeigen! Er hob die Hand und...

...sah, wie der Mann und der Gnom ihre Armbrüste zückten und abdrückten und...

...verlangsamte die Zeit. Die Bolzen flogen träge wie betrunkene Schmetterlinge heran und verursachten kleine Turbulenzen in der Luft, während Rupert sich mit wehendem Trenchcoat zurücklehnte und ihnen mit Leichtigkeit auswich. Dann sprang er mit einem gewaltigen Satz in die Luft und die ganze Welt schien sich einmal um ihn zu drehen, bevor er vor den anderen landete und ihnen mit einem Griff ihre Waffen fortnahm.
"Was war denn das?" fragte Rolf irritiert.
"Das war der Beweis, dass ihr hier keine Chance gegen mich habt", lächelte Rupert. Alle seine Vorsätze waren vergessen. "Aber jetzt haben wir genug gespielt. Verschwindet von hier und lasst mir meine Ruhe, oder ich werde andere Saiten aufziehen."
"Hör doch zu!" versuchte es der Gnom erneut. "Je länger wir hier bleiben, umso mehr schadet es unseren Körpern - und wenn wir zu lange zögern, dann..."
"Hör auf!" Rupert sah Harry wütend an. "Ich habe gesagt, ich komme nicht mit, und dabei bleibt es auch! Wenn ihr nicht..." Er verstummte. Ein summendes Geräusch, wie von einem riesigen Insektenschwarm, war auf einmal zu hören. Es schien von überall gleichzeitig zu kommen, und wurde immer lauter.
"Was ist das?" Der Junge sah sich verängstigt um. "Ein Trick von euch?"
"Trick? Was für ein Trick?" fragte Harry nach.
"Was auch immer ihr versucht, dies ist mein Traum, und hier bin ich der... WAS IST DAS???"
Die Wand des prunkvoll ausgestatteten Zimmers fing auf einmal an, in sich zusammenzufallen und zu zerbröseln. Als wäre der ganze Raum nichts weiter als ein auf Papier aufgemaltes Bühnenbild, zerfielen die Wände zu konfettigroßen Schnipseln, die zu Boden fielen und dahinter eine grenzenlose Schwärze offenbarten, in der vereinzelte eisblaue Pünktchen glühten wie dämonische Augen. Auch die Möbel im Zimmer, der Fußboden und die beiden Mädchen, die den Geschehnissen stumm zugesehen hatten, schrumpelten in sich zusammen.
"Hört sofort damit auf!" schrie Rupert die Gruppe an. "Was fällt euch ein, in meinem Traum herumzupfuschen?"
Er winkte mit der Hand, und die Gruppe stand auf einmal im Freien. Eine glühend heiße Sonne brannte vom Himmel, und zu allen Seiten erstreckte sich Sand, so weit das Auge reichte. Neben ihnen stand ein einsamer Kaktus, auf dem ein Geier saß und sie erwartungsvoll und hungrig anblickte.
"Ergebt euch!" ertönte eine Stimme hinter ihnen.
Rolf drehte sich mit Harry auf der Schulter um, und sie sahen Rupert auf einem Pferd sitzen, eine Lanze auf sie gerichtet. Neben dem Jungen, der die typische klatschianische Beduinen-Tracht trug, saßen zwanzig weitere Beduinen, ebenfalls hoch zu Ross und ebenfalls schwer bewaffnet.
"Der hat zu viele Karl-Juni-Bücher gelesen", murmelte Rolf und sagte laut: "Hör doch auf, Junge - das bringt doch nichts!"
"Versucht so etwas wie eben nicht noch einmal", meinte Rupert mit leicht nervöser Stimme, ohne darauf einzugehen. "Ich warne euch zum letzten Mal: Verlasst meinen Traum, oder..."
Ein Brausen wie von einem enormen Sturm erfüllte auf einmal die Luft. Ruperts Pferd scheute und warf ihn ab; die Beduinen brüllten und wendeten ihre Reittiere, um ihr Heil in der Flucht zu suchen.
Der Sand unter ihnen geriet in Bewegung: Er bildete kleine Wirbel, durch die die Körner rieselten wie durch einen Abfluss in der Badewanne. Gleichzeitig riss der Himmel auf, und totale Finsternis zeigte sich dahinter.
"Nein!" rief Rupert. "Was passiert hier?"
Ein meterlanges Tentakel peitschte auf einmal aus dem Boden und packte den Jungen am Knöchel, während um ihn herum der Sand immer schneller abfloss. Rupert schrie und schlug um sich, aber das Tentakel zog ihn erbarmungslos herunter in den Sand.
"Helft mir doch!" schrie er, und Sand rieselte in seinen offenen Mund. Er war bereits bis zu den Schultern eingesackt, und wurde immer tiefer gezogen. "Wieso... wieso kann ich nichts machen?" Er spuckte aus. "Dies ist doch mein Traum!"
Mit einem letzten Ruck verschwand der Kopf des Jungen im Sand und der Schrei verstummte.
Kurz darauf verschwanden mit einem schmatzenden Geräusch die letzten Sandkörner, und die Gruppe um Harry stand in absoluter Schwärze, die durch ein paar eisblaue Punkte unterbrochen wurde.
"Wo ist er hin?" fragte Mona, die ihre Tochter die ganze Zeit über an sich gepresst hatte.
Bevor einer der anderen antworten konnte, hörten sie das Klirren von Schwertern und das Szenario änderte sich erneut. Sie standen jetzt in einer großen Höhle, die von mehreren Fackeln an den Wänden erleuchtet wurde. In der Mitte stand der Junge in einem Cohen-der-Barbar - Outfit und mit einem dazu passenden, geradezu grotesk übertriebenen, muskulösen Oberkörper und hieb mit einem riesigen Schwert auf Dutzende von Tentakeln ein, die sich aus allen Richtungen auf ihn zu schlängelten. Der Kampf schien aussichtslos - immer, wenn er eines der Tentakel abgeschlagen hatte, erschienen dafür zwei neue.
"Ihr..." brachte Rupert zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als er die Gruppe sah, und hieb auf einen weiteren Fangarm ein. "Ihr seid dafür verantwortlich, habe ich recht? Na wartet, das werdet ihr büßen!"
"Du siehst nicht aus, als würdest du uns gefährlich werden können", meinte Harry im Plauderton. "Die einzige Chance, die du hast, ist, aufzuwachen und den Traum zu beenden."
"Niemals! Ich kriege diese Dinger schon klein - dies ist mein Traum, und ich bestimme, was hier passiert!"
Wie um seine Worte Lügen zu strafen, wand sich von hinten ein Tentakel um seine Beine. Rupert schrie auf und schlug mit dem Schwert darauf ein, bis es sich wieder löste.
"Nein, tust du nicht", meinte der Gnom. "Ich fürchte, dein Unterbewusstsein ist jetzt stärker."
"Was habt ihr denn gemacht?"
"Mein Kollege hat dir etwas eingeflößt, das schwere Alpträume verursacht. Ich weiß nicht, was, aber anscheinend wirkt es."
"Aber ich muss ihn doch steuern können!" Ein weiteres Tentakel fiel dem Schwert zum Opfer, ohne dass das an der Anzahl in der Höhle etwas geändert hätte.
"Nein. Ein Alptraum dieser Größenordnung ist für den Alp ein Festmahl - dadurch wird er so stark, dass auch du nicht mehr gegen ihn ankommst. Wie gesagt, deine einzige Chance dürfte es sein, aufzuwachen."
"Aber... ich will nicht!" Hinter der Fassade des Kriegers kam wieder der pubertierende Junge zum Vorschein. "Ihr seid so gemein! Wieso darf ich nicht meinen Spaß haben?"
"Es ist nur zu deinem besten", entgegnete Harry. "Sieh es endlich ein!"
Der Junge hieb mit neu aufgeflammten Zorn auf die seine Gegner ein. Wie ein Berserker wütete er zwischen den Tentakeln, bis der Boden der Höhle mit einer durchgehenden Schicht aus Schleim und abgehackten Fangarmen bedeckt war. Doch es half nichts - immer enger wurde er umzingelt, und immer mehr Tentakel wuchsen aus den Wänden und der Decke der Höhle. Schließlich blickte er die anderen noch einmal zornig an und schloss die Augen...

...und Harry öffnete seine und sah in das grinsende Gesicht von Humph MeckDwarf.
"Hallo, Spießchen", meinte der. "Alles klar?"
"Ich..." Harry sah sich um. Er lag auf einem Kopfkissen auf dem Platz der Zerbrochenen Monde, und links von ihm sah er Mona, der man ebenfalls ein Kissen untergelegt hatte. "Ich glaube schon." Er richtete sich auf. Erstaunlicherweise war er müde.
"Harry, das ist der Professor für Kryptozoologie." Humph deutete auf einen schmächtigen, blonden Zauberer, der vor ihm stand und ihn nervös ansah.
"Es tut mir Leid, dass ich euch solche Unannehmlichkeiten bereitet habe", druckste er. "Es wird nicht noch einmal vorkommen."
"Habt ihr den Alp erwischt?" wollte Harry wissen.
Der Professor hob ein seltsames Gebilde hoch - einen hölzernen Ring, in dem Fäden in einem komplizierten geometrischen Muster gespannt und mit Federn geschmückt waren. Die Fäden vibrierten leicht und schimmerten bläulich.
"Das ist ein Traumfänger", erklärte er. "Damit haben wir ihn erwischt, als er euch verlassen hat."
Neben Harry hatten inzwischen auch die anderen ihre Augen geöffnet. Mona hatte Sarah in die Arme genommen, und zwei FROG-Wächter hinderten Rolf daran, auf Rupert loszugehen.
"He, immer mit der Ruhe!" Harry stand auf und lief zu den beiden. "Lass ihn in Frieden, sonst müssen wir dich wegen Körperverletzung verhaften."
"Aber..." Rolf blickte den Jungen zornig an. "Willst du ihn einfach so laufen lassen?"
"Weswegen sollten wir ihn verhaften? 'Wiederstand gegen die Staatsgewalt im Traum'? Außerdem glaube ich, dass er seine Lektion gelernt hat." Er sah den Jungen an, doch der blickte nur zornig zurück. "Ihr habt mir alles vermasselt..." murmelte er.
"Also doch nichts gelernt?" fragte Harry enttäuscht nach. "Na gut... du wirst trotzdem drüber hinweg kommen. Und jetzt lauf schnell nach Hause, bevor wir ihn" - er deutete auf Rolf - "nicht mehr halten können, ja?"
Rupert nickte stumm und lief los.
"Alles in Ordnung mit euch beiden?" wandte Harry sich an Mona.
"Ja... Sarah scheint es ziemlich gut verkraftet zu haben." Wie zur Bestätigung streckte das Mädchen seine Hände nach dem Gnom aus: "Puppe!"
"Gnom, Kleines, nicht Puppe - aber das lernst du schon noch", lächelte Harry.
"Alles klar?" fragte Humph, der sich dem Gnom von hinten genähert hatte.
"Ja, ich denke schon. Aber jetzt würde ich gerne endlich Feierabend machen und ruhig schlafen - möglichst ohne zu träumen."

[42] *Fußnote außer Betrieb*
[1] Na gut, drei - nein, vier Möglichkeiten. Die dritte: Es können auch Leichen mit Wertgegenständen sein. Die vierte: Es sind Gnome, die lustige Kunststücke aufführen und hoffen, dafür ein paar Cent zu bekommen.

[2] "Unverantwortliches Experiment von senilen Zauberern setzt die Bevölkerung Ankh-Morporks einem nicht hinnehmbaren Risiko aus und/oder verursacht gefährliche Risse im Raum-/Zeit-Kontinuum." Die Kennzeichenliste der Wache enthielt 95 Kürzel - von "V/A" ("schurkischer Erzvampir versucht, mit seinen Untergebenen Ankh-Morpork einzunehmen") bis "H/M" ("Verrückter Hohepriester opfert Menschen, um uralte böse Gottheit wiederzuerwecken"). In einer Stadt, in der derartige Vorfälle häufiger waren als Taschendiebstähle, brauchte man früher oder später solche Kürzel, um die Schreibarbeit erträglicher zu machen.

[3] Wenn man versucht, den durchschnittlichen Morporkianer mit einem gelben Band aufzuhalten, auf dem "Betreten verboten" oder so etwas steht, kann man sich sicher sein, dass der innerhalb von 10 Minuten sowohl das Band, als auch alles, was auf der anderen Seite liegt, geklaut und verkauft hat. Deshalb lautete die Aufschrift auf dem Band, was die Wache verwendete: "Siehst du den Troll dort? Siehst du die Keule, die er hält?". Die meisten Leute verstanden die Bedeutung dieses Absperrbandes nach spätestens einem Versuch.

[4] Andere von ihrer Nichtexistenz zu überzeugen, gilt als Königsdisziplin der ephebianischen Philosophie - getreu dem Witz: Descartes sitzt in einer Bar. Der Barkeeper fragt ihn, ob er noch etwas trinken möchte - Descartes antwortet: 'Ich denke nicht.' Puff, löst er sich auf.

[5] Es spielten unter anderem eine Brieftaube, ein Anschnallgurt, ein Helm und ein Tauben-Abschuss- Katapult eine Rolle. Nähere Einzelheiten sind bei OLt Daemon zu erfahren.

[6] Abgesehen von ein paar kleinen Details - so bilden sich in Ameisenhaufen nie Gruppen von neugierigen Passanten, wenn eine Ameise eine andere umgebracht hat. Und keine Ameise würde versuchen, einer solchen Gruppe Würstchen zu verkaufen.

[7] Na was wohl? Angst vor Tauben, natürlich.

[7a] Schwarze Umhänge werden in Ankh-Morpork von den verschiedensten Schichten und Berufen getragen - Vampire, Assassinen, Diebe und Geheimgesellschaftsmitglieder sorgen alle für einen regen Absatz. Es gibt sogar eine eigene "Schwarze- Umhangs-Schneider"-Gilde, die sich vor längerer Zeit von der Schneidergilde abgespalten hat und deren Mitglieder sich ganz auf schwarze Umhänge in allen Schattierungen für jeden Anlass und jedes Klientel spezialisiert haben.

[9] Die Lehre von Fabeltieren. Was hier auf der Erde eine ziemlich exotische Wissenschaft ist, die in erster Linie auf dem Studium alter Bücher und Augenzeugenberichten von senilen Greisen oder inzüchtiger Landbevölkerung beruht, ist auf der Scheibenwelt ein relativ alltäglicher Wissenschaftszweig, der Teile von Zoologie und Thaumaturgie vereint.

[10] Mit einem kleinen Dämonen, der die Bolzen schneller nachlud, als ein Mensch das gekonnt hätte.




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