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Tricia leidet immer häufiger unter Albträumen. Haben diese Träume einen realen Hintergrund?
Dafür vergebene Note: 12
Im Wachhaus ging es hoch her. Kerzen leuchteten auf allen einigermaßen geraden Flächen und Zweige schmückten die Wände der Eingangshalle. In der Halle sassen und standen Dutzende von lachenden und durcheinanderredenden Wächtern. Viele von ihnen hatten ein neues Getränk probiert, dass sich "Glühender Wein" nannte. Den leuchtendroten Wangen mancher Wächter nach zu urteilen, trug das Getränk den Namen nicht zu Unrecht. Wer von der Straße durch eines der hell erleuchteten Fenster geblickt hätte, hätte eine fröhliche und ausgelassene Menschenmenge gesehen.
Leise zog Tricia die Tür zu ihrem Büro hinter sich zu. Wenn sie ganz aufmerksam zuhörte, konnte sie das Lachen und Feiern der anderen noch hören. Langsam setzte sie sich auf den Boden und starrte blicklos in den erloschenen Kamin ihres Büros. Sie fröstelte und zog die Beine eng an den Körper, um sich ein wenig zu wärmen. Eine einzelne Träne suchte ihren Weg über Tricias Wange, bis hinab zum Kinn. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte die Wächterin sie weg. Während die Geräusche der Feiernden noch leise zu ihr hochdrangen, sass Tricia regungslos und weinte. Mit einer beinahe zärtlichen Handbewegung strich sie immer wieder über den Schild, der das einzige war, was ihr von ihrer Herkunft geblieben war. Kein Name oder ein Ort, nichts. Nur dieser zerkratzte Schild. Wie gerne würde sie auch einmal im Gemeinschaftsraum darüber jammern, dass sie dieses Monat wieder keine Ahnung hätte, was sie ihren Eltern schreiben sollte. Und wie sehr würde sie sich wünschen, dass zum Fest des Schneevaters auch ihr jemand kratzige, selbstgestrickte Socken schicken würde. Tricia wünschte sich, sie könnte den anderen klarmachen, wie viel ihnen ihre Familie wert sein sollte. Nur wer keine hatte, konnte das verstehen. Sie wünschte sich, sie hätte ihre Eltern wenigstens kennen gelernt. Zu wissen, von wem sie ihre Ungeduld geerbt hätte oder ob ihr Vater ein guter Schwertkämpfer gewesen wäre. Aber sie wusste ja nicht mal genau, woher sie kam. Als sie gefunden worden war, konnten die Zauberer auch nur herausfinden, dass sie den Fluss herab geschwommen war, auf ihrem Schild. Aber wo genau ihre Eltern sie ausgesetzt hatten, konnte ihr niemand sagen. Und warum hatten ihre Eltern sie überhaupt ausgesetzt? Hatten sie sie nicht geliebt? War sie anders als die anderen Kinder ihrer Heimat gewesen? Oder hatte irgendeine Gefahr das Leben in ihrer Heimat bedroht, gegen die der beinahe sichere Tod auf dem Ankh ein glückliches Schicksal gewesen wäre? So viele Fragen und keine Antworten. Dies würde ihr 22. Fest des Schneevaters werden, ohne Familie. Mit einem Uniformärmel wischte sie sich die Tränen ab, die ihr übers Gesicht rannen. Erschöpft vom Weinen schlief sie auf dem kalten Steinboden ein.
"Du bist in Gefahr, sieh dich vor", unruhig murmelte Tricia im Schlaf vor sich hin und drehte sich auf dem Boden hin und her. "Sei vorsichtig", mit einem lauten Aufschrei schreckte sie hoch. Noch völlig benommen von ihrem Albtraum, richtete sie sich mühsam auf. Nach der Nacht auf dem harten Fußboden taten ihr alle Knochen im Leib weh und sie hatte das Gefühl nur noch aus blauen Flecken zu bestehen. Sie sah zum Fenster hinüber. Morgengrauen, noch weit vom offiziellen Dienstbeginn entfernt. Tricia hauchte gegen ihre klammen Hände und beschloss, in der Damenumkleide ein heißes Bad zu nehmen. Vielleicht würde das ihre Lebensgeister wieder etwas aufmuntern. Auf dem Weg nach unten fiel ihr der Traum wieder ein. Irgendetwas daran war äußerst sonderbar gewesen. Sie hatte nichts und niemand gesehen, alles war schwarz gewesen. Irgendetwas hatte verbrannt gerochen. Und dann diese Stimme. Eine Frauenstimme, aber mit einem Unterton, der von großer Furcht und Schrecken kündete. Als ob die Person, der die Stimme gehört hatte, gerade in Todesangst die Worte rief. In der Eingangshalle stieg Tricia vorsichtig über die schnarchenden und prustenden Wächter, die den Heimweg nach der Feier gestern abend nicht mehr geschafft hatten. Im Bad der Damenumkleide angekommen, machte sie einen großen Kessel Wasser heiß und begann, sich auszuziehen. Plötzlich sah sie einen blauen Fleck an ihrem linken Arm. Überrascht drehte sie den Kopf und schielte hinüber. Tatsächlich sah sie dort einen perfekten Handabdruck. Die Finger waren ganz deutlich zu erkennen. Aber wer hatte sie in letzter Zeit so hart am Arm gepackt, dass sie einen Fleck zurückbehalten hatte? Sie konnte sich nicht erinnern. Mit einem Achselzucken ging sie darüber hinweg und stieg in die Badewanne. Sie ließ sich mit einem wohligen Seufzer in die heißen Wassermassen gleiten und atmete mit geschlossenen Augen tief den Tannenduft des Badewassers ein. Plötzlich hörte sie wieder diese Stimme. "Pass auf dich auf", hauchte die Stimme jetzt leise und beinahe unhörbar. "Ich kann dich nicht mehr beschützen"
Mit einem erschrockenen Aufschrei sprang Tricia aus dem Bad und sah sich um. Die Frau mußte doch irgendwo hier sein. Das Bad hatte keine Fenster und nur einen Eingang. Doch es war niemand außer ihr im Zimmer. Verwirrt und auch ein wenig ängstlich zog Tricia sich an und verließ das Wachhaus. Ihr Weg führte sie zu Madame Gimpet.
"Ich hatte letzte Nacht fürchterliche Albträume und heute habe ich Stimmen, oder besser gesagt, nur eine Stimme gehört", redete sie sich bei der Wahrsagerin ihr Leid von der Seele. Madame Gimpet wohnte in der Wohnung neben Tricia und die beiden waren inzwischen recht gute Freunde geworden.
"Herzchen, lass mich doch mal deine Hand sehen, vielleicht können wir da mehr erfahren", vom Klimpern eines guten Dutzends Armreifen begleitet, streckte ihr Madame Gimpet die Hand entgegen.
Zögernd legte Tricia ihre Hand in die der Wahrsagerin. Madame Gimpet setzte ihre kleine runde Brille auf und beugte sich über Tricias Handfläche. Mit einem Finger strich sie leicht über ihre Handfläche. Plötzlich stieß sie einen kleinen Schrei aus und fuhr zurück. Heftig atmend musterte sie Tricia.
"Liebes, irgendwas stimmt hier nicht", sie beugte sich nochmal über Tricias Hand und schüttelte vehement den Kopf. "Du... du hast keine Schicksalslinien mehr"
"Was?", mit einem ungläubigen Blick auf Madame Gimpet untersuchte Tricia ihre Hand selbst. Doch das Medium hatte recht. Wo noch vor einer Woche alle möglichen Linien kreuz und quer gelaufen waren, war jetzt nur eine einzige glatte Fläche. Keine Lebenslinie, keine Liebeslinie, keine Linie für Erfolg, nichts. Als ob jemand mit einem riesigen Radiergummi alles ausgelöscht hätte.
"Aber das kann doch nicht sein. Das kann es doch nicht geben?", verzweifelt starrte Tricia auf ihre Hand.
"Das ... das hab ich noch nie gesehen", Madame Gimpet war beinahe sprachlos. "Ich habe darüber gelesen, aber ich habe es nie für möglich gehalten", murmelte sie leise vor sich hin.
"Was haben sie darüber gelesen? Was bedeutet das?"
"Es ... es heißt, dass es einen Zauber gibt, um jemand aus dem Bereich des Schicksals zu entfernen. Um jemand vor seinem eigenen Schicksal zu schützen"
"Aber wer ... und wieso... warum?", Tricia schüttelte ungläubig den Kopf.
"Ich weiß es nicht, Liebes, ich weiß es nicht", traurig sah die Wahrsagerin sie an.
"Ich muss Urlaub bekommen. Noch nie war etwas in meinem Leben so wichtig wie das", Tricia stand vor Rinces Schreibtisch und wurde immer ärgerlicher.
"Solange Hauptmann Lewton nicht hundertprozentig einsatzfähig ist, bist du für RUM zu wichtig, als dass du einfach gehen könntest. Und damit ist der Fall abgeschlossen", Rince gab ihr zu verstehen, dass sie sein Büro jetzt verlassen sollte.
Wutschnaubend warf Tricia die Tür hinter sich ins Schloss und stapfte verärgert in ihr Büro. Nach einigem Auf- und Ablaufen, packte sie sich einen Zettel und kritzelte darauf: "Es tut mir leid. Aber es muss sein. Die Wache kommt auch ohne mich zurecht". Mit einem letzten blick zurück verließ sie ihr Büro und rannte heim in ihre Wohnung. Wenn Rince sie aus der Wache werfen wollte, wenn sie wieder zurück war, dann konnte sie auch nichts mehr ändern. Irgendetwas ging hier vor und sie hatte sich vorgenommen, dem auf die Spur zu kommen.
Bei einem Pferdehändler kaufte sie sich ein ausdauerndes Pferd und ein Lastenpferd. Sie packte Vorräte für mehrere Wochen ein und machte sich auf den Weg.
Einige Tage lang folgte sie nun schon dem Flusslauf des Ankh. Nah beim steinigen Ufer ritt sie entlang und suchte nach irgendwelche Anhaltspunkten. Wofür wusste sie nicht genau, aber sie hatte das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.
Noch einige Tage später, sie war jetzt schon in der Nähe der Spitzhornberge, bemerkte sie plötzlich ein kribbelndes Brennen in den Handflächen. Erst dachte sie, dass es von langen Halten der Zügel kommen müßte, aber als sie nachsah, entdeckte sie, dass ihre Handlinien in einem blassen Feuerrot zurückgekehrt waren. Zwar waren sie noch undeutlich, aber das gab ihr die Bestätigung, das Richtige zu tun. Nachts hatte sie jetzt immer heftigere Albträume. Immer wieder hörte sie die Stimme, die sie aufforderte umzukehren. Wenn sie aufwachte, zitterte sie oft am ganzen Körper und konnte sich manchmal kaum bewegen. Auch die Pferde waren nervös und wieherten erschrocken beim kleinsten Rascheln. Zwei Tage später hatte sich in der Nacht das Packpferd losgerissen und war mit den gesamten Vorräten davon galoppiert. Fassungslos mußte Tricia am Morgen feststellen, dass sie mitten im Nirgendwo stand, ohne Wasser oder Nahrung. Trotzdem beschloss sie, nicht umzukehren. Ihre Handflächen brannten inzwischen wie Feuer. Sie konnte die Zügel kaum mehr halten und die Linien in ihrer Hand leuchteten grellrot. Sie ernährte sich von Beeren, die sie im Unterholz fand und trank Wasser aus kleinen Bächen. Gerade, als sie die Hoffnung schon aufgegeben hatte, jemals irgendwo anzukommen, sah sie in der Ferne eine kleine Rauchfahne aufsteigen. Mit neuem Mut trieb sie ihr Pferd in diese Richtung. Plötzlich sah sie mehrere Männer auf das kleine Häuschen zulaufen. Einer sass auf einem pechschwarzen, riesigen Pferd, drei andere gingen zu Fuß. Alle hatten blitzende Schwerter gezogen und schwere eiserne Rüstungen an. Tricias Hand brannten immer stärker, je näher sie dem Haus kam und ein ungutes Gefühl ließ es ihr kalt den Rücken hinunter laufen. Aus der Weite sah sie, wie die Männer mit einem wuchtigen Fußtritt die dünne Haustür ausstießen und kurz darauf einen Mann und eine Frau herauszerrten. Tricia gab ihrem Pferd die Sporen und hoffte, noch rechtzeitig anzukommen. Wer auch immer diese beiden waren, die Männer führten sicher nichts Gutes im Schilde.
"Na, wie fühlst du dich jetzt, Alter?", der Mann auf dem Pferd spuckte verächtlich vor dem am Boden liegenden Mann. "Wo ist deine Macht geblieben? Alles, was du vollbracht hast, ist Unglück über unser Dorf zu bringen."
Der Mann krümmte sich zusammen und versuchte, sich vor den stampfenden Hufen des schwarzen Hengstes in Sicherheit zu bringen. Seine Frau wurde von zwei Männern festgehalten, sie zerrte und kämpfte, aber die beiden waren zu stark für sie.
"Du weißt, dass das nicht stimmt. Es hätte alles nur hinausgezögert, aber am Ende hätte sich das Schicksal trotzdem erfüllt", der Mann versuchte, sich aufzurichten.
"Pah, dummes Geschwätz. Eure verbotene Verbindung hat das Böse in diesem Berg wieder erweckt und der Tag naht, an dem es stark genug sein wird, ans Freie zu treten. Denkst du, dein Blut könnte es versöhnen?", mit einem grausamen Lachen ritzte er die Wange des Mannes mit seinem Schwert. Ein dunkelroter Blutstropfen quoll aus der Wunde hervor und fiel auf den Boden.
"Du weißt so gut wie ich, dass es nicht durch meinen Tod aufgehalten werden kann. Der Fluch ist zu alt, um so leicht gebrochen zu werden, Hildur Gurbradsson"
"Sieh an, du kennst meinen Namen, Verräter. Aber was soll ich dir sagen: Ich glaube dir nicht. Vielleicht willst du den Fluch gar nicht aufhalten? Vielleicht steckst du mit dem unter einer Decke? Vielleicht ist es dein Werk und all die Jahrhunderte hast du die Dorfbewohner getäuscht? Ich sage dir eines, Verräter: Wenn dein Tod auch nicht den Fluch aufhält, mich wird er glücklicher machen", mit einem Aufschrei stieß er dem vor ihm knienden Mann das Schwert in die Brust. Die Frau zwischen den beiden anderen Männern schrie entsetzt auf und konnte sich endlich losreißen. Sie lief zu ihrem Mann und nahm ihn in den Arm. Als sie sah, dass er tot war, weinte sie.
"Denk dran, wenn du den Fluch nicht aufhalten kannst, dann geschieht dir dasselbe wie deinem Mann, Verräterin", mit einem Ruck riss Hildur sein Pferd herum und verschwand mit seinen Gefolgsleuten im Wald.
Tricia hatte das Ganze beim Näherreiten beobachten können. Als Hildur dem Mann das Schwert in die Brust gebohrt hatte, verspürte sie plötzlich einen pochenden Schmerz und hätte beinahe das Bewusstsein verloren. Benommen schüttelte sie den Kopf und versuchte, sich wieder im Sattel aufzurichten. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung. Langsam ritt sie näher an das Haus heran. In einiger Entfernung stieg sie ab und band ihr Pferd an einem Baum fest. Sie wollte die arme Frau nicht zu sehr erschrecken, wenn sie näher kam. Die Frau kniete immer noch am Boden, den Leichnam ihres Mannes im Arm und wurde von Schluchzern geschüttelt.
"Hallo? Kann ich ihnen irgendwie helfen?", Tricia kam sich schon blöd vor, als sie die Worte gerade ausgesprochen hatte. Vermutlich wollte diese arme Frau, die gerade zur Witwe gemacht worden war, jetzt am allerwenigsten von irgend jemand belästigt werden, den sie noch nie gesehen hatte.
Als die Frau ihre Stimme hörte, erstarrte sie, drehte sich aber nicht um. Tricia nahm an, dass sie einfach erschrocken war und fürchtete, dass noch jemand aus dem Gefolge Hildurs gekommen war, um sie zu quälen.
"Ich will nichts Böses, ich habe die Männer gesehen, vielleicht kann ich helfen?", versuchte Tricia sie zu beruhigen.
"Tricia? Bist du es wirklich?", die Frau sprang plötzlich auf und kam auf Tricia zu. Sie fasste sie am Arm und schaute sie ungläubig an. Unter Tränen wiederholte sie immer wieder "Du bist es, du bist heimgekommen."
Nachdenklich schaute Tricia die Frau an. Dann nahm sie sie in die Arme. "Ja, ich bin heimgekommen." Dann fiel ihr Blick auf den Leichnam und plötzlich wurde ihr klar, dass sie ihren Vater gerade vor einigen Sekunden verloren hatte, noch bevor sie ihn wirklich gefunden hatte. Sie war so nahe gewesen, wenn sie sich nur ein wenig beeilt hätte, ein winziges bisschen schneller geritten wäre, dann hätte sie ihn vielleicht retten können.
"Du hättest nichts für ihn tun können", sagte ihre Mutter sanft.
"Aber ... wie", Tricia schluchzte.
"Ich erkläre dir alles, komm, mein Kind"
Die beiden Frauen gingen in das kleine Häuschen. Der Leichnam des Mannes begann immer durchscheinender zu werden, bis er plötzlich völlig verblasste. Eine schimmernde Wolke in Form eines Bären stieg auf, verharrte kurz über der Stelle und wurde dann vom Wind zerstreut.
Tricia sass in einem winzigen Zimmer vor einem knisternden und knackenden Kamin. Immer noch konnte sie sich nicht verzeihen, dass sie nicht eher da gewesen war. Sie war ihrem Vater so nah gewesen und doch hatte sie ihn nicht rechtzeitig erreicht.
"Tricia, Liebes, du darfst dir keine Vorwürfe machen. Alles ist vom Schicksal vorherbestimmt und kein Mensch kann daran etwas ändern."
"Wieso weißt du, was ich denke?"
"Ich bin eine Hexe, so wie du auch einen Teil meines magischen Fähigkeiten in dir trägst. Und dazu eine Teil des Wissens deines Vaters"
"Wer war mein Vater und wer war dieser Mann, ich muss ihn finden, ich werde ihn rächen", sprudelte es aus Tricia heraus.
"Nein, alles zu seiner Zeit. Es ist eine lange Geschichte", begann ihre Mutter zu erzählen. "Alles begann, vor 22 Jahren.
Du musst wissen, dass es hier in der Gegend zwei Dörfer gibt. Die Familien in den beiden Dörfern sind schon seit Ewigkeiten miteinander verfeindet. Keiner weiß mehr, wie es genau angefangen hat, auf jeden Fall gibt es eine schrecklichen Fluch, der die Heirat zwischen den Dörfern verbietet. Es heißt, dass, wenn zwei es trotzdem wagen, werden sie ein Ungeheuer aufwecken, das sich dann an den Dorfleuten rächen wird. Deinem Vater und mir, uns war der Fluch egal. Dein Vater war der Sohn des Schamanen aus seinem Dorf und ich die Tochter der Hexe aus meinem Dorf. Wir dachten, wir würden schon einen Weg finden, das Unglück aufzuhalten. Zusammen sind wir aus den Dörfern geflohen und haben uns hier versteckt. Als ich dann aber eines Tages schwanger wurde, wurde uns klar, dass damit der Fluch noch schlimmer wäre. Nach der Legende mußte ein Kind, das Eltern aus verschiedenen Dörfern hatte, sofort nach der Geburt getötet werden. Die Dörfler zwangen uns, dich zu töten und verstießen uns aus ihrer Gemeinschaft. Nur unserem Status als Hexe und Schamane ist es zu verdanken, dass sie uns nicht auch getötet haben. Dein Vater täuschte sie und schlachtete ein Schwein, währenddessen ich dich zum Fluss brachte. Meine Mutter hatte mir am Totenbett anvertraut, dass es vielleicht eine Möglichkeit gäbe, den Fluch zu brechen. Dein Vater und ich, wir wirkten einen Zauber über dich, der dich deinem Schicksal entreißen sollte, damit du nicht hierher zurückkommst. Aber anscheinend hat er nicht richtig gewirkt oder du hast seine Dickköpfigkeit geerbt. Am 22. Jahrestag deiner Aussetzung, so prophezeite mir ein Weissager aus dem Dorf, sollte sich das Unglück ereignen. Dein Vater und ich hatten Vorkehrungen getroffen und wollten gegen den Fluch ankämpfen. Aber jetzt ist dein Vater tot und ich weiß nicht, ob ich allein die Kraft habe, dem zu widerstehen."
Tricias Mutter sank erschöpft in ihren Sessel. Jetzt hatte sie alles gesagt, was ihre Tochter wissen mußte.
"Aber wir können doch gemeinsam kämpfen. Ich bin eine gute Kämpferin geworden in Ankh-Morpork", Tricia sprang auf und wanderte ruhelos in dem Zimmer hin und her. "Wir dürfen nicht aufgeben"
"Mein Kind, du hättest nicht herkommen dürfen. Du bist das Ziel des Fluchs. Ich hatte gehofft, dass seine Macht nicht bis nach Ankh-Morpork reichen würde. Aber ich hatte mich getäuscht. Du muss gehen. Versuch zu fliehen. Irgendwohin"
"Nein, niemals. Was ist mit den Dorfbewohnern? Was wird mit ihnen geschehen, wenn der Fluch ausbricht?
"Ich weiß es nicht. Bisher wurde der Fluch jeder Generation dadurch gesühnt, dass die Eltern und das Kind getötet wurden. Und ich befürchte, dass Hildur das auch dieses Mal zu Ende führen wird"
Die nächsten drei Tage lebte Tricia bei ihrer Mutter und versuchte mit ihr herauszufinden, wie der Fluch gebrochen werden könnte. Doch so sehr die beiden Frauen auch forschten und alte Schriftrollen wälzten, es schien keine Möglichkeit zu geben.
"Es kann doch nicht jede Generation ein solches Paar geben, das dann diesem Fluch zum Opfer fällt", Tricia war den Tränen nahe. "Und woher kommt der Fluch überhaupt, irgend jemand muss ihn doch einmal ausgesprochen haben?"
"Ich weiß es nicht, es ist schon zu lange her", hilflos zuckte ihre Mutter mit den Schultern. "Ich habe einen Verdacht, aber ich weiß nicht, ob es richtig ist. Wir haben auch kaum Zeit mehr, heute abend ist es soweit, wenn die Dorfbewohner nicht vorher kommen."
Schweigend packten die beiden Frauen einige Sachen zusammen und verließen stumm das Haus. Als sie einige hundert Meter den Berg hinaufgegangen waren, konnten sie unten an der Hütte in der Dämmerung mehrere Menschen erkennen, die mit Fackeln an die Tür klopften. Nach einiger Zeit warfen sie die brennenden Fackeln auf das Strohdach und als die Hütte in Flammen aufging, trug der Wind das Gejohle und Geschrei der Menge bis zu Tricia. Ihre Mutter wandte den Blick von ihrem Zuhause ab und weinte leise. Vorsichtig nahm Tricia sie in den Arm und auf einem großen flachen Stein setzten sie sich. Sie warteten.
Um Mitternacht erhellte nur der Mondschein den Stein, auf dem Tricia und ihre Mutter schliefen. Plötzlich begann der Wind zu pfeifen und die Baumwipfel rauschten furchterregend. Noch schläfrig sah Tricia auf und sah gerade noch, wie ihre Mutter den Weg weiterging. Schnell richtete sie sich auf und folgte ihr. Nach einiger Zeit kam sie an ein Felsplateau auf dem ein durchscheinendes Schloss stand. Die Mauern waberten, wie in einer großen Sommerhitze und Blitze zuckten auf die Zinnen herab. Ihre Mutter lief immer schneller auf die Burg zu. Direkt vor dem Burgtor konnte Tricia einen Mann und eine Frau in altmodischen Gewändern sehen. Auch diese beiden waren halbdurchscheinend und seltsam unwirklich. Die beiden schienen zu streiten. Tricia konnte hören, dass der Mann der Frau vorwarf, ihm untreu gewesen zu sein. Sie hätte ihn mit einem Mann aus dem anderen Dorf betrogen. Die Frau beteuerte ihre Unschuld, aber der Mann schien ihr nicht zu glauben. Ihre Mutter lief unterdessen an den beiden vorbei, zu einem Mann, der im Dunkel einer großen Tanne stand. Scheinbar vergnügt sah er dem Streit der zwei Gespenster zu.
"Du, hier?" Tricias Mutter baute sich vor dem Mann auf.
"Ach, sieh an, Gudrid, die Frau eines Verräters", der Mann lachte höhnisch.
"Du bist einer der Weisen vom Berg, du bist unsterblich, was erfreust du dich an dem grausamen Fluch?" sie zeigte anklagend mit dem Finger auf die zwei Streitenden.
"Oh, du weißt doch, die Unsterblichkeit ist langweilig auf Dauer. Warum nicht mal etwas mit den Sterblichen spielen"
Gudrid schnappte nach Luft. "Du steckst dahinter? Der Mann, dem alle vertrauen, den alle um Rat fragen, du hast den Fluch in die Welt gebracht?"
"Sieh ihn dir doch an, diesen Narren. Nie habe ich eine treuer ergebene Frau gesehen. Aber er glaubt schon dem kleinsten Gerücht. Die Menschen wollen betrogen werden und sie wollen leiden. Und das gebe ich ihnen", der Mann lachte geringschätzig.
"Jede Generation treibst du ein Familie in den Abgrund, du tötest die Menschen ohne mit der Wimper zu zucken, für ein Verbrechen, das nie gesühnt werden kann, weil es nie ein Verbrechen war. Nur hervorgerufen durch deinen üblen Zauber"
"Tja, meine Liebe, aber so ist das nun. Und mach dich bereit, du und deine Tochter, ihr seid gleich die nächsten. Wenn der Geist seine Frau getötet hat, wird er sich euch zuwenden"
"Nein, dieser Fluch muss ein Ende haben", verzweifelt warf sich Gudrid nach vorne auf den Mann. Völlig überrascht von ihrem Angriff fiel er zu Boden. Zusammen rollten sie einige Meter weiter in Richtung eines Abgrundes. Er wehrte sich heftig, aber Gudrid klammerte sich immer fester an ihn. Dann waren sie über der Kante und fielen in die Tiefe. Wenige Meter weiter unten konnte er sich an einer Wurzel festklammern. Gudrid zerrte an ihm und versuchte ihn in die Tiefe zu reißen. Plötzlich bildete sich eine durchscheinende bärenförmige Wolke über der Hand des Mannes. Eine Tatze bildete sich und mit einem heftigen Hieb schlug sie die Hand des Mannes von der Wurzel weg. Mit einem lauten Schrei stürzten der Mann und Gudrid in den unendlich scheinenden Abgrund.
Tränenüberströmt stand Tricia am Rand und starrte ins Dunkel des Abgrunds. Ihre Mutter hatte sich geopfert, um den Fluch zu beenden. Die wenigen Tage, die sie mit ihr verbracht hatte, kamen ihr nun vor wie ein kostbares, ja sogar unbezahlbares Geschenk. Halbblind vor Tränen drehte sie sich um und sah noch, wie das Schloss verblasste, vor der Tür ein Paar stehend, das sich herzlich umarmte. Fröstelnd schlang sie die Arme um sich und wollte sich gerade zum Gehen wenden, da bemerkte sie einen Lichtschein aus dem Abgrund aufsteigen. Als sie näher kam, schoss ein Licht ihr entgegen und sie sprang zurück. Direkt vor ihr bildete sich im Nebel der Winterkälte ein Paar.
Ein Mann, mit einem Bärenfell umgehängt und eine Frau in einem strahlendweißen Kleid. Tricias Mutter berührte mit ihrer durchscheinenden Hand zart ihre Wange: "Sei dir sicher, wir werden immer an dich denken" und ihre Vater kam näher und schloss sie zum ersten Mal in ihrem Leben in seine starken Arme. Dann verblassten die beiden und es war wieder finster.
Traurig und einsam wanderte Tricia den Berg hinab. Sie war sich mit einmal nicht mehr sicher, ob sie das von ihren Eltern nicht nur geträumt hatte. Vielleicht lag sie ja noch immer in ihrem Büro und das war wieder nur einer ihrer Albträume. Plötzlich bemerkte sie eine dünne Kette um ihren Hals. Sie tastete nach dem kleinen Anhänger und als sie das Medaillon öffnete, glitzerte ihr im Mondschein ein winziges Abbild ihrer Eltern entgegen. Seltsam getröstet schloss sie ihre Hand darum und machte sich auf den Weg: zurück in ihr Leben in Ankh-Morpork.
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