Graffiti-Anschlag auf die Unsichtbare Universität

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von Wächter Sillybos (GRUND)
Online seit 06. 10. 2001
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Über Nacht wurde die Außenmauer der Unsichtbaren Universität mit Graffiti beschmiert. Und die Chancen, dass es NICHT vorsätzlich geschah, stehen bei eins zu einer Million...

Dafür vergebene Note: 13

* Im Wachlokal *

"Ein ungeheurer Zustand! Das kann so nicht bleiben! Da müssen wir was tun! Und die Schuldigen müssen gefunden werden!"
Es war acht Uhr morgens.
Mustrum Ridcully marschierte im Wachlokal auf und ab und teilte sein Leid der Welt im Allgemeinen und der Stadtwache im Besonderen mit.
"Ugh."
Der Bibliothekar war auch da. Er stand neben dem Tisch und folgte dem Erzkanzler, wenn auch nur mit seinem Blick. Im Gegensatz zu Ridcullys horizontalem Auf und Ab bewegte der Bibliothekar seinen Kopf auch noch vertikal. Er bestätigte die Ausführungen Ridcullys ausdrücklich.
"Okay, dachte ich, das mag vielleicht ein dummer Streich gewesen sein, und hab dann Frau Stubenrein Bescheid gesagt, die war vielleicht sauer, fällt das doch nun überhaupt nicht in ihren Aufgabenbereich. Ach was, das fällt überhaupt nicht in den Aufgabenbereich der Unsichtbaren Universität. Das ist Sache der Allgemeinheit. Und damit Eure Angelegenheit!" Beim letzten Satz schaute Ridcully Fähnrich Schmiedehammer böse an. Er hatte zusammen mit Wächter Sillybos das mittlerweile etwas zweifelhafte Vergnügen,
die Frühschicht zu haben, und somit waren dies die beiden einzigen Mitglieder der Stadtwache im Wachlokal. Normalerweise gehen um diese Zeit die Assassinen und Diebe ins Bett, keiner rechnet mit so einem Aufstand.
"Ja...äh...ja", sagte Schmiede, "Wächter Sillybos, ich schlage vor, du siehst dir mal die Lage vor Ort an. Vielleicht kannst du ja schon das ein oder andere entdecken. Ich bin hier, wenn was ist." Damit war für ihn die Sache erst mal erledigt, und er lehnte sich in seinem Sessel wieder in eine eindeutige Sitzposition zurück.

* Vor der Unsichtbaren Universität *

Sillybos ging mit dem Erzkanzler und dem Bibliothekar zur Unsichtbaren Universität. Sie gingen sehr langsam, denn Sillybos ließ sich bei allen Sachen Zeit, er hatte genug davon. Außerdem watschelte er wie eine Ente, in seinem ganzen Leben ist er noch nie gelaufen. Ihm reichte es, wenn er im Geiste schneller war als andere.
Kurz vor dem Eingangstor wollte der junge Rekrut fragen, was eigentlich beschädigt sei, doch als er sich dann umsah, ahnte er, dass eine solche Frage wohl äußerst lächerlich wirken musste.
Die Außenmauer der Unsichtbaren Universität war mit Graffiti beschmiert.
Und zwar vollständig.
"Oh", sagte Sillybos, "ich nehme an, dies ist das Corpus delicti." Er deutete auf die Mauer.
"Ugh."
"Nun", antwortete Ridcully, "nicht direkt. Das Wort ,Corpus' bezeichnet eher ein lebendiges Wesen oder zumindest ein ehemals lebendiges. Diese Mauer hier allerdings fällt meiner Ansicht nach eher in den Bereich der unbelebten Natur."
"Ugh."
"Ob das die Trolle auch so sehen?"
"Nun, weißt du, äh, lass uns das nicht weiter vertiefen. Siehst du schon irgendwelche Anhaltspunkte, Herr Wächter?"
"Moment", warf Sillybos ein. Die komplette Universitätsmauer nach spuren zu untersuchen sah nach zuviel Arbeit aus, als man nicht zumindest versuchen sollte, die irgendwie abzuwenden.. "Wie kommst du darauf, dass diese Untersuchung Aufgabe der Wache ist?"
"Aber das ist doch offensichtlich", meinte Ridcully. "Sieh doch nur hin. Jeder kann es sehen, Es ist sozusagen öffentlich."
"Ugh."
"Ja, aber die Mauer gehört zur Universität."
"Im Prinzip schon", gab Ridcully zu, "aber diese Seite ist schließlich außen. Jeder kann sie sehen, jeder kann sie anfassen, jeder kann alles mit ihr machen. ,Alles' darfst du jetzt nicht wörtlich nehmen. Also ist sie öffentlich. Und somit Bereich der Stadtwache."
"Ach, und das ist bei der ganzen Mauer so?"
"Genau."
"Einmal rundrum? Alles öffentlich?"
"So ist es."
"Also gut", meinte Sillybos und schritt zum Tor. "Oh, schauen Sie nur, Erzkanzler. Da ist ja ein Brief im öffentlichen Briefkasten an der öffentlichen Mauer. Das ist dann ja auch Aufgabe der Wache, diesen Brief zu lesen."
"He, Moment. Nun also gut, vielleicht gehört auch die Außenmauer zur Universität, aber dennoch wäre es nett, wenn ihr bei der Suche nach dem Täter helfen würdet, denn der kann schließlich aus ganz Ankh-Morpork kommen."
"Also gut, ich werde sehen, was ich tun kann", sagte Sillybos. "Fangen wir mit den Standardfragen an, nur für das Protokoll. Also: Hat jemand gesehen, wie die Tat begangen wurde?"
"Natürlich nicht! Sonst hätte ich ihn schon längst persönlich den Hintern versohlt!"
"Äh, gut. Wer hat alles Zugang zu dieser Mauer?"
"Ugh!"
"Ja, verstehe. Blöde Frage, stimmt. Wann ist es geschehen?"
"In der letzten Nacht."
"Ja, das wär's erst mal. Ich werde jetzt mir der Spurensuche beginnen. Wenn ich noch Fragen habe, werde ich Sie rufen."
Der Bibliothekar und der Erzkanzler marschierten forschen Schrittes in die Bibliothek, und Sillybos sah sich die Schmierereien aus der Nähe an. Außer vielen verschiedenen Farbklecksen konnte man nichts erkennen. Dann ging er zwanzig Meter zurück. Und plötzlich erkannte er, halbwegs unter den Verzierungen vergraben, einen Schriftzug, der lautete: "Rogationes numquam responderi possunt."

* Im Wachlokal *

Schmiede runzelte die Stirn. Eigentlich hatte er die Frühschicht gewählt, um gerade nicht so viel denken zu müssen. Sillybos hatte gerade salutierenderweise Bericht erstattet.
"Ein Schriftzug in der alten Sprache? Das ist allerdings sehr merkwürdig. Wie viele Leute mag es in Ankh-Morpork noch geben, die die alte Sprache beherrschen?" Er überlegte kurz, wie er weiter vorgehen sollte. "Wächter Sillybos: du gehst wieder zum Tatort und befragst die Magier zu dem Schriftzug."
Sillybos salutierte und gehorchte.

* Vor der Unsichtbaren Universität *

"Fragen können niemals beantwortet werden", las Ridcully. "Oh, prima. Hilft uns das irgendwie weiter?"
"Rein philosophisch betrachtet ist das eine heiße Spur", meinte der ehemalige Philosoph Sillybos. "Es kann bedeuten, dass unsere Fragen nicht beantwortet werden können, dass also der Täter glaubt, seine Spuren sehr gut verwischt zu haben."
Ridcully runzelte die Stirn.
Sillybos fuhr fort. "Oder es bedeutet, dass man jede Möglichkeit in Betracht ziehen muss, und eine Frage nie als komplett beantwortet bezeichnen kann."
Der Erzkanzler sah sich unsicher um. Niemand war in der Nähe.
"Es könnte auch bedeuten", ergänzte Sillybos, "dass der Fall unlösbar ist und wir im Prinzip alle nach Hause gehen können."
"Nun ja", war Ridcullys Kommentar dazu. "Äh, kennst du Ponder Stibbons? Ich glaube, ihr würdet euch gut verstehen."

* Immer noch vor der Unsichtbaren Universität *

Ein langer, dünner, junger Mann in einem Magiermantel, ein grauhaariger Wächter mit ungepflegtem Bart und einer viel zu kleinen Uniform und ein Orang-Utan betrachteten die Außenmauer der Unsichtbaren Universität von Ankh-Morpork.
"Man muss zwei grundsätzliche Möglichkeiten in Betracht ziehen", meinte Ponder Stibbons. "Zum einen natürlich die vorsätzliche Tat, zum anderen könnte das alles ja auch zufällig geschehen sein."
"Zufällig?" fragte Sillybos.
"Ugh?" fragte der Bibliothekar.
"Ja, diese Möglichkeit darf man nie ausschließen. Sie ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber möglich ist sie."
"Ugh.... Ugh?"
"Oh, die Chancen dafür sind sehr gering. Ich könnte sie mit HEX ausrechnen, aber ich schätze, sie liegen so bei eins zu einer Million."
"Hm", meinte Sillybos. "Vielleicht sollte ich diesen Gedanken näher untersuchen."

* Im Wachlokal *

"Zufall? Was für eine bekloppte Idee ist das denn? Wie soll denn eine riesige Mauer so über Nacht mit Graffiti vollgesprüht werden, und zwar nicht von einer oder wahrscheinlich sogar mehreren Personen, nein, rein zufällig... wie stellst du dir das denn vor?" Fähnrich Schmiedehammer hatte nicht gerade die beste Laune, und er ahnte bereits, was angesichts dieser Idee an Papierkram anfallen würde.
"Vielleicht ist die Farbe gegen die Mauer geweht? Es war recht stürmisch in der letzten Zeit." Auch nach reiflichen Überlegen ist Sillybos nicht eingefallen, wie er seinen Ausbilder am besten von dieser Idee begeistern konnte. Philosophen waren noch nie sehr diplomatisch, was wohl damit zusammen hängt, dass sie stets nach der Wahrheit suchten. Sillybos bildete da keine Ausnahme.
"Und landet dann rein zufällig genau so, dass sie einen Schriftzug ergibt. Und der Wind wehte auch noch aus allen Himmelsrichtungen. Blödsinn!"
"Vielleicht hatte ein Farbtransport einen Unfall?"
"Blödsinn!"
"Es könnte auch sein, dass -"
"Blödsinn!"
"Vielleicht -"
"Blödsinn!"
"Oder -"
"Blödsinn!"
"..."
"Ich sagte: Blöd-sinn!"
Sillybos hätte das Gespräch fortführen können, allein schon, um seine Stimmbänder zu schonen. Das erste, was kleine Kinder in Ephebe lernen, ist zu diskutieren, in der Schule lernen sie dann auch das Schweigen. Sillybos hatte in Schweigen immer eine Eins. In dieser Situation hätte er Schmiede auf das Heftigste anschweigen können, doch er erkannte, dass er dabei nur auf taube Ohren stoßen würde.
Er machte sich wieder auf den Weg zur Unsichtbaren Universität. Der Gedanke, dass die Farbe zufällig auf die Mauer gekommen ist, ließ ihn nicht los. Sillybos beschloss, dieser spur dennoch weiter zu verfolgen.

* Unsichtbare Universität *

Als Sillybos an der Unsichtbaren Universität ankam, wurde er sogleich von einem aufgeregtem Bibliothekar empfangen und in die Bibliothek gezerrt. Dort angekommen zog der Orang-Utan den Wächter zu einem Regal, vor dem ein Buch lag, es war aufgeschlagen. Daneben stand der Erzkanzler und nickte Sillybos kurz zu.
"Ich glaube, hier haben wir unseren Täter", sagte er. "Das ist ein Buch über Farbmagie. Es ist wohl aus dem Regal gefallen, und dabei hat sich ein Zauberspruch gelöst. Und es ist in der Alten Sprache geschrieben."
"Ugh."
"Hmja, möglich. Zufällig also", war Sillybos' Kommentar. Er freute sich innerlich wie jemand, der in einer Diskussion das letzte Wort haben durfte.
Nun konnte er richtige Ermittlungsarbeit leisten. Er umrandete das Buch mit Kreide, klassifizierte es als Beweisstück A, und ließ es den Bibliothekar ins Regal zurückstellen. Natürlich konnte er kein Buch aus der Bibliothek mitnehmen, aber er notierte sich den genauen Standort.
"Ugh."
"Was sagt er?", fragte Sillybos.
"Eigentlich hielt er diese Art Bücher für nicht so gefährlich, dass man sie anketten müsste, aber das wird er in Zukunft wohl noch mal überdenken", übersetzte Ridcully.
"Erstaunlich", meinte Sillybos. Er betrachtete den Fall damit als gelöst.
"Es gibt da allerdings noch ein Problem. Die Mauer der Unsichtbaren Universität sind so gebaut, dass keine Form von Magie nach außen dringen kann. Eine Sicherheitsmaßnahme. Ich kann mir nicht erklären, wie die Farbe an die Außenseite kommt", merkte der Erzkanzler an.
"Ich werde die Mauer noch mal genauer untersuchen", beschloss Sillybos.

* Vor der Unsichtbaren Universität *

"Was ist das für eine Mauer?", fragte Sillybos.
"Die ist schon uralt", erklärte Ridcully. "Ist praktisch nie verändert worden. Nur einmal wurde sie renoviert."
Sillybos ging ganz nah an die Mauer ran.
"Da ist noch irgendeine seltsame Schicht drauf. Eine Art Legierung."
"Äh, ja", meinte der Erzkanzler. "Das sind noch Reste von der Renovierung. Der Absolut Bekloppte Johnson hatte damals die Mauer tapeziert. Weil den Magiern das nicht gefiel, rissen sie die Tapeten wieder ab, der Leim war jedoch nicht abzukriegen. Da er aber durchsichtig ist, stört er uns nicht weiter."
Sillybos ging zum Tor, Mustrum Ridcully folgte ihm.
"Merkwürdig", sagte der Wächter. "Da sind zwei verschiedene Arten Leim an der Mauer. Innen und außen verschieden."

* Im Wachlokal (später am Tage) *

"ERKLÄRE ES MIR BITTE NOCH EINMAL. SO DASS ICH ES AUCH VERSTEHE." Tod lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte Sillybos erwartungsvoll an.
Noch nie hatte Sillybos einen Fall gelöst, geschweige denn hatte er je Tod davon berichtet. Der Philosoph wirkte so unterwürfig wie ein 50-jähriger, der bei seiner Mutter am Esstisch dazu verdonnert wird, Eintopf Allesdrin zu essen. Ja, Tod erinnerte Sillybos an seine Mutter, kein Zweifel. Und seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, traf das auch äußerlich zu. (Tod wusste das natürlich.) Sillybos salutierte nervös.
"Es ging folgendermaßen vonstatten, Herr Kommandeur. In der Bibliothek der Unsichtbaren Universität fiel ein Buch über Farbmagie aus dem Regal, dabei löste sich ein Zauberspruch. Dieser Zauberspruch fing in der allgemeinen magischen Aura der Universität den Text in der Alten Sprache auf und manifestierte sich schließlich an der Mauer."
"ABER AN DER INNENSEITE, NICHT WAHR?"
"Jawohl, Herr Kommandeur, zunächst zumindest", fuhr Sillybos fort. "Doch an der Innenseite der Mauer befand sich eine farbabweisende Legierung und an der Außenseite eine farbanziehende Schicht. Aus diesem Grund hatte die Farbe die Neigung, oder besser, den Willen, an die Außenseite zu gelangen."
"UND, ÄH, WIE HAT SIE DAS HINGEKRIEGT?" fragte Tod.
"Sie floss quasi durch die Mauer durch. Sie nahm, äh, den direkten Weg,.sozusagen"
"DEN DIREKTEN WEG? DURCH DIE MAUER DURCH?" Tod sprach diese Worte sehr langsam, um auch wirklich den Sinn zu verstehen.
"Jawohl, Herr Kommandeur. Kennen Sie den Satz ,Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg'? Außerdem handelte es sich schließlich um magische Farbe."
"ALSO GUT. MEINEN GLÜCKWUNSCH, SILLYBOS", sagte Tod schließlich feierlich. "DEN FALL HAST DU PRIMA GELÖST. DU KANNST DIR FÜR DEN REST DES TAGES FREI NEHMEN."
Sillybos salutierte.
"UND SIE, HERR FÄHNRICH", ergänzte Tod, "SCHREIBEN MIR NOCH EINEN AUSFÜHRLICHEN BERICHT."


* ENDE *



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