Rinas erster Fall in ihrem neuen Job klingt nicht sehr aufregend. Die Wächterin soll einen gewöhnlichen Handtaschendiebstahl aufklären. Doch als dann eine ihrer Zeuginnen zerfleischt aufgefunden wird, ist plötzlich nichts mehr einfach.
Dafür vergebene Note: 12
Ankh Morpork lag an diesem Morgen noch im unruhigen Schlummer. Sonnenstrahlen der soeben aufgegangenen Sonne tasteten sich langsam über die Dächer und trafen auf schmutzige, menschenleere Strassen. Es war noch zu Früh, um schon auf dem Weg in die Arbeit zu sein und bereits zu spät, um noch ein Verbrechen im Schutz der Dunkelheit zu begehen. Die Sonnenstrahlen tasteten sich weiter und trafen plötzlich auf eine kleine, einsame Gestalt, die gerade pfeifend aus einem Hauseingang trat.
Rina Lanfear zog ihren Umhang fester um sich und genoss die ersten, wärmenden Sonnenstrahlen, die ihr Gesicht trafen. Dann machte sie sich, weiterhin fröhlich vor sich hinpfeifend, auf den Weg zum Pseudopolisplatz, um dort ihre Ausbildung als Ermittlerin bei R.U.M. zu beginnen. Während sie durch die einsamen Gassen schritt, überlegte die Wächterin, dass es eine gute Idee gewesen war, sich von ihrem Weckdämonen heute zwei Stunden früher als sonst aufwecken zu lassen. Sie hatte jetzt noch etwas Zeit zur Ver
fügung, um in aller Ruhe über ihren ersten Tag in ihrer neuen Arbeit nachzudenken, musste nicht durch die Strassen hetzen und war geschickt einer längeren Diskussion mit ihrer Mutter aus dem Weg gegangen. Beim Gedanken an ihre Mutter schüttelte sich die Hauptgefreite kurz. Es war eigentlich logisch gewesen, dass ihre Eltern von ihrer Tschob-Wahl nicht sehr begeistert waren, aber dass ihre Mutter so überreagiert hatte, überraschte Rina noch immer. Schaudernd erinnerte sich die Wächterin an den Moment, in dem sie ihren Eltern die "schlechte" Nachricht überbracht hatte:
Rina war glücklich. Soeben hatte sie ihr erstes Bewerbungsgespräch erfolgreich hinter sich gebracht und noch dazu den Bescheid bekommen, dass sie am nächsten Tag in der neuen Abteilung anfangen konnte. Freudestrahlend riss sie die Tür ihres Elternhauses auf, ignorierte den wütenden Butler, der diese eigentlich für sie hatte öffnen wollen, rannte ins Wohnzimmer und verkündete: "Ihr werdet es nicht glauben! Ich bin mit meiner Grundausbildung fertig und habe auch schon einen neuen Tschob!"
Ihre Mutter schaute erstaunt von ihrer Handarbeit auf, während ihr Vater sein Buch zur Seite legte und meinte. "Das wurde aber auch langsam Zeit. Hast du einen schönen, geruhsamen Bürojob angenommen, wie du es uns versprochen hast?"
Die Gefreite stammelte: "Nun ja, wie mans nimmt....aber meine Kollegen sind nett."
Rinas Mutter fragte gefährlich leise: "Welchen Job hast du angenommen?"
"Tja, ich bin jetzt Ermittlerin bei R.U.M."
"Was tut eine Ermittlerin und was bedeutet die Abkürzung R.U.M?"
"Äh...ich stelle Fragen, ermittle, wer der Täter war und verhafte ihn eventuell sogar gleich.... Raub und Unlizenzierter Mord, warum?"
Seltsamerweise hatte ihre Mutter daraufhin einen regelrechten Tobsuchtsanfall bekommen. Die Hauptgefreite seufzte erneut. Diesmal würde es wohl etwas länger dauern, bis zu Hause wieder Frieden herrschte, da ihr ihre Mutter in letzter Zeit ein paar Kleinigkeiten übel genommen hatte, die sich nun in diesem letzten großen Ausbruch manifestierten. Rina sah ein, dass ihre zwei Sumpfdrachen hin und wieder einiges an Ärger machten und dass diese leidige Geschichte mit ihrem Eintritt in die Näherinnengilde und die Fast-Verlobung mit Gâsh
[1] auch nicht unbedingt zur Verbesserung ihres Verhältnisses zu ihren Eltern beigetragen hatte, aber sie konnte absolut nicht verstehen, dass ihr neuer Tschob nun auch noch einen Anlass zum Streit gab. Es war zwar nicht der von ihren Eltern erträumte Bürotschob, aber er war noch immer ungefährlicher als einige anderen Berufe, die sie in den Stellenanzeigen der Wache gesehen hatte. Die Wächterin stellte sich vor, was ihre Eltern wohl dazu gesagt hätten, wenn sie sich als Verdeckte Ermittlerin, GIGA oder etwas ähnliches beworben hätte und musste laut lachen.
Eine Ratte, die sich gerade an den auf den Strassen deponierten Abfällen gütlich tat, hörte das laute Geräusch, spitzte kurz die Ohren und rannte dann davon.
Rina sah dem Tier nach und beschloss, zu dieser Uhrzeit doch besser etwas leiser zu sein. Wer konnte schon wissen, wen sie hier alles bei seinen Unternehmungen störte?
In Gedanken versunken spazierte die Wächterin weiter und überlegte, was sie heute wohl noch alles erwarten würde.
Eine Stunde später stand Rina vor der Bürotür ihres neuen Chefs und starrte unschlüssig auf die Türklinke. Sie hatte es zwar geschafft, einmal nicht zu spät im Dienst zu erscheinen, dafür war sie aber jetzt eine halbe Stunde zu früh dran und wusste nicht, wie Lewton das aufnehmen würde. Die Wächterin war gerade im Begriff, noch eine Tasse Kapputschino trinken zu gehen, als sich die Türe öffnete und sie nur knapp verfehlte. Angie stürmte an ihr vorbei, rief kurz: "Guten Morgen, Rina!" und war auch schon wieder verschwunden.
Aus dem Büro rief eine Stimme: "Hauptgefreite Lanfear? Kommen sie doch gleich herein."
Rina seufzte kurz und trat dann in das Büro.
Ihr neuer Vorgesetzter blickte auf und meinte: "Guten Morgen! Sie sind früher dran, als ich es erwartet habe."
Die Wächterin lächelte unsicher und erwiderte: "Guten Morgen, Sir! Mein Wecker ging etwas vor."
"Macht nichts. Was wissen sie über Ermittlungen?"
"Nun, ich habe bereits einen Fall von unlizenziertem Einbruch und einen unlizenzierten Mord aufgeklärt, Sir."
"Gut, das dürfte für den Anfang genügen. Lance-Korporal LeFay hat mir gerade mitgeteilt, dass es neuerdings Fälle von unlizenziertem Taschendiebstahl gibt. Hier ist eine Liste der Opfer, ermitteln sie den Täter. Willkommen im Thiem. Auf Wiedersehen."
Wenige Augenblicke später stand Rina wieder vor dem Büro und starrte die verschlossene Türe ungläubig an. Sie hatte noch nie erlebt, dass sie so schnell irgendwo hinauskomplimentiert wurde. Seufzend betrachtete sie die Liste, die Lewton ihr gegeben hatte und beschloss dann, mit der Befragung bei der Dame zu beginnen, die am nächsten bei der Wache wohnte.
Mrs. Angelika Vernon, seit Jahren verwitwet, war eine ältere Dame, die sich sehr über Besuch freute. Rina verbrachte eine volle Stunde bei ihr, wurde mit Kaffe und Kuchen bewirtet und musste sich fast die gesamte Lebensgeschichte der Dame anhören, bevor diese endlich auf den Raub zu sprechen kam.
"... ich war gerade unterwegs, um meine Vorräte wieder einmal aufzufüllen, man weiß ja nie, wann Besuch kommt, als ich plötzlich angerempelt wurde. Ein kleiner Junge murmelte ein hastiges `Entschuldigung' und war auch schon wieder in der Menge verschwunden. Ich habe erst kurze Zeit danach bemerkt, dass meine Handtasche verschwunden war und bin dann zur Wache gegangen, um den Diebstahl anzuzeigen..."
"Können sie den Jungen beschreiben?"
"Nun, er war ungefähr 1,20 m groß, untersetzt und normal gekleidet. Wenn ich seine Mutter wäre, würde ich ihn auf Diät setzten.....soviel Gewicht ist äußerst ungesund."
"Äh, danke für diese Beschreibung. Ich werde versuchen, ihre Handtasche wiederzufinden. Wenn es noch Fragen gibt, melde ich mich wieder bei ihnen. Danke für die freundliche Bewirtung."
"Keine Ursache. Ich freue mich immer, wenn Besuch kommt. Schauen sie doch bei Gelegtheit wieder einmal vorbei."
"Ja, mache ich. Auf Wiedersehen, Mrs. Vernon."
Als Rina dass Haus der alten Dame verlassen hatte, atmete sie tief durch und hoffte, dass sie heute nicht noch mehr Kaffe und Kuchen vorgesetzt bekam. Es war zwar ganz angenehm, sich bei einer guten Tasse Kaffee zu unterhalten und ein Stückchen Kuchen zu essen, aber nur, wenn dies höchstens ein oder zweimal die Woche geschah. Die Wächterin seufzte, warf einen Blick auf ihre Liste und machte sich auf den Weg zum zweiten Opfer.
Ms. Caroline Kevern wohnte unweit des Platzes der gebrochenen Monde in einer kleinen Wohnung. Rina klopfte an die Wohnungstür und wartetet, bis sie schlurfende Schritte hörte. Jemand öffnete die Wohnungstüre einen winzigen Spalt und lugte misstrauisch hinaus.
"Guten Tag, mein Namen ist Irina Lanfear. Ich bin von der Stadtwache Ankh Morpork und ermittle im Fall des unlizenzierten Handtaschendiebstahls. Dürfte ich ihnen ein paar Fragen stellen?"
Die Person rief wütend: "Verschwinden sie!" und knallte der Wächterin die Tür vor der Nase zu.
Die Hauptgefreite runzelte die Stirn und klopfte nochmals.
"Entschuldigen sie, laut meiner Liste sind sie auch bestohlen worden. Ich bräuchte eine Beschreibung des Tatverdächtigen."
Die Türe öffnete sich nochmals und dieselbe Stimme schrie erbost: "Ich habe doch gesagt, sie sollen verschwinden. Ihr von der Stadtwache seid doch alle gleich. Zuerst reden alle großartig herum, dass sie einem doch nur helfen wollen und dann tun sie absolut gar nichts..:"
"Äh, wenn sie mir eine Täterbeschreibung geben, könnte ich..."
"
Könnten,..... wenn ich dieses Wort nur höre wird mir schon schlecht....´wir
können ihnen helfen, wir
könnten den Täter fassen, es
könnte funktionieren'..."
Rina seufzte und fragte, so freundlich es irgendwie ging: "Bekomme ich jetzt die Täterbeschreibung?"
Die Frau murrte und antwortete: "Klein, dick und unverschämt. Ich war gerade unterwegs, um etwas einkaufen zu gehen und wurde im Gedränge angerempelt."
"Wo waren sie Einkaufen?"
"Das geht sie gar nichts an. Und jetzt verschwinden sie hier." Mit diesen Worten schlug die alte Dame endgültig die Türe zu.
Rina stand wieder einmal vor einer geschlossenen Türe und fragte sich schön langsam, ob sie für diesen Tschob wirklich so geeignet wäre. Bis jetzt hatte sie nicht wirklich umwerfend viele Informationen erhalten und sie wusste außerdem noch immer nicht, wo und wie sie den Dieb am besten verhaften konnte. Das einzige, was die beiden von ihr befragte Damen bis jetzt gemeinsam hatten, war die Tatsache, dass sie beide etwas älter waren und zu dem Zeitpunkt des Diebstahls etwas einkaufen wollten.
Die Wächterin seufzte, wie so oft in letzter Zeit, und warf erneut einen Blick auf ihre Liste. Als nächstes stand eine Ms. Andergast auf dem Zettel. Rina hoffte inständig, dass diese Dame etwas besser gelaunt wäre und machte sich auf den Weg zu der angegebenen Adresse.
Ms. Andergast wohnte im feineren Viertel Ankh Morporks, unweit Rinas Elternhaus. Die Wächterin stand vor einem großen, elegant aussehenden Haus und überlegte angestrengt, ob sie hier schon einmal zu Besuch gewesen war. Nach mehrminütigem Überlegen kam sie dann jedoch zu dem Schluss, noch nicht das Vergnügen gehabt zu haben, und klopfte an.
Lange Zeit passierte gar nichts. Dann hörte man eine leise Stimme, die mit der Zeit immer lauter wurde. Irgendwer murmelte: "Aber heute ist doch nicht Donnerstag....sie können heute einfach nicht kommen, es ist doch nicht Donnerstag...oh je, was mach ich jetzt?....bin doch noch gar nicht fertig....."
Dann wurde die Tür geöffnet und eine verwirrt aussehende Dame musterte Rina von oben bis unten. Die Dame fragte: "Wer sind sie? Und was machen sie hier?"
Rina begann: "Guten Tag, ich bin Wächterin Irina Lanfear von der Stadtwache. Ich ermittle......." als die alte Frau kreidebleich wurde und sich mit aller Kraft an der Türe festhielt.
Die Wächterin fragte: "Ist ihnen nicht gut, Madame? Soll ich ihnen ein Glas Wasser bringen? Wenn sie mich hineinlassen, könnte ich..."
Die Frau schrie fast, als sie antwortete: "Nein!" Dann beruhigte sie sich scheinbar wieder etwas und setzte hinzu: "Äh, sie können jetzt leider nicht hereinkommen, ich habe Gäste...die kann ich unmöglich länger warten lassen...wenn sie jetzt bitte gehen würde..."
Rina erklärte:"Ich wollte ihnen doch nur ein paar Fragen über den Handtaschendieb stellen."
"Welcher Handtaschendieb? Wie kommen sie auf die Idee, dass mir etwas gestohlen wurde?"
"Ich habe von meinem Vorgesetzten eine Liste mit Opfern bekommen. Sie stehen auch darauf."
"Das muss ein Irrtum sein. Es ist ganz sicher ein Irrtum. Gehen sie jetzt bitte."
Nach diesen Worten schloss die alte Dame blitzschnell die Türe und ging davon. Rina konnte sie noch durch die Türe murmeln hören: "Wenn sie erfährt, dass die Wache bei mir war...das wird sie gar nicht freuen...."
Die Hauptgefreite runzelte die Stirn und beschloss dann, diese Dame etwas später nochmals zu besuchen. Sie hatte das starke Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zuging, doch sie wusste noch nicht, was es genau war und hatte noch immer diesen Handtaschendiebstahl, indem sie Ermittlungen anstellen sollte.
Ein paar Stunden, etliche Kaffeekränzchen und Beschimpfungen später hatte Rina alle Opfer befragt. Die Wächterin seufzte und machte sich dann auf den Rückweg zur Wache, um dort in aller Ruhe die erhaltenen Informationen zu sichten und einzuteilen. Unterwegs besorgte sie sich noch ein paar neue Notizzetteln, da sie ihren Vorrat bereits beim letzten Fall aufgebraucht hatte, sowie etwas, dass der Verkäufer "Reißnägel" nannte und mit dem man etwas bequem an der Wand befestigen konnte.
Wenig später sah man Hauptgefreite Lanfear ihr neues Büro im Wachhaus Pseudopolisplatz betreten. Es war noch nicht eingerichtet und enthielt außer weißen Wänden nur einen alten Schreibtisch und zwei Sessel. Die Wächterin stöhnte kurz bei dem Gedanken, dass sie diesen Misstand auch noch irgendwann beheben sollte und machte es sich dann auf einem der beiden Sessel bequem. Aus einer der Laden holte sie einen Stift hervor und begann, alle Informationen aufzuschreiben.
Lewton betrat Rina Lanfears neues Büro und blieb verblüfft stehen. Er war es irgendwie nicht gewohnt, dass seine Mitarbeiter inmitten eines Zimmers standen, dessen Wände mit kleinen Zetteln gepflastert waren und irgendetwas vor sich hinmurmelten. Der Abteilungsleiter räusperte sich kurz und wartete, bis ihn die Hauptgefreite bemerkte. Dann fragte er: "Haben sie schon etwas über den Handtaschendieb herausgefunden?"
"Nun, Sir, soweit ich feststellen konnte, liegt sein Arbeitsbereich am Hier-gibt-es-alles-Platz. Er raubt vor allem ältere Damen ab sechzig aus, ist klein und eher dicklich. Die Zeuginnen sind sich nicht ganz einig, ob er noch ein Kind ist. Tatzeit ist meistens gegen 10 Uhr vormittags, wenn viele Leute unterwegs sind. Die Vorgehensweise ist immer dieselbe: Er rempelt die Damen an, bittet um Verzeihung und ist verschwunden, bevor sein Opfer das Fehlen der Handtasche bemerkt."
"Klingt ganz gut. Gibt es eine Täterbeschreibung?"
"Zwei Damen werden noch im Laufe des Tages vorbeischauen und mit dem Phantombilddämonen zusammenarbeiten. Ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, ob dabei ein brauchbares Ergebnis entsteht, da die Aussagen doch recht unterschiedlich sind. Leider hat ihn keine der Damen richtig gesehen. Ich schlage deshalb vor, in den nächsten Tagen den Hier-gibt-es-alles-Platz zu überwachen. Der Dieb wird sicherlich nochmals zuschlagen."
"Gut, die Beobachtung werden sie übernehmen. Haben sie noch Fragen?"
"Nein, Sir!"
Beim Verlassen des Büros murmelte Lewton vor sich hin: "Seltsame Methoden hat sie ja...aber sie scheint zumindest gründlich zu sein..."
Rina seufzte und wandte sich dann wieder einem kleinen Zettel zu, der ganz unscheinbar in einer Ecke hing. Darauf stand:
"Was verbirgt Ms. Andergast???"Nach längerem Überlegen beschloss die Wächterin, doch noch einmal bei Ms. Andergast vorbeizuschauen. Sie hatte heute sonst nicht mehr viel zu tun, wenn man einmal von der Einrichtung ihres Büros absah, und diese Dame interessierte sie mehr und mehr. Gedankenverloren schrieb sie auf einen kleinen Zettel "Bin unterwegs." und hängte diesen an die Außenseite ihrer Bürotür.
Vor Ms. Andergasts Haus hatte sich eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt. Rina setzte ihre Ellbogen ein und drängelte sich bis ganz nach vorne, wo sie auf Lady Steinschlag traf. Die beiden ehemaligen Rekruten begrüßten sich freudig. Dann fragte Rina: "Was ist denn hier eigentlich los?"
"Alte Lady ist tot. Ermordet."
Die Hauptgefreite schluckte kurz und murmelte: "Doch hoffentlich nicht...."
Während Lady Steinschlag noch überlegte, ob der letzte Satz ihr gegolten hatte, stürmte Rina weiter. Im Inneren des Hauses traf sie auf Lupus, der sich gerade daran machte, um eine am Boden liegende Leiche, mit weißer Kreide Linien zu zeichnen.
Die junge Wächterin sah nur kurz auf die am Boden liegende Gestalt und drehte sich dann schaudernd weg. Man konnte an den weißen Haaren zwar noch erkennen, dass es sich vermutlich um eine alte Dame handelte, doch der Rest von der Leiche war übelst zugerichtet worden. Lupus richtete sich auf, bemerkte Rina und sagte: "Hallo, was machst du denn hier?"
Die Wächterin schluckte und meinte: "Äh...ich denke, dass diese...Dame....hier einmal eine für mich wichtige Zeugin war. Ich habe sie erst vor kurzem befragt, sie hatte aber scheinbar Angst, sich mir anzuvertrauen. Jetzt ist sie tot...:"
"Sieht zumindest so aus. Ich bezweifle, dass sie nochmals aufsteht und dir den Namen ihres Mörders nennt. Natürlich schicke ich euch unsere Untersuchungsergebnisse, aber dass kann noch etwas dauern. Ranobis hat noch eine andere Leiche auf dem Tisch liegen. Willst du meine private Meinung hören? Ich wette, es war ein Werwolf. Da drüben sieht man besonders schön die Klauenabdrücke...."
Rina nickte kurz und verabschiedete sich eiligst. Sie hatte nicht unbedingt vor, sich jetzt eine Abhandlung über schöne Klauenabdrücke im Opfer anzuhören und außerdem wurde ihr schlecht, wenn sie noch länger in diesem Haus blieb.
An der frischen Luft angekommen, atmete die Wächterin sichtbar auf und überlegte kurz. Irgendetwas war hier äußerst merkwürdig. Zuerst war die Dame Opfer eines Handtaschendiebs geworden, dann weigerte sie sich standhaft, über den Raub Auskunft zu geben und beteuerte vielmehr, dass sie von keinem Überfall wüsste und zuletzt wurde sie dann auch noch von irgendetwas umgebracht, dass scheinbar große Ähnlichkeit mit einem Werwolf aufwies.
Als sie sich genügend erholt hatte, sah sich die Hauptgefreite nochmals genauer in der Umgebung um und lächelte dann. Es war ihr bei ihrem ersten Besuch nicht aufgefallen, dass eine Freundin ihrer Mutter nur ein paar Häuser weiter wohnte. Diese "Dame" war bekannt dafür, dass sie sehr genau über alle in ihrem näheren Umkreis Bescheid wusste und für ihr Leben gerne tratschte. Das Lächeln der Wächterin verwandelte sich in ein Grinsen, als sie beschloss, wieder einmal etwas für ihre soziale Bildung zu tun und einen kleinen Hausbesuch zu machen.
Elspeth Lassier war begeistert, als sie ihren unverhofften Besuch vor der Tür stehen sah. Sie rief: "Rina, wie schön, dass du auch wieder einmal vorbeikommst. Wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen. Was gibt es denn so neues? Was machen deine Eltern?"
"Meinen Eltern geht es gut. Meine Mutter ist seit neuestem immer wieder unterwegs, um auf diversen Wohltätigkeitsveranstaltungen zu glänzen."
"Dafür habe ich sie schon immer bewundert. Wie schafft sie es immer nur, alles unter einen Hut zu bringen? Sie führt den perfekten Haushalt, kümmert sich liebevoll um ihre Familie und hat trotzdem noch genügend Zeit, um sich auch noch bei gesellschaftlichen Veranstaltungen blicken zu lassen. Sie ist ein echtes Naturtalent."
Rina nickte lächelnd, dachte bei sich: "Gleich erzählt sie mir sicherlich, dass die Scheibe eine Kugel ist..." und fragte: "Was gibt es eigentlich bei ihnen Neues? Dort draußen stehen viele Schaulustige. Ist etwas passiert?"
"Du bist Wächterin und weißt noch nichts davon?"
"Nein, ich war bis jetzt mit Ermittlungen für einen Fall beschäftigt und eigentlich gerade auf dem Heimweg. Doch dann hab ich diesen Menschenauflauf gesehen und dachte mir, dass sie mir vielleicht verraten könnten, was passiert ist."
"Nun, ich fühle mich geschmeichelt. Eine meiner Nachbarinnen, Ms. Andergast, ist ermordet worden."
"Ms. Andergast? Diese Dame hab ich doch erst heute früh vernommen! Zu diesem Zeitpunkt ist mir ihr Name bereits seltsam vertraut vorgekommen....aber ich weiß noch immer nicht, wo ich sie kennengelernt habe. Vielleicht auf einem Ball?"
"Ich bezweifle, dass du sie auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennengelernt hast. Sie lebte in letzter Zeit ziemlich zurückgezogen, seit ihr Sohn gestorben ist."
"Ihr Sohn?"
"Ja, der arme war erst 24. Er starb bei einem Karrenunfall."
"Das ist ja schrecklich!"
"Ja, sie war völlig verstört und hat sich immer mehr zurückgezogen. Wir waren eigentlich alle froh, als sie dann doch ab und zu wieder Besuch von Freundinnen bekommen hat. Die Damen müssen auch geschockt sein, wenn sie von dem Tod ihrer Freundin erfahren."
"Ihre Freundinnen? Die müssen ja auch noch informiert werden! Wissen sie zufällig, wo die Damen wohnen?"
"Nun, ich kenne nur eine von ihnen. Sie heißt Sylvia Lacroix und wohnte hier in der Nähe. Warte, ich schreibe es dir hier auf einen Zettel. Theoretisch wäre sie morgen wieder vorbeigekommen. Die Damen trafen sich jeden Donnerstag Abend, um etwas Kaffee zu trinken und sich über die guten alten Zeiten zu unterhalten. Ist etwas passiert? Du siehst blass aus..."
Rinas Gedanken überschlugen sich, als sie den Zettel nahm und entgegnete: "Äh...nein.. mir geht's gut. Ich hab mich nur gerade daran erinnert, dass mich meine Mutter gebeten hat, heute nach dem Dienst gleich nach Hause zu kommen. Sie wollte dringend etwas besprechen..."
"Na wenn das so ist, dann sieh zu, dass du sie nicht noch länger warten lässt. Ich habe mich sehr über deinen Besuch gefreut."
"Danke für ihr Verständnis. Auf Wiedersehen."
"Besuch mich wieder einmal."
"Mach ich!"
Rina hatte jedoch keineswegs vor, nach Hause zu gehen. Vielmehr wollte sie noch einen kurzen Abstecher zu Sylvia Lacroix machen und herausfinden, ob diese etwas über den geheimnisvollen Tod ihrer Freundin wusste.
Die Wächterin ging zu der angegebenen Adresse und klopfte an die Tür. Nach wenigen Augenblicken öffnete eine ältere Dame.
Rina spulte ihr Einleitungssätzchen ab: "Guten Tag, mein Name ist Irina Lanfear. Ich komme von der Stadtwache Ankh Morpork."
Die Frau blickte sie ängstlich an und meinte: "Was ist passiert?"
"Nun, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für sie. Ihre Freundin, Ms. Andergast, ist Opfer eines Gewaltverbrechens geworden."
"Agatha? Nein, das muss ein Irrtum sein."
"Es tut mir sehr leid, Madam. Ich habe erst vor kurzem ihre Leiche gesehen."
Die alte Dame weinte und stammelte: "Bitte.....verschwinden sie......lassen sie mich alleine."
Rina nickte und erklärte: "Ich hätte noch eine Frage, dann bin ich auch schon verschwunden.... Wovor hatte Agatha Andergast Angst?"
"Verschwinden sie!"
Die Wächterin konnte kaum noch rechtzeitig zurückspringen, als die Tür mit voller Wucht zugeworfen wurde. Fassungslos überlegte sie, was sie denn jetzt schon wieder Falsches gesagt hatte und machte sich dann auf den Nachhauseweg. Ihre Gedanken kreisten unterdessen um dieses seltsame Damenkränzchen, dessen Mitglieder eindeutig Angst vor der Stadtwache hatten und teilweise vollkommen überzogen reagierten.
In Rina reifte der Entschluss, sich dieses "gesellige Beisammensein" einmal etwas genauer anzusehen. Da die jedoch bezweifelte, dass sie als neuestes Mitglied akzeptiert werden würde, beschloss die Wächterin, es auf eine etwas andere Weise zu versuchen. Sie wusste jetzt, dass auch Sylvia Lacroix dazugehörte und beschloss, diese Dame morgen zu verfolgen. Doch zuerst musste noch diesem lästigen Handtaschendieb das Handwerk gelegt werden!
Am nächsten Morgen stand die Wächterin in ihrer normalen Freizeitkleidung
[2] in einem Schattenbereich des Hier-gibt-es-alles-Platzes und beobachtete nervös die vorbeieilenden Passanten. Bis jetzt hatte sich der Dieb noch nicht gezeigt und wenn man einmal von diversen Streitereien absah, schien der Tag relativ ruhig zu verlaufen. Rina sah immer wieder gestresst auf ihre Armbanduhr und hoffte, dass dieser dumme Taschendieb heute auch wieder zuschlagen würde. Sie hatte am frühen Abend noch eine kleine "Verabredung" mit Mrs. Lacroix, die sie unter keinen Umständen verpassen durfte. Wenn sich der Dieb aber jetzt nicht zeigte, würde sie bis morgen oder übermorgen mit der Observation hier beschäftigt sein.
In Gedanken versunken sah die Wächterin aus den Augenwinkeln, wie eine alte Frau über den Platz trabte und ein paar schwere Taschen schleppte. Plötzlich kam aus einer Seitenstrasse ein kleiner, dicker Junge geschossen, der mitten in die Frau hineinlief. Beide stürzten und die Einkäufe der Dame verteilten sich quer über den ganzen Platz. Während die Frau schimpfte und ihre Taschen wieder füllte, ließ der Junge unauffällig die Handtasche in seiner Jacke verschwinden.
Rina hatte genug gesehen. Der Kleine passte ziemlich genau in die Täterbeschreibung, die ihr die Damen gegeben hatten. Die Wächterin schlenderte betont langsam zu dem Jungen hin, der der Dame rasch beim Einsammeln der Einkäufe half und meinte fröhlich: "Kann ich irgendwie helfen?"
Die Frau sah sie misstrauisch an und fragte: "Wer sind sie?"
Rina grinste und erwiderte: "Hauptgefreite Lanfear von der Stadtwache...."
Der Junge sah sie entsetzt an, sprang auf und versuchte, wegzurennen. Er hatte jedoch nicht mit Rinas Reflexen gerechnet. Die Wächterin packte den Dieb am Kragen und hielt ihn fest. Dann sagte sie zu der Frau: "Unter seiner Jacke ist ihre Handtasche. Sie sind nicht das erste Opfer, dass er ausgeraubt hat. Nur seine Methode ist diesmal neuer."
Nachdem sich die Dame die Handtasche zurückgeholt hatte, fragte Rina den Kleinen: "Wo ist deine Lizenz? Ich habe bei der Dame keine Quittung sehen können."
"Ich brauche keine Lizenz."
"Erklär das mal der Diebesgilde. Die sind von dieser Antwort sicherlich begeistert."
"Pah...die Diebesgilde. Das sind doch nur verzweifelte Diebe, die sich zusammengeschlossen haben, damit sie die Leute in Angst und Schrecken versetzten können. Keiner von denen ist ein guter Dieb."
"Ich würde dir raten, das erstens nicht laut und zweitens nicht in aller Öffentlichkeit auszusprechen."
"Warum? Was sollen die schon großartig unternehmen. Für die bin ich doch ein kleiner Fisch. Sie haben es ja nicht einmal der Rede wert gefunden, sich selbst um die Sache zu kümmern. Stattdessen schicken sie die Stadtwache. Das ist doch auch so ein nutzloser Haufen...."
"Freut mich, dass du das so siehst. Ich denke, du kannst deine Vorstellungen mit meinem Chef besprechen. Der ist von deiner Einstellung sicherlich sehr begeistert."
"Was soll der denn machen? Einsperren? Lady, ich bin zwölf. Selbst hier in Ankh Morpork wird man mit zwölf nicht eingesperrt."
"Ich würde in dieser Hinsicht keine Wetten abschließen. Scheinbar kommst du nicht aus der Gegend."
Mit diesen Worten zog Rina den kleinen, frechen Dieb hinter sich her in Richtung Wache.
Lewton staunte nicht schlecht, als seine Bürotür aufging und Rina mit einem Jungen im Schlepptau das Büro betrat. Perplex fragte er: "Was ist denn hier los?"
"Nun, Sir, ich habe den Handtaschendieb gefasst."
"Der Kleine ist ein Dieb?"
"Ja, und er hat es außerdem noch geschafft, in fast einem Zug die Diebesgilde und die Wache zu beleidigen."
"Wie hat er denn das angestellt?"
"Am besten fragen sie ihn das selber." Rina sah hektisch auf ihre Uhr und fügte dann hinzu: "Äh...ich lass ihn da, Sir. Es gibt da noch etwas, was ich dringend erledigen muss und da der Kleine behauptet, er kann in seinem Alter noch gar nicht eingesperrt werden...beschließen sie am besten, was wir mit ihm machen. Auf Wiedersehen, Sir."
Der Abteilungsleiter sah der Hauptgefreiten ungläubig hinterher, die sehr schnell aus seinem Büro verschwand.
Die Wächterin bemühte sich, möglichst schnell aus der Reichweite ihres Chefs zu verschwinden und verließ eiligst das Wachhaus. Erst ein paar Strassen weiter holte sie tief Luft und betete, dass sie erst wieder ihr Büro aufsuchen musste, wenn ihr Lewton diesen Auftritt gerade eben nicht mehr übel nahm. Nach einem weiteren Blick auf ihre Uhr und einem heftigen Fluch rannte Rina in Richtung von Mrs. Lacroix Haus. Es war inzwischen bereits später Nachmittag geworden und sie hoffte, nicht zu spät zu kommen. Was musste dieser kleine, dumme Junge auch ausgerechnet diesen Tag gewählt haben, um seine Methoden zu ändern und erst Nachmittags jemanden auszurauben?
Mrs. Lacroix trat gerade aus ihrem Haus, als Rina vorsichtig um die Ecke spähte. Die Wächterin dankte ihrem Glück und kletterte rasch auf das Dach. Hier oben war es wesentlich einfacher, die Dame zu verfolgen, ohne selbst gesehen zu werden. Außerdem wurde es bereits dunkel, was ihr eine zusätzliche Tarnung verschaffte. Sie hoffte nur, dass keine "Arbeitskollegen" unterwegs waren, die anschließend dumme Fragen stellen würden. Während die alte Frau unten vorsichtig durch die Gassen eilte und sich hin und wieder nervös umblickte, sprang Rina von Dach zu Dach und überlegte, wo der kleine Abendspaziergang wohl enden würde. Diese Frage sollte ihr schon sehr bald beantwortet werden, denn plötzlich verschwand Mrs. Lacroix in einem Hauseingang.
Rina dachte kurz nach, löste das Seil, dass sie immer um die Hüfte geschlungen hatte und band es am Schornstein fest. Dann seilte sie sich langsam soweit ab, dass sie kurz über dem obersten Fenster stoppte. Die Wächterin konnte hören, wie im Inneren des Raumes eine Menge Stühle gerückt wurden. Dann sprach eine hohe Stimme, die einer Frau zu gehören schien: "Da wir ja jetzt alle versammelt sind, möchte ich eines klarstellen. Ihr alle habt gesehen, was mit Agatha geschehen ist. Sollte also einer von euch auf die Idee kommen, zur Stadtwache gehen zu wollen und etwas von unserer kleinen Versammlung zu erzählen, wird es ihm ähnlich ergehen. Scott freut sich immer, wenn er etwas zwischen seine Zähne bekommt. Hat noch wer Fragen? Nein? Gut. Dann erzählt einmal, was ihr Neues herausgefunden habt..."
Eine andere, tiefere Stimme sagte: "Nun, bei mir gibt es leider nicht viel Neues. Der Botschafter hat diese Woche wieder einmal mit einigen wichtigen Familien zu Mittag gegessen. Die Gespräche drehten sich hauptsächlich um erweiterten Handel mit Klatsch. Hauptsächliche Importgüter sind einige exotische Gewürze. Exportartikel sind Schnappers Würstchen sowie ein paar Kilo Ankh."
"Würstchen und Ankh? Wer soll denn sowas kaufen?" rief eine dritte Stimme dazwischen.
Die zweite Stimme erklärte: "Die Würstchen werden in Klatsch am Schwarzmarkt zu horrenden Preisen angeboten, da sie auch das müdeste Kamel zum Weitergehen zwingen und der Ankhschlamm wird als biologischer Kampfstoff verwendet. Die Klatschianer haben eine Form der Aufarbeitung gefunden, die aus unserem eigentlich ,relativ harmlosen' Ankh eine biologische Kampfwaffe formt."
Die erste Stimme erwiderte: "Gut. Ich werde gleich eine Strickschrift erstellen. Der Pullover muss übermorgen fertig sein. Dann geht die Lieferung hinaus. Arbeite diesmal schneller. Der letzte wäre fast nicht mehr zeitgerecht fertig gewesen und ich kann mir keine Verzögerung leisten!"
"Ja, ich fange gleich damit an."
Die dritte Stimme schaltete sich wieder ein und meinte: "Nun, von den Gilden gibt es einiges zu berichten. Die Gilde der Diebe..."
Die Wächterin hätte gerne noch erfahren, was die Diebesgilde plante, doch in diesem Moment landete auf dem Dach ober ihr eine Fledermaus und verwandelte sich in einen relativ bekannten Kollegen. Rina zog sich seufzend hoch und sagte: "Schade, gerade war es so interessant."
Panther zog die Augenbrauen hoch und fragte: "Brichst du jetzt auch schon in Häuser ein, wenn die Besitzer zu Hause sind?"
"Nein, ich ermittle hier!"
"Sicher und ich bin ein Werwolf."
"Es ist mein Ernst! Eine meine Zeuginnen wurde von jemanden, der sich in dem Raum unter mir befindet, umgebracht. Würde ich dich je anlügen?"
"Hast du mir schon einmal die Wahrheit gesagt?"
"Naja, ist ein Argument. Aber jetzt sag ich dir die Wahrheit. Wärst du so lieb und holst Verstärkung? Mit einem Werwolf lege ich mich sicherlich nicht alleine an."
"Gut. Aber wenn ich rausfinde, dass das ein Trick war, kannst du etwas erleben."
Mit diesen Worten verwandelte sich Rinas "Schatten" wieder in eine Fledermaus und flatterte Richtung Wachhaus davon. Die Wächterin seufzte und begann, sich wieder abzuseilen. "Mal sehen, was ich noch so alles erfahren kann...." dachte sie bei sich.
Fünfzehn Minuten später kam Panther mit der Verstärkung zurück. Diese bestand aus Lewton und Eca. Rina seufzte erneut, denn sie erinnerte sich gerade an den Vorfall vor ein paar Stunden, und kletterte auf das Dach. Dort löste sie ihr Seil wieder, packte es ein und machte sich an den Abstieg.
Als die Wächterin unten angelangt war, fragte ihr Chef: "Was haben sie eigentlich da oben gemacht?"
"Äh...Sir....meine Zeugin, Ms. Andergast ist verstorben. Eine ihre Freundinnen gehört auch zu dem Damenkränzchen, dass da oben stattfindet..."
"Damenkränzchen? Sie holen uns wegen einem Damenkränzchen?"
"Sir, ich habe den Verdacht, dass dort oben der Kopf eines Spionagerings sitzt. Ich konnte mitanhören, wie sie eine Ansprache hielt und allen drohte, dass sie, falls sie nicht kooperieren, so wie Ms. Andergast enden."
"Warum verhaften sie den Kopf nicht einfach?"
"Ich bin ja gerade dabei, Sir. Doch da oben befindet sich außerdem noch ein sehr gefährlicher Werwolf. Deshalb habe ich Panther mit der Bitte um Unterstützung weggeschickt."
"Eine kluge Entscheidung."
Eca, die während dem Gespräch ruhig daneben gestanden war, grinste auf einmal und fragte: "Ein Werwolf? Ich wollte eh wieder einmal auf Werwolfjagd gehen. Nichts gegen sie, Sir." Sie blickte Lewton entschuldigend an und kramte in ihren diversen Tasche, bis sie einige kleine Pfeile gefunden hatte, mit denen sie ihr Blasrohr bestückte.
Dann holte sie ein kleines, grünes Fläschchen aus einer weiteren Tasche, hielt es hoch und meinte: "Unser Ablenkungsmanöver. Wir sollten es am besten durchs Fenster werfen."
Rina nickte und erwiderte: "Das mache ich."
Lewton dachte kurz darüber nach und sagte dann: "Ist in Ordnung. Ecatherina, Panther und ich gehen von unten hinein und versuchen, möglichst viele außer Gefecht zu setzten. Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten, bevor wir beginnen?"
Rina antwortete: "Der Werwolf dürfte wohl das einzige männliche Wesen sein. Die meisten Damen dort oben sind gezwungen worden, mitzuarbeiten. Eine von ihnen ist jedoch die Anführerin. Das beschreibt die Situation treffend."
"Alles in Ordnung. Lasst uns anfangen."
Rina kletterte wieder aufs Dach und sah, wie sich Eca, Lewton und Panther an das Haus heranschlichen. Die Wächterin überlegte, wie sie das Fläschchen wohl am besten durch ein geschlossenes Fenster werfen sollte und seufzte dann. Sie hatte schon eine ungefähre Ahnung, wie sie das Fenster öffnen konnte und diese Möglichkeit behagte ihr ganz und gar nicht. Da ihr aber dann doch nichts besseres einfiel, nahm sie wieder ihr Seil, befestigte es am Schornstein, kletterte bis in Fensterhöhe, stieß sich ab und ließ sich gleichzeitig etwas tiefer rutschen.
Die Mitglieder des Damenkränzchens fuhren erschrocken in die Höhe, als ein schwarzer Schatten mit lautem Geklirre durch das Fenster brach und auf dem Boden aufschlug. Dichter Nebel breitete sich in dem ganzen Zimmer aus und versperrt jedem die Sicht. Fast gleichzeitig wurde die Tür in den Raum aufgerissen und drei Wächter stürmten ins Zimmer. Während Eca ihre Blasrohrpfeile verschoss und so fast jeden ins Reich der Träume schickte, überwältigen Lewton und Panther den tobenden Werwolf. Als sich der Nebel legte, stand Rina, die dazwischen am Boden gelegen und den Kopf eingezogen hatte, wieder auf und sah sich um. Lewton und Panther hielten den Werwolf fest, den Eca anscheinend gerade betäubte. Die meisten Mitglieder des Damenkränzchens lagen ohnmächtig am Boden. Die Wächterin seufzte und überlegte, wie sie die Damen am besten alle zur Wache brachte.
***Eine Stunde später in Lewtons Büro***
Der Ausbilder sah seine neue Ermittlerin an und fragte: "Wie sind sie eigentlich auf die Damen gekommen?"
Rina grinste und antwortete: "Ms. Andergast, eine meiner Zeuginnen vom Handtaschendiebstahlfall, hat sich vor jemandem gefürchtet und murmelte, dass doch noch nicht Donnerstag wäre. Eine Freundin meiner Mutter war dann so nett, mich darauf hinzuweisen, dass sich dieses Damenkränzchen normalerweise Donnerstags bei der alten Dame im Haus traf. Sie kannte sogar ein weiteres Mitglied, Mrs. Lacroix, die auf den Tod ihrer Freundin und meine Fragen sehr unwirsch und verängstigt reagierte. Also verfolgte ich Mrs. Lacroix bis zu dem besagten Haus und belauschte ein Gespräch, in dem es sich um Morde und Informationsschmuggel handelte. Panther hat mich dann dort angetroffen und war so nett, Verstärkung zu holen. Den Rest kennen sie ja schon, Sir."
"Ja, ich kann ihnen übrigens mitteilen, dass eine der Damen, eine gewisse Mrs. Morse, beim Verhör angegeben hat, dass sie gezwungen wurde, Informationen zu organisieren. Die Informationen wurden in Strickschrift übersetzt und zu Pullovern verarbeitet, die der Sohn der Anführerin, ein Werwolf namens Scott, dann an die verschiedenen Abnehmer lieferte."
"Strickschrift?"
"Ja, Mrs. Morse hat gemeint, ihr Sohn hätte ein revolutionäres neues System entwickelt, mit dem man Buchstaben in eine Abfolge von Zeichen verwandeln könne."
"Ach so, ich fragte mich schon, ob ich nicht irgendetwas falsch verstanden hätte."
"Jetzt zu einem anderen Thema, Hauptgefreite..."
"Ja, Sir?"
"Den Handtaschendieb haben sie zwar gefasst, aber ich bin mit ihrer Methode der Vernehmung nicht unbedingt zufrieden. Sie hätten mir sagen sollen, dass es da noch einen zweiten Fall gibt und nicht einfach den Verdächtigen bei mir abladen."
"Es tut mir leid, Sir. Aber ich hatte keine Beweise und musste meiner Intuition vertrauen."
"Intuition ist schön und gut. Merken sie sich aber, dass wir ein Team sind. Ich wünsche keine Alleingänge."
Rina seufzte und antwortete: "Ja, Sir."
"Gut. Es haben sich inzwischen ein paar Akten auf ihrem Schreibtisch angesammelt. Nochmals willkommen im Thiem."
Die Wächterin verließ das Büro ihres Vorgesetzten und machte sich auf den Weg in ihr neues Büro. In der Tür blieb sie abrupt stehen und starrte entsetzt auf einen "Aktenberg", der irgendwie auf ihrem Schreibtisch gelandet war. Rina seufzte erneut und beschloss dann, zuerst einmal in der Bahre vorbeizuschauen. Die Akten konnten warten.
[1] siehe "Simon sagt"
[2] Rinas Freizeitkleidung bestand hauptsächlich aus schwarzen, bequemen Hemden und Hosen.
Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster
und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.