Wenn man an der Zeit herumspielt, kann das unangenehme Folgen haben.
Für diese Mission wurde keine Note vergeben.
Auf den Regalen in den dunklen Ecken schlafen die Bücher. Sie träumen, mache von den Dingen die in ihnen geschrieben stehen, einige haben Alpträume, andere träumen von Macht. Die in der Schulbibliothek vorherrschenden Träume waren vergleichsweise unschön, die Existenz in der Schulbibliothek war unschön, hier konnte man als Buch froh sein, wenn man auf eins der oberen Regalbretter gestellt und vergessen wurde. Weit oben hatte man nur den Bücherwurm und die Elemente zu fürchten, keine klebrigen Kinderhände, die am Einband rissen, den Rücken brachen oder die Seiten verknickten. Leider kam es gelegentlich vor, dass ein besonders neugieriges Kind eine Leiter ans Regal lehnte.
Tom las gern und er ließ sich nicht gern einschränken, deswegen machte er um die Bücher in Augenhöhe einen Bogen. Die waren bewusst so hingestellt, dass die Kinder sie gut erreichen konnten und somit von den Lehrern für die Kinder ausgewählt. Spannende Bücher mussten außer Reichweite stehen – beziehungsweise, weil sie außer Reichweite standen, mussten sie spannend sein. Er hielt sich allerdings nicht mit der Suche nach einer Leiter auf, er kletterte einfach am Regal hoch, angelte sich einen staubigen dicken Wälzer vom obersten Bett und sprang damit wieder runter. Der Band, den er erwischt hatte, hatte einen altertümlichen dunkelbraunen Ledereinband, abgewetzt und schäbig, sollte er einmal einen eingeprägten Titel besessen haben, war dieser lange durch unzählige Hände abgerieben worden. Der Junge überlegte nicht lange und ließ das Buch in seiner Tasche verschwinden, freitags um die Zeit saß sowieso niemand mehr am Schreibtisch, bei dem er es offiziell hätte ausleihen können. Trotzdem gab er sich auf dem Weg nach draußen große Mühe unauffällig zu wirken, was ihn natürlich nur auffälliger machte. Niemand hielt den achtjährigen auf, die meisten seiner Freunde waren sicher schon zuhause, kaum ein Mitschüler teilte seiner Vorliebe für das geschriebene Wort. Tom hatte es nicht eilig heimzukommen, er wusste, dass seine Mutter länger arbeiten würde und zuhause nur ein unordentliches Zimmer auf ihn wartete, das er irgendwann an diesem Wochenende würde aufräumen müssen. Aber so ein Wochenende war herrlich lang und die ersten Stunden würde er sicherlich nicht mit aufräumen verschwenden.
Zuhause angekommen setzte sich Tom ans Fenster und schlug das Buch auf. Er war augenblicklich in eine Staubwolke gehüllt und musste niesen. Der viele Staub machte seine Entdeckung nur interessanter. Das war bestimmt kein für Schüler bestimmter Band, wahrscheinlich eine Bücherspende, die niemand genauer angesehen hatte. Er ließ seiner Fantasie einige Minuten freien Lauf, dann pustete er den Staub von der ersten Seite. In einer schnörkeligen altertümlichen Schrift stand dort "Auf der Suche nach der verlorigen Zeit".
[1] Hecktisch blätterte Tom um und begann zu lesen.
Nach einer Stunde gab er auf. Es war weit weniger spannend als erwartet, langatmige Beschreibungen in endlosen verschachtelten Sätzen, nirgends ein Bild. Trocken wie der Staub, der es bedeckt hatte. Er sah sich um, aufräumen erschien auf einmal nicht mehr so langweilig. Der Junge stand auf und streckte sich ausgiebig, bevor er begann die verstreuten Dinge vom Boden aufzusammeln und an ihren Platz zu räumen.
Es war sehr still in seinem Zimmer, doch in dieser Stille schien das Buch zu flüstern. Jetzt, da es geweckt worden war wollte es gelesen werden. Tom sah sich erneut um. Nach der Staubwolke müsste er nun auch noch Staubwischen, aber darauf hatte er absolut keine Lust und da nun wenigstens eine elementare Ordnung wiederhergestellt war, beschloss er dem Buch eine zweite Chance zu geben. Inzwischen war es zu dunkel um nur im durchs Fenster hineinfallenden Tageslicht zu lesen, er stellte die Kerze vom Nachttisch auf die Fensterbank. Seine Mutter mochte es nicht, wenn er bei Kerzenlicht las, aber sie würde noch mindestens eine Stunde im Wachhaus arbeiten, ebenfalls bei Kerzenlicht. Sie vertrat zwar die Meinung, dass konzentriertes Arbeiten bei schwachem Licht den Augen schadete, aber sie hatte das ihr Leben lang getan und ihre Augen waren manchmal zu scharf für seinen Geschmack. Tom blätterte ziellos in dem Buch herum, es blieb langweilig. Er wünschte sich Bilder, kürzere Sätze, Spannung und Abenteuer. Im Schnelldurchgang ließ er die nächsten vielleicht hundert Seiten durch seine Hände gleiten, aber da waren nur endlose dichte Textabsätze. Dann nahm er plötzlich aus dem Augenwinkel eine andere Farbe wahr. Er blätterte dorthin zurück. Am Rand einer Seite war ein komischer Kringel, anscheinend mit Tinte in das Buch gezeichnet. Jemand hatte mit Tinte in diesen alten Schinken gekritzelt, das tat man nicht, andererseits wer auch immer das gemacht hatte, hatte sich sicher auch gelangweilt. Er besah sich die Seite genauer, da waren einzelne Worte unterstrichen, aber die ergaben keinen Sinn, außerdem fand er einen kleinen achtzackigen Stern in der inneren oberen Ecke der Seite. Da war das Abenteuer, nach dem er gesucht hatte. Ganz langsam blätterte er weiter. Mehr Unterstreichungen, nicht auf jeder Seite, aber immer wieder. Dann einige Seiten später stand zwischen zwei Absätzen ein Satz in einer fremden Sprache. Und auch auf dieser Seite war wieder in der unteren äußeren Ecke ein Kringel und in der oberen inneren ein achtzackiger Stern.
„Tota vita, dies unus est, tempus fugit“, las Tom murmelnd vor. Er hatte keine Ahnung um welche Sprache es sich handelte oder was die Worte bedeuteten, aber sie zogen ihn in ihren Bann. Fasziniert strich er über die Buchstaben, ohne die Bedeutung erfassen zu können. Im Kerzenlicht wirkte die Farbe der Tinte dunkelgrün, aber das würde er sich unbedingt im Hellen nochmal ansehen müssen. Der Junge saß noch unbewegt da und starrte die handschriftlichen Buchstaben an, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Er sprang auf und schlug das Buch zu, bevor seine Mutter das Zimmer betrat. Das Zimmer direkt neben der Wohnungstür zu haben hatte Vor- und Nachteile, aber solange er so schnell reagierte überwogen die Vorteile. Zu den schnellen Reaktionen gehörte auch, dass er sich die lautstarke Begrüßung verkniff als er erkannte, dass seine Schwester auf dem Arm ihrer Mutter eingeschlafen war. Die Kleine war inzwischen etwas über zwei Jahre alt und Mag nahm sie immer noch regelmäßig mit zur Arbeit. Auf dem Fußweg nach Hause schlief sie meistens ein, in diesen Momenten wirkte sie so friedlich, dabei konnte sie eine echte Nervensäge sein…
„Hallo Mama, ich mach dir die Schlafzimmertür auf, vielleicht schläft sie dann weiter“, flüsterte er und ging vor. Er liebte seine kleine Halbschwester, aber wenn sie um diese Zeit wach wurde, würde es ein langer Kampf werden, bis sie wieder einschlief. Das Manöver gelang, Elisa schlief weiter, trotzdem verzichteten Tom und Magane auf weitere Worte, bevor sie die Schlafzimmertür wieder geschlossen hatten und gemeinsam in der Küche waren. Magane bereitete ein schnelles Abendessen zu und stellte Fragen zu seinem Tag, das übliche Feierabendritual. Tom fand, dass seine Mutter müde und besorgt aussah, aber das war in der letzten Zeit häufiger der Fall, er fragte nicht nach, sie würde sowieso nicht antworten. Sie war der Meinung, dass Kinder nicht die Sorgen der Eltern tragen sollten. David könnte vielleicht helfen, aber der war auf der anderen Seite das Meeres und konnte nicht sehen wie fertig sie aussah. Er beschloss seinem Stiefvater in seinem nächsten Brief davon zu schreiben und ging nachdenklich zu Bett.
Magane war immer vor ihren Kindern wach, sie war von ihrer Tante zum frühen Aufstehen erzogen worden. Sie genoss die Stille am Morgen, die normalerweise damit endete, dass Elisa in die Küche kam und Aufmerksamkeit forderte. An diesem Samstag wurde die Stille von Geräuschen aus Toms Zimmer unterbrochen. Leise öffnete sie seine Zimmertür und wusste augenblicklich, dass etwas nicht in Ordnung war. Er stöhnte im Schlaf und wand sich vor Schmerzen. Sie ging die paar Schritte zum Bett und legte die Hand auf seine Stirn. Er glühte förmlich. Dabei hatte er vor ein paar Stunden noch topfit gewirkt. Kinder wurden oft plötzlich krank, aber so hatte sie das noch nicht erlebt. Oma könnte bestimmt helfen, sie hatte Jahrzehnte mehr Erfahrung mit Kindern und Krankheiten, aber Mag wollte ihren Sohn so nicht allein lassen. Sie musste das Fieber senken…
Tom war aufgewacht, als sie ihm Wadenwickel machte, aber auch wach war er nicht ansprechbar und stöhnte nur. Mag zögerte ihm ein Schmerzmittel einzuflößen, Kinder waren schwieriger zu behandeln als Erwachsene, die Dosierung war schwierig. Stattdessen beschloss sie ihm einen Teil, der Schmerzen mit Magie zu nehmen. Sie legte ihrem Sohn noch einmal die Hand auf die Stirn und stellte erleichtert fest, dass sie sich etwas kühler anfühlte. Dann konzentrierte sie sich auf den Schmerz - ein Brennen in den Knochen - und versuchte diesen zu lindern. Diese Form der Magie machte es notwendig alle äußeren Einflüsse auszublenden so bemerkte sie nicht, dass Elisa hereingetrottet kam und aufs Bett kletterte. Die Kleine kuschelte sich neben ihren großen Bruder und der entspannte sich augenblicklich. Diese Veränderung spürte Magane, sie zog ihre geistigen Finger zurück und schlug die Augen auf. Der intuitive Einsatz der magischen Fähigkeiten ihrer Tochter löste bei Magane eine Mischung aus Stolz und Sorge aus und normalerweise würde sie ihr jetzt ausführlich erklären, dass sie nicht so freigiebig damit umgehen sollte. Aber dies war keine normale Situation, dankbar strich sie der Zweijährigen über den Kopf und verließ den Raum um ihre Großmutter zu holen.
Magitt sah sich im Zimmer ihres Urenkels um und runzelte die Stirn, während sich Mag verständlicherweise sofort wieder an das Bett setzte, begann die alte Hexe sofort nach der Ursache des Problems zu suchen. Sie war sich nach der ersten Schilderung ihrer Enkelin sicher, dass es sich um ein magisches Problem und nicht um eine Krankheit handeln musste. Der Junge hatte zwar bisher kein besonderes magisches Talent gezeigt, aber das war nicht weiter ungewöhnlich, Kinder zeigten oft nur unter Stress ihre Talente, Elisa war die Ausnahmeerscheinung. Aber was war hier neu, womit war der Junge in Berührung gekommen?
„Du sagst, gestern war er noch ganz normal?“
„Ja, er war normal in der Schule, dann noch in der Bibliothek und danach hat er hier aufgeräumt.“
„In der Bibliothek…“, Magitt sah sich noch einmal suchend um. Zauberer hatten die dumme Angewohnheit magische Rezepte und Beschwörungen aufzuschreiben, Hexen waren mit geschriebenen Worten sehr viel vorsichtiger. Sie entdeckte das Buch am Fenster und die Kerze auf der Fensterbank, die Kerze gehörte dort nicht hin. Die alte Hexe griff nach dem Buch und hielt es sich ans Ohr. Das Flüstern war kaum wahrnehmbar, aber doch vorhanden.
„Ich denke ich habe die Quelle des Problems gefunden“, sie schlug den Band auf und begann zu suchen. Es war nicht wirklich ein magisches Buch, auf den ersten Blick wirkte es vollkommen harmlos, aber sie wusste worauf sie achten musste. Zaubererquatsch war nicht ihre Spezialität, aber erkennen konnte sie ihn und sie wurde auch schnell fündig. Im Gegensatz zu ihrem Urenkel erkannte sie, dass die Tinte oktarin war und damit nur für magisch begabte sichtbar war, den meisten Leuten wäre in diesem Buch nichts aufgefallen.
„Maggie, wir brauchen vielleicht einen Zauberer…“
Magane schüttelte den Kopf: „Ich kenne keinen und mit den Brüllern mag ich mich nicht anlegen, das dauert immer ewig und führt zu nichts, was hast du gefunden?“
„Einen in oktariner Tinte geschriebenen Spruch in einer mir nicht bekannten Sprache.“
„Lass mich sehen“, Mag stand auf und nahm das Buch entgegen. Nach einigen Augenblicken in denen sie mit gerunzelter Stirn die betreffende Seite studiert hatte, meinte sie: „Das könnte Latatianisch sein, wir haben ein Wörterbuch im Archiv, damit könnte ich es selbst versuchen“, sie befühlte noch einmal Toms Stirn, das Fieber war weiter gefallen, „Es scheint ihm besser zu gehen. Er hat sich verändert…“
„Ja, sein Gesicht ist kantiger geworden und ich bin sicher, dass dieser Schlafanzug letztes Wochenende noch nicht so viel zu kurz war.“
„Der war gestern noch nicht zu kurz… Ich laufe zur Wache und hole das Wörterbuch, dann kann ich mir auch gleich ein paar Tage frei nehmen und ihn in der Schule krank melden.“
„Gut, ich bleibe bei den Kindern und wenn Tom wach wird gebe ich ihm etwas zu trinken.“
Magane nickte, sie war krank vor Sorge, aber eine Hexe musste die Aufgabe erledigen die vor ihr lag.
Beim Übersetzen bemühte sich Mag die Worte nicht auszusprechen, sie hatte inzwischen
„ganzes Leben ist wie ein Tag, Zeit flieht“ und war sich ziemlich sicher, dass das nichts Gutes war. Offenbar sollte mit diesem Zauber die Zeit schneller vergehen, aber stattdessen beschleunigte er das Leben. Wenn ein latatianischer Spruch laut vorgelesen sowas auslösen konnte konnte sie es vielleicht auch so beenden. Sie suchte nach den Worten
Zauberformel und
beenden und schreib beide Worte hintereinander auf einen Zettel.
„Oma, sei so gut nimm Elisa und geh mit ihr in die Küche, ich denke ich habe einen Spruch mit dem ich es stoppen kann, aber sicherheitshalber möchte ich es allein versuchen.“
Die alte Hexe nickte und hob ihre Urenkelin sanft aus dem Bett. Sobald die beiden Kinder keinen Körperkontakt mehr hatten, wurde Tom wieder unruhig, weil die Schmerzen wieder stärker wurden. Magane versuchte beruhigend auf ihn einzuwirken, versagte aber kläglich. Sie setzte sich wieder zu ihm ans Bett und nahm seine Hände in die ihren. Auch seine Hände waren größer als gestern Abend…
Sie legte all ihre Autorität in ihre Stimme und sagte laut: „Finite incantatio!“
Leider konnte sie nicht erkennen ob es funktioniert hatte, es gab kein äußeres Anzeichen. Also tastete sie noch einmal auf geistigem Wege. Der Schmerz in seinen Knochen hatte sich verändert, er war nicht mehr brennend, sondern eher wund. Sie machte eine Bestandsaufnahme, scheinbar war alles in Ordnung, wund aber gesund, älter als gestern, größer… sein Körper würde sich daran gewöhnen. Hauptsache er alterte nicht so rapide weiter.
Tom wachte auf und sah seine Mutter fragend an, mit leiser krächzender Stimme fragte er: „Was?“
„Liebling ruh dich aus, wir reden später darüber.“
Er schlief fast einen ganzen Tag durch, Elisa war beinahe die ganze Zeit bei ihm. Es kam zu keinem weiteren Wachstumsschub und auch das Fieber kehrte nicht zurück. Nach ein paar Tagen war er stark genug um aufzustehen und herumzulaufen, was seine Mutter und Urgroßmutter nutzen um um ihn herumzuglucken und ihn dabei neu zu vermessen. Insgesamt war er um 20 Zentimeter gewachsen, außerdem waren nun alle Milchzähne durch ihre bleibenden Nachfolger ersetzt und auch die nächsten Backenzähne waren im Durchbruch. Hände und Füße waren deutlich größer, die Arme länger und sogar die Schultern wirkten breiter. Magitt mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung schätzte ihn nun auf 11 bis 12 Jahre. Magane beschloss dass der Arbeitsaufwand diesmal zu groß wäre um alle Kleidung selbst zu nähen und ging einkaufen, sie brachte auch einen Schuster dazu aus den Maßen seiner Füße die aktuelle Schuhgröße abzuleiten und ihr dann zwei paar Schuhe zu verkaufen. In der Schule würden sich vermutlich ein paar Probleme ergeben, aber die würden sie dann angehen, vorerst war es wichtiger das Buch in kundige Hände zu geben. Mag besorgte sich auf dem Markt ein paar Bananen und machte sich dann auf zur Unsichtbaren Universität.
[1] „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust ist eins der Bücher, die auf meiner Leseliste aus dem ersten Semester standen, um ehrlich zu sein habe ich es nicht durch den ersten Zentimeter des ersten Bandes geschafft, aber darauf kommt es hier nicht an, ich habe mir nur den Titel geliehen.
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