In potent de fictio

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von Chief-Korporal Jargon Schneidgut (SEALS)
Online seit 14. 11. 2021
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 05. 09. 2012 datiert
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 Außerdem kommen vor: Apollonia GrazKanndraDaniel DolchNyria MaiorBraggasch Goldwart

Wer vertitt die Anwaltsgilde in rechtlichen Fragen wenn niemand bezahlt? Wie Jargon unentgeltlich die Anwaltsgilde vertrat und dann ein Haus kaufte. Diese Single spielt irgendwann im Jahr 2015 (glaube ich).

Dafür vergebene Note: 13

"Und wie teuer wäre die Immobilie dann?"
Der Makler schürzte die steinernen Lippen, schnaufte kurz durch und sagte: "Sechshundert Dollar."
Gespannt beobachtete er Jargons Reaktion.
"Ich, äh, muss es mir noch überlegen", sagte dieser und schob seine Augenbrauen zusammen. Draußen hörte man, wie die ersten Glocken der Gilden das große Läuten einleiteten.
"Natürlich", sagte Herr Basalt und bewegte sich in Richtung Haustür. Die Bodendielen knarzten lautstark bei jedem Schritt. "Du dich melden einfach die nächsten Tage. Hier meine Karte ist." Er reichte dem Wächter ein kleines, bedrucktes Pappkärtchen, auf dem seine Anschrift und Klackeradresse zu lesen waren. Im Licht der trüben Fensterscheiben las Jargon Mörtel&Basalt Ihmobilliehen, Torfstainwehg 2, kauf-haus-jetzt-ätt-sofort.am.
Beide traten zusammen nach draußen in die Tonstraße. Herr Basalt zog die laut quietschende Tür zu und verschloss sie mit einem ziemlich großen Schlüssel. Das Klacken war von grässlicher, knirschender Qualität. Einer der Fensterläden im ersten Stock klapperte laut, vom Wind gerüttelt.
"Und sie meinen, achtzig Dollar reichen für eine Komplettrenovierung aus?" Jargon klang zweifelnd. Er ließ seinen Blick über den abgeblätterten Putz und die fehlenden Dachziegel wandern.
"Äh, sicher", brummte Herr Basalt und strich sich über die Gesichtsflechten. "Ist allerdings abhängig von Deh-fini-zion."
"Ich verstehe."
Der Alte Tom schlug dreimal und verhackstückelte Jargons nächsten Satz mit Wellen aus Stille.
"Ihre -...- sind überzeugend, aber mein -...- ist Begrenzt und ich noch -...- ", sagte er.
Basalt gab sich professionell. "Natürlich. Es für uns alle ein erstes Mal gibt."
Er zeigte ein gewinnendes Lächeln, das in zwar lückenhaftem, aber eindrucksvollem Smaragdgrün strahlte.
"Wir uns freuen auf deine Rückmeldung, Herr Schneidgut."
Der Troll schritt in Richtung Tolle Schwestern davon, seine viel zu volle Aktentasche unter dem linken Arm. Es sah aus, als bräuchte ein Dieb mehrere Stunden Zeit und ein sumpfdrachenbetriebenes Werkzeug, sollte er versuchen den Makler von seiner Tasche zu trennen.
Jargon zwang sich, sein Nasengedächtnis aufzurufen und fasste Basalt zusammen: eine Art Troll-Parfüm, das nach Kalk und Wasser riecht- die Aktentasche, Leder- säuerlicher Geruch aus dem Mund- und, ein- was ist das?
So sehr er sich auch anstrengte, er konnte zu dem letzten Geruch keinen Begriff finden, der passte. So ging es ihm öfter. Immerhin hatte er daran gedacht, olfaktorisch aufmerksam zu sein.
Er spürte, wie sich Kopfschmerzen ankündigten.
Mit verspannten Schultern kramte er in der Innentasche seiner Jacke nach etwas zu rauchen und fand ein schmales Zigarillo. Auf dem Weg durch die Ulmenstraße in Richtung Pseudopolisplatz paffte er und dachte über die Wohnungssituation nach. Ein Haus kaufen... das klang so einfach!
Er hatte jetzt drei Besichtigungen hinter sich, und hatte an keine eine gute Erinnerung. Die Häuser wirkten alle baufällig, ungepflegt, überteuert, schlecht gelegen, schief, zu alt, zu neu- es gab immer mehr als einen guten Grund, sie abzulehnen. Immerhin wollte er ein ordentliches Haus kaufen! Es musste doch möglich sein, eines zu finden, das ein dichtes Dach und einen freien Kamin hatte. Eigentlich würde ein dichtes Dach alleine schon reichen.
Jargons Blick wanderte über die Fassaden links und rechts, er sah hier einen leeren Türrahmen, dort vernagelte Fenster.
Vielleicht gab es in Morpork einfach keine guten Häuser?
Unsinn! In den Schatten gab es ordentliche Häuser - also, vom Inhalt abgesehen - also musste es in Morpork auch ordentliche Häuser geben. Vielleicht sollte er sich mal in den Tollen Schwestern umsehen?
So überlegte er, während ihn seine Füße an die Kreuzung Ulmenstraße-Ankertaugasse trugen. Er hielt kurz inne, dann bog er in die Ankertaugasse ein.
Die Stimme seines verstorbenen Vaters geisterte[1] ihm durch den Kopf, und erzählte etwas von einer Gruppe geheimer Werwolf-Schläfer, die hier irgendwo ihren Unterschlupf hatten.
Nervös zog Jargon an seinem inzwischen viel zu kurzen Rauchstängel und verbrannte sich die Lippen. Fluchend spuckte er aus. Entnervt kramte er in seinen Taschen nach Ersatz, fand aber nichts. Erneut fluchend sah er sich um, Passanten ignorierend.
War etwas dran? Oder war das nur eine Lüge gewesen? Nicht, dass sein Vater besonders unehrlich zu ihm gewesen wäre - aber als Geist klammerte man sich vermutlich an jedes Druckmittel. Ein wenig bereute Jargon, ihn mit der Salzwasser-Gurgel-Therapie ausgeschaltet zu haben, ohne noch mehr von ihm erfahren zu haben. Andererseits war er sehr froh darüber, nicht mehr länger seiner kreischenden Stimme ausgesetzt zu sein.
Sein Blick wanderte über die Häuserreihen, jedes verdächtige Merkmal wirkte doppelt bedrohlich. Da ein merkwürdiges Symbol an der Wand, nebenan stand eine schwarze Kerze im Fenster. Woanders eine Leiter, die zwei Dächer verband, ein frisch gemauerter Schornstein! Hier eine unwahrscheinlich saubere Fassade, mit neu gestrichenen Fensterrahmen und einer massiv wirkenden Holztür. Und ein kleines Schild aus teuer aussehendem Papier. Was stand dort? Jargon ging näher ran.

Haus zu verkaofen! Neu renowiert, diräkt bezugsbreit! Prais feehandelbar!! - haus-ankertaugasse-ätt-uhuhsörwiss.am


Na, wenn das nicht verdächtig war. Er merkte sich die Hausnummer und die Klackeradresse und schüttelte alle Gedanken an eventuelle Werwolfsagenten ab. Er hatte in einer halben Stunde Streifendienst. Zeit, zum Wachhaus zurückzukehren, wenn er davor noch etwas essen wollte.

***


"Herr Frengstrenk! Öffne die Tür!"
Energisch hämmerte Kanndra gegen das verstärkte Metall.
"Hier ist die Stadtwache! Wenn du kooperierst, wird dies beim Strafmaß berücksichtigt!"
Von drinnen hörte man eine dünne, beherrschte Stimme antworten:
"Ich danke für die Auskunft. Die Stadtwache hat hier allerdings keine rechtliche Handhabe."
Entnervt warf Kanndra einen Blick zu Braggasch, der seine Schlossöffnungsutensilien bereithielt.
"Doch, die haben wir. Die Anwaltsgilde hat uns bevollmächtigt, im Sinne der Stadt und des Patriziers zu handeln!" Sie winkte dem Zwerg. Er nickte und begann, das Schloss genau zu analysieren.
Frengstrenk antwortete, scheinbar unberührt: "Die Anwaltsgilde ist nicht dazu befähigt, eine administrative Entscheidung dieser Art ohne meine Anwesenheit zu treffen."
Einer der Anwälte, die mit Kanndra und Braggasch im Vorraum der Tresorkammer standen, rollte mit den Augen und stellte endlich seine Aktentasche auf dem reich verzierten, aus teurem Holz gefertigten Tresen ab.
"Frengstrenk war schon immer ein besonders schlimmer Paragraphenreiter", sagte sein Kollege.
Braggasch lies seine Finger unschlüssig über unterschiedliche Werkzeuge gleiten.
"Das wird, äh, ein harter Brocken", sagte er.
"Herr Frengstrenk! Wenn du diese Tür nicht öffnest, werden wir es tun!", rief Kanndra. Sie hatte ihre Arme mittlerweile verschränkt und sah zu, wie ihr Kollege vorsichtig ein dünnes Metallstück in den Schlossmechanismus einführte.
"Interessante Prognose", antwortete der eingeschlossene Anwalt. "Ich habe hier mehrere Metallverstrebungen von innen in sehr stabil aussehenden Halterungen angebracht."
"Ihr habt einen Schließmechanismus von innen da drin?", fragte Kanndra die ihnen beistehenden Anwälte.
"Ist das eine rechtlich bindende Aussage?" Reflexartig öffnete der ältere der Beiden die Aktentasche.
"Äh-", antworteten Braggasch und Kanndra gleichzeitig. Letztere fasste sich schneller.
"Nein, nur eine rhetorische."
Ihr zwergischer Kollege ließ seine Ansammlung filigraner Werkzeuge in einer speziell dafür angefertigten Tasche verschwinden.
"Also, äh, ich kann das Schloss schon knacken, aber auf kriegen wir die Tür dann, äh, trotzdem nicht."
Sie schürzte die Lippen. "Sprengen?", überlegte sie laut.
"Das wäre eine schwerwiegende Sachbeschädigung", schoss diesmal der jüngere Anwalt hervor und zückte unkontrolliert einen Federhalter.
Kanndra seufzte.
"Was willst du eigentlich, Herr Frengstrenk?", fragte sie lautstark in Richtung Tresor.
"Ich möchte eine rechtliche Verhandlung!"
Der jüngere Anwalt bellte "Einspruch", und versuchte so zu tun als wäre es Absicht gewesen.
"Meine Entlassung aus dem Vorstand der Gilde ist ungesetzlich, und ich werde diesen Tresorraum nicht verlassen, bis der Fall zu meiner Zufriedenheit geklärt ist", ergänzte Frengstrenk.
"Na schön-?" Kanndra warf dem älteren Anwalt einen fragenden Blick zu. "Warum soll das nicht gehen?"
"Wer kommt für die Kosten dieser Verhandlung auf?", fragte dieser zurück.
"Äh, die Gilde?", fragte Braggasch verwirrt.
"Sicher nicht!", empörte sich der junge Anwalt und schrieb nervös eine einstweilige Verfügung. "Da Herr Frengstrenk aus der Sicht der Gilde offiziell keine Führungsperson mehr ist, muss er die Kosten des Verfahrens selbst tragen."
Frengstrenk hatte dies offenbar gehört und antwortete: "Ich bin sehr wohl noch Vorstandsmitglied der Gilde! Ich werde dieses Verfahren nicht bezahlen!"
"Dann gibt es keine Verhandlung!", antwortete der ältere Anwalt lautstark.
Peinliches Schweigen füllt den Raum. Braggasch war nun doch dabei, das Schloss zu bearbeiten, allerdings mehr aus Spaß am Schlossknacken und weniger um den Fall voranzubringen.
"Also, die Anwaltsgilde wird die Verhandlung nicht durchführen", setzte Kanndra an und versuchte, ruhig zu bleiben, "weil sie das Verfahren nicht bezahlen will? Aber ist es finanziell nicht ungünstiger, wenn ihr Frengstrenk im Tresor lasst und nicht mehr an das Geld kommt?"
Die Anwälte schienen wenig interessiert. Der Ältere sagte: "Das Vermögen der Gilde interessiert uns nicht besonders."
Braggasch stieß einen Laut aus, der Faszination und Schrecken beinhaltete. Er zog sein stark verbogenes Werkzeug aus dem Schloss.
"Es ist eher so, dass kein Anwalt eine solche Verhandlung führen wird, ohne bezahlt zu werden", ergänzte der Jüngere.
Braggasch nickte brummend. "Man, äh, bräuchte einen Anwalt, der umsonst arbeitet. Äh. Oder- einen Wächter, der Anwalt ist."

***


"Kann man das essen?", fragte Daniel Dolch mehr oder weniger interessiert.
Unbeirrt schob sich Jargon die grüne Masse in den Mund. Jahrelange Routine ließ ihn schlucken, bevor seine Zunge einen Geschmackspartikel erhaschen konnte.
"Na klar", antwortete er und belud seinen Löffel neu. "Die Mamsell ist eine erfahrene Köchin. Sie weiß was sie tut." Er zog sich eine faserige Strähne aus dem Mund und legte sie zu den anderen auf den Tellerrand. Wie um ihm beizupflichten verzehrte Nyria, die neben ihm saß, den letzten Rest ihrer Portion.
"Wohin zieht's dich eigentlich, Daniel?", fragte sie.
"Gute Frage", gab dieser nachdenklich zurück und bewegte zögerlich eine Ladung 'Kohlauflauf' in Richtung seines Mundes.
Jargon und Nyria beobachteten ihn gespannt. Er hielt inne und sah zu Jargon, der seine Aufmerksamkeit sofort wieder dem eigenen Essen zukommen ließ. Er schluckte den letzten Rest Auflauf und lehnte sich zurück.
"Hast du auch manchmal das Problem, dass du einen Geruch nicht beschreiben kannst?", fragte er Nyria, um Daniel den Stress der Aufmerksamkeit zu nehmen.
Das verleitete diesen dazu, den Kohlauflauf endlich im Mund verschwinden zu lassen.
"Wieso beschreiben?", fragte Nyria, nicht ganz aufmerksam. Sie beobachtete voller Faszination die Reaktion ihres Gegenübers auf das Essen.
"Na, wenn ich im Geruchsgedächtnis, also, mir jemanden merken will. Aber er riecht nach etwas, was ich nicht beschreiben kann-"
Daniel hustete, zweimal, sehr bestimmt. Dann schluckte er und schien sehr nachdenklich.
Nyria wandte sich zu ihm und antwortete: "Wieso denn beschreiben? Da ist 'n Geruch, den merkst du dir, Ende. Wieso 'nen Namen geben?"
"Na, um ihn mir besser merken zu können. Also, wie, Seifengeruch, und-"
"Du machst das vielleicht kompliziert!", ereiferte sie sich. "Du merkst dir einfach den Geruch von dem Typ, Ende. Das beinhaltet das ja alles."
Jargon verstand nicht ganz, nickte aber. Nyria durchschaute sofort sein Unverständnis und versuchte es nochmal: " Alle Beschreibungen von Gerüchen anhand von Farben oder Gerüchen bestimmter Dinge sind immer nur Näherungen, um Menschen klar zu machen wovon man redet."
Sie glaubte nicht, dass er genau verstand was sie meinte. Er wirkte immer noch verwirrt.
Kurz war es still.
Dann sagte Daniel, den Inhalt seines Tellers mit zusammengekniffenen Augen fixierend: "Es gibt dabei einen Trick, oder?"
"Nix da, keine Tricks. Es ist wie es ist." Sie stieß Jargon an und stand auf. "Wir ham Streife."
Auf dem Weg zur Tür passte sie eine salutierende Apollina Graz ab, die wohl älteste menschliche Rekrutin der Stadtwache.
"Korporal?"[2] Sie wirkte fast ein wenig fehl am Platz. Sie trug die Uniform wie ein modisches Accessoire.
"Ja?" Er antwortete mit einem eher halbherzigen Salut. Nyrias Hand bewegte sich einige Zentimeter in Richtung Helm.
"Ich habe Tresendienst, und eben eine Klackernachricht für dich erhalten. Man braucht deine Hilfe in der Anwaltsgilde."
Jargon runzelte die Stirn. "Was, jetzt?"
"In der Tat. Es scheint dringend." Sie reichte ihm die Nachricht. Er las sie mit wachsender Verwirrung, was die Rekrutin mit großer Neugierde beobachtete.
"Eine Verhandlung?" Er sah zu Nyria und zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Du musst dir wohl jemanden aus dem Bereitschaftsraum schnappen."
Sie nickte und brummte: "Bis demnächst... viel Spaß." Sie machte sich auf in Richtung Bereitschaftsraum.
"Danke, Rekrutin." Er salutierte nochmals wenig enthusiastisch zum Abschied, worauf diese beinahe ironisch zurückgrüßte, und beeilte sich, die wichtigsten Gesetzbücher aus seinem Büro zu holen. Dabei schimpfte er in Gedanken auf alle Anwälte - er hatte sich auf die Streife mit Nyria gefreut.

***


Es klickte leise. In der Stille des Tresor-Vorraums war es fast schon laut.
"Oh, wie aufregend!", entfuhr es Braggasch. Er steckte fast bis zum Ellenbogen in einer Öffnung, wo zuvor der Großteil des Verschlussapparates des Tresors gewesen war. Eine Menge Metall in unterschiedlichen Größen und Formen, jeweils an einem oder mehreren Scharnieren befestigt, stand zu seiner Seite ab. Zu seinen Füßen lagen mehrere verbogene, geborstene, der Länge nach gesplitterte, angeschmolzene und teilsegmentierte Dietriche.
Kanndra saß neben dem älteren - immer noch stehenden - Anwalt, auf dem Tresen im Vorraum.
"Ich verstehe nicht ganz", sagte der jüngere Anwalt. Er lehnte an der Wand neben einem hängenden Zierteppich und beobachtete, wie Braggasch einen neuen Dietrich hervorholte. "Die Materialkosten müssen doch immens sein. Kommt die Stadtwache dafür auf?"
In den folgenden Sekunden wog die Stille des Raums noch schwerer als zuvor. Der ältere Anwalt hustete einmal und sagte gleichzeitig "Entsch-hu-huldigung."
"Nein", erklärte Kanndra schließlich.
Die beiden Anwälte starrten kurz, konfrontiert mit einem unbekannten Konzept.
"Warum tut er es dann? Er weiß doch, dass er den Tresor nicht öffnen kann. Das ist ein Verlustgeschäft für ihn!"
Kanndra zuckte mit den Schultern. "Ich schätze er hat Spaß daran." [3]
Vom Flur her kündigten sich Schritte an. Erleichtert stand Kanndra auf und versuchte, ihr Genick zu entspannen.
Jargon trat ein. Über der Schulter trug er einen prall gefüllten Kissenbezug, der mit einem Seil und einem alten Teppich verstärkt war.
"Hallo Kanndra." Er salutierte eher unordentlich, um seine Balance nicht zu gefährden, und stellte den Kissenbezug-Beutel dann, zum großem Missfallen der Anwälte, auf dem Schreibtisch ab. Dann sah er sich etwas verwirrt um, schnupperte kurz. Staub, Holz, Leder. "Ich war noch nie hier drin. Findet die Verhandlung hier statt?"
"Da der Angeklagte sich im Tresor befindet und keine Fernkommunikationsmittel bei sich hat- ja", antwortete Kanndra.
Der jüngere Anwalt fügte reflexartig hinzu: "Laut Paragraph vierunddreißig, Absatz zwölf, Zeile acht der Gildensatzung gelten alle Räume der Anwaltsgilde offiziell als mögliche Verhandlungsräume, um-"
"Um zu vermeiden, dass Mitarbeiter mehrmals pro Minute einen designierten Raum aufsuchen müssen, um rechtlich bindende Aussagen zu treffen und Präzedenzfälle zu schaffen, siehe Paragraph einunddreißig, Absatz neun, Zeile zwo. Ich weiß", unterbrach ihn Jargon.
"Wenn, dann bin ich der Kläger!", klang es dumpf hinter der großen Metalltür hervor. Braggasch zuckte zusammen und riss blitzschnell seinen Arm aus dem Schlossrohr. Darin ertönte ein lautes Knacken, gefolgt von einem metallenen Schwingen, ähnlich dem einer Stimmgabel.
"Oh nein, ich glaube der ist auch weg", murmelte Braggasch. "Ich schätze ich muss bei den Drehscheiben noch einmal neu anfangen. Hoffentlich habe ich noch eine Ersatzfeder-" Er begann, seinen Umhängebeutel zu durchsuchen.
"Oh, Braggasch!", sagte Jargon erfreut. "Schön dich zu sehen!" Er sah zu, wie der Zwerg einen neuen Dietrich, eine Feder und einen Magneten hervorholte und versuchte, alle drei Gegenstände gleichzeitig in das Schlossrohr einzuführen.
"Hallo Jargon", antwortete Braggasch, hochkonzentriert. Schweiß rann ihm in den Bart und die Augen, doch er blinzelte nicht. Rote Adern zeichneten sich deutlich auf dem Weiß ab. Er zitterte nicht.
"Was, äh- knackst du gerade den Tresor?"
"Ja."
Jargon wandte sich an Kanndra. "Kann er ihn öffnen?"
"Nein", antwortete sie. "Sie haben einen Verschlussmechanismus von innen."
"Spannend."
Sie beobachteten kurz wie Braggasch verzweifelt versuchte, den Magneten mit der selben Hand zu bewegen, mit der er auch Feder und Dietrich bewegte.
"Ich verstehe das richtig, ich werde jetzt hier eine Gerichtsverhandlung führen, um zu klären ob die Entlassung von Herrn- äh-"
"Frengstrenk!", schallte es von hinter der Tresortür. Diesmal zuckte Braggasch nicht. Nur sein linkes Augenlid bewegte sich.
"Von Herrn Frengstrenk aus dem Vorstand der Gilde rechtskräftig war oder nicht."
"Korrekt." Kanndra wischte sich mit der Hand übers Gesicht.
Jargon sah sich um.
"Wer ist der Richter?"
Die beiden Anwälte, die den Wächtern Gesellschaft leisteten, sahen sich an. Dann holten sie gleichzeitig Kladden hervor und blätterten hektisch.
"In Fällen des Zivilrechts würde man ein Magistratsgericht zusammenstellen-", überlegte Jargon laut und griff in seinen Beutel.
"Es wäre auch sehr unangemessen, Vetinari selbst mit dieser Belanglosigkeit zu stören!", stimmte der ältere Anwalt lautstark zu.
"Andererseits scheint mir das hier eher ein Fall für gildeninterne Regelung, was in diesem Fall heißen würde, dass Herr Schräg die Verhandlung führen müsste."
"Herr Schräg ist aktuell nicht im Haus", warf der jüngere Anwalt ein. "Er ist wohl erst in zwei Tagen zurück."
Blätternd und schweigend starrten die beiden Anwälte und Jargon in ihre Gesetzbücher.
Kanndra ging zum Tresor.
"Herr Frengstrenk?", fragte sie betont ruhig.
"Frau Wächterin", antwortete dieser, die Stimme entspannt. Braggaschs Hand bewegte sich einen Millimeter, und etwas klickte, woraufhin der Zwerg sich schlagartig entspannte und durchatmete.
"Für dich Leutnant Mambosamba. Was meinst du, wie lange kannst du da drin ausharren? Bevor du aufgrund gewisser körperlicher Bedürfnisse herauskommen musst?"
"Keine Sorge. Ich bin für mehrere Wochen - wenn nicht sogar Monate - ausgerüstet."
Kanndra nickte, nachdenklich. "Du hast das lange geplant, oder?"
"Mitnichten. Das war eine sehr spontane Überlegung. Das Innere des Tresors ist standardmäßig mit Toilette, Wascheinrichtung und Rationen ausgestattet. Für den Fall dass die Notstandssituation ausgerufen wird."
Sie meinte, das Klacken und Zischen eines Bierflaschen-Bügelverschlusses zu hören. "Die Notstandssituation?"
"Sollte die Anwaltsgilde Ziel eines koordinierten Angriffs werden, steht es den Mitgliedern frei, die Flucht zu ergreifen oder sich in den Tresor zu begeben und von Innen zu versperren." Etwas gluckerte.
"Aha."
"Sollten diese Mitglieder nicht innerhalb von drei Wochen befreit werden, steht ihnen als Belohnung für ihr Opfer der Inhalt des Tresors zu."
Kanndra hob die Brauen. "Klingt sehr... anwältisch."
"In der Tat."
Braggasch setzte sich neben Kanndra auf den Boden, das Gesicht nachdenklich. Er stupste sie sachte am Unterarm.
"Hmm?" Sie hockte sich neben ihn.
"Es gibt ein Belüftungssystem für den Tresor." Er ließ seinen Blick über die Außenwände des Tresors und die Decke des Raumes schweifen. "Wenn wir es finden, könnten wir- äh-"
"Wir werden ihm nicht mit dem Erstickungstod drohen, Braggasch." Sie sah ihn streng an. Er wirkte schwer verwirrt.
"Ich-ähm, dachte eher an Pfefferminzöl- oder-"
Sie winkte ab.
"Sehen wir erst mal, was Jargon hier fertig bringt. Vielleicht gibt es ja doch eine zivilere Lösung."
Besagter Jargon stritt sich derzeit ausgiebig mit den beiden Anwälten.
"Laut meinen Notizen war der letzte von Vetinari besetzte Richter ein gewisser Herr Traubenbein! Wenn sich das geändert hat, klärt mich bitte auf!"
Der ältere Anwalt schnaufte empört. "Das wäre mir sehr neu, dass ich von Vetinari eingesetzt worden wäre! Herr Knusprigkeibel hier hat die letzte interne Verhandlung geführt!"
Knusprigkeibel, der jüngere Anwalt, lachte auf. "Aber doch nur, weil du nicht da warst!" Er stellte seine Tasche neben Jargons auf den Schreibtisch und begann, darin zu kramen.
"Es ist mir ganz egal, wer von euch der von Vetinari eingesetzte Richter ist, ich will einfach nur meine Verhandlung führen!" Jargon krempelte seine Ärmel hoch. Ihm war heiß, und sein Bart fühlte sich an, als wolle er aus seinem Kinn kriechen.
"Was sag ich- eure Verhandlung!" Schwungvoll klatschte er einen Stoß Papier auf den Tisch. Und dann setzte er sich.
Traubenbein richtete seine Brille. "Herr Schneidgut, ich sage es dir noch einmal: ich bin nicht dein Mann."
Jargon holte sein undurchsichtiges, grob getöpfertes Tintenfass und eine am Ende abgeknickte, graue Gänsefeder aus seinem Beutel.
"Vetinari hat seit Monaten nicht von sich hören lassen!"
Er entkorkte das Fass.
"Traubenbein hat recht! Wir hängen hier völlig in der Schwebe!"
Er tunkte die Spitze der Feder hinein.
"Was tust du denn da, um Offlers Willen?!"
Er begann zu schreiben.
"Ich schreibe an seine Lordschaft", sagte er dann. "Meine Kollegin kann den Brief in wenigen Minuten überbringen lassen."
Kanndra, die den letzten Teil mit wachsendem Interesse verfolgt hatte, tastete nach ihrem dienstlichen Disorganizer, die neue Version, mit eingebauter Sofort-Nachrichtenfunktion.
Die beiden Anwälte sahen sich an.
"Kein Grund, gleich die schweren Geschütze aufzufahren, Herr Kollege", murrte Traubenbein dann und ging los. "Ich hole meine Perücke."
Jargon lächelte selbstzufrieden, lehnte sich auf dem äußerst bequemen Tresor-Tresendienstsessel zurück und durchsuchte seine Taschen nach einem Zigarillo[4].
"Hmmm", brummte Kanndra.
"Äh, ja?" Braggasch, wieder vor dem Tresor stehend mit einem Vergrößerungsglas und einer Pinzette in der Hand, hielt inne.
"Nicht du-" Sie durchquerte den Raum und stellte sich zu Jargon. Mit einem Seitenblick auf den jungen Anwalt beugte sie sich zu ihm runter und murmelte: "Was meinst du, wie lang das hier dauert?"
Ihr Kollege seufzte und flüsterte zurück: "Gute Frage." Mit plötzlich überraschtem Gesicht zog er einen zerknitterten Zigarillo aus der Jackeninnentasche. "Wusste ich's doch, dass ich noch einen rieche!" Er fummelte nach Streichhölzern.
"Na schön", sagte sie und seufzte ebenfalls. "Kannst du eine ungefähre Schätzung-"
"Herr Kollege, du willst jetzt aber nicht im ernst hier drin rauchen, oder?", ereiferte sich Knusprigkeibel als Jargon seine Streichhölzer hervorholte.
"Äh-" erwiderte dieser und wurde sich dieser eher schlechten Idee bewusst. "Nicht doch, ich wollte nur-" Er verbiss sich einen Kommentar bezüglich leicht brennbarer Deko-Materialien und Bücher und steckte sie wieder ein. "-nachsehen, ob ich sie noch habe."
Kanndra stellte indessen die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit in Frage. Wenn Jargon keine Ahnung hatte, wie lange es dauern würde, und Braggasch den Tresor weder aufknacken noch -brechen konnte, schien es ihr ziemlich unnötig, noch länger zu bleiben. Andererseits könnte es witzig sein, bei der Verhandlung dabei zu sein. Eine lustige Geschichte, die sie Julian und Benjamin erzählen konnte, würde es allemal - zumindest bis zu dem Teil, der zu viel Anwaltsjargon enthielt[5]. Nachdenklich beobachtete sie, wie Braggasch eines seiner Barthaare in eine Nadel einfädelte und diese mit der Pinzette in den Untiefen des Verschlussmechanismus' verschwinden ließ. Ob er das Schloss wohl ganz öffnen können würde? Sollte sie sich vielleicht mehr Sorgen darum machen?
In diesem Moment kehrte Traubenbein zurück. Er trug eine sehr albern aussehende Lockenperücke und eine schwarze Robe. Auch Jargon und Knusprigkeibel setzten sich ihre Perücken auf. Kanndra entschied sich, dass dieser Anblick allein ihre Anwesenheit entlohnte. Außerdem wusste man ja nie. Solange Braggasch mit dem Tresor beschäftigt war blieb sie lieber vor Ort, sollte sein Bart oder ähnliches Feuer fangen. Sie setzte sich auf die kleine Stufe vor der Tresortür, die Hände über einem Knie gefaltet.
Traubenbein nahm in einer Nische zwischen zwei Bücherregalen, die sich in der Nähe der Tresortür befanden, an einem kleinen Lesepult Platz. Jargon blieb wo er war sitzen, nahm aber Haltung an und schob ein paar seiner Bücher umher.
Die drei Anwälte im Raum [6] sahen sich kurz schweigend an, dann klopfte Traubenbein mit einem kleinen schwarzen Hammer, der verdächtig quietschte [7], auf das Stehpult.
"Protokollant, bitte festhalten." Er warf Jargon einen Blick zu, der hastig seinen Disorganizer MKI-Tschadsch[7a] betätigte. Es dauerte einen Moment, bis der Dämon sein 'Daumen hoch'-Zeichen gab. Jargon nickte ihm zu, dann dem Richter. Traubenbein fuhr fort.
"Anwesend sind: Chateau de Traubenbein, Gildenmitglied, Vorstand, derzeit Gerichtsführender. Jargon Schneidgut, Gildenmitglied, Vertreter der Anwaltsgilde, Verhandlungsführer. Wasilio Frengstrenk, Gildenmitglied, V- äh, dessen Mitgliedsstatus umstritten ist, der sich selbst vertritt. Außerdem Noblesse Knusprigkeibel und zwei Angehörige der Stadtwache, deren Namen derzeit nicht-"
"Kanndra Mambosamba und Braggasch Goldwart", murmelte Jargon dem Dämon zu und sah dann wieder zu Traubenbein, der dies nicht mitbekommen hatte.
"-erwähnenswert sind. Nun denn, Herr Verhandlungsführer. Ich lege dieses Verfahren nun in Ihre[9] Hand. Der Verhandlung ist eröffnet." Traubenbein klopfte noch einmal halbherzig mit dem Gummihammer, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Jargon atmete einmal durch, roch deutlich die Mottenkugeln in seiner eigenen Perücke, dann begann er zu sprechen:
"Wir sind derzeit hier versammelt um über den Gildenzugehörigkeitsstatus von W. Frengstrenk[10] zu entscheiden. In einem gildeninternen Treffen des Vorstandes wurde einstimmig entschieden, ihn aus diesem auszuschließen. Er klagt nun dagegen, weil er selbst, damals noch Mitglied des Vorstandes, nicht bei der Abstimmung anwesend war und deshalb behauptet, diese sei ungültig."
Er dachte kurz nach, dann sagte er: "Es gibt keine Präzedenzfälle für derartige Entscheidungen, abgesehen vom Fall des R. Wiegelig, Sumpfdrache, der durch Erbschaft die Mitgliedschaft im Vorstand erhalten hatte und ebenfalls ohne sein Beisein ausgeschlossen wurde. Wiegelig hat damals allerdings nicht geklagt, unter anderem auf Empfehlung seines Veterinärs, der die Aufregung als nicht förderlich für dessen Gesundheit erachtete."[11]
Beim Wort 'Veterinär' schreckte Traubenbein hoch und schob seine Perücke zurecht. "Ich höre zu, ich höre zu", murmelte er.
"Infolgedessen", fuhr Jargon fort und sah in Richtung der Tresortür. Braggasch hatte soeben einen Taschendrachen hervorgeholt und schien mehrere schmale Metallstreben miteinander zu verlöten. "...stellt sich die Frage, Herr Frengstrenk, auf Basis welcher Rechtsgrundlage Sie argumentieren."
"Ganz einfach Herr Schneidgut: Paragraph zwo, Absatz vier der Vorstandsordnung", tönte es dumpf, triumphierend, von hinter mehreren Zentimetern aus Stahl.
Kurz war es leise.
"...da ich nicht Mitglied im Vorstand bin müssten Sie mir den Absatz beschreiben, Herr Frengstrenk", sagte Jargon laut und deutlich.
Wieder war es still.
"Herr Frengstrenk?"
"Ja, Moment... ich hatte sie doch..." Es ertönten leise Geräusche aus dem Tresor. "Hätte bitte jemand die Vorstandordnung für mich?"
Jargon sah zum wieder zurückgelehnten Traubenbein, dessen Augen unter der verrutschten Perücke nicht zu sehen waren.
"Herr Richter?", fragte er laut. Dieser zuckte kurz, dann murmelte er: "Regal zwo, Reihe acht", und wedelte seinen Zeigefinger in Richtung des Regals neben ihm.
Jargon knurrte leise. "Einen Moment, Herr Frengstrenk", sagte er dann und suchte das entsprechende Regal auf. Reihe acht enthielt alle Versionen der Vorstandsordnung, inklusive der neuesten. "Die ist ja von heute morgen", murmelte Jargon verwirrt. Das kleine Buch wirkte neu, roch stark nach Tinte, Leder und ganz sachte nach einem Parfüm. Er schlug die entsprechende Seite auf und las, laut:
"Absatz vier: Relevante Entscheidungen per Abstimmung bedürfen die Anwesenheit aller Vorstandsmitglieder. Eine Entscheidung per Abstimmung gilt dann als relevant, wenn ein Vorstandsmitglied diese als solche erachtet und anmeldet."
"...was?", tönte es aus dem Tresor. Jargon räusperte sich.
"Absatz vier: Relevante-"
"Ich habe Sie gehört, Herr Vorsitzender! Aber diese Verordnung ist geändert worden!"
Misstrauisch steckte Jargon das kleine Buch in seine Tasche und griff zur vorigen Ausgabe. Der Einband fühlte sich abgegriffen an, das Leder, die Seiten des Buches rochen alt, trugen einen Geruch an sich den er gut von seinen eigenen, gebrauchten Büchern kannte. Er schlug es auf. Die Ausgabe war zwölf Jahre alt.
"Aha", brummte Jargon und las erneut Paragraph zwei, Absatz vier, diesmal leise.
'Relevante Entscheidungen per Abstimmung bedürfen die Anwesenheit aller Vorstandsmitglieder.' Er las den Absatz noch einmal, verglich ihn mit dem der neueren Ausgabe. Seine Stirn legte sich in Falten.
"Ja, Tatsache", sagte er dann. "Die Definition von 'relevant' wurde ergänzt." Er sah noch einmal auf das Datum. "Scheinbar in der gleichen Versammlung in der Sie aus dem Vorstand ausgeschlossen wurden."
"Das ist eine Unverschämtheit!", schallte Frengstrenks Stimme lautstark. "Ohne mein Beisein ist eine derartige Änderung nicht möglich!"
"Nun, das kommt drauf an ob sie als relevant galt oder nicht", antwortete Jargon belustigt.
"Natürlich war sie relevant! Eine Änderung der Verordnung ist immer relevant!"
"Dazu kenne ich die Geschichte der Verordnung nicht gut genug. Wodurch wurde dies denn in der Vergangenheit definiert?"
"Das- es- es bedarf keiner Definition! Es ist ja wohl selbstverständlich-"
Frengstrenk schwieg kurz, sprach aber dann weiter:
"Ich- äh. Relevanz. Bedeutet ja, dass eine- also, dass eine gewisse Wichtigkeit vorliegt- und- wenn ein Mitglied eben dann sagt 'wichtig wäre es', oder-"
Er verstummte.
"Das klingt für mich so, als wäre die nachträglich geänderte Definition sehr ähnlich der Ihren", sagte Jargon.
"Ja, schon- aber-"
"Wir können also annehmen, dass die nachträgliche Definition de fictio bereits vorlag, als die Abstimmung beschlossen wurde."
"In potent, ja aber-"
"In mindus justico wäre die Entscheidung, ob die Abstimmung als relevant galt, also abhängig von literius langue presencia."
"Presencia pretentia!", rief Frengstrenk.
"Ordnung!" Der Gummihammer prallte mehrmals aufs Richterpult. "Herr Frengstrenk, diese Ausdrucksweise ist unangebracht! Mäßigen Sie sich, sonst muss ich- äh-" Traubenbein hielt inne. "Ja", schloss er dann. "Wo waren wir?" Er sah aus verschlafenen Augen zu Jargon.
"Wir kamen gerade zum Schluss, dass die Rechtmäßigkeit, mit der W. Frengstrenk vom Vorstand ausgeschlossen wurde, davon abhängt ob in der entsprechenden Versammlung auf die Relevanz dieser Entscheidung hingewiesen wurde."
Traubenbein starrte ins Leere.
"Aufgrund der in potent de fictio bereits vorliegenden Definition", erläuterte Jargon.
"Ja, natürlich." Traubenbein blinzelte. "Wir müssen wohl das Protokoll zur Rate ziehen." Er leckte sich unschlüssig die Lippen. "Hat es zufällig jemand bei sich?"
"Ihr nicht, euer Ehren?", fragte Jargon leicht verwirrt. "Ich dachte, jede Teilnehmende Person bekäme das Protokoll am Ende der Sitzung ausgehändigt?"
"Nun, ich war bei der entsprechenden Sitzung nicht anwesend."
"Ach."
"Sie schien mir nicht relevant genug."
Aus dem Tresor ertönte ein gedämpfter Schrei.
Kanndra verkniff sich ihr Lachen, um Braggasch nicht noch mehr abzulenken. Er hatte gerade seinen Helm als Sprengschutz gegen eine winzige Konstruktion gepresst und hantierte mit zwei Drähten, die nach innen verliefen. Sie war entsprechend auf Abstand gegangen.
"Ich hab's gleich", murmelte er heiser.
"Dies ist eine Unverschämtheit, eine Respektlose, verkommene Art und Weise! Ich werde klagen!", tönte Frengstrenk.
"Wer war denn überhaupt bei der Versammlung anwesend?", fragte Jargon über den Lärm hinweg.
"Äh- vermutlich alle anderen Vorstandsmitglieder?" Traubenbein zuckte mit den Schultern.
"Wo lagert ihr denn die Protokolle?", fragte Jargon dann, dem die ganze Angelegenheit immer mehr auf die Nerven ging.
"Damit auch wirklich nur der Vorstand darauf Zugriff hat, im-" Er stockte, sah zu der Stahlwand, hinter der Frengstrenk noch immer keifte.
"Ich verstehe", murmelte Jargon, jetzt nachdenklich.
Traubenbein sah auf die Uhr, die über dem Tresor hing. "Ich würde Vorschlagen, dass wir die Sitzung vertagen, Herr Vorsitzender."
"Nein", antwortete Jargon leise. Er hatte bestimmt keine Lust, noch einmal hierherzukommen und diese ganze Geschichte ein weiteres Mal aufzurollen. Er schürzte die Lippen, strich sich über den Bart und ging zu Braggasch, der leise von fünf runterzählte.
"...eins-" Mit einer plötzlichen Bewegung zog er den Kopf ein, presste die Augen zusammen und legte die beiden Drähte aneinander. Es gab einen dumpfen, leisen Knall, gefolgt von einem splitternden Geräusch. Kurz war es still, dann schepperte etwas. Braggasch lachte laut, erleichtert auf.
"Hahaha! Ich hab es geschafft! Hahaha!" Er sprang aus der Hocke auf, schwang seine Arme kreisförmig und drehte sich um die eigene Achse. "Er ist offen! Er ist offen!" Er lachte noch einmal kurz, dann wurde er langsamer in seiner Bewegung, blinzelte und räusperte sich.
"Also, äh- wenn er nicht von innen verschlossen wäre." Er sammelte seinen Helm auf, der auf der Innenseite rauchte und setzte ihn sich peinlich berührt auf. Dann zog er ihn sofort wieder ab und klopfte sich panisch das Feuer in den Haaren aus während er "Mist mist mist", fluchte.
Jargon räusperte sich. Braggasch drehte sich noch einmal um die eigene Achse, sah ihn an und sagte dann: "Ah, äh, ja?"
"Es gibt keine Möglichkeit, den Tresor so zu öffnen?"
"Äh, Moment-" Braggasch machte einen Schritt auf die Tür zu. Wedelte den verbliebenen Rauch mit einer Hand weg. Tastete in das kopfgroße Loch. Verzog das Gesicht, kniff die Zunge zwischen die Lippen. Etwas klickte leise. Braggasch schloss die Augen, spannte sich an. Ächzte kurz. Dann entspannte er sich.
"Ja."
"Na schön." Jargon atmete tief durch. "Herr Frengstrenk?", fragte er dann laut.
Es kam keine Antwort.
Die drei Wächter standen in unangenehmer Stille um die Tresortür herum.
"....Herr Frengstrenk?"
Nichts.
Kanndra legte Braggasch die Hand auf die Schulter. "Du hast Frengstrenk aber grade nicht weggesprengt, oder?"
Der Zwerg schüttelte den Kopf, die blonden Locken schlackerten. "Die Detonations-Druckwelle ist nur auf unserer Seite zu spüren gewesen, da bin ich sicher."
Jargon schnupperte vorsichtig, roch aber nur - in unangenehm überwältigendem Maß - Schwefel, Kohlenstaub und heißes Metall. Er musste einen Schritt zurücktreten und ihm wurde schlecht. Er fluchte etwas obszönes.
"Entschuldigung", murmelte Braggasch, Jargon winkte ab.
Dann ertönte ein dumpfes, quietschendes Geräusch. Es klackte. Metall schwang. Dann war die Tresortür offen.
Die Wächter und Anwälte hielten den Atem an. Durch den Rauch bewegte sich, knapp über dem Boden, eine aufgeschlagene Kladde. Frengstrenk hielt sie in seiner winzigen Hand, sein Gesicht aufgequollen und rot.
"Unfassbar", brachte er mit brüchiger Stimme hervor. "Sie haben mich einfach abgesägt."
Dann setzte er sich vor Kanndra auf den Boden und hielt die Kladde hoch.
"Hier, Herr Schneidgut. Nehmen Sie. Es ist, wie Sie gesagt haben." Er seufzte. "Sie haben diese Verhandlung gewonnen." Jargon nahm die Kladde entgegen.
"Bei Om, ein Glück", stöhnte Traubenbein und hämmerte quietschend auf seinen Tisch. "Das hohe Gericht entscheidet in equibrilie: Die Ausschließung des Anwesenden W. Frengstrenk aus dem Vorsitz der Anwaltsgilde ist rechtmäßig. Die Verhandlung ist beendet."
Frengstrenk stöhnte, holte eine winzigkleine Zigarette aus seinem Anzug und entzündete sie. Jargon sparte sich eine Bemerkung. Stattdessen schaute er in die Kladde und las:

Sitzung vom x.x.xxxx:[12]
Anwesend: R. Weisbart - Protokollant.
Inhalt der Sitzung: Konsequenzen für das nicht anwesend sein von Vorstandsmitgliedern bei Vorstandssitzungen.


Er hörte auf zu lesen. Den Rest konnte er sich denken.
Noch einmal quietschte der Hammer. Jargon sah auf, Ungutes ahnend.
"Nun zur Klage bezüglich Schadenersatz."


***


"Aber nicht doch, bitte, keine Sorge, es-" Ausgiebiges Niesen, gefolgt von einer peinlichen Stille. Die junge Frau stand zornig, erwartungsvoll zwei Schritte vom Türrahmen entfernt und starrte den kleinen Zauberer an.
"Es was?", fragte sie. Ihre Körperhaltung und die zusammengekniffenen Augen machten deutlich, dass die Frage eine sehr gute Antwort verlangte.
"Ich-" Wieder nieste der Zauberer und rang zwischendurch nach Atem. "Es ist kein richtiger Geist, weißt du- nur-" Mittlerweile tränten seine Augen, und er schaffte es kaum, seinen Naseninhalt mit den Ärmeln seiner Robe aufzufangen.
"Ich habe jetzt wirklich keine Zeit mehr", knurrte die junge Frau mürrisch, schob sich den Tragegurt ihrer teuren Tasche wieder auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. "Viel Spaß noch mit deinem Haus."
Er versuchte erst gar nicht, sie aufzuhalten, verließ nur das Gebäude und schloss die Tür hinter sich. Sofort ebbte sein Niesanfall ab, und er schnäuzte kräftig in ein bereits zerknülltes Taschentuch.
"Mist", fluchte er leise und sah der betucht aussehenden Frau hinterher.
"Blimm-blumm-blimm!", tönte es aus seiner Tasche, "Besichtigungstermin mit Z. Fresko in fünfzehn Minuten!"
"Mist, mist, mist", fluchte er erneut und kramte hastig nach seinem Disorganizer. "Absagen, ich muss absagen!" schnauzte er den Dämon an, die Augen rot, die Nase feucht. "Sag ihm das! Meine Allergie ist zu schlimm und meine Atemschutzmaske verbraucht. Ich muss den Termin absagen."
"Alles klar, Boss!" Der Dämon hüpfte aus seinem Kasten und rannte über das Straßenpflaster davon.
Der Zauberer lehnte sich an die Wand, schloss die Augen und atmete durch. "Reiß dich zusammen, Ernst", murmelte er. "Das ist ein gutes Haus, ein sehr gutes Haus und du wirst es verkauft kriegen." Er dachte an den Spiegel und seufzte."Wenn er sich nur eine Sekunde zusammenreißen könnte!"
Schließlich fasste Ernst einen Entschluss. Wenn der Prophet nicht zum Glauben kommt, muss eben der Glaube Berge versetzen!, dachte er. Oder so ähnlich.
Er atmete tief durch, hielt die Luft an und rannte ins Haus. Er hastete die Treppe hoch, griff sich den Spiegel in der Küche, eilte die Treppe wieder runter und stürzte durch die Tür nach draußen. Dann atmete er ächzend aus, röchelte ein paar Sekunden nach Luft und schloss die Tür hinter sich. Er atmete noch ein paar Sekunden durch, dann hob er den Spiegel an, klemmte ihn sich unter den Arm und lief ziellos in Richtung Stadtmitte davon.

***


Es war nun kurz vor acht. Jargon verließ die Anwaltsgilde mit dem Gefühl, jetzt sofort jemandem die Kehle aufbeißen zu müssen. Die Luft stank nach Ankh, und instinktiv lief er vom Fluss weg nach Norden, in Richtung Hiergibtsallesplatz. Er hatte genug Geld bei sich um sich eine kleine Mahlzeit zu kaufen, und genau das hatte er vor. Die Schadenersatzforderung von der Stadtwache auf Frengstrenk und die Anwaltsgilde abzuwälzen hatte viel zu lange gedauert - aber wenigstens hatte er Braggaschs Monatsgehalt der nächsten sechs Jahre erfolgreich gerettet. Andererseits hatte er sich heute mindestens einen ernsthaften Feind gemacht. Frengstrenk war sehr deutlich gewesen in dieser Hinsicht. Er hoffte, dem Gnom für die nächsten paar Jahre aus dem Weg gehen zu können.
Mit zittrigen Fingern holte er den letzten, krummen Zigarillo hervor und zündete ihn an. So stand er kurz vor dem Osttor der Unsichtbaren Universität und rauchte, einen Bruchteil Entspannung aus seinem Inneren hervorkramend, als ein kleiner Mann in Zaubererrobe vor ihm stehen blieb. Und ihn ansah.
"Äh, Entschuldigung", sagte der Zauberer. Jargon versuchte, nicht allzu genervt auszusehen. Mit Zauberern legte er sich lieber nicht an.
"Möchtest du zufällig ein Haus kaufen?"
Jargons Gesichtsausdruck nahm maximale Verwirrung an.
"Garantiert ohne Geister!"
Der Zigarillo glühte einen Moment.
"Wo?"
"Ankertaugasse acht."
"...kann ich mir nicht leisten."
"Äh. Hm. Schon gesehen, was?"
Jargon nickte.
"Ich will ganz offen sein - ich will das Ding loswerden." Ernst trat nervös von einem Fuß auf den anderen. "Das Ding ist in gutem Zustand."
Jargon wartete ab und rauchte den Zigarillo fertig.
"Sechshundert?", fragte er dann.
Das Gesicht des Zauberers leuchtete auf[13].
"Du hast ein Geschäft!"
[1]  Geisterte! Versteht ihr? Haha! Ähem. Siehe: Wolf Schneidgut

[2]  Damals war Jargon noch einer.

[3]  Tatsächlich so sehr, dass er nicht merkte, dass man über ihn redete.

[4]  Es gab keinen Grund anzunehmen, dass auf mysteriöse Weise einer erschienen wäre, aber man kann ja hoffen.

[5]  Haha, versteht ihr? Anwaltsjargon!

[6]  Jargon ist technisch gesehen auch einer.

[7]  Der Gebrauch von echten Holzhämmern hätte besagtes Pult vor Jahren zu einem zerstörten Stück Holz reduziert.

[7a]  Die MKI-Tschadsch-Verison wurde von Herrn Schräg mitentwickelt und verfügt über eine sehr praktische Funktion: gegen Kleingeld lassen sich Aufzeichnungen zurechtschneiden.

[9]  Der seltene Fall, in dem in Ankh-Morpork gesiezt wird: Menschen die sich für sehr wichtig nehmen.

[10]  Er sagte buchstäblich "Wehpunkt Frengstrenk".

[11]  R. Wiegelig führte daraufhin ein gesundes, zufriedenes Leben bis zum reifen Alter von zweieinhalb Jahren, wo er sich unter mysteriösen Umständen an einem Hühnerknochen verschluckte, explodierte, und all sein Geld seinem Veterinär vermachte.

[12]  Datum aus Kontinuitätsgründen geschwärzt.

[13]  metaphorisch.

Zählt als Patch-Mission für den Rechtsexperte-Patch.



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Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

14.11.2021

Exzellent geschrieben. Flüssig zu lesen, spannend und amüsant. Und überhaupt! So schön, mal wieder eine Single zu lesen. Ich mag es total, wie du die Paragraphenreiterei rübergebracht und die Figuren lebendig dargestellt hast. Und, hey, mit dem Anwaltsjargon hattest du mich, da musste ich echt breit grinsen. ^^

Von Rogi Feinstich

22.11.2021

Eine schöne kurzweilige und lustige Geschichte! Hatte alle beteiligten Figuren schön vor Augen!

Von Sebulon, Sohn des Samax

15.11.2021

Ich fand es sehr unterhaltsam. Gerade die Beschreibung des Tresorraums und die Fußnoten waren überraschend klamauklastig. Ich hab nichts auszusetzen und bedanke mich für eine kurze, knackige Geschichte!

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