Vom Feuer stieg schwarzer, ekelhaft stinkender Rauch auf. Die schwarze Uniform brannte nicht sehr gut, was eigentlich ein weiterer Hinweis darauf war, wie teuer sie gewesen sein musste. Aber in diesem Moment hätte für Jargon nichts zufriedenstellender sein können als der Anblick des schwarz-silbernen Stoffes, der sich in der Hitze auflöste. Nur Asche und ein paar verformte Metallknöpfe blieben übrig.
"Wenn du damit fertig bist, symbolischen Kram zu tun, kannst du so langsam zum Karren kommen", sagte eine Stimme hinter ihm. Jargon drehte sich um, aber Rib war schon wieder davongesaust. Seufzend bedeckte Jargon das Feuer mit Erde und stellte sicher, dass es aus war, bevor er zum Karren zurückging. Er stellte erneut fest, dass er seine alten Stiefel (gute Lederstiefel, einst von seinem Großvater mütterlicherseits geerbt) vermisste - die, die er jezt trug, waren typische Wächterstiefel mit Sohlen, die kaum dicker waren als einfache Pappe. Der matschige Boden fühlte sich auch durch sie hindurch noch kalt und nass an, und man spürte jeden Stock und jedes Steinchen. Ansonsten trug er einfache Leinenkleidung und eine schief genähte Jacke aus Schafswolle, die sich unglaublich falsch anfühlte. Eben das, was man hier in der Gegend zu billigen Preisen kaufen konnte. Außerdem zierte ein dicker Verband seinen Kopf - die mit silbernen Nägeln besetzte Keule von Lord Secabonum
[1]hatte ihm ein paar sehr gemeine Wunden verpasst. Ein gerade durchreisender Igor hatte ihm gesagt er könne froh sein, dass er auf dem rechten Auge noch etwas sieht, aber dass auf jeden Fall ein paar "wunderbare Narben" zurückbleiben würden.
Es gibt schlimmeres, dachte Jargon während er durch das kleine Dörfchen auf den Karren zustapfte, wo Sebulon, Ikari und Rib auf ihm warteten.
So werde ich wenigstens immer daran erinnert, dass ich mich dagegen entschieden habe, einen Verrückten nicht daran zu hindern, die Welt ins Chaos zu stürzen. Oder so ähnlich.Er hob grüßend die Hand und mied die Blicke seiner Kollegen. Er konnte jetzt keine Empathie vertragen.
***+***Nicht einmal die Stiefel hatten sie ihm gelassen.
Nicht seine Jacke, nicht sein Lebenswerk, nicht seine Seele. Nicht einmal seine Stiefel. Die guten Lederstiefel, die er von seinem Großvater erhalten hatte, die er selbst einmal an seine Kinder hätte weitergeben wollen.
Und jetzt stand er da, in seiner Wohnung, in den billigen Wacheuniform-Stiefeln.
Es war der Morgen nach seiner Rückkehr aus Überwald. Das wusste er. Aber wenn er versuchte, sich an die letzten Tage und Wochen zu erinnern, war da nur... Matsch. Hirnmatsch. Eine Mischung aus dem alten Gedächtnissand, der sich über die letzten Jahre angesammelt hatte und der plötzliche Wassereinbruch der letzten Tage. Es war ein... beunruhigendes Gefühl, wieder hier zu sein. Er sah, was in der Nacht, als er entführt worden war, zerstört wurde. Sein kleiner, dunkler Tisch lag mit einem abgebrochenen Bein schräg auf dem Boden, sein Stiftbecher daneben. Seine Sammlung an bunten Stiften in einem wilden Ducheinander auf dem Lehmboden. Es hatte sich tatsächlich ein wenig Staub auf ihnen abgesetzt. Das wirkte angemessen- es war so lange her, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Oder nicht?
Er sah zur Decke hoch - die merkwürdige, aus Holzlatten und alten Teppichen zusammengebstalte Decke, die über ein erstaunliches Maß an Wetterschutz bot. Eine Konstruktion von Braggasch und Sebulon. An einer Stelle stopften einige Stoffreste und Bretter ein Loch.
Langsam ging Jargon auf den Tisch zu und versuchte, das abgebrochene Beinstück unter den Tisch zu klemmen. Er erkannte schnell, dass es keinen Sinn machte. Es war ein splittriger, unregelmäßiger Bruch.
Wo würde er einen neuen Tisch herbekommen?
Er nahm den Stiftebecher und sammelte alles hinein, was hineingehörte. Dann stellte er ihn auf den Boden neben dem Ofen. Einen Moment lang stieg Verzweiflung in ihm auf - er konnte den Stiftbecher dort nicht stehen lassen! Es war unordentlich, er
brauchte einen Tisch!
Dann merkte er, dass diese Verzweiflung ein kleines Steinchen war, dass er nicht losrollen lassen durfte, wenn er eine Lawine vermeiden wollte. Und so fing er alles, was sich in ihm regte, und schob es in die kalte Ecke seines Kopfes.
Darum kümmere ich mich später, dachte er. Es war jetzt keine Zeit dafür. Erstmal musste er eine volle Bestandaufnahme machen.
Jargon legte die Papierstapel nebeneinander, die noch in der kleineren seiner Kisten gelegen hatten. Es war ein sehr kleiner - oder eher unbedeutender - Teil seines Lebenswerks. Es war die Zeit zwischen seinem zwanzigsten und sechsunddreißigsten Lebensjahr. Die Zeit, in der er mit seinem Leben eigentlich nichts angefangen hatte, außer in der Gaststätte seiner Mutter auszuhelfen. Sie hatte ihm immer gesagt, sie würde ihn brauchen... dabei kam er sich dort immer sehr nutzlos vor. Das Einzige, was er tat, war die Namen der Gäste aufzuschreiben und auszurechnen, wie viel sie am Ende des Monats zu zahlen hatten. In der Zeit, in der das erledigte, war seine Mutter meistens damit beschäftigt, mit den Gästen über das Wetter zu reden oder bunte Steine aufzureihen. Klar hatte er sie gerne - sie war diejenige, die dafür gesorgt hatte, dass er Lesen, Schreiben und Rechnen lernte, ihm die Verantwortung über die Buchführung der Gaststätte überlassen und ihn allgemein wertgeschätzt. Aber vielleicht von letzterem etwas zu viel - immer wenn er ansprach, dass er eigentlich lieber ein eigenes Leben in Angriff nehmen wollte, war sie es, die ihn davon abhielt. Sie erzählte, dass sie ohne ihn ihre Existenz nicht mehr aufrecht erhalten könnte, dass sie ihn viel zu gern hatte, als dass sie ihn gehen lassen würde, dass die Welt da draußen viel zu gefährlich war - und weil er sie so gern hatte, blieb er. Bis er fünfunddreißig wurde. Zu der Zeit war seine Mutter in einer Beziehung (mit einem auf ihn eher eingebildet wirkenden Typen). Eben dieser Typ fand, dass Jargon zu wenig von der Welt wusste, und bemerkte öfter mal, dass er es "nicht mitansehen kann, wie dieser viel zu alte Kerl immer noch bei seiner Mutter wohnt". Jargon ging davon aus, dass eine gewisse Eifersucht mit im Spiel war, und er konnte es ihm nicht verübeln. Siene Mutter behandelte ihn immer noch wie ein kleines Bübchen.
Zu dieser Zeit hatte Jargon dann die Nase voll - er erklärte, er würde jetzt ausziehen, ohne irgendeinen Plan zu haben, was er tun wollte oder wo er hinziehen sollte. Seine Mutter nahm das erst nicht ernst, aber das änderte sich, als Jargon anfing, seine Sachen zusammenzupacken. Es gab einen Streit, wie ihn keiner von beiden vorher erlebt hatte. Jargon schrie seine Mutter sogar an - etwas, dass er bis zu diesem Tag höchstens als Kleinkind getan hatte. Und dann zog er aus. Sie bekundete, sie wolle ihn auch gar nicht mehr da haben, er wäre undankbar und so weiter.
Nachdem er in Ermangelung einer Alternative in die Brandruine in der Unbesonnenheitsstraße gezogen war (das Gebäude stand leer und wurde auch von Dieben ud Schmugglern nicht genutzt, da es zu viel Einsicht gewährte), vergingen etwa drei Wochen, bevor er in die Stadtwache eintrat. Etwas später bekundete seine Mutter dann, sie würde verstehen, was ihn treibt und verzieh ihm. Er kam trotzdem nicht oft zu Besuch.
Und das war alles, was er in dieser viel zu langen Zeit getrieben hatte. Und auch alles was (abgesehen vielleicht von ein paar alltäglichen Bemerkungen und lustigen Anekdoten
[2]) er in der Zeit aufgeschrieben hatte.
Seit seinem Eintritt in die Stadtwache hatte er alles an Notizen und Geschriebenem in seiner Jacke getragen (außer den offiziellen Akten natürlich), ebenso wie die ersten seiner niedergeschriebenen Jahre (aus sentimentalen Gründen, und weil er glaubte, sie würde ihm helfen, seine Wutanfälle nachzuvollziehen).
Und all das war jetzt fort. Jargon hatte es sein Lebenswerk genannt. Es war seine ganze Lebensgeschichte gewesen, alles was er erlebt hatte, alles was ihn amüsierte oder trauern ließ, alles was ihn in seiner Entwicklung voranbrachte oder zurückwarf. Alle schönen und schlimmen Momente seines Lebens, alle kalten Winter und heißen Sommer, alle Speisen und Getränke die er kannte.
Ein (traditioneller) Zwerg hätte sich den Bart ausgerissen, wenn er erfahren würde, wie viele Wörter in Überwald vernichtet worden waren.
Irgendwo tief in sich drin wusste Jargon, wie unnütz diese Memoiren gewesen waren. Nichtsdestotrotz fühlte er sich eines Großteils seines Lebens beraubt, etwas in ihm, dass schon so lange da gewesen war, war jetzt zerstückelt und unbrauchbar geworden. Einen kurzen Moment lang fragte sich Jargon, welchen Sinn sein Leben jetzt noch hatte.
Dann schüttelte er den Kopf, schüttelte sich am ganzen Körper und erhob sich.
Der Sinn seines Lebens hatte sich in den letzten Jahren deutlich abgezeichnet.
"Fabricati Diem, Punk!"
Als er das offizielle Motto der Stadtwache Ankh-Morporks aussprach, lief ihm eine Träne die Wange herunter. Das war der Sinn seines Lebens - die Menschen schützen, die es nicht selbst konnten, und die zur Strecke zu bringen, die es verdienten.
"Und gleiches Recht für alle!"
***+***Der Weg zurück zum Wachhaus war eine Erinnerung aus anderen Tagen. Als wäre es zwanzig Jahre her, seit Jargon das letzte mal diesen Weg zurückgelegt hatte. Hatte sich wirklich so viel verändert? Um ihn herum war alles wie sonst - hunderte, drängende Menschen, Geschrei und Geplapper, walzende Karren und Wägen und irgendwo in der nicht allzu weiten Ferne klang Schnappers Stimme: "Schnappers Starkes Schwipsgetränk! Purer Alkohol aus eigener Herstellung! Hunderzwanzigprozentiger Schnaps!"
Einen kurzen Moment lang fragte sich Jargon, wie Schnapper auf die Idee kam, dass Alkohol mehr als hundert Prozent einer Flüssigkeit ausmachen konnte, aber nicht lange. Eigentlich war es ihm egal. Es gab wirklich wichtigeres zu tun.
In diesem Moment realisierte er etwas. Es war natürlich nicht das Draußen, das sich verändert hatte, sondern sein eigenes Drinnen!
Jetzt, in der Leutemenge, hatte er keine Angst mehr. Nicht mehr die kribbelnde, irrationale Angst der Nacht, die er schon seit seiner Kindheit kannte. Aber auch nicht die eigentlich begründete Angst vor Dieben und Mördern und Schurken aller Art, die ihn sonst geplagt hatte. Er musste keine Angst mehr vor diesen Leuten haben - eher umgekehrt!
Er war der Wächter - er war derjenige, der die Ehrlosen und Halsabschneider jagte, nicht umgekehrt. Nicht er musste Diebe und Ganoven fürchten, sondern sie ihn!
Es war unheimlich - diese Realisation hatte sich in seiner bisherigen Wächterkarriere immer nur angebahnt. Aber es tatsächlich gedacht, für sich festgestellt, hatte er das noch nie.
Na, kein Wunder, dachte Jargon.
Da war ich ja auch noch ernsthaft gefährdet - mit meiner Körperkraft und meiner Ausstrahlung. Wer hat mich da schon respektiert?Er nickte für sich.
Vorher ging es darum, festzustellen, wer der Schuldige ist, und dann jemand Stärkeren zu bitten ihn festzunehmen. Das war bei Offlerzilla so, das war bei den Kindern vom Ankh so, das war bei dem Banang-Kult so - und sowieso bei so ziemlich allen meinen Ermittlungen!Plötzlich wütend beschleunigte Jargon seine Schritte.
Ich war schon immer ein Feigling! Ein kleiner Wicht!Er stieß einen dicklichen Mann zur Seite, der versuchte sich an ihm vorbeizudrängen.
Sie hatten Recht mit dem, was sie sagten!, schrie eine ihm fremde innere Stimme. Die Bilder aus seiner Kindheit stiegen wieder hoch, Zerrbert, Regar wie sie auf ihn spuckten und ihn einen Schwächling nannten, weil er sich nicht gegen sie wehren konnte.
Du bist ein kleiner Wicht, ein schwacher, unnützer Bengel!"Sei Still!", schrie Jargon und presste die Hände an seine Schläfen. Er hörte, wie das Blut seines Vaters in ihm pochte, wie es gegen seine Stirn drückte und sein Herz zu höchster Anstrengung zwang.
Du glaubst, du kannst gegen dein Erbe ankämpfen! Aber dein Innerstes weiß genau, dass du immer schon dafür vorbestimmt warst, wofür dich dein Vater auserwählt hat!Jetzt musste Jargon lachen - er wusste, was hier vorging - er wurde beeinflusst! Etwas war im Blut seines Vaters gewesen, dass Gehorsam ihm gegenüber bewirken sollte - und jetzt begann es zu wirken.
Ich muss zur Universität!, dachte er und ignorierte die starrenden Menschen um sich herum, die schon auf eine One-Man-Show gehofft hatten.
Er sprintete in Richtung Ankh-Brücke weiter.
Herr P- Ponder wird mir helfen!***+***"Willst du mir jetzt erzählen, dass Lance-Korporal Schraubenndrehr tot ist?"
"Definitiv nicht", erwiderte Sebulon auf die etwas angekratzte Frage des Kommandeurs, der den Bericht noch offen vor sich liegen hatte.
"Hier steht: 'Ein Überleben der Wächterin Rabbe Schraubendrehr, die im Anwesen der Secabonums gesichtet wurde, scheint-'"
"Ich weiß, was da steht", unterbrach ihn der Zwerg. "Sir."
Trotz dass er zwei Tage lang vor allem seine Wunden behandelt und seine Gedanken sortiert hatte, war er alles andere als erholt. Den Bericht zu schreiben war ein schmerzhaftes Wiederaufrollen der vergangenen Ereignisse, hatte aber auch eine therapeutische Wirkung. Dass der Kommandeur ihn jetzt auseinandernehmen wollte, passte ihm kein Bisschen.
Breguyar sah ihn erwartungsvoll, genervt an.
"Ich...-", setzte Sebulon an, aber er fand keine Worte. Es war dumm, an ihr Überleben zu glauben, deswegen hatte er es so formuliert.
"Glaubst du, dass sie tot ist?", wurde er unterbrochen.
Das war der Punkt.
"Nein, Sir."
Araghast nickte langsam, und blickte finster drein.
"Ich auch nicht", sagte er.
Sebulon blinzelte verwirrt.
Kurz herrschte Stille. Ein weniger erschöpfter Zwerg hätte vielleicht die mentalen Räder des Kommandeurs knarzen hören, aber Sebulon hörte nur die kleine Stimme in seinem Kopf, die nach einem Bett rief.
"Ihr habt gute Arbeit geleistet", bildete sich Sebulon ein zu hören. Es musste an seinem schläfrigen Zustand liegen. Kurze Stille.
"Du und Schneidgut, ihr steht euch sehr nahe, nicht wahr?"
Das klang schon eher nach dem Kommandeur.
"Ja, Sir."
"Ich muss davon ausgehen, dass er püschologische Betreuung brauchen wird", fügte Breguyar hinzu und klappte beiläufig die Akte zu. "Ich nehme nicht an, dass du dafür in Frage kommen würdest?"
"Wie meinst du das?" Ein ungutes Gefühl machte sich in Sebulons Bauch breit.
"Du weißt schon... Du kommst nicht in Frage, wenn ihr so eng befreundet seid."
Er hatte recht. So stand es im ersten Kapitel zum Leitfaden für Püschologen.
"Ja, Sir."
Araghast wirkte auf einmal recht unglücklich.
"Verdammt."
***+***Du kannst versuchen, vor mir wegzulaufen, dröhnte es in Jargons Kopf, während seine Schritte ihn über den Pseudopolisplatz trugen,
Aber du weißt genau, dass es nicht funktionieren wird! Ich bin jetzt ein Teil von dir, und ohne mich hast du keine Chance!Er erreichte stolpernd die Massingbrücke, seine Augen brannten und es fiel ihm schwer, sich auf den Weg vor ihm zu konzentrieren.
Wie meinst du das?! Du bist ein Fremdkörper, ich habe auch vorher ganz gut ohne dich überlebt!, atnwortete er und versuchte, die Konversation in seinem Kopf weiterzuführen. Es gelang ihm nur bedingt - einzelne Worte quollen aus ihm hervor.
"...meinst du das...? Fremdkörper! ...ohne dich... überlebt!"
Er versuchte, den roten Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln und bog nach rechts in eine Gasse ein. Er kannte den Weg, da war er sich sicher, aber irgendwie landete er nicht dort, wo er hinkommen sollte. Er befand sich in einer kleinen Gasse und steuerte auf ein merkwürdig schief wirkendes Haus zu.
Das sind die Mobilien... bin ich falsch abgebogen? "Guten Morgen, Herr", sagte eine jugendliche, helle Stimme links von ihm.
Jargon drehte sich erschrocken nach links und bemerkte rechtzeitig, wie seine Haare versuchten aus ihm hervorzuschießen. Er hinderte sie daran- gerade so.
"Guten Tag, ich- entschuldigen sie mich, ich muss-" Seine Stimme erstarb, als er durch den rötlichen Schleier ein von Brandnarben übersätes Gesicht erblickte. Die Augen unter den knotig geschwollenen Lidern wirkten auf bizarre Weise wach, frisch, freundlich. Auch die weiß leuchtenden Zähne des Mannes waren auf unheimliche Weise gegensätzlich zu den dicken, dunkelrot geschwollenen Lippen.
"Erinnert ihr euch an mich, Herr?", fragte die jugendliche Stimme, die sich aus dem entstellten Gesicht schob.
Jargon antwortete nicht. Er machte einen Schritt zurück, dann noch einen.
"Nein, du- es-" Die Panik schlich sich in den kleinen, animalischen Teil seines Kopfes, der gerade ohnehin viel zu aktiv war.
Er rannte.
Er sah nicht wohin und es war ihm auch egal. Er rannte einfach nur geradeaus und wich allem aus, was ihn aufhalten könnte.
Du feiger Idiot! Du weißt nicht, was du tust!"DU HAST MIR GAR NICHTS ZU SAGEN!"
"DOCH DAS HABE ICH!"
Mit einem entsetzten Schrei machte Jargon einen Satz zurück und sah zum ersten was tatsächlich vor ihm stand.
Es war ein großer, breit gebauter Mann mit rotem Kopf und einer Melone auf selbigem. Es war ein Brüller- einer der Wächter der Unsichtbaren Universität.
Er blinzelte und nahm den leichten Windhauch war, der ihm aus dem Mund des Wächter entgegenblies. Er stand tatsächlich vor dem Tor der Universität.
"BITTE GEBEN SIE IHREN NAMEN UND IHR ANLIEGEN AN!"
"Äh, ja, ich-" Mit einer fahrigen Bewegung holte Jargon seine Marke hervor. "Ich bin Jargon Werw- äh Schneidgut, Stadtwache, ich möchte gerne mit Ponder Stibbons sprechen."
Der rotgesichtige Mann nahm die Marke prüfend in Augenschein, ebenso wie die zitternde Hand, die sie hielt.
Glaubst du ernsthaft, dass dir hier geholfen werden kann? Alles, was du hier findest sind verweichlichte, fette Scharlatane, die schon lange alles vergessen haben, was mit Zauberei auch nur im entferntesten zu tun hat!"ICH BIN VERPFLICHTET, SIE DRAUF HINZUWEISEN, DASS SIE AUFGRUND IHRER MENTALEN INSTABILITÄT GEFAHR LAUFEN KÖNNTEN, DIESEN ORT NICHT MEHR LEBENDIG ODER GEISTIG GESUND ZU VERLASSEN", brüllte der Torwächter gelassen und machte sich daran, das Tor zu öffnen. "IHRER WÄCHTERLICHEN AUTORITÄT HABE ICH ALLERDINGS NICHTS ENTGEGEN ZU SETZEN."
Jargon nickte, zitterte und huschte an ihm vorbei in Richtung des Traktes für hochenergetische Magie, sich selbst an den Kopf schlagend um die Stimme zum schweigen zu bringen.
Kaum hatte er einen Schritt unter der Pforte durchgetan, passierte genau dies.
Als hätte jemand einen Propfen in seine inneren Ohren gesteckt, hörte er nichts mehr in seinem Kopf, dass dort nicht sein sollte - und irgendwie hatte er auch das Gefühl, dass es nicht mehr sprechen würde, solange er auf dem Gelände der Unsichtbaren Universität war.
Natürlich haben sie hier irgendwelche Abwehrmaßnahmen für solche Sachen...., dachte er. Dann streckte er Probehalber den Kopf wieder in Richtung draußen unter dem Tor hervor.
...natürlich völliger Unsinn! Jemanden wie mich kann man nicht einfach zum Schweigen bringen, so oder so, ich-Jargon genoss die Stille, als er sich aufmachte, Ponder zu suchen.
Im Trakt für hochenergetische Magie war er nicht - zum ersten Mal, seit Jargon in die Unischtbare Universität gekommen war. Umso problematischer war es dadurch, ihn aufzufinden.
Jargon hatte keine Ahnung, wo er Ponder ansonsten noch finden konnte. Nachdem er den Trakt verlassen und vorsichtig das Hauptgebäude betreten hatte, fragte er aufs Geratewohl den ersten vorbeikommenden Zauberer, der einen Stapel Bücher und ein gewaltiges Hörrohr bei sich trug.
"Entschuldigen sie, wissen sie, wo ich Ponder Stibbons finde?"
"Äh- wie bitt-" Der Mann stolperte in seiner Verwirrung über seinen Mantelsaum und stürzte. Jargons Reflexe bewahrten das Hörrohr des Mannes davor, auf dem Boden zu landen. Die Knie des Zauberers hatten weniger Glück.
"Entschuldigung", sagte Jargon und half ihm mit der freien Hand hoch. "Es, äh, geht um eine persönliche Angelegenheit."
Der Zauberer ließ seine Hand nicht los und schüttelte sie energisch.
"Professor Schwelgbart, sehr erfreut."
"Äh. Ja. Schneidgut, Jargon, Stadtwache."
Schwelgbart nickte und besah sich seinen kleineren Gegenüber von oben bis unten.
"Eine persönliche Angelegenheit, was?"
Jargon nickte.
"Nun, tut mir Leid, aber ich habe keine Ahnung, wo Ponder ist. Ich habe ihn seit dem Mittagsessen vor vier Tagen nicht gesehen." Er machte eine wegwerfende Handbewegung, um seinen Worten die Tragweite zu nehmen. "Das ist nicht ungewöhnlich. Er braucht öfter mal etwas Zeit für sich." Etwas in Schwelgbarts Blick war Jargon... merkwürdig unangenehm. "Er hat mir von ihnen erzählt, wissen sie..." Er räusperte sich.
"Naja. Worum geht es denn? Vielleicht kann ich ihnen ja auch weiterhelfen."
Warum nicht?, dachte der Wächter.
Soweit ich weiß, ist Ponders Fachgebiet eher nicht das, was ich gerade brauche."Naja. Wie soll ich erklären- ich glaube, ich bin besessen."
Professor Schwelgbart lachte erfreut.
"Das trifft sich ja ganz wunderbar! Besitzungen sind mein Fachgebiet!"
Kurzerhand schob er Jargon in Richtung eines Ganges.
"Mein Büro ist gleich dort um die Ecke."
So durch die verwinkelten Gänge der Universität geführt, blieb Jargon nichts übrig als zu hoffen, dass der Zauberer sein Fach beherrschte.
Schon bald darauf standen sie vor einer Tür, an der ein Stück Papier hing auf dem stand:
Prof. Eisenhauer
Prof. Weltenbach
Prof. Schelgb
Prof. Schwelgbart[3]Ohne Umschweife stieß Schwelgbart die Tür auf, führte Jargon hinein und nahm am Schreibtisch platz, dem gegenüber noch ein Stuhl stand.
Das gesamte Büro war von oben bis unten mit Papierstapeln gefüllt, alle säuberlich Eck auf Eck gelegt, die vom Boden bis an die Decke reichten. Jargon glaubte nicht, dass er sie umzuwerfen vermocht hätte, hätte er es versucht. Nur durch die Mitte des Raumes führte ein kleiner Gang. Wenn man die Luft anhielt, konnte man sich um den Schreibtisch herumbewegen. Es herrschte eine gerdadezu Ohrenbetäubende Stille, da die Papierstapel den Schall im Raum einfach aufsaugten.
Schwelgbarts Stimme war umso lauter, als er Jargon bat, ihm sein Ohr zu leihen.
"Äh, was?"
"Ihr Ohr. Ich muss kurz lauschen." Der Zauberer desinfizierte das Ende des Hörrohrs mit Flüssigkeit aus einer Flasche, die verdächtig wie eine Schnapsflasche aussah, von der man das Etikett entfernt hatte.
Jargon drehte seinen Kopf zur Seite des Zauberers hin.
"Ich glaube nicht, dass sie etwas hören werden. Seit ich das Gelände betreten habe-"
"Jaja, ich weiß. Dafür ist das Hörrohr ja da."
"Ach so."
Es herrschte kurz eine etwas peinliche Stille, als der Professor das spitze Ende des Hörrohrs in Jargons Ohrloch schob und mit konzentriertem Gesichtsausdruck lauschte.
Dann nickte er.
"Klare Diagnose. Eine Besitzung der Stufe A-Vier. Vielleicht auch B."
Er kritzelte etwas auf ein Blatt.
"Was können sie tun?", fragte Jargon und drehte den Kopf zu seinem Gegenüber zurück.
"Um den Geist loszuwerden, gibt es zwei Möglichkeiten", erklärte der Zauberer sachlich und legte das spiralige Hörrohr zur Seite.
"Wir können eine klassische Austreibung vornehmen, oder ihnen ein Rezept verschreiben, mit dem sie ihn selbst loswerden."
"Äh-", antwortete Jargon verwirrt.
"Natürlich muss ich ihnen sagen, dass eine Geisteraustreibung eine ganz und gar unangenehme Prozedur ist", der weißhaarige Mann machte eine Bewegung, als wollte er eine Fliege verscheuchen, "sehr aufwändig, sehr kraftraubend und meistens ziemlich schmutzig."
"Ich-"
"Wir hatten da mal einen Fall, wo ein junges Mädchen von einem niederen Dämon besessen war und ich sage ihnen, wir mussten danach zusätzliches Reinigungspersonal einstellen. Scheußliche Sache."
Jargon schwieg und guckte bedröppelt drein.
"Ich sehe schon, das ist nichts für sie. Ich erkläre ihnen die alternative Prozedur."
Der kleine Wächter nickte, während der Professor Schwelgbart ein ziemlich neu wirkendes Buch aus seiner Schublade zog und eine bestimmte Seite aufschlug. Nachdem er ein wenig gelesen hatte, sah er auf und erklärte:
"Also- wie sie vielleicht wissen, nutzen Geister Ektoplasma, wenn sie sich in dieser Welt manifestieren. In ihrem Fall kommen sie da aber nicht ran, weil er in ihrem Kopf steckt. Um ihn da rauszulocken, sprechen sie zuerst seinen Namen sieben plus einmal aus. Sie kennen doch seinen Namen?"
"Äh, ja, ich denke schon." Jargon vermutete, dass es Secabonums eigener Geist sein müsste.
"Gut. Sobald sie seinen Namen sieben-plus-einmal gesagt haben, müssen sie sofort mit einem halben Glas Salzwasser - zwei Teelöffel Salz auf ein Glas Wasser - gurgeln und das Ganze dann in ein Metallgefäß spucken. Das Salz bindet das Ektoplasma, und Metall wirkt auf übernatürliche Wesen stark entkräftigend. Stellen sie das dann einfach nach draußen, und nach einem Tag dürfte sich der Schleim aufgelöst haben."
"Schleim?"
"Ja, Ektoplasma nimmt meistens eine schleimige Form an. Spülen sie am besten mehrmals nach. Wenn sie auf Nummer sicher gehen wollen, kippen sie es in ein Feuer." Der alte Mann schlug das Buch zu.
"Und- und dann ist er einfach weg?"
Der Zauberer machte eine abwägende Handbewegung.
"Sie müssen die Prozedur wahrscheinlich über mehrere Tage weg je einmal durchführen. Jedesmal wird der Geist schwächer, bis irgendwann nichts mehr von ihm zu spüren ist. Dann ist er harmlos und wird von ihren eigenen geistig-neuronalen Abwehrkräften neutralisiert."
"Wieso nur einmal täglich?"
Schwelgbart kramte nach einem Blatt Papier, dass sich als Farbikonographie herausstellte. Darauf war ein Mund zu sehen, der sehr rot und aufgescheuert wirkte. Das Zahnfleisch und der Rachenraum schienen sogar zu bluten.
"Zum einen ist Salzwasser auf Dauer sehr schlecht für den Mundraum." Er legte das Bild weg. "Und zum anderen sind solche Beschwörungen per Namen gefährlich. Je nachdem, in wie vielen Köpfen sich so ein Geist eingenistet hat, locken sie ihn nicht nur aus ihrem, sondern auch aus allen anderen Köpfen hervor. Und das kann ziemlich hässlich werden."
Einen Moment lang dachte Jargon über diese Antwort nach.
"Sie meinen, so ein Geist kann mehrere Köpfe besetzen?"
Der Zauberer zuckte mit den Schultern.
"Je nachdem, wie stark er ist und mit wie vielen Leuten er Kontakt hatte. Stärkere Dämonische Kräfte oder Götter können ganze Städte besetzen."
Jargon erinnerte sich an Baal-Ohn und erschauerte.
"Verstehe."
Sein Gegenüber betrachtete ihn interessiert.
"Wenn ich fragen darf- wissen sie, wie sie sich diesen Geist eingefangen haben?" Er sah wie beiläufig in sein Buch und fügte dann hinzu: "Nur aus beruflichem Interesse."
"Naja...", begann Jargon. Aber dann hielt er inne. Wollte er diesem Mann wirklich einfach erzählen, was Sache war? Am Ende würde er noch für merkwürdige Experimente zur Rate gezogen werden. Und er hatte ja theoretisch das Mittel, um den Geist loszuwerden.
"Ja?" Der Zauberer betrachtete ihn, musterte sein Gesicht genau. Jargon konnte deutlich den Pfad von den Brauen zum Unterkiefer verfolgen.
"Nein."
"Nein?"
"Leider nicht. Er war einfach plötzlich eines Morgens da. Tut mir Leid."
Professor Schwelgbart sah ihm noch einmal in die Augen. Jargon glaubte, ein schelmisches Lächeln hinter dem Bart zu erkennen.
Einen Moment lang hielt Jargon inne - dann fragte er:
"Kann ich das auch gleich hier machen?"
Je früher ich ihn loswerde, desto besser.Der Professor schüttelte den Kopf.
"Das Unterdrückungsfeld der Universität ist darauf ausgelegt, Kontakt zu Monstern aus den Kerkerdimensionen zu verhindern. Entsprechend hätte eine Anrufung von solch vergleichsweise geringen Geistern keinen Effekt."
"Hm. Schade."
Schwelgbart zuckte mit den Schultern.
"Sie können wenn sie Ruhe brauchen auch gerne hierherkommen." Er räusperte sich. "Ich denke, Ponder würde sich freuen."
Jargon nickte. "Ja... wahrscheinlich."
Kurz herrschte Stille.
"Er ist allergisch gegen Rosen", sagte der Professor in die Stille hinein.
"Äh, was?"
"Wenn sie... sie wissen schon... ihm Blumen schenken wollen."
"Warum sollte ich das tun? Was soll er damit anfangen?"
Der Professor sah ihn kurz an, wurde rot und lehnte sich zurück.
"Ach so. Ja. Natürlich, ich dachte-"
Er schwieg.
"Nun ja. Viel, äh, Glück, Herr Schneidgut."
"Ja- bis dann..." Jargon warf ihm einen verwirrten Blick zu und ging.
Er verließ die Universität mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch.
***+***Auf dem Weg nach Hause gelang es Jargon ganz gut, die schreiende Stimme seines Vaters auszublenden
[4]. Ihm war klar, dass Salz ganz und gar nicht billig war, und er etwas aus seiner Spartruhe nehmen musste.
Ich habe gar nicht nachgezählt, wie viel da drin ist, dachte er.
Ich spare seit etwa sechs Jahren... jeden Monat etwa 20 Dollar... äh... das sind...Er rechnete.
Müssten dreihundert Dollar sein- oder so-Jargon war nicht gut im Kopfrechnen, schon gar nicht wenn es um große Zahlen ging. Aber das müsste eigentlich reichen, und er hatte auch trotzdem noch Rücklagen.
Die Begegnung mit dem Unbekannten mit dem verbrannten Gesicht hatte er mittlerweile vorsichtig als eine Art Wahnvorstellung eingeordnet - viel anders ließ es sich nicht erklären. Er hielt jedenfalls für äußerst unwahrscheinlich, dass ihm jemand von Überwald bis hierher gefolgt war- und auch noch so schnell.
Du Unterschätzt die Fähigkeiten meiner Leute, durchbrach Secabonum Jargons inneren Schallschutz.
Wir haben Ausrüstung und Kontakte, es wäre überhaupt kein Problem für sie, noch vor euch in Ankh-Morpork angekommen zu sein."Abgesehen von der Tatsache, dass deine Leute größtenteils tot und dein Anwesen niedergebrannt ist", erwiderte Jargon murmelnd und bereut es bereits, ihn nicht einfach weiter zu ignorieren.
Glaubst du vielleicht, das war unsere einzige Operationsbasis? Wir haben Stützpunkte in ganz Überwald, in Ankh-Morpork und einige dazwischen!"Ja, ja, sicher..." Jargon glaubte dem Gefasel des Toten kein Stück weit.
Sie sind nur ein Echo seiner egomanischen Machtfantasien, dachte er.
Ach ja?! Ich zeige dir gleich, wer hier egomanisch ist! Ankertaugasse siebzehn, Kellergeschoss! Da sind vier Agenten stationiert, die nur auf meine Befehle warten!Das brachte den Wächter zum Schlucken. Wenn das stimmte, musste die Wache diesen Stützpunkt so bald wie möglich ausheben und dabei so vorsichtig wie möglich vorgehen.
Moment mal, du kannst nicht meine Informationen gegen mich ausnutzen-"Ich bin Wächter", kam die geknurrte Erwiderung. "Das ist mein Job."
***+***Die Nacht war grau und kalt, wie so oft im Asche. Es war neblig, und es nieselte. Der Alte Tom hatte gerade neun Wellen aus Stille über die Stadt hinweggeschickt. Es war bald wieder Vollmond, vielleicht noch fünf Tage. Jargon hätte nicht zum Himmel hochschauen müssen, um das festzustellen, hatte er ihn alle Nächte zuvor doch schon genau betrachtet. Außerdem hatte er es einfach im Gefühl, seit der Nacht auf dem Anwesen Secabonum - sein Blick war einfach ein ängstliches Vergewissern, wie der Blick auf die Uhr wenn man eigentlich schon weiß dass es viel zu spät ist um noch wach zu sein.
Vorsichtig stieg Jargon wieder in das Innere seiner kleinen Brandruine, die ihm als sein Zuhause ans Herz gewachsen war. Es war eine langjährige Angewohnheit, aus dem Fenster auf einen der vier Grundpfeiler zu klettern, um die nächstgelegene Gildenuhr zu erkennen. Es kam ihm merkwürdig vor, diese Ritual zu wiederholen, wo er jetzt so jemand ganz anderes war. Oder sich zumindest so fühlte.
Secabonums schreiende Stimme hatte er nicht mehr gehört, seit er an diesem Abend das erste Mal mit Salzwasser gegurgelt hatte. Es war ein unheimlich befreiendes Gefühl - auch wenn der slazige Schleim ekelhaft schmeckte
[5]. Außerdem kribbelte es ziemlich unheilvoll in seinem Nacken, wenn er den Namen seines wahnsinnigen, toten Vaters sieben-plus-einmal hintereinander Aussprach. Vor allem wurde die Stimme in seinem Kopf immer lauter, je öfter er den Namen sagte.
Jargon legte sich mit dem Rücken auf das Bett und starrte zur Decke.
Trotz, dass es in seinem Kopf jetzt still war - wie in den beiden Nächten zuvor wollte sich keine Müdigkeit einstellen. Alles, was Jargon fühlte, wenn er im Bett lag, war ein leises Kribbeln im Nacken, wie von drohender Gefahr, und das viel zu laute Pochen seines Herzens. Seitdem das Blut seines Vaters vermehrt durch ihn floss, schien sein Pulsschlag viel zu kräftig, viel zu berauschend und ließ ihm kaum eine Sekunde, in der er sich wirklich müde oder erschöpft fühlte.
Er bekam etwa drei Stunden Schlaf pro Nacht, und das meistens in seinem Büro im Wachhaus oder in der Kantine. Daheim ereilte ihn immer dieses leise, kribbelnde Gefühl von drohender Gefahr - zweifellos eine Nachwirkung der Nacht, in der er entführt worden war.
Ich fühle mich daheim nicht mehr sicher, realisierte Jargon. Er ertappte sich dabei, wie er in eine dunkle Ecke neben der Tür starrte, als würde er erwarten dass Jemand im Schatten auf ihn lauerte.
Er knurrte leise, wütend über sich selbst.
Als müsste ich mir Sorgen machen! Ich bin doch jetzt selbst einer von ihnen.Aber das Wissen, dass ihn in dieser Nacht jemand aus einem ihm völlig unbekannten Grund überfallen und verschleppt hatte, ließ ihm sein eigenes Zuhause kalt und bedrohlich erscheinen.
Mit zornigem Schwung stieg er aus dem Bett und entfachte ein Feuer im Ofen.
Kalt war es ja sowieso - aber bedrohlich? Das bedrohlichste in seinem Haus war der Waffenhalter (der ohnehin immer leer war) und das knarzende Dach (jedenfalls zum draufstehen).
Aber es war ja nicht das Haus selbst, das bedrohlich war - nur die Angst davor, dass ihn jemand völlig ohne Grund in den eigenen vier Wänden attackieren könnte.
Er hatte noch nie eine Angst in dieser Form gespürt.
Jargon schluckte. Mit zittrigen Beinen ging er zu seinem Tisch und sah auf die Rohrpostnachricht, die er vor zwei Nächten auf seinem Schreibtisch gefunden hatte. Zum vierten mal an diesem Tag nahm er sie in die Hand und las.
Bericht zur Kenntnis genommen. Solltest du püschologische Betreuung brauchen, melde dich bei mir.
Gez. Kmdr BreguyarBisher hatte Jargon noch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, auf das Angebot einzugehen, aus Angst davor, zum Opfer des Grolls des Kommandeurs zu werden - er war sich bewusst, dass dieser nicht sehr gut auf ihn (beziehungsweise Irgendjemanden) zu sprechen war.
Die Erinnerung an die Nacht, in der er sich so gehen lassen hatte
[6], verstärkte das unwohlige Kribbeln in seinem Bauch. Ein Blick zum Bett versicherte ihm, dass die Unterbettflasche nicht da war. Er hatte sie direkt am Morgen seines Erwachens und der Realisation, was er getan hatte, in den Ankh geworfen. Wie schon öfter zuvor zappelte und schrie das Verlangen danach in ihm - es wäre so einfach, zu vergessen! Er müsste nur ein wenig Geld ausgeben, wenn er an der richtigen Stelle suchte vielleicht sogar gar keines, und dann könnte er versinken in dem wattigen Weich des Alkohols...
Aber er wusste, was dann passieren konnte.
Und als vom Geist eines Wahnsinnigen bessessener Werwolf wollte er schon gar kein Risiko eingehen.
Ich brauche Hilfe, schoss es Jargon durch den Kopf, und einen Moment lang hämmerte die Verzweiflung mit unerbittlicher Wucht gegen seine Brust und seinen Hals. Ein kurzer Schluchzer floh aus seiner Kehle, bevor er sich zusammenreißen konnte.
Verdammt Jargon! Jetzt tu nicht so wehleidig - du weißt genau, dass es dich viel schlimmer hätte treffen können. Du hast dein Leben noch!Ihm entfuhr noch ein frustrierter Seufzer, dann ging er zurück zum Feuer. Er sah auf die Nachricht, die er noch immer in der Hand hielt.
Einem plötzlichen Impuls folgend zerknüllte er das Papier und warf es in den Ofen.
Er blinzelte, als er zusah wie die Flammen den Brief vezehrten.
Warum zur Hölle hab ich das denn jetzt gemacht?Aber eigentlich wusste er, warum.
Ich brauche seine Hilfe nicht. Ich komme selber klar. Er würde mir sowieso nicht helfen.Er schüttelte den Kopf und realisierte, dass Secabonums Einfluss zurückkehrte. Aber so falsch war der Gedanke trotzdem nicht - Breguyar war schon zuvor nicht sehr gut auf ihn zu sprechen. Und solange Jargon einen toten Möchtegern-Eroberer in seinem Kopf hatte, würde jedes Püschologen-Gespräch zum Disaster, da war er sicher.
Was sollte er also tun?
Er leckte sich die Lippen und griff zu seiner Tasse, die auf dem Tisch stand. Er füllte sie mit Wasser und gab drei Teelöffel Salz dazu.
Zweimal an einem Abend wird schon nicht so tragisch sein, dachte er.
Er rührte das Salzwasser mit seinem uralten, angefressenen Holzlöffel und sprach dabei wieder den Namen seines toten Vaters.
"Mane Secabonum."
Das ungute Kribbeln in seinem Nacken kehrte zurück.
"Mane Secabonum."
Er glaubte zu bemerken, wie die leise Stimme des Mannes in seinen Ohren klang.
"Mane Secabonum."
Ein kalter Lufthausch zog durch das Loch in der Decke.
"Mane Secabonum."
Du brauchst es nicht zu versuchen."Mane Secabonum."
Egal wie oft du es tust, ich komme nur stärker zurück."Mane Secabonum. Sei still."
Jedesmal wenn du meinen Namen sagst, ziehst du alle anderen hierher."Mane Secabonum."
Jargon, du bist mein Sohn! Wieso akzeptierst du das nicht einfach? Ich habe dir deinen Namen gegeben!"Mane Secabonum!"
Hastig kippte sich Jargon das Salzwasser in den Mund und gurgelte. Er gurgelte so lange, bis das Wasser kalt und schleimig wurde und der ekelhafte Geschmack nach heißem Öl zurückkam.
Dann spuckte er den dicken, rötlichen Klumpen ins Feuer, wo es mit einem zufriedenstellenden Zischen in einer bunten Flamme verging.
Der widerliche Geschmack des Schleims, das Brennen des Salzes an seinem Gaumen und seiner Zunge - es war ein Preis, den er gerne zahlte, sollte er dadurch endlich wieder Ruhe in seinen Kopf bekommen.
Und das bekam er. Die verhasste Stimme war im Gurgeln untergangen und jetzt nicht mehr zu hören. Und Jargon glaubte fast, so etwas wie Müdigkeit in seinen Muskeln zu spüren.
Aber sich jetzt schlafen zu legen war eine Einladung für schreckliche Träume, für Gedanken voll Angst. Stattdessen löschte er das Feuer und machte sich auf den Weg zum Wachhaus. Dort könnte er vielleicht etwas Produktives tun.
Als er seine Tür hinter sich schloss, fühlte er schon wieder dieses Kribbeln in seinem Nacken. Nicht ungewöhnlich, immerhin war es Nacht in den Schatten.
Sollen sie doch herkommen..., dachte Jargon und stellte fest, dass er beinahe darauf hoffte.
Er lief mitten auf der Straße, den Kopf erhoben und warf herausfordernde Blicke in die Seitengassen. Das heiße Blut seines Vaters pochte durch seine Schultern und seine Adern. Da war etwas in seinem Hals, ein Verlangen das er nur aus verschwommenen Erinnerungen kannte. Das Verlangen, die Zähne in Fleisch zu schlagen, das Verlangen, Körperteil um Körperteil von einem Opfer abzureißen. Das Verlangen, Blut und Eingeweide zu verschlingen.
Es erfüllte ihn im gleichen Maße mit Entsetzen und Aufregung. Er spürte, wie sich seine Knochen dehen wollten, seine Zähne wachsen wollten, seine Haare sprießen wollten. Er wollte rennen, er wollte heulen, jaulen, er wollte jagen.
Er hatte Angst vor sich selbst. Was ihm am meisten Angst machte, war die Tatsache, dass er genau wusste, dass er dieses Verlangen nicht vom Geist seines Vaters zog. Das Salzwassergurgeln hatte diesen zuvor etwa zwei Stunden lang ausgeschaltet - jetzt nach dem zweiten Mal würde es noch länger dauern.
Das Monster war jetzt ein Teil von ihm.
Er war jetzt Wolf Schneidgut.
***+***"HALT!"
Der Brüller musterte die Gestalt vor sich mit hochgezogenen Brauen.
"DER ZUTRITT ZUR UNIVERSITÄT IST ZIVILISTEN OHNE GENEHMIGUNG STRENGSTENS VERBOTEN!"
"Ich brauche Hilfe." Der Mann hatte eine sanfte, jugendliche Stimme. Sein Gesicht war von einer Kapuze verdeckt. Seine Haltung wirkte merkwürdig verkrampft, die Schultern waren hochgezogen. Alle paar Sekunden ruckte er plötzlich mit dem Kopf.
"UM EINEN TERMIN BEI EINEM ZAUBERER ZU BEKOMMEN, MÜSSEN SIE DREI TAGE VORHER RESERVIEREN."
"Aber ich brauche ihn
jetzt!"
Der Mann presste plötzlich die rechte Hand an das Ohr.
"ICH KANN EINEN KOLLEGEN SCHICKEN UND FRAGEN-", bot der Brüller an.
"
Nein!", brüllte der Mann vor ihm, die Stimme merkwürdig verzerrt. Dann, plötzlich, packte er den Torwächter am Hals. Dieser reagierte routiniert, indem er den Arm des Angreifers mit einem schnellen Schlag brach. Bevor er nachsetzen konnte, sprintete der Kapuzenmann davon.
Der Brüller hielt seinen Posten und richtete sich den Hemdkragen.
Angriffe wie diese geschahen nicht häufig, aber dafür war er ja ausgebildet. Er dachte nicht daran, den Vorfall zu melden - ein sich verdächtig verhaltender, maskierter Mann, der Nachts in die Universität eindringen wollte? Das würde niemanden interessieren.
***+***Es musste etwa halb sieben sein, als Nyria in die Kantine kam. Es war eine gute Zeit- kurz bevor die meisten Wächter eintrafen, aber spät genug, dass der Kaffeedämon wach war. Sie holte sich von der schwarzen Brühe und schlürfte sie langsam, während sie sich gemächlich an einen Tisch setzte.
Einen Moment lang musterte sie belustigt den schlafenden Jargon, der mit dem Kopf auf dem Tisch in einer Ecke saß. Offenbar träumte er, seine Hände zuckten immer wieder, und er gab merkwürdige, fast schon bellende Laute von sich.
Sie trank mehr Kaffee und beobachtete ihn, jetzt mehr nachdenklich als amüsiert.
Schließlich schreckte er hoch, ruderte mit den Armen und versuchte panisch, aus dem Sitzen über die Bank hinweg davonzulaufen. Er blieb mit den Füßen hängen und fiel auf sein Gesicht. Er wirkte im Gegensatz zu ihr nicht sehr amüsiert, als er sich hochrappelte.
"Hör auf zu lachen!", keifte er zornig, seine Nackenhaare zerrten geradezu an ihm und wollten sich aufbäumen, losreißen.
"Meine Güte, beruhig dich!", meinte Nyria und versuchte, ihren Schock zu verbergen. So hatte sie Jargon noch nicht erlebt - oder zumindest, nicht in so einer Situation.
"Beruhigen?! Ich?!"
Er starrte sie an, die Zähne gefletscht, und realisierte dann erst, langsam, wie er sich gerade verhielt.
Aus der bedrohlichen wurde eine peinliche Stille. Sein Herzschlag wurde erst ein wenig langsamer, dann wieder schneller.
Ich bin ein furchtbares Vorbild!, dachte er. Gleichzeitig meldete sich lautstark Secabonum zu Wort:
Diese Frau hat keinen Respekt vor dir! Du solltest ihr zeigen, wie man sich einem Mann gegenüber verhält!"Ich- es- du-", quoll es aus ihm heraus, während Nyria ihn noch immer irritiert anstarrte.
Brich ihr die Beine! Schleif sie über den Boden!"Du bist Wahnsinnig!", keuchte Jargon entsetzt.
"Ich?! Also, wenn hier jemand wahnisinnig ist, dann-"
Diese Frau hat nicht verstanden, wer das stärkere Geschlecht auf dieser Welt ist! Du musst ihren Willen brechen!"Niemand wird hier gebrochen! Sei still!"
Jargon schlug die Hände vors Gesicht, auf die Ohren, versuchte planlos davonzulaufen. Nyria realisierte, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Schnell hielt sie Auschau, ob ein Vorgesetzter in der Nähe war.
Nimm sie dir! Unterwirf sie deinem Willen!"HALT DEINE DUMME WERWOLFFRESSE!", schrie Jargon und stürmte panisch durch die Kantine, warf Bänke und Tische um, hämmerte mit dem Kopf an die Wand bis er blutete.
"ICH WILL DICH NICHT MEHR HÖREN!"
Kurzerhand packte Nyria ihn am Arm und zwang ihn mit viel Mühe in den klassischen Polizeigriff. Er schrie inkohärent weiter, trat um sich und packte sie mit der freien Hand unangenehm am Oberschenkel.
Na gut Freundchen- Zeit zum Schlafen!Und mit etwas mehr Wucht, als sie es vielleicht beabsichtigte, schlug sie seinen Kopf gegen die bereits blutige Wand. Der Putz splitterte, Jargons Körper erschlaffte. Seine Augen waren bis ins Weiße verdreht, seine Stirn war blutüberströmt, ein merkwürdig rasselndes Röcheln klang ihm aus der Kehle.
"Oh, Verdammter Mist", brummte die Werwölfin und überlegte hastig, was sie denn jetzt tun sollte. Sie hievte Jargons Körper auf einen Tisch und versuchte erfloglos, den Blutgeruch auszublenden. Vor allem bemerkte sie, dass es kein gewöhnlicher Blutgeruch war... er war irgendwie anders, ungewöhnlich stark, fast wie das eines Werwolfs. Eigentlich ziemlich genau so.
Stirnrunzelnd betrachtete sie Jargons verzerrtes Gesicht. Er war erst seit kurzem aus Überwald zurück, und sie hatten seitdem nicht miteinander gesprochen- was war da nur passiert? War er etwa zu einem Werwolf geworden?
Möglich wäre es ja- genug potentielle Überträger gibt es da drüben ja...Sie riss sich selbst aus den Gedanken.
Vor allem muss ich ihn erstmal hier wegschaffen, bevor mir noch jemand das alles hier in die Schuhe schiebt...Sie hievte sich den kleinen Mann über die Schulter.
Aber wohin? Und wie krieg ich ihn unauffällig da hin?Die Zellen fielen direkt weg... wie sollte sie das denn erklären? Sie könnte ihn vielleicht im SEALS-Aufenthaltsraum platzieren, aber das würde nicht verhindern dass er beim Aufwachen wieder direkt ausflippte. Ihn nach Hause bringen war ähnlich problematisch. Sie brauchte einen Ort, wo man jemanden ruhig halten konnte und wo jemand war, dem sie vertrauen konnte.
Sie beschloss, ihn in der Unsichtbaren Universität unterzubringen. Hoffentlich war Raistan da...
War nur noch das Problem, wie sie ihn da unauffällig hinbringen sollte.
Ach, was solls-, dachte sie,
den einen Wagen wird so schnell schon keiner vermissen!Sie vergewisserte sich dass die Piepenstengel noch nicht da war und trug ihn durch die an die Küche angrenzende Hoftür nach draußen.
Ich hoffe nur, dass er während der Fahrt nicht aufwacht.***+***Der Aufprall hatte etwas in Jargons neurologisch-spirituellen Zentrum durcheinandergebracht und sein aktives Bewusstsein in sein Inneres verbannt. Er kannte den Ort bereits - hierher hatte es ihn immer bei seinen Wutanfällen verbannt, und auch damals während Baal-Ohns Besetzung. Aber während er hier sonst meistens relativ inaktiv, in einer Art Trance darauf wartete, wieder zu erwachen war er diesmal im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Und nicht allein, denn der Geist seines Vaters hielt sich ebenfalls hier auf.
Visuell kann man sich dies folgendermaßen Vorstellen: Die Umgebung besteht aus der Schwärze völliger Dunkelheit, die das Hirn irgendwann mit allen möglichen und unmöglichen Bildern aufzufüllen versucht. Wenn man lange genug auf einem Punkt verweilt sieht man alles, was man bisher gesehen hat, in allen möglichen Kombinationen. Dabei sind eindrucksvollere Bilder prominenter, aber unerklärlicherweise immer mit den banalsten Dingen verziert.
Secabonums Geist zeigte sich vor allem durch architektonisch unmögliche Teile seines zerstörten Schlosses und seine riesige Wolfsschnauze, die mit falscher Geschmeidigkeit die Bewegungen menschlicher Lippen imitierte.
Jargons Bewusstsein zeigte sich vor allem durch ihn selbst, in Spiegelsplitterfragmenten seiner Charakterzüge, und die Stadtwachemarke vor allen möglichen Hintergründen.
Secabonum war sehr klein dagegen, aber beständig und beweglich, unzerstörbar wie eine Luftblase in einem abgeschlossenen Wasserbehälter.
Er versprühte Teile von sich und zerstörte Bilder und Stränge, wurde immer wieder zusammengepresst und flutschte unter Zusammendruck hierhin und dorthin. Jargon fühlte sich, als würde er versuchen, eine Obsidiankugel in einem riesigen Topf voller Rübenmuß mit den bloßen Fingern zu zerdrücken. Leider war dieses Rübenmuß sein Hirn.
Und dabei erklang dauerhaft dieses Lachen - wann hatte Secabonum so gelacht? Hatte er überhaupt jemals gelacht?
Sieh nur, der Kleine will spielen!Wann hatte er das gesagt? Jargon glaubte nicht, dass seine Ohren je einen solchen Satz aus dem Munde Mane Secabonums vernommen hatte. Vor allem nicht so- so ernst.
Ohne die beißende Häme, die sonst immer aus der Stimme triefte.
Jargon verfolgte diesen Klang, auch wenn er die aktive Bedrohung dadurch außer acht ließ. Die Secabonum-Kugel hatte zufällig eine Struktur angestoßen, die jetzt widerhallte, eine Struktur aus einer Zeit, die bisher nur im Unterbewusstsein verankert war. Eine Zeit, in der eine gewaltige, mächtige Stimme das einzige war, was zu Jargon vorgedrungen war. Eine sanfte Stimme. Es war seine Mutter, die da sprach.
"Gib nichts drauf, Jargon... Es gibt Männer, die sind nun mal so."Eine Zärtlichkeit aus Kindertagen, ein sanftes Schaukeln, eine Wärme die nie mehr zurückkehrt.
"Versprich mir nur, dass du nie so wirst, wie er."Und dieses Versprechen musste irgendwann gegeben worden sein. Er spürte es. Es war da, in dieser unförmigen Masse, wie ein einzelnder Strang, ein dünnes Seil, aber unzerreißbar. Und während Secabonums Schloss und diese widerwärtigen Werwolflippen versuchten, sich mehr und mehr in seinen Erinnerungen auszubreiten, hielt sich Jargon an diesem Strang fest. Und er knüpfte ein Netz.
***+***Die Fahrt zur Universität verlief ohne weitere Zwischenfälle (abgesehen von den üblichen, natürlich). Nyria parkte den Wagen vorschriftsmäßig auf dem Universitätsgelände, nachdem der Brüller ihre Wachemarke abgesegnet und ihr die üblichen Warnungen zugebrüllt hatte. Jetzt musste sie nur noch Raistan finden, bevor Jargon aufwachte-
"Hmp- fwasichbinwach!", erklang es aus dem hinteren Teil des Wagens. Nyria hielt ruckartig den Wagen an (gerade so schräg, dass der Stellplatz nebenan nicht benutzt werden konnte), dann lugte sie vorsichtig nach hinten. Jargon saß da, offensichtlich ziemlich verwirrt, und wischte sich das krustige Blut aus den Augen.
"Wa hä?", murmelte er. Blinzelte, sah sich um. Rieb sich über den Kopf und durch den Bart. Dann stand er auf, schüttelte sich auf eine merkwürdig... hündische Weise und schnupperte kurz.
"Wenn du jetzt gleich wieder durchdrehst, kriegst du noch eine auf den Kopf, Jargon", sagte Nyria laut genug um ihn aufzuschrecken.
"Ich- äh- habe nicht vor-" Jargon bemerkte sie dann erst, blinzelte kurz und hielt inne. "Wo bin ich?", fragte er
[7].
"Ich hab dich zur Unsichtbaren Universität gefahren", antwortete Nyria und beäugte ihn misstrauisch. "Erschien mir sinnvoll."
Er schien ihr kaum zuzuhören, sondern auf ein Geräusch zu lauschen. Dann sagte er lächelnd: "Ja, ich merke es."
Einige Sekunden verstrichen, in der sie genau beobachten konnte, wie er rekapitulierte, was passiert war. Er schien praktisch in sich zusammenzufallen. Schließlich murmelte er, mit den Händen im Gesicht vergraben: "Es tut mir Leid. Ich hoffe, ich hab dir nicht weh getan. Ich war dumm."
"Dumm...? Nein... dumm klingt nicht wie das Wort, dass ich benutzen würde. Eher... durchgeknallt. Gefährlich." Ihr Blick war hart. Sie traute dem Frieden nicht.
"Du verstehst nicht- äh-" Jargon leckte sich die Lippen und versuchte, die richtigen Worte zu finden. "In meinem Kopf- äh... jemand ist in meinem Kopf. Der da nicht hin gehört."
Nyria nickte. "Klingt ja, als wären wir hier ganz richtig. Komm mit, ich bringe dich zu jemandem, der dir helfen kann."
"Warte-", sagte Jargon, aber sie war schon vom Kutschbock geklettert. Er folgte ihr.
Das trübe Tageslicht stach in seine tränenden Augen, und schien direkt das Kopfschmerzzentrum anzusprechen. Der ungefilterte Geruch des Ankh, gemischt mit dem brandig-säurigen Aroma der magischen Hintergrundstrahlung machte es kaum besser. Jargon musste kurz innehalten und seine aufkommende Übelkeit niederringen, bevor er weitergehen konnte.
Nyria musterte ihn aufmerksam.
"Ich hab dir einen ganz schönen Schlag verpasst. Bin erstaunt, dass du schon wieder gehen kannst", sagte sie dann, etwas weniger kalt als zuvor.
Er hörte ihren Unterton. Und schluckte.
"Naja, weißt du... Ich- in Überwald... Mein Vater-" Jargon hielt inne. Sie standen jetzt vor dem Eingang des Traktes für hochenergetische Magie.
Sie wartete.
Er schluckte, und lächelte vage.
"Ich bin jetzt auch ein Werwolf."
Sie betrachtete ihn, kratzte sich am Ohr und suchte nach einer passenden Erwiderung. "Na, dann willkommen im Klub, würde ich sagen." Sie drehte sich eine Zigarette.
"Äh, ja." Er wischte sich über die Haare und versuchte, den blutverkrusteten Teil etwas zu richten. "Und ich bin außerdem vom Geist meines wahnsinnigen Vaters besessen."
Sie versuchte, die Bedeutung dieser Worte zu erfassen. "Aha. Also- und deswegen bist du vorhin so ausgerastet?"
Er zuckte mit den Schultern. Dann nickte er.
"Ich bin unbeabsichtigt eingeschlafen, und deswegen ist er trotz der Salzbehandlung stärker gewesen. Und weil du dann da warst, und er so- und er- hat schlimme Sachen gesagt- und- ja." Jargon starrte auf den Boden. "Deswegen."
Nyria nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. Beim Ausatmen fragte sie:"...Salzbehandlung?"
"Ja." Er deutete in die ungefähre Richtung, in der er Professor Schwelgbarts Büro vermutete. "Ein Zauberer hat die mir verschrieben. Ich sage den Namen meines Vaters und gurgele dann mit Salzwasser. Und dann spucke ich in ein Feuer. Und dann ist er leise. Also mein Vater."
Sie nickte langsam. "Ja, das klingt nach was, was einem ein Zauberer verschreiben würde. Wirkt's?"
"Ja. Naja. Also, normal schon, aber wenn ich es lange nicht mache, dann kommt er wieder. Professor Schwelgbart meinte, wenn man es einmal täglich macht, ist es bald weg." Jargon starrte nachdenklich auf die verglaste Tür des Traktes für hochenergetische Magie. "Gestern habe ich zweimal gegurgelt- äh- wie spät ist es eigentlich?"
"Auf der Hinfahrt hats sieben geschlagen."
"Das heißt, es ist jetzt... äh... gestern um neun das letzte Mal... äh... sieben Stunden her- Nein, moment..." Jargon zählte an seinen Fingern die Stunden ab.
"Zehn Stunden", half Nyria weiter und ging zur Seite um einen verwirrt blickenden Zauberer vorbeizulassen.
"Genau, zehn Stunden, seit dem letzten Mal. Also kein Wunder, dass er wieder stärker war." Er betastete die Taschen seiner Uniform. "Mist, ich hab das Salz nicht bei mir- ich muss es im Wachhaus liegen gelassen haben- Oh nein..."
"In der Kantine", brummte Nyria. "Na, viel Glück dass es noch da ist nachher." Sie ließ den Zigarettenstummel fallen und trat ihn aus.
"Ich habe dafür eineinhalb Dollar bezahlt", knurrte Jargon. "Es liegt besser noch genau da, wo ichs verloren hab!"
Die zwei standen noch immer unschlüssig vor der Tür. Mittlerweile standen drei junge Zauberer hinter ihnen und einer von ihnen fragte vorsichtig: "Äh, was macht ihr eigentlich hier?"
"Wir gehen", antwortete Jargon und schob die drei aus dem Weg, als er sich auf den Weg zurück zum Wagen machte. Nyria folgte dicht hinter ihm, verwirrt von seiner abrupten Entscheidung.
"Warte mal jetzt- Jargon!"
"Was?" Er hielt nicht an.
"Hältsts dus für eine gute Idee, einfach zurück ins Wachhaus zu fahren? Meinst du nicht, es wird wieder schlimmer, sobald du vom Unigelände runter bist?"
"Wird es mit Sicherheit", antwortete er und kletterte auf den Wagen. "Aber was soll ich tun? Hier rumhängen und mich als Hausmeister bewerben?"
"Eigentlich hatte ich vor, Raistan zu fragen, ob er dir irgendwie helfen kann." Nyria setzte sich neben ihn auf den Kutschbock und griff die Zügel bevor er sie nehmen konnte. "Und du solltest vielleicht mal kurz drüber nachdenken was du machst."
Er streckte die Hand nach den Zügeln aus, hielt dann aber kurz inne. Sie sah, wie er nachdachte, sah seine Verwirrung angesichts seiner eigenen Emotionen.
Dann atmete er tief durch und nickte.
"Ich glaube, ich komme klar."
Er musste grinsen.
"Im Zweifelsfall schlägst du mich eben wieder bewusstlos. Und jetzt gib mir die Zügel, Gefreite."
"Na gut", erwiderte sie, und folgte seiner Anweisung. Dann kramte sie ihr Drehzeug hervor. "Aber fahr nich so schnell. Ich will dir mal ein, zwei Sachen erzählen, vielleicht, übers Werwolfsein."
***+***Das Salz war natürlich nicht mehr in der Kantine auf dem Tisch, wie Jargon es sich gewünscht hätte.
Es war schwer genug gewesen, die tobende Stimme seines Vaters während der Rückfahrt auszublenden. Aber jetzt, da er sich nicht mehr mit der Konzentration des Fahrens und dem Lauschen auf Nyrias Ratschläge ablenken konnte, dröhnte die Stimme Secabonums nahezu so schlimm wie bei ihrem ersten Erscheinen.
"Wenigstens bin ich jetzt wach und hatte Zeit, mich darauf vorzubereiten", erklärte Jargon Nyria. Sie standen vor der Tür zur Küche, wo sich vermutlich Mamsell Piepenstengel aufhielt und
sein teuer erkauftes Salz verbrauchte.
"Trotzdem müssen wir jetzt mal schaun wie du das Zeug wiederkriegst."
"Stimmt."
Unschlüssig standen die beiden Werwölfe vor der Tür.
"Ich glaube irgendwie nicht, dass sie auf freundliches Bitten eingeht", vermutete Jargon. "Das hat schon damals nicht funktioniert, als ich die Reste vom Hackbraten aus der Mülltonne retten wollte. Sie hat persönlich darauf aufgepasst, dass sie entsorgt werden."
Nyrias Schweigen interpretierte er als Zustimmung.
"Nun, versuchen kann ich es zumindest."
Er klopfte. Seine Nervosität verhinderte, dass er die Stimme seines Vaters weiter ausblenden konnte.
Du armseliger kleiner Wicht! Du bittest eine Köchin darum, dass sie dir DEIN Salz wiedergibt? NIMM ES DIR EINFACH!"Wohl kaum", knurrte Jargon. "Möcht mal sehn, wie du das selber versuchst."
Nyria warf ihm einen nervösen Blick zu. Die Kantinentür öffnete sich, und Mamsell Piepenstengel persönlich zeigte sich im Türrahmen.
"Es gibt noch nix! Bin grad erst gekommen!", herrschte sie.
"Mamsell Piepenstengel, dürfte ich fragen ob du- du einen verfluchten Salzbeutel in- entschuldigung, in der Kantine einen Beutel mit Salz aufgesammelt hast?"
Die Köchin wirkte verwirrt und amüsiert zugleich.
"Glaubst du ernsthaft, ich sammel irgendwelchen Kram auf, der hier rumliegt?" Sie beäugte Nyria, eher misstrauisch als amüsiert. "Und was willst d-"
"Ja oder nein jetzt?!", knurrte Jargon, lauter als er wollte.
Die Mamsell verstummte, dann kniff sie die Augen zusammen.
Jargon atmete kurz durch, dann setzte er nochmal an:
"Du solltest wissen, Mamsell, ohne- ich brauche dieses Salz- es ist sehr,
SEHR WICHTIG- wichtig, dass ich es wiederbekomme." Sein linkes Augenlid zuckte, und mit viel Mühe verkniff er sich mit mäßigem Erfolg ein gutturales Knurren.
Du spürst es, ich weiß es! Das Verlangen, diese Frau für ihre Frechheit zu bestrafen! Ihr die Kehle durchzubeißen!"Ich hab hier kein Salz. Hab nur mein eigenes. Hau ab!" Mit diesen Worten knallte ihm die Küchenchefin die Tür vor der Nase zu.
"Also gut, jetzt mal ganz langsam, Jargon", sagte Nyria und zog ihn energisch weg vom Kücheneingang.
Wie kommt es, dass du dich von dieser Frau rumkommandieren lässt? Du bist der stärkere hier!"Aach, Fresse jetzt", brummte Jargon leise in sich hinein und versuchte zitternd, nicht um sich zu schlagen.
Nyria hielt inne, dann sagte sie: "Du sprichst wieder mit- deinem Vater, ne?"
"Ja, schon, ja, mein Vater. Tot." Er wand sich und versuchte, nicht buchstäblich aus der Haut zu fahren.
"Erstmal atmest du jetzt tief durch, beruhig dich mal, bis eben warst du ja ganz gut dabei so." Nyria versuchte beruhigend zu klingen, war sich aber nicht sicher, wie gut sie das von der 'ein unerfahrener Rekrut baut Mist'-Stimme trennen konnte.
"Ja, gut, ja, ich beruhig mich." Jargon atmete tief ein und aus, murmelte inkoheränte Dinge und wurde langsam ruhiger. Er rieb sich mit beiden Händen über Gesicht und Kopf und zog nervös an seinen Haaren, wirkte aber allgemein weniger verspannt als zuvor. Dann, mit grässlicher Gewissheit und Verzweiflung im Blick, wandte er sich an die Welt im Allgemeinen.
"Ich brauch mein Salz, verflucht!"
"Schon gut, Jargon, wir kriegen dein Salz, wir besorgen die Salz, ganz ruhig, komm einfach kurz mit, ich glaube, ich weiß wo wir welches finden", redete Nyria auf ihn ein und lotste ihn vorsichtig in Richtung Treppe.
"Im Labor? Du meinst das Labor, oder?"
"Genau, das Labor, da gibt es bestimmt Salz für irgendwelche Tests und so, is nich weit, lauf einfach mir nach..."
Irgendwie schafften sie es, ohne dass Jargon austickte, bis vors Laboratorium.
"Du wartest hier!", schärfte Nyria Jargon ein. Der nickte nur, und begann leise vor sich hin zu singen, um die Stimme in seinem Kopf zu übertönen. Sie registrierte das mit wachsender Verzweiflung und betrat das Labor.
Huitztli, scheinbar gerade erst angekommen, stand über einen Tisch gebeugt, sah aber direkt auf, als er den Besuch bemerkte.
"Hallo? Gefreite- Maior?"
"Ja, stimmt, bin ich. Äh, Sör."
"Wie kann ich helfen?" Mit vorsichtiger Bedächtigkeit setzte Huitztli eine Pipette in einen Pipettenhalter. Nyria schaute nervös Richtung Tür.
"Ich brauche Salz. Ganz gewöhnliches Salz. Habt ihr so was hier?" Nyria sah sich um, als würde sie auf ein großes Glas voller weißer Kristalle hoffen, auf dem 'Salz' steht. Huitztli hielt inne. Er dachte kurz nach, dann sagte er: "Ja, haben wir. Darf ich fragen, wofür du es brauchst?"
"Für, äh, einen Freund- Der- der ist besessen von seinem toten Vater und muss mit Salz gurgeln damit der weggeht. Also, der Geist. In seinem Kopf."
Mit bedächtiger Vorsichtigkeit schaute auch Huitztli nun zur Tür.
"Und dein Freund steht da draußen und- äh-" Er lauschte. "Singt 'Wenn du mich schlägst, blute ich' von den
Kindern vom Ankh?"
Nyria nickte verzweifelt. "Bitte."
"Ich mag diese Musikgruppe." Langsam und unter leisem Knarzen kramte der Wasserspeier eine Papiertüte aus einer Schublade hervor und drückte sie Nyria in die Hand. "Bitte bring es zurück, wenn- also- wenn er mit Gurgeln fertig ist."
"Danke!" Eilig hastete Nyria nach draußen. Kurz darauf kam sie wieder rein.
"Du hast nicht zufällig auch ein Glas Wasser und ein Feuer, oder?"
Glücklicherweise hatte Huitztli auch dies. Er wirkte sehr beeindruckt von der Vorstellung, vor allem als Jargon es schaffte, zielgenau in die Flamme eines nervösen Labor-Sumpfdrachens zu spucken.
Wenig später saßen Jargon und Nyria im Innenhof neben dem Wagen, dessen Zugtier sie mittlerweile nachträglich untergestellt und versorgt hatten, auf dem Boden.
"Ich würde mal sagen, da hast du verdammt nochmal Glück gehabt", kommentierte sie seine Zusammenfassung und drückte ihre Zigarette auf dem festgetretenen Lehmboden aus. "Hast du irgendeine Ahnung, obs welche von den Typen überlebt haben?"
"Gute Frage." Nachdenklich starrte der Werwolf-Frischling auf die Reste der Zigarette. Der scharfe Tabakgeruch hatte zumindest kurzfristig den allumfassenden Gestank übertüncht, der in Ankh-Morpork herrschte, und ihm nun mit neuer Widerlichkeit in die Nasenlöcher vordrang. Nyria steckte sich direkt die nächste an und drehte parallell noch eine Zigarette. Er schaute ihr fasziniert zu.
"Du, äh, rauchst ganz schön viel."
Sie nickte. "Wie soll man denn sonst diesen Gestank auf Dauer aushalten?" Sie leckte das billige Papier längs ab und klebte ihre fertige Zigarette zusammen. Dann schaute sie ihn kurz nachdenklich an und reichte sie ihm. Er wollte grade reflexartig ablehnen, als er etwas realisierte: er hatte nie tatsächlich versucht, zu rauchen. Er befand sich derzeit in einer Phase, in der sich sowieso alles veränderte. Und es stank tatsächlich ziemlich. Er nahm die Zigarette.
"Äh, ich hab noch nie geraucht", kommentierte er nervös und nahm Nyrias angebotene Streichhölzer entgegen.
"Na, dann wirds mal Zeit."
Er zündete das Streichholz an und hielt es an die Spitze der Tabakrolle.
"Jetzt musste dran ziehen", sagte Nyria. "Ähnlich wie bei ner Pfeife."
"Hab auch noch nie Pfeife geraucht."
Jargon sog an der Zigarette wie an einem Strohhalm. Sie glühte an der Spitze schwächlich auf und scharfes, beißendes Aroma brannte auf seiner Zunge. Einigermaßen erschreckt nahm er die Zigarette aus dem Mund und pustete das bisschen Rauch aus. Nyria beäugte das Ganze amüsiert.
"Das war jetzt paffen. Wenn du richtig rauchen willst, musst du's auch einatmen. Kratzt vielleicht ein bisschen."
"Naja, in Ordnung... ich meine, ich probiers mal."
Er saugte und atmete, und es kratzte und brannte wie verrückt bis in seinen Brustkorb. Er hustete erstmal ausgiebig und musste, wie Nyria, lachen über seine Unbeholfenheit. Aber irgendetwas an dem Gefühl der Zigarette verleitete ihn dazu, es wieder zu versuchen, und tatsächlich rauchte er die Zigarette bis zum Schluss.
"Ich weiß nicht", sagte er dann als er den Stummel wie Nyria auf dem Boden ausdrückte. "Es ist schon irgendwie ein gutes Gefühl, aber es kratzt auch ziemlich."
"Ja... aber das ist, finde ich ein guter Ausgleich für den Gestank." Sie drehte schon wieder eine neue, und obwohl Jargon das innerliche Verlangen danach hatte, weiterzurauchen, entschloss er sich dagegen. Sein Speichel schmeckte merkwürdig, und er spuckte neben den Zigarettenstummel.
"Um ehrlich zu sein, finde ich den Gestank meistens nicht so schlimm", stellte er dann fest. Tatsächlich roch er gerade sowieso wenig davon, weil er vor allem sich selbst und den Zigarettenrauch wahrnahm. Sie kommentierte das mit einem misstrauischen Blick.
"Du warst hier noch nicht oft in der Werwolfform unterwegs, was?"
"Noch nie, ehrlich gesagt, es-" Er hielt inne.
"...macht dir Angst?"
Er nickte verlegen.
"Vor allem mit dem Geist von meinem Vater und so."
Sie erwiderte sein Nicken und blickte nachdenklich zu Boden.
"Eigentlich...", setzte sie dann an und hielt inne, um einen tiefen Zug zu nehmen, "...eigentlich müsstest du eine Art, dingens, eine Weiterbildung machen. Zum Werwolf."
Jargon setzte zu einer Antwort an, dann dachte er nach.
"Du hast recht", meinte er dann, noch immer nachdenklich. "Aber... ich meine, würdest du das machen? Qualifiziert genug wärst du ja, so im Bezug aufs Werwolf-Sein, meine ich."
Sie zuckte mit den Schultern. "Also, dann... dann hätte ich halt die Verantwortung. Für dich. Irgendwie."
Eine nachdenkliche Stille machte sich breit, in der die Beiden betreten den Innenhof begutachteten.
Irgendwann, als jemand aus dem Flur durch das Innenhoftor nach draußen trat und eine leise Melodie vor sich hinsummte
[7a], räusperte sich Jargon und sagte: "Naja, erstmal muss ich besagten Geist loswerden. Ich glaube, es wäre nicht gut, mit ihm in meinem Kopf als Werwolf unterwegs zu sein."
"Da hast du wohl recht", sagte Nyria und stand auf. Sie klopfte sich den trockenen Lehm von der Hose und stopfte das Drehzeug in ihre Taschen. Sie sah zu, wie er auch aufstand und nachdenklich seinen Zigarettenstummel betrachtete, der sich erstaunlich gut in das Zen-Muster des Lehmbodens einfügte.
"Jetzt lass mal weggehen, bevor der Unglücksrabe von Wächter mit Hofdienst unsere Zigarettenstummel bemerkt."
Kaum hatten sie das Wachhaus betreten als Nyria realisierte, dass sie ihre morgendliche Streife mit Rea unentschuldigt nicht angetreten war.
"Nun, ich denke mal sie hat sich dann einfach einen unglücklichen anderen Wächter geschnappt", brummte sie. "Alleine wird sie nicht gehen."
Sie sah auf die Uhr über dem Tresen.
"Und... hm, vermutlich ist sie schon wieder zurück." Sie zog eine Grimasse. "Wie soll ich das denn jetzt erklären?"
"Gute Frage... ich schätze, zu erzählen du hättest einen Vorgesetzten niedergeschlagen und ihn zur Universität entführt, nur um ihn dann in einem hochgradig beeinträchtigten Geisteszustand mit einem Karren zurückfahren zu lassen-"
"Ja, klingt nich so gut-"
"-woraufhin du dann Labormaterialien missbraucht und zweieinhalb Stunden untätig im Hof rumgesessen warst und einen Kollegen zum Rauchen angestiftet hast-"
"-nicht so richtig nach Protokoll und so."
"-wäre keine gute Idee."
Nachdenklich musterten sie den Rekruten, der vor ihnen hinter dem Wachetresen stand und sich vorsichtig räusperte.
"Gefreite Maior?", fragte er dann.
Sie erwiderte seinen Blick freundlich, aber nichtssagend.
"Fähnrich Dubiata sucht dich, du sollst bitte so schnell wie möglich zu ihr ins Büro kommen."
"Natürlich", erwiderte Nyria.
Jargon hoffte, dass der Rekrut nicht dumm genug war, Rea zu erzählen was er gerade gehört hatte.
"Ich komme mit", sagte er dann. "Du hast mir in einer schweren psychischen Lage zwangsläufig beigestanden und weitaus Schlimmeres verhindert."
"...meinst du echt? Dann müsstest du halt reden."
"Mach ich", antwortete er. "Das kann ich ja so einigermaßen."
***+***Nyria kam glimpflich mit einer kurzen Anschreie, Verdonnerung zum Tresen-Spätdienst und einem intensiven Blick davon, der auch Jargon nicht erspart blieb.
"Du bist übrigens nur noch bis übermorgen beurlaubt, Jargon", erwähnte Rea noch, bevor sie das Büro wieder verließen.
Nyria verabschiedete sich dann hastig. Sie musste noch einen organisierten Schrankdiebstahl aufklären.
Den Nachmittag verbrachte Jargon damit, über seine bisherigen Fälle zu reflektieren, Akten zu sortieren und die toten Topfpflanzen vom Festerbrett wegzuwerfen. Sein Büro fühlte sich leer und irgendwie tot an. Seit er der Wache beigetreten war, hatte er sich das Zimmer immer nur kurzfristig mit Kollegen geteilt, bevor diese die Wache nach relativ kurzer Zeit verließen. Es war mit Büchern vollgestopft, die er alle gelesen hatte, beinahe alle auswendig kannte. Fallrelevante Notizen waren säuberlich sortiert, aber unberührt in den Schreibtischschubladen geblieben.
Jetzt nahm sich Jargon das erste Mal Zeit, sie detailliert durchzugehen. Er merkte mehr als einmal, wie zögerlich, wie furchtbar vorsichtig er dabei vorgegangen war. Gewisse Details, manche Ermittlungs- und Recherchestränge hatte er geradewegs ignoriert. Er stellte erschreckt fest, dass er schlicht keine sehr gute Arbeit geleistet hatte.
"Das wird sich ändern", beschloss er leise. Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. "Sobald das mit Secabonum besser geworden ist."
Passend zum Thema bemerkte er am Glockenschlag der Stadt, dass seit der Teilaustreibung heute morgen wieder bereits sechs Stunden vergangen waren.
"Wird Zeit, dass ich heimkomme."
Aber er blieb sitzen, den Blick an das maserige Holz der Decke geheftet. Die Treppe knarzte, und die Schritte und Stimmen arbeitender Wächter drangen durch die verzogene Tür zu ihm vor.
Und er roch, gefühlt alles - das Holz, das Papier, die vertrocknete Erde der Topfpflanzen, seine Uniform, den Staub in den Regalen und den Ecken. Und natürlich den Ankh, der durch das Fenster hereinstank.
"Wie soll das erst werden, wenn ich tatsächlich mal als Wolf unterwegs bin?", murmelte er. Und dann stand er endlich auf und ging.
Auf dem Heimweg musste er sich mit noch einem neuen Problem auseinandersetzen: er stank. Er merkte dasss er schlecht roch, und dass seine Uniform auf Dauer seinen Geruch annehmen würde. Er brauchte neue Kleidung, und konnte ja sowieso nicht immer mit der Uniform herumlaufen.
Woher würde er neue Kleider bekommen?
Bei Essen wusste er sehr viele Orte, wo er jemanden kannte, der ihm etwas geben konnte, oder wo er etwas aus den Mülltonnen klauben konnte. Aber Kleidung? In seiner Größe? Die nicht aus dem Fundus des Boucherie Rouge stammte?
Mit leichtem Schrecken realisierte er, dass er Kleidung würde
kaufen müssen. Konnte er sich das leisten?
Also fing er an, daheim sein Geld zu zählen. Natürlich erst nach der Secabonum-Teilaustreibung, die diesmal noch weniger unangenehm und intensiv ausfiel. Der Geschmack des Schleimklumpens war diesmal fast eher salzig als Schmierölig.
Dann öffnete er seine Truhe daheim, eine der wenigen Einrichtungsgegenstände, die er getrost als teuer bezeichnen würde. Sie hatte eine sehr großes, schweres Schloss aus Metall und war mit langen Streifen aus Eisen beschlagen. Sie glänzte im Schein des Feuers. Sie allein hatte ihn schon drei Monatsgehälter gekostet - wie teuer wohl neue Kleider sein würden?
Er holte den Schlüssel hinter einem losen Ziegel des Kamins hervor(den er mit großer Vorsicht, einem Stück Holz und seinem Schwert herauszog, denn immerhin brannte das Feuer).
Das tat er meistens nur zu Beginn des Monats, wenn er sein Gehalt ungeöffnet im Briefumschlag in der Kiste deponierte, oder bei den seltenen Momenten in denen er tatsächlich Geld brauchte um für etwas zu bezahlen.
Er zögerte etwas, bevor er die Stofffetzen vor den Fenstern (in Ermängelung von Vorhängen) zurechtzog und seine Tür mit einem Keil von innen blockierte. Und dann begann er, die Umschläge herauszuholen, und das darin befindliche Geld zu zählen. Es roch merkwürdig, ganz anders als das Papier seiner Aufzeichnungen. Irgendwie modrig, aber nach höherqualitativer Tinte.
Bei achthundert hörte er auf zu zählen und fing noch einmal an. Und dann noch einmal.
"Verdammt noch eins", entfuhr es ihm, als er das vierte mal nachzählte und auf eintausenddreihundert kam.
Er. Hatte. Geld.
Und zwar viel Geld.
Zu viel Geld!
Ich kann das unmöglich alles hier behalten! Ich muss es irgendwo an einem sicheren Ort verstauen!Er dachte darüber nach, es der Bank von Ankh-Morpork anzuvertrauen.
Er entschied sich dagegen - seine Mutter hatte ihn mehrmals davor gewarnt.
Aber was dann tun? Was
taten Leute mir Geld? Sie kauften Dinge, oder sie sparten es. Er war jetzt an einem Punkt, wo das sparen nicht mehr viel Sinn machte, also musste er es wohl ausgeben. Aber wofür? Was kaufte man mit eintausenddreihundert Dollar?
Sein Blick fiel auf den zerstörten Tisch.
Ein Tisch, ja. Aber was noch?
Er betrachtete die Decke. Und die hohlen Fenster. Das alte, bröckelige Mauerwerk. Der aus festgetretenem Lehm bestehende Boden. Das "Bett". Und er spürte den kalten Luftzug, und die drohende Angst in den Schatten seines ungesicherten Heims.
Ein Haus?
Konnte er sich ein Haus kaufen von tausenddreihundert Dollar?
Bedächtig räumte Jargon das Geld wieder in seine Kiste zurück, verschloss sie gut und legte sich unruhig ins Bett. Den Schlüssel behielt er in seiner Hosentasche, das mit dem Ziegel war ihm gerade zu umständlich.
Wenn er das gewusst hätte! Tausenddreihundert Dollar!
Nur gut, dass er in einer Brandruine wohnte, wo man so einen Reichtum nicht vermutete. Sonst würde er sich jetzt noch unwohler fühlen, als ohnehin schon.
Er lag lange einfach da, während das Licht mit dem langsam verlöschenden Feuer im Kamin immer schwächer wurde. Die Kälte der Winternacht drang ins Haus, und der Wind zupfte an seinen improvisierten Vorhängen.
Jargon genoss die Stille in seinem Kopf
[9], und dass ihn die Kälte tatsächlich erreichte. Er roch die Nacht, und dass es schneien würde. Und er wusste, dass in drei Tagen Vollmond sein würde. Hoffentlich konnte er mit Nyrias Hilfe eine kontrollierte Verwandlung durchführen, und hoffentlich war der Geist seines Vaters dann zu schwach, um ihn zu beeinflussen.
Er spürte, wie sich der Schlaf in seinen Geist vortastete, und er erhob sich vom Bett, um für die Nacht ein letztes Mal Feuerholz nachzulegen. Als er dem Feuer zugewandt, mit dem Rücken zur Tür stand, knallte es, der Türkeil prallte klappernd gegen eine Wand. Es zog ein kräftiger Windstoß ins Haus. Er brachte den Geruch alter, stinkender Asche mit sich. Verbranntes Fleisch, und Fell.
"Hallo Jargon."
Dieser erkannte die Stimme sofort und drehte sich langsam um. Alle Details der Erlebnisse auf Secabonums Schloss waren ihm klar und deutlich ins Gedächtnis eingebrannt.
Es war Theo. Sein- Bruder? Halbbruder? -der ihn auf dem Schloss in Empfang genommen hatte, ja, fast schon freundlich gewirkt hatte. Ein freundlicher, junger Mann, viel jünger als Jargon, gutaussehend und gut gekleidet. Das war er zumindest, als Jargon ihn das erste Mal getroffen hatte. Jetzt war sein Gesicht zu vollständiger Unkenntlichkeit verbrannt, geschwollen, eitrig. Er trug die schwarze Uniform, die löchrig und zerfleddert war, aber durch eine Laune des Schicksals trotzdem zusammenhielt. Die Dunkelheit verbarg den größten Schrecken des Anblicks, barg aber gleichzeitig das eiskalte Grauen der Ungewissheit. Er stand vor Jargon in der Eingangstür und hielt in der linken Hand eine Flasche, scheinbar Alkohol.
"Du bist mir gefolgt- du hast überlebt-", begann Jargon. Aber er fand keine weiteren Worte.
"Nein, Jargon. Ich bin tot. Aber mein Kopf lässt mich nicht schlafen." Theo tippte sich mit der Rechten gegen die Schläfe, seine Finger schwarz, klauenartig, wie die Zweige eines Astes im Lagerfeuer.
"Er ist in mir drin, hört Ihr?" Einen Moment lauschte er auf die innere Stimme in seinem Kopf. "Er will, dass ich Euch töte, Jargon."
"Er ist auch in mir drin, Theo. Er schreit mich an, aber ich weiß wie ich ihn verstummen lasse."
Theo nickte nachdenklich.
"Ich weiß, dass ich nur deswegen noch lebe", sagte er. "Wegen ihm. Weil er mich- weil ich sein Fleisch bin. Wenn er verstummt, sterbe ich."
Jargon, der noch immer wie erstarrt dastand, schüttelte sich und macht einen Schritt rückwärts, nach seinem Waffenhalter tastend.
"Theo- Mane ist tot. Was du hörst, ist nur sein Geist in deinem Blut. Ich kann dir helfen."
Theo schwieg.
"Du musst nur ein Glas mit Slazwasser nehmen, und-"
"Ihr wisst, dass ich nicht hier bin um mir von Euch helfen zu lassen. Ich bin hier, weil Ihr büßen müsst."
Ein verbrannter, klebriger Stiefel trat über Jargons Türschwelle.
"Ihr habt mich verbrannt, Jargon. Ich will, dass Ihr brennt."
Die Haustür schwang leise knarrend in ihren Angeln und wurde vom Wind zugeschlagen. Ohne den Mond zeigte die heruntergebrannten Glut nur undeutliche Umrisse.
"Verlass mein Haus", knurrte Jargon und griff nach dem neuen Kurzschwert, das er sich als Ersatz für sein altes aus dem Wachhaus geholt hatte.
"Du hast kein Silber bei dir", sagte Theo und machte eine merkwürdige Armbewegung. Irgendetwas in seiner Art hatte sich verändert - er redete anders, freier. Unbeholfener.
"Lass das!", entfuhr es Jargon, als er sah dass Theo ein Streichholz entzündete und auf die Flasche in seiner Linken zubewegte. In jener steckte ein Stofflappen - es war eine selbstgebaute Brandbombe. Bevor Jargon reagieren konnte, begann der Lappen zu brennen. Theo holte aus und verfehlte sein zur Seite hechtendes Ziel. Die Flasche zerbrach am gemauerten Kamin und versprühte brennden Alkohol im Innenraum von Jargons Haus. Die Unterseite des Daches fing sofort Feuer, ebenso die Staubschicht auf dem zerstörten Tisch und den senkrechten Grundpfeilern. Das Bettzeug und die Vorhänge begannen ebenfalls zu brennen.
Mit einem Wutschrei ließ Jargon die Klinge seines Kurzschwertes auf Theos Kopf zusausen. Dieser fing den Schlag mit beiden Armen ab. Die Schneide versenkte sich im verbrannten Fleisch und blieb im Knochen stecken. Theo riss seine Arme wild zur Seite und brüllte, und rupfte so das Schwert aus Jargons Händen. So aus dem Gleichgewicht gebracht stolperte dieser einen Schritt vorwärts. Das Schwert fiel klirrend zu Boden. Es wurde heiß, und immer heller im Schein des sich ausbreitenden Feuers, das sich vor allem am zusammengeflickten Dach rasend schnell ausbreitete.
Jargon, nach dem Schwert hechtend, nahm war, wie Theo schmerzhaft aufkeuchte und sich zusammenkrampfte. Er knurrte, kaum menschlich, äußerst gequält.
"Ich- wieso tut es so weh-", ächzte Theos verzerrte Stimme.
Jargon, kurz abgelenkt, fand die Schwertklinge und hob sie unvorsichtig vom Boden auf. Entfernt nahm er war, dass er sich wohl leicht daran verletzte, bevor er den Griff fest packte und sich zu Theo umwandte. Dieser befand sich in einem Zwischenstadium zwischen Mensch und Wolf, der Körper verzerrt und stark vorgebeugt, die Augen noch immer menschlich, flackernd das Feuer widerspiegelnd. Er gab knurrende, qualvolle Laute von sich und fiel auf die Knie.
Jargon war erstarrt, das Schwert in der Hand, den Lärm des sich ausbreitenden Feuers im Ohr. Und dann warf Theo ihm einen Blick zu, ganz kurz- ein Flehen? Und dann verwandelte er sich, als Jargon das Schwert hob, und sprang unbeholfen mit einem lauten, schmerzerfüllten Heulen gegen dessen Brust.
Im Sturz verdrehte Jargon seinen Körper und bekam den linken Arm zwischen Theos Maul und sein eigenes Gesicht, der rechte Arm war für einen kurzen Moment frei. Jargon stieß zu, die Spitze in Theos Hals versenkend, bevor er mit dem oberen Rücken schmerzhaft auf dem Boden aufprallte. Theo biss laut knurrend schrecklich fest in den linken Arm, die Zähne versenkten sich im Stoff und im Fleisch, und wie eine Zange zogen sich die Kiefernhälften immer weiter zu. Krallen zerrissen Uniformstoff und Haut. Nahezu geräuschlos sprühte dunkles Blut, als Jargon unbeholfen sein Schwert ruckartig losriss, panisch und schmerzerfüllt. Sein linker Arm, eingeklemmt, mit gewaltiger Kraft aus Theos Genick geschüttelt, knackte laut und verlor jede Empfindung. Ein kribbelndes, taubes Gefühl durckzuckte Rücken und Kopf. Jargon schrie auf und stach noch einmal zu, so fest er konnte, ungezielt. Das Schwert durchdrang erneut Fell, Haut, Muskeln und Sehnen, blieb laut knackend in Theos Wirbelsäule stecken. Irgendetwas war durchtrennt worden, denn der massige Körper, der eben noch rasend, knurrend wütete, erschlaffte, brach auf ihm zusammen. Noch mehr Blut sprühte, im lauten Rauschen und Knistern des Feuers nicht zu hören. Es war heiß, sprühte in Augen und Haare.
Schockiert, mit tauben Gliedern, lag Jargon da, zitternd und heftig atmend. Er spürte wie sein Bewusstsein zu schwinden drohte. Also schrie er, zuckte, versuchte durch pure Willenskraft mehr Adrenalin auszustoßen, und versuchte, sich unter dem Körper Theos herauszuwinden. Er schob und drückte mit seinen Beinen und seinem rechten Arm, den linken spürte er nicht. Mühsam gelang es ihm tatsächlich, sich freizuwinden, das leblose, organische Gewicht loszuwerden. Kurz lag er atmend da.
Mit einem lauten Rauschen, Poltern fiel zu seiner Rechten brennende Masse zu Boden, die Hitze nahm zu. Jargon stütze sich zitternd auf den rechten Arm, versuchte gar nicht erst, den linken zu benutzen. Scharfer, stechender Rauch brannte in den Augen, machte es qualvoll, sich visuell orientieren zu wollen. Dann die Realisation, dass das Haus nicht zu retten war. Alles brannte. Die Decke, die Stütztbalken, die Vorhangfetzen. Die Tischreste. Nur die Truhen waren noch unverbrannt, im Rauch kaum zu erkennen. Er kroch dorthin, einarmig, die Beine zuckend und ungehorsam. Das Feuer war laut, schreiend. Mehr Dachreste fielen zu Boden, verfehlten ihn nur knapp. Er packte den Griff der kleinen Truhe und versuchte, seine Beine unter sich zu bekommen.
Wenn sie verbrennt, bleibt nichts mehr von deinem Lebenswerk, dachte er. Er kam auf die Beine, zitternd, und ein langgezogenes Ächzen entfuhr ihm, als er versuchte, die Kiste zu ziehen. Sie war nicht schwer. Er stemmte die Füße in den Boden und zog. Laut krachend stürzte mehr Feuer herab. Ein durchdringendes Knarzen ertönte, die Wände knackten laut. Die Tür brannte noch nicht. Er betätigte die Klinke mit dem Kopf, trat sie auf, und zerrte seine Kiste nach draußen. Noch weiter, zehn Schirtte. Dann Schluss. Er fiel auf die Knie, das Herz rasend. Er warf einen Blick über die Schulter. Rauch. Rotes Licht, die Wände glühend. Das Dach nur noch zur Hälfte da, grell, brennend. Sein Geld war noch da drin. Würde die Kiste das Feuer überleben? Es war nicht abwegig. Sie stand abseits. Aber direkt unter der brennenden Teppichkonstruktion, dem Dachersatz.
Er strengte die Beine an, kam zum Stehen, schwankend. Schwach. Er sah an seinem linken Arm herab. Verfolgte die Blutspur zur Tür mit den brennenden
[10], tränenden Augen. Mehr Teile des Daches stürzten ein. Ein schmerzerfüllter Schrei ertönte von drinnen, wortlos, panisch. Kurz.
Kann ich ihn da drin sterben lassen?Seine rechte Hand zuckte.
Ihn leben lassen?Jargon war sich nicht sicher, ob Theo überhaupt noch lebte. Jetzt. Er ging auf sein brennendes Heim zu, trat in die offene Tür, sah zu Theos Körper, der zuckte, sich wand, die tierischen Gliedmaßen hilflos verdrehend. Jargons Schwert steckte noch immer in seinem Hals.
Er realisierte, dass Theo versuchte, es irgendwie zu entfernen, sich zu befreien. Er lag direkt neben brennender Dachmasse, hilflos röchelnd. Jargon machte einen Schritt auf ihn zu. Lautstark prasselte mehr Feuer herab, zischend, und begrub Theo unter sich. Jargon glaubte, kurz ein leises Winseln zu hören. Er wünschte sich, dass Theo jetzt gerade gestorben war. Dass sein Leid damit vorbei war. Schockiert stand er da, den brennenden Schutthaufen betrachtend. Seine Augen tränten, nicht nur vom Rauch, und er wimmerte leise. Dann drehte er sich um, packte seine große Kiste und zog an ihr. Sie war nicht ganz so leicht wie die kleine, aber er konnte sie bewegen. Das Dach knackte, mehr Feuer prasselte herab. Jargon zerrte weiter an der Kiste, keuchend. Er erreichte die offene Tür. Hustete. Zog noch ein paar wenige Meter weit. Vage nahm er wahr, dass hier Menschen waren, hörte Stimmen.
"Stadtwache", entfuhr es ihm hustend, als er gegen seine Kisten sackte, "holt Wächter."
Dann wurde er ohnmächtig
[11].
*Folgende Szene spielt nicht ganz ein halbes Jahr später - siehe dazu auch Rabbiate Rückkehr*Zwei Feldbetten in einem leeren Büro. Rabbe steht am Fenster und starrt hinaus. Ihr Bruder, Alexander, lümmelt auf einem der Betten, seine mit Silber beschlagene Axt steht hinter ihm an der Wand.
Es klopft. Rabbe sagt "Herein", und dreht sich dann um. Jargon kommt herein. Er wirkt angespannt. Alexander nickt ihm mit einem distanzierten Blick zu, erhebt sich vom knarzenden Bett und nimmt seine Axt zur Hand. Er setzt sich wieder aufs Bett und poliert das Silber mit einem Tuch und Spezialöl, das dort bereitliegt.
Rabbe schluckt. "Jargon."
Er macht einen langsamen Schritt in den Raum hinein und schließt die Tür hinter sich. Er überlegt, was er sagen soll.
"Du warst lange weg", sagt er dann.
Rabbe nickt. "Ja."
Jargon sieht zwischen ihr und Alexander hin und her. Er bleibt unbequem im Raum stehen. "Wo warst du?"
Rabbe stopft die Hände in die Taschen, schaut weg und atmet tief durch. Sie seufzt. Dann spannt sie sich deutlich sichtbar an.
"Und wo warst
du?", fragt sie kühl. Bevor er antworten kann, fährt sie fort: "
Ich habe dich nach Überwald verfolgt, schließlich sah es aus, als ob du entführt worden wärst. Ab-"
"Sah es aus?", unterbricht er sie. Sie beißt die Zähne zusammen. Dann spricht sie weiter.
"Ich habe gesehen wie man jemanden - dich, wie ich glaubte - in einem Sack in eine Kutsche geworfen hat. Ich dachte, man hätte dich entführt. Aber jetzt-" Sie schaut wütend, zweifelnd.
"Was?"
"Jetzt frage ich mich, ob das nicht ein cleverer Plan war, um dir die Ausrede zu verschaffen, falls der Plan deiner Familie fehlgeschlagen wäre."
"Meiner Familie."
"Ja!" Sie klingt furstriert, verständnislos. "Ich habe dich gesehen. Dich und deinen gottverdammten Vater! Wie er dir-"
"Mein Vater ist tot und ich bin froh darüber." Jargon versucht, ruhig und ausdruckslos zu klingen. Es gelingt ihm nicht ganz. Seine Stimme klingt brüchig, und er kann Tränen der Wut nicht zurückhalten. "Wie kannst du glauben-" Er hält inne. Sie auch.
"Nichts an dem, was in Überwald passiert ist- ich wollte nichts davon!" Er schreit das 'nichts'. "Ich wollte nicht, dass mein Vater sich mir zu erkennen gibt, ich wollte nicht der-" Er spuckt auf den Boden. "
Anführer irgendeiner Armee sein- Ich- wollte nie jemanden töten-"
Er kann nicht weiter sprechen. Mehr Tränen. Dann, leise, erstickt: "Glaubt du, ich bin froh darüber?" Er gestikuliert auf sich selbst, als wollte er sagen: 'Was ich jetzt bin?'
Die Stille liegt schwer im Raum, unterbrochen von Jargons leisen Schluchzen, das er nicht unterdrücken kann. Alexander erhebt sich, geht zur Tür. Er legt Jargon die Hand auf die Schulter und sagt: "Ich lass euch allein." Dann verlässt er das Zimmer.
Rabbe steht wortlos, erschüttert und verwirrt am Fenster.
"Ich weiß nicht,
was du gesehen hast." Er sucht nach Worten. "Mein Vater war ein Monster, in mehr als einer Hinsicht. Und alle anderen meiner Verwandten väterlicherseits-" Er zuckt hilflos mit den Schultern, blinzelt. "Ich- sie waren so- sinnlos. Geistlos."
Rabbe holt Luft. "Stop." Sie zögert kurz. "Ich... was- was ist mit dir passiert? Wie ist das alles zustande gekommen?" Sie tritt auf ihn zu, legt ihm hilflos einen Arm auf die Schulter.
Er murmelt, sehr leise, "Nicht anfassen, bitte."
Sie zuckt zurück.
Jargon holt tief Luft, wischt sich übers Gesicht. Dann setzt er sich auf den Boden, die Beine gekreuzt.
"Ich bin selber immer noch verwirrt. So wie es aussieht war ich der erste von vielen Söhnen, die mein Vater gezeugt hat. Mit unterschiedlichen Müttern."
Rabbe blickt fragend. Sie setzt sich auf eines der Feldbetten.
"Aber meine Mutter war kein Werwolf. Und deswegen war ich auch keiner - auch wenn die Anlage da war. Yennork heißt das."
Er fährt sich durch die Haare und übers Gesicht.
"Mein... Vater hatte komische Vorstellungen von Erziehung und Kindheit. Er ist praktisch Schuld an meinen Wutanfällen und... naja, dass ich so- so schlechte Kindheitsfreunde hatte."
Er lächelt ein wenig.
"Er war nicht zufrieden mit mir. Ich war ihm wohl zu friedliebend oder so." Er erinnert sich, schaudernd. "Er hat sein Blut in mich gepumpt und mich so zu einem-", er deutet die Anführungszeichen an, "'richtigen' Werwolf gemacht." Er schüttelt den Kopf. "Er hat mich provoziert, wollte, dass ich kämpfe. Hat mich seinem Gefolge als ihren Anführer vorgestellt."
Jargon lacht leise.
"Keine Ahnung was er in mir gesehen hat." Kurze Stille. "Ich musste... habe. Habe ihn getötet. Und sein Schloss angezündet."
Rabbe horcht auf, und sagt: "Was? Das stimmt nicht... Ich habe sein Schloss angezündet!"
Jargon lacht etwas lauter, erwidert: "So wie es aussieht, haben wir es beide angezündet. Ich habe zumindest viele Kerzenhalter umgeworfen und einen großen von der Decke gerissen."
Er verstummt.
"Hm", sagt sie. "Ich habe Teppiche mit Öl getränkt und sie angezündet." Sie blickt nachdenklich, leicht skeptisch.
"Gab ja genug davon", erwidert Jargon, der ihren Blick nicht bemerkt. "Auf jeden Fall ist es abgebrannt. Und das ist gut so."
"Ja", antwortet sie leise. Sie schaut auf ihre Hände. Die Stümpfe ihrer fehlenden Finger sind vollständig abgeheilt. Lange ist es leise im Zimmer. Man hört jemanden eilig durch den Flur laufen.
"Cero hat meine Schwester gefressen", sagt Rabbe dann. Sie schaut aus dem Fenster. "Ist schon ziemlich lange her. Aber ich habe nie vergessen, was genau passiert ist. Ich habe ihn nie vergessen. In der Nacht als man dich... geholt hat, habe ich ihn erkannt. Ich habe dann und dort versucht, ihn zu stoppen. Aber ich war zu schwach, zu unvorbereitet. Also bin ich euch gefolgt. Und habe ihn umgebracht. Das hat mich zwei Finger gekostet, aber was solls."
Jargon reibt sich übers Gesicht.
"Wir haben beide für die Dummheit meines Vaters bezahlt", murmelt er. "Wie unnötig. Wie sinnlos." Er zieht sitzt jetzt in der Hocke, seine Beine umschlungen und dicht an sich gezogen. Er will noch etwas sagen, aber es fällt ihm schwer. Er wimmert quasi, und hasst es. "Glaubst du mir?"
Rabbe denkt nach. Sie seufzt.
"Ja. Ja, ich denke schon. Aber es ändert nichts daran, dass es schwer ist, dieses Bild zuzuordnen. Ich hatte mich zwischen den Truppen eingeschlichen, als dein- als Secabonum dich vorführte und es... war ein verstörendes Bild."
Er muss lachen.
"Ich glaube dir", sagt sie, "aber ich weiß noch nicht... wie ich damit umgehen kann."
Leise, unbemerkt von ihr, weint Jargon leise, erleichtert, hinter seinen Beinen versteckt. Er schlucht kurz auf, es klingt fast wie ein erneutes Lachen.
"Ich auch nicht", sagt er dann.
Ende
[1] Jargon wusste, dass er sein Vater gewesen war. Jargon wusste auch, dass sein Vater ein wahnsinniger Psychopath und gewalttätiger Straftäter gewesen war. Er zog es vor, ihn als letzteren im Kopf zu behalten.
[2] Zum Beispiel über Herr Porentiefs Warzensammlung
[3] Professor Schelgb war der unglücklichste der drei Vorgänger gewesen - er wurde wegen "Überqualifikation" vom Erzkanzler persönlich nach Viericks versetzt. Ein tragisches Schicksal für einen Zauberer aus Ankh-Morpork.
[4] Eine Fähigkeit, die man für gewöhnlich im Teenageralter erlernt.
[5] Wir würden es wohl als heißes Schmierfett beschreiben
[6] Siehe
Gleiches Recht für Alle [7] Natürlich.
[7a] "Rasieren und Haare schneiden..."
[9] Draußen, in Ankh-Morpork, war es natürlich nie still.
[10] Also, metaphorisch brennenden.
[11] Glücklicherweise war sein Unterbewusstsein gut genug bei der Sache, sich mit aller Kraft an die Kiste mit dem Geld zu klammern.
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