Grimnir

Bisher haben 4 bewertet.Du hast schon bewertet!

von Korporal Jargon Schneidgut (SEALS)
Online seit 07. 09. 2018
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 21. 11. 2011 datiert
PDF-Version

 Außerdem kommen vor: Tussnelda von GrantickRea Dubiata

Eine unheimliche Gestalt wird in den dunklen Gassen der Stadt gesichtet - bisher kam noch niemand zu schaden, aber es ist offensichtlich, dass etwas dagegen getan werden muss. Oder etwa nicht? Ist es erlaubt unheimlich zu sein, auch wenn man niemandem schadet?

Diese Single spielt in der fernen Vergangenheit, im Asche des Jahres des prophezeihenden Frosches (2013)
Das heißt: Jargon ist noch ein eher ängstlicher, gerade erst in seine Verantwortungen hineinwachsender junger Mann im Körper eines 40-Jährigen Obergefreiten. Und, vor allem, kein Werwolf.



Dafür vergebene Note: 13

Mit einem leisen Ticken kroch der Uhrzeiger vor sich hin. Außer den gedämpften Geräuschen der Stadt ertönte nur das Kratzen, das ein Bleistift verursacht wenn er auf ein Blatt Papier angesetzt, zögerlich bewegt und dann wieder weggenommen wird. Bisher war noch nicht viel auf dem Blatt zu sehen, nur ein zögerlicher, fahrig gezogener Umriss. Es war noch nicht erkennbar, was daraus werden sollte. Wieder setzte Numo an - das Papier raschelte. Der Zeiger tickte. Wieder nahm der Zeichner den Stift weg und schüttelte den Kopf. Er kniff die Lippen zusammen. Schließlich entfuhr ihm ein frustrierter Seufzer, lustlos warf er den Stift auf das Zeichenbrett und stand auf. Die Stille, die zuvor in dem Zimmer geherrscht hatte wurde von der Geräuschkulisse eines Mannes unterbrochen, der seinem täglichen Feierabendritual nachging. Ein Stuhl kratzte über den Boden, eine Jacke raschelte, eine schwarze, fettige Haarsträhne wurde energisch zurückgestrichen und dann unter eine dunkelblauen Wollmütze geschoben. Schritte stapften über den knarzenden Holzboden, als Numo Strichfein im Zimmer herumging und die Kerzen ausblies. Mit jedem so gelöschten Licht wurde das Zimmer dunkler, die spärlichen Strahlen des Mondlichtes die durch das Fenster fielen heller. Mit einem sanften Ruck wurde der Fenstergriff gedreht, um den Wachsdampf nach draußen entfleuchen zu lassen. Kalte Nachtluft wehte herein, lies einige Blätter rascheln und veranlasste den schlaksigen Mann dazu, das Fenster schnell wieder zu schließen. Mit einem letzten Seufzer sah er noch einmal hinaus, lies seinen Blick über die Abendlichter der Stadt schweifen. Dann verließ er sein Atelier, schloss sorgfältig ab und stieg missmutig die knarrenden Stufen hinab. Er schlang seinen grünen Schal enger um den Hals, öffnete die Tür zur Straße und vergrub seine Hände in den Taschen seines beigefarbenen Mantels. Es war bereits Winter, Numo roch es in der Luft. Es gab Augenblicke wo der Gestank des Ankh schon beinahe von den Rauchgeschwadern der städtischen Kamine überdeckt wurde. Mit langsamen Schritten machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung, ein kleines Haus das in einer Seitengasse zur Gutschnellstraße lag. Numo war einer der wenigen Menschen in Ankh-Morpork die über genug Geld verfügten um sich sowohl ein eigenes Haus als auch ein Atelier zu leisten. Letzteres war natürlich nur gemietet, denn ein aufstrebender Künstler war kein aufstrebender Künstler, wenn er sich ein Atelier kaufen konnte. Außerdem wollten seine Eltern nicht für das Atelier aufkommen, und so musste er es aus eigener Tasche bezahlen, was für ihn schon teuer genug war.
Aber bestimmt würde es nicht mehr lange dauern, bis er seinen ersten großen Erfolg landete, da war sich Numo sicher, und dann war er kein aufstrebender Künstler mehr und würde sich ein eigenes Atelier kaufen können. In diesen Gedanken versunken betrat Numo eine der vielen Seitengasse hinter der Langen Mauer. Und nachdem er ein paar Schritte getan hatte, verharrte er.
Ein Schatten wanderte vor ihm an der Ziegelwand entlang, deutlich abgezeichnet gegen das Licht einer Straßenlaterne. Er war riesig. Von seinem Kopf ragten gewaltige Hörner. Bei jedem Schritt den er nahm klirrte es wie von einem Haufen Metall. Ein zähes, tiefes, dumpfes Keuchen ertönte. Dann blieb er stehen. Numo konnte eine im Mondlicht blinkende Schneide sehen, die in die Gasse ragte. Dann ertönte ein Geräusch wie von einem Blasebalg, der langsam aufgezogen wird. Eine Stimme, so finster und rau wie der Grund des Ankh erklang.
"Wer ist da?"
Numo antwortete nicht. Sein Gesicht war totenbleich, seine Haare standen praktisch. Seine Füße und Beine waren eiskalt. Er war erstarrt vor Furcht. Dann ertönte wieder das Klirren von Metall. Eine zwei Meter hohe, in Metall gehüllte Gestalt trat aus der Gasse und wandte den Kopf, sah Numo direkt ins Gesicht. Eine ungünstige Lichtspiegelung ließ das Scharnier des Helms, das mit dämonischen Augen verziert war, in einem schwefligen Gelb aufleuchten. Einen Moment lang starrte Numo auf den Helm, die Hörner die davon wegragten, den glatten, langen, roten Bart der darunter hervorlugte und in der Finsternis aussah wie ein Streifen abgezogener Haut. Die ungeheure Gestalt drehte ihren ganzen Körper, um ihn der Haltung des Kopfes anzugleichen. Dann registrierte Numo die Axt. Der Mund am Bart der Gestalt verzog sich zu einem Grinsen, die Zähne wirkten im Licht von Mond und Laterne gelblich und grässlich wie Knochen.
Numo rannte.
Im Zwielicht der Gasse blieb die monströse Gestalt einfach stehen. Dann, mit langsamen, getragenen Schritten stapfte sie in die gegenüberliegende Gasse und verschwand im Dunkel.

***


Der nächste Morgen brach für die Rekruten Tussnelda von Grantick und Rochus Wildgrube sehr unangenehm an- nachdem sie Frau Willichnicht um halb acht endlich losgeworden waren (man hatte gesagt "Unsere besten Leute werden sich darum kümmern") hatte sich der Eingangsbereich des Wachhauses nahezu aufgefüllt mit Leuten, die alle bleich und übernächtigt aussahen. Alle hatten das gleiche Anliegen.
"Er war riesig! So groß und breit wie ein Troll!", sprach eine rundliche Frau mit Blümchenhandtasche hysterisch. "Und wie er mich angesehen hat..."
"Ich dachte, gleich ist es aus mit mir!"
"Ich bin haarscharf dem Tod entronnen! Wie geht es nur mit unserer Stadt den Bach runter-"
"Ruhe jetzt!", entfuhr es Tussnelda, die das panische Geplapper nicht länger ertragen konnte. Mit zwei kurzen, stampfenden Schritten erklomm sie den Tresen. "Wenn ihr wollt dass wir uns um diesen... Mann kümmern, dann müsst ihr uns auch erstmal sagen was er verbrochen hat!" Ihr grauen Augen funkelten zornig. Wieso waren diese Leute nur so dumm, so selbstsüchtig? Und ihr Kollege machte es auch nicht besser. Mit dümmlichen Gesichtsausdruck saß er über ein Blatt Papier gebeugt und versuchte verzweifelt, alles aufzuschreiben was gesagt wurde.
"...deehn....Bach...runnter", murmelte Rochus und lies den Stift fahrig über das Papier kratzen.
"Du da!" Tussi zeigte auf einen wenigstens halbwegs intelligent aussehenden Mann, der weiter hinten stand und sich bisher noch nicht lautstark zu Wort gemeldet hatte.
"Wie heißt du?"
"Mein Name ist Numo Strichfein", sagte der junge Zeichner.
"Bist du auch wegen diesem.. Typen hier?"
Die dunkelblaue Wollmütze auf dem Kopf des Angesprochenen verrutschte ein wenig als er nickte.
"Was hat er gemacht?"
Numo überlegte kurz. "Also, eigentlich...", verlegen rückte er die Mütze zurecht, "er hat mich vor allem... also, ich habe mich von seiner Präsenz bedroht gefühlt."
Rochus hielt kurz inne. "Wie schreibt man Prä-säns?", fragte er. Tussi verdrehte die Augen.
"Mit z", meinte Numo in einem Versuch, hilfreich zu sein, wurde aber direkt wieder von der Rekrutin von Grantick angesprochen.
"Wie meinst du das, du hast dich bedroht gefühlt?"
An diesem Punkt ging das ganze Geplapper wieder los.
"Er war riesig, wie ein... wie ein großer Troll!"
"Er trug diese Maske, und, da waren diese Augen!"
"Die Axt! Die Axt war grässlich!"
"Sein Grinsen-"
"RUHE VERDAMMT NOCHMAL!", brüllte Tussi in einem Anflug von Cholerik und stampfte laut mit dem Fuß auf.
"grinnsen...", murmelte Rochus leise. Für einen Moment hörte man nur das Kratzen seines Stifts.
"Also", meldete sich Numo mehr oder weniger forsch zu Wort, "wie sie gerade deutlich gehört haben", er machte eine zusammenfassende Geste, indem er seinen Zeigefinger kreisend über der Menge bewegte, "hat sein Aussehen mir - oder eher uns- einen gewaltigen Schrecken eingejagt."
Das Gesicht der Rekrutin wurde nachdenklich, mit einer Spur gequälter Wissbegierde darin. "Aber was hat er getan?", fragte sie. "Inwiefern hat er gegen das Gesetz verstoßen?"
"Das weiß ich nicht genau", meinte der Zeichner daraufhin, "aber ich glaube bisher ist schon recht deutlich geworden, dass die Bürger wollen dass sich jemand darum kümmert."
Zustimmendes Gebrummel erklang, untermalt von Wildgrubes leisem "diee Bürger wolln...".
Ein wenig überfordert, trotz ihrer eigentlich schon längeren Erfahrung bei der Stadtwache, kratzte sich Tussnelda am Kopf. "Gut, wir... wir kümmern uns darum", meinte sie dann. Auch wenn ich nicht genau weiß, wie...

Mit zusammengezogenen Brauen hielt Rea den Tresenbericht, den sie zum Schichtwechsel um halb elf bekommen hatte, in der Hand. Ihre Augen huschten auf dem Blatt umher, filterten die wirklich wichtigen Informationen heraus. Dann legte die Abteilungsleiterin es mit nachdenklicher Miene auf den Schreibtisch zurück. Klingt vertrackt, dachte sie. Mit einer Hand kratzte sie sich am Hinterkopf und zupfte ein wenig an ihrem Dutt herum. So wie's aussieht wäre das eigentlich der perfekte Fall für unseren Rechtsexperten, wenn...
Sie las noch einmal die Beschreibungen des "Täters" durch.
...wenn er nicht so mental instabil wäre...
Ihr Blick glitt zu Nepomuck, der friedlich in der Ecke lag und schlief.
Irgendwie ist er ein bisschen wie ein Sumpfdrache... immer furchtsam, und wenn es ihm zu arg wird, explodiert er.
Sie kniff die Augen zusammen und riss sich mit einem Kopfschütteln aus ihren Gedanken. Energisch öffnete sie die Rohrpostklappe.
"Aaps! Sag dem Obergefreiten Schneidgut er soll sich in meinem Büro melden!", rief sie.
"Wie wäre es mit einem bittesch-", erklang es, als sie die Klappe wieder zuwarf.
Sie weckte Nepomuck behutsam, machte eine kleine Kanne Tee und wartete.
Nur wenige Minuten später, in denen sie eine besser lesbare Abschrift des Tresenberichtes machte, klopfte es an der Tür.
"Komm rein", sagte sie mit heiterer Stimme.
Ein neugierig dreinblickender Jargon öffnete die Bürotür. Man musste kein Püschologe sein um in seinen Augen auch Angst zu finden. Rea salutierte, wartete ab bis Schneidgut die Geste erwidert hatte und wies dann auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Der Obergefreite setzte sich, sein Blick wanderte über die Bürounterlagen und zu den Teetassen. Er merkte schon dass der Fall, den er zu kriegen vermutete, kein allzu gewöhnlicher war.
Die Hexe räusperte sich kurz, dann eröffnete sie das Gespräch auf eine eher ungewöhnliche Weise.
"Wie lange bist du jetzt schon bei uns, Obergefreiter?", fragte sie mit freundlicher Stimme.
"Ähm...", kurzes Stirnrunzeln, die schmutzig-grünen Augen huschten zum Boden, "etwa drei Jahre. Ein bisschen länger."
Sie nickte.
"Stimmt." Nachdenklich pustete sie in ihre Teetasse. "Mit dir in der Ausbildung waren?"
"Braggasch Goldwart und Sebulon Samaxsohn... und Menélaos Schmelz." Jargon schwieg kurz. "Und noch ein paar. Die sind aber schon wieder weg..."
"Stimmt", meinte Rea erneut, "Korporal Goldwart und Chief-Korporal Samaxsohn." Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Die explizite Erwähnung der mittlerweiligen Ränge seiner Mitrekruten ließ den kleinen Mann an seiner Unterlippe nagen. Seine Hände hatten die Sitzfläche des Stuhl umgriffen.
"Erstaunlich, nicht?"
Ein wenig beschämt nickte der Obergefreite. Sie sah ihn ernst an.
"Mir scheint du hältst dich ein wenig zurück, was den Diensteifer angeht... wirklich große Fälle hattest du bisher noch nicht."
Ihr Stirn lag in Falten. "Ich hätte hier einen für dich." Sie reichte ihm die Akte.
Immer noch auf seiner Unterlippe kauend las Jargon die Zusammenfassung des Tresenberichtes. Sie sah wie sich seine Augen schweifend bewegten, langsam schneller wurden. Sie sah, wie sie sich kurz weiteten. Sie sah die Angst.
"Mäm, ich-"
"Dieser Kerl", Rea zeigte mit dem Finger mehr oder weniger in die Richtung des Berichtes. Ein unbeteiligter Beobachter hätte auch denken können sie zeige auf ihn. "Versetzt unsere Bürger in Angst und Schrecken. Und einfach verhaften können wir ihn nicht - gegen welches uns bekannte Gesetz verstößt er schon? Bedrohung der Allgemeinheit? Erregung öffentlichen Ärgernisses?"
"Ähm-"
Sie winkte ab. "Ja, ich weiß. Aber damit beruhigen wir keine Bürger. Wenn er nach einer Nacht Gefängnis wieder rauskommt stehen die auf den Barrikaden- und ich will vermeiden dass am Ende jemand die Sache selbst in die Hand nimmt... und zu Schaden kommt." Ihre Augen schienen sich in seine zu Bohren. Widerspruch kam nicht in Frage.
"J- ja, ich- ich kümmere mich darum." Mit zitternden Knien erhob sich der Obergefreite, nahm den Bericht und die Fallakte, die Rea ihm dann noch in die Hand drückte und verließ das Büro. Seine Vorgesetzte sah ihm ernst, nachdenklich nach.
Eigentlich ist seine Angst wahrscheinlich nicht ganz unbegründet. Sie bemerkte die noch volle Teetasse, die auf der anderen Seite des Schreibtischs stand und seufzte. Aber wenn sich jemand aus gefährlichen Situationen herauszuhalten weiß ist es wohl Jargon...

Mit großen Augen las sich Jargon noch einmal durch den Bericht. Wo sollte er nur anfangen?
...sain Grinsen - Ruhe verdammt nochmal...
Mit einem frustrierten Brummen wandte er sich von dem Text ab und sah zu dem ihm gegenüberliegenden Bücherregal. Sein Blick wanderte über die Buchrücken, die er mittlerweile schon fast alle auswendig kannte.
Recht und Unrecht im Jahr der buckligen Kröte; Die Blauseuche und ihre Folgen im Recht; Tyrannen und Könige;
Alles vertraute Namen. Aber es schien nun wirklich nicht so, als würde sich in auch nur einem dieser Bücher ein Hinweis darauf finden, wie man gegen diese Art von öffentlicher Unruhestiftung dauerhaft vorgehen sollte. Mit einem Seufzer überflog er den Text ein weiteres mal.
...Numo strichfain...
Er stutzte. Der Name war ihm vorher nicht aufgefallen.
Nach kurzer Überlegung kam er zu dem Schluss, dass eine Zeugenvernehmung ein guter erster Schritt für diesen Fall wäre.
Routiniert kritzelte er den Namen mit einer weiteren Notiz auf ein neues Blatt, erhob sich und verließ mit einigem Nervenkitzel sein Büro.

Draußen stach die späte Wintersonne zwischen den Wolken hervor und blendete ihn für einen Moment. Nebel lag in der Luft, und ein kühler Wind blies ihm unter die Jacke. Fröstelnd setzte Numo einen Fuß vor den anderen. Diesmal nahm er den Weg durch die größeren Straßen der Stadt- zum ersten mal fühlte er sich inmitten der Menschenmenge sicherer als außerhalb. Er seufzte und rieb sich die Augen. Er hatte in dieser Nacht kein Auge mehr zugetan und mit dem Rücken zur Wand auf dem Bett gesessen. Normalerweise hätte er sich nie so einschüchtern lassen, aber- der ganze Auftritt dieses Kerls hatte ihm doch schon einen gehörigen Schrecken eingejagt. Und nachts war ein solcher Schrecken noch viel stärker als Tagsüber.
An seinem Atelier angekommen kramte der Zeichner den Schlüssel heraus und öffnete die Tür.
Irgendetwas faszinierte ihn an der Gestalt, stellte er überrascht fest, als er sich hinsetzte und seine Gedanken schweifen ließ.
Wer war diese Person? War es eine Gestalt aus Fleisch und Blut? War es ein Geist? Ein Dämon in Menschengestalt?
Nach kurzen Zögern bewegte sich der Bleistift übers Papier und formte Linien, Kreise, Kanten, Schraffuren. Ein paar funkelnde Augen, gebogene Hörner. Ein glatt glänzender, langer Bart. Eine Axt.
Stumm blickte der Zeichner auf sein Werk. Er leckte sich über die Lippen und nahm den Bleistiftanspitzer zur Hand, während er nachdachte. Die Gestalt brauchte einen Namen, das war klar. Aber wie sollte er ihn nennen? Wer war es? Wie verhielt er sich?
Die Bleistiftreste wirbelten durch die Luft und schwebten zu Boden. Numo seufzte und überlegte.
Ein Barbar? Ein Held? Nein. Das war zu einfach, zu langweilig.
Ein Todesgeist? Nein. Dafür war er zu massig, zu physisch.
Wer war dieser... Mann? Wieder huschte diese Frage durch Numos Kopf. Er sah zum Fenster. Vielleicht konnte er auf der Straße etwas über ihn in Erfahrung bringen? Ganz offensichtlich war er ja nicht der Einzige gewesen, der ihn gesehen und gefürchtet hatte.

***


Paskal Nirgendwo, Lehrer im Teilzeiturlaub, saß nachdenklich am Frühstückstisch. Heute Nacht war etwas ganz außergewöhnliches passiert. Mit zitternder Hand schenkte er sich Tee ein und ließ seinen Messinglöffel darin kreisen. Aus dem Nebenzimmer ertönte ein Ächzen und ein Poltern. Ein wenig Tee ging daneben.
Ja, ganz außergewöhnlich, in der Tat. Paskal stellte die Teekanne ab, pustete in seine Tasse und verschüttete etwas davon, als sich die Tür des Nebenzimmer krachend auf den Boden legte.
"Oh! Das tut mir Leid!"
Langsam, mit immer noch zitternder Hand stellte der Lehrer seine Tasse ab. Sah auf, schluckte und meinte: "Das geht schon in Ordnung."
"Das hoffe ich auch."
"Keine Sorge."
Der zwei Meter große Mann besah sich die am Boden liegende Tür, dann nochmal Paskal und schließlich den gedeckten Tisch.
"Mmmhh", brummte er. Es klang zögerlich. "Mmmh, in der Ausschreibung stand Vollpension."
Paskal schluckte und nickte.
"In der Vorratskammer gibt es Brot und Käse."
Der Gesichtsausdruck des bärtigen Riesen blieb wie er war. Nach einigen Sekunden brummte er: "Klingt gut."
Dann ging er zur der Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift "Vorratskammer" hing und streckte langsam die Hand nach dem Türknauf aus. Seine Bewegungen wirkten, als wäre er von einer Schicht besonders dicker Luft umgeben, immer langsam, bedächtig und mit mehr Kraft ausgeführt als nötig. Der Türknauf knarrte, als er ihn umfasste und langsam herumdrehte.
Paskal musste wegsehen. Die Idee mit der Wohnungsausschreibung war wohl doch nicht die beste gewesen. Er hoffte, dass der riesige Mann bald eine eigene Wohnung finden würde.
"W...wie lange meinst du, wirst du hier wohnen bleiben?", fragte er mit zittriger Stimme.
"Mmmhh", brummte der Mann. "Mmmh, ich weiß nicht." Kurze Stille, dann raschelte es und die schweren Schritte des Bärtigen wurden wieder lauter, als er zurück in die Küche stapfte. Er balancierte das Brot und den Käse vorsichtig auf seiner Handfläche, auf der problemlos beides Platz fand. Dann hielt er inne. "Störe ich etwa?", fragte er und wandte den Blick zu Paskal. Der Lehrer fühlte, wie sich Schweiß in seinem Nacken sammelte.
"N-nicht doch, ich- wollte- wollte es nur wissen."
"Ah."
Grimnirs Zähne bahnten sich einen Weg durch seine Lippen und seinen Bart ans Tageslicht.
"Gut."

Numo öffnete die Tür und sah sich einem kleinen Mann gegenüber, der gerade die Hand zum Klopfen erhoben hatte.
Beide blinzelten irritiert.
"Ähm, Numo Strichfein?", fragte der kleine Bärtige dann.
"Ja?" Numo musterte seinen Gegenüber und bemerkte jetzt die Uniform, die durch eine viel zu große, von Flicken gemusterte Jacke großteils verdeckt wurde.
"Mein Name ist Jargon Schneidgut." Eine Dienstmarke blitzte auf. "Stadtwache."
"Oh." Numo strich sich eine seiner Haarsträhnen hinter das Ohr. "Worum geht es?"
"Sie sind einer der Zeugen im Fall des..." Jargon warf einen Blick auf ein Blatt Papier. "Mysteriösen Mannes, der mehrere Personen in Angst versetzt haben soll."
"Ja, ich habe ihn ebenfalls gesehen." Numo machte einen Schritt rückwärts und bedeutete dem kleinen Wächter, einzutreten.
"Besprechen wir das doch drinnen."
Dankbar trat der Obergefreite ein und nahm auf einem Stuhl platz. Der junge Zeichner war ihm sofort sympathisch. Er wirkte auf eine sehr angenehme Art intelligent - und irgendwie auch sehr harmlos. Jargon mochte das.
Numo goss Tee auf.
"Ich wäre ihnen verbunden, wenn sie mir beschreiben könnten, wie der Mann aussah." Jargon warf noch einen Blick auf das Protokoll vom Tresen und fand, dass es einige Details offen ließ. Er nahm einen Bleistift zur Hand und skizzierte grob, was Numo ihm berichtete.
"Nun, er war groß, sehr groß sogar. Größer als die meisten Trolle in der Gegend." Nachdenklich sah der junge Zeichner zu, wie der Wächter einen Umriss zeichnete. "In den Händen hielt er eine Axt, die annähernd seine Körpergröße erreicht. Seine Hände sind, in metallene Handschuhe gehüllt, am restlichen Körper trägt der Mann ähnliche Rüstungsteile. Zudem trägt er einen Helm, der die obere Kopfhälfte bedeckt." Jargon kritzelte an seiner Skizze.
Interessiert beugte Numo sich vor, besah sich das Bild und schluckte.
"Hmmm, vielleicht wäre es hilfreich, wenn ich ihnen meine eigne Skizze zeige."
Der Wächter sah auf. "Oh, sie haben schon eine?"
"Ja, ich... würde sie nur gerne behalten."
Auf das leise Rascheln von Papier folgt kurz Stille.
"Sehr.... detailreich", murmelte Jargon und schluckte. Er beobachtete das Bild lange.
"Kann... kann ich es zur Wache mitnehmen?" Numo hob als Antwort fragend eine Braue. "Ich möchte eine Kopie durch einen Ikonographiedämonen anfertigen lassen", fügte Jargon hinzu.
Der Zeichner beobachtete den kleinen Mann kurz, dann nickte er zögerlich.
"Wenn sie es unbedingt wollen... Aber bitte bringen sie es zurück."
"Vielen Dank, Herr Strichfein", sagte Jargon. Er legte seine eigene Skizze beiseite und holte ein neues, weißes Blatt aus einer Jackentasche.
"Was ich noch wissen möchte-" Er zog auch einen neuen Stift aus der selben Tasche. Numo beobachtete das mit einem amüsierten Lächeln.
"Wieso möchten sie, dass die Stadtwache diesen Mann untersucht?"
Das war die Frage, auf die sich Numo mental vorbereitet hatte. Das Dumme war nur, dass er keine Antwort hatte. Entsprechend zog sich eine leise Stille durch das Zimmer. Jargon nahm einen Schluck Tee und beobachtete seinen Gegenüber aufmerksam.
"Nun... er hat eine Art Ausstrahlung. Ich meine, sehen sie sich das Bild an."
Papier raschelte. Der Wächter sah sich die Zeichnung an und dann wieder zu Numo.
"Natürlich", sagte er dann. "Aber... auch wenn ich ihm ein... unheimliches Äußeres zugestehe - ist das für gewöhnlich kein Grund zur Anzeige. Denken sie an-" Jargon unterbrach sich, dachte kurz nach und setzte erneut an: "Viele Menschen würde auch Zombies und Trolle als... einschüchternd beschreiben. Ein unheimliches Äußeres macht noch keinen Straffall."
Das war Numo natürlich bewusst.
"Und doch ermitteln sie."
Der Zeichner lehnte sich zurück und wartete auf eine Erwiderung. Jargon war einen Moment lang baff. Er hatte nicht oft mit Klienten diesen Intelligenzgrades zu tun. Aber natürlich wusste er genau, warum er ermittelte.
"Nun, Herr Strichfein-"
"Sagen sie doch einfach Numo."
Jargon stockte kurz und ordnete Zunge und Gedanken.
"Äh, ja. Ja." Ein wenig verwirrt guckte er den Zeichner an. "Ich bin Jargon. Das wissen sie ja."
Numo nickte und wirkte merkwürdig amüsiert. Jargon war ein wenig verlegen und machte sich bewusst, dass er dem Zeugen gerade ein großes Zugeständnis machte. Er nahm den Faden wieder auf und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
"Also - Numo. Sie wissen, dass die Stadtwache, auch wenn man gerne Gegenteiliges behauptet, doch hauptsächlich für das Wohl der Bürger zuständig ist. Entsprechend versuchen wir, Beschwerden aufzugreifen, die von vielen als wichtig angesehen und der Stadtwache zugetragen werden. Und natürlich auch, das Wohlbefinden diesbezüglich wieder - herzustellen." Die Hände des Rechtsexperten untermalten das Gesagte mit vagen Gesten.
Numo nickte und grinste offen.
"Sie drücken sich sehr gewählt aus, Jargon."
Der Wächter antwortete mit einem leisen: "Ähm, danke", und räusperte sich.
"Um ehrlich zu sein", sprach der Zeichner dann weiter und setzte sich im Sessel auf, "interessiere ich mich persönlich für diesen Mann."
"Wieso das?" Jargon trank noch etwas Tee.
"Wie sie vielleicht wissen, bin ich beruflicher Zeichner." Numo legte die Fingerspitzen aneinander.
"Tatsächlich wusste ich das nicht. Aber es scheint logisch."
"Ja, nicht wahr? Naja. Jedenfalls stecke ich zur Zeit in einer Art... kreativem Tief. Ein Krea-tief, wenn sie so wollen." Beide mussten lachen. Jargon stellte mit Aufregung fest, dass er den jungen Mann mochte.
"Dieser Mann", einer den schlanken Finger Numos malte den Umriss der Gestalt in die Luft, "hat eine Faszination, der ich nachgehen möchte, etwas... Geheimnisvolles und doch Bedrohliches. Etwas, das ich gerne ergründen möchte."
Jargon lauschte fasziniert. Dann riss er sich zusammen.
"Das ist sehr... interessant, Numo. Ich fürchte aber, dass ich nicht mehr viel länger bleiben kann."
Der Rechtsexperte erhob sich, und Numo tat es ihm gleich.
"Das ist schade. Aber ich denke, viel länger sollte ich dich nicht vom arbeiten abhalten, nicht wahr?"
"Äh, ja." Dieser Mann duzt mich!, dachte Jargon erschreckt.
"Ja, da ha- hast du recht."
"Besuche mich mal in meinem Atelier", sagte Numo noch hastig und gab dem Wächter eine seiner Visitenkarten. Die erste von den vierhundert, die er vor Wochen hatte drucken lassen.
"Falls du etwas für meine Kunst übrig haben solltest, würde mich das freuen."
Jargon war baff und starrte auf die Karte.
"Ähm. Ja."
Er blickte auf, dann wieder zur Karte und räusperte sich.
"Dann, äh, guten Tag, Numo."
"Guten Tag, Jargon."

***


Eine finstere Kneipe. Graue Rauchschwaden von der Konsistenz von Baumwolle hingen unter der vom Ruß schwarzen Decke.
Ein Tisch. Ein Mann. Zwei kalte, eisfarbene Augen und ein Kopf wie ein Viereck.
"...und der Kerl war so groß wie ein Troll! Wie ein großer Troll, heißt es!"
Ein Nicken, mit hebenden Augenbrauen. Der Mund verzog sich kein bisschen. Portz Brauninger war immer ein stummer Lauscher, was Tratsch anging. Seiner Meinung nach wusste man nie, was man an interessanten Informationen aufsammeln konnte.
Portz kannte keine Angst. Nein, wirklich. Er weiß einfach nicht mehr, was es ist. Vor einigen Jahren hatte er einen Unfall, in den ein Karren voller Holzlatten, zwei Schweine und eine Bananenschale involviert waren. Der Schaden, den sein Kopf dadurch erlitten hatte, äußerte sich durch einen eklatanten Mangel an Emotionen bestimmter Art. [1]Folglich zeigte er sich äußerst unbeeindruckt von der Geschichte, die ihm sein kleiner Bruder Tinu gerade erzählte.
"...seine Axt ist so hoch wie er selbst, und das Axtblatt sieht aus, als könnte es einen Ochsen mit einem Schlag spalten!" Die Augen des schwarzhaarigen jungen Mannes waren riesig, seine Hände untermalten seine Erzählung eindrucksvoll.
"So. Du hast ihn gesehen?"
Tinus Enthusiasmus verringerte sich ein wenig.
"Naja... ich nicht. Aber der da hinten behauptet, er hätte ihn gesehen." Der Daumen deutete auf einen angetrunkenen Kerl am anderen Ende der Bar.
"Soso."
Portz erhob sich und bewegte sich langsam auf den Trinker zu, der gerade sein fünftes Bier leerte. Die Nase des Mannes war gerötet, er trug noch immer den warmen Mantel, mit dem er die Bar betreten hatte.
"Du", sagte Portz.
"Ähm?" Der Angetrunkene drehte sich und schwankte dabei.
"Du hast den Kerl gesehen?" Portz' Stimme war wie ein großer Stein, der sich kontinuierlich hob und senkte, während er an einer Felswand schabte.
"W...war breit wie'n Scheunntor!" Der Trinker machte die Arme breit und fiel beinahe hin. "So'n Riese-", eine weitere Geste ähnlicher Art ließ den Mann an den Tresen prallen. "Jeder wär' schrein'd davongelauf'n!"
"Ich nicht", sagte Portz.
"Glaub ich nich'!" Der rotnasige Mann beugte sich schwankend vor und stütze sich mit einer Hand auf Portz' Schulter.
"Das mussu beweis'n." Ein Zeigefinger wedelte auffordernd unter der Nase des emotionslosen Mannes, der natürlich unbeeindruckt blieb.
"Mein Bruder kennt keine Angst!", protzte Tinu.
"Das stimmt", krächzte der große Bruder. Jetzt hatten die Beiden die Aufmerksamkeit der ganzen Taverne.
"Ach ja?", rief ein kleiner, stämmiger Mann von einem Tisch nicht weit entfernt. "Dann beweis' es!"
"Ja!", rief ein Matrose im gestreiften Hemd, der am Tresen lehnte und ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern war. Weitere Zustimmungen wurden von allen Seiten gegrölt, gerufen und gebrüllt. Der Trinker vom Tresen schien die Szenerie zu mögen. Tinu mochte sie weniger. Im Gegensatz zu seinem großen Bruder kannte er Furcht, und er wollte eigentlich nicht, dass Portz in eine gefährliche Lage kam. Bisher hatte sich jeder von dessen gefühlloser Art abschrecken lassen, aber dieser mysteriöse Riese schien ein anderes Kaliber zu sein. Tinu bereute es, so großmäulig gewesen zu sein. Aber es war zu spät.
"Ich wette, du traust dich nich'... ihn zu provozier'n!", dröhnte der Matrose von vorher lautstark.
"Ich traue mich", antwortete Portz mechanisch.
"Aber bestimmt traust du dich nich'... dich mit ihm zu prügl'n!"
"Ich traue mich."
Das verwirrte den Matrosen. Er kannte Portz nicht.
"Äh, du bis' wohl 'n ganz Harter, oder?" Der Seemann hob die Fäuste.
"Ich kenne keine Angst."
"Woll'n wa mal seh'n!"
Eine typische Kneipenschlägerei entbrannte, als Portz den Matrosen nach kurzem Schlagabtausch auf die Bretter schickte. Während er seinem Bruder den Rücken deckte, dachte Tinu wehmütig daran, wie schön es wäre, eine normale Verwandtschaft zu haben.

***


Es war schon nach sieben Uhr abends, als Jargon endlich das Buch zuklappte, über dem er gebrütet hatte. Hoffnungslos, dachte er frustriert.
Er hatte einige Paragraphen gefunden, die Einschüchterndes Verhalten und Aussehen betrafen, aber die meisten davon bezogen sich entweder auf aktive Drohungen oder waren vor einiger Zeit vom Patrizier außer Kraft gesetzt worden. Übrig blieben nur Gesetze und Erlasse, die eine dauerhafte Festsetzung oder Verbannung unmöglich zuließen.
Jargon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grübelte. Der Patrizier musste einen guten Grund gehabt haben, die Gesetzeslage so festzulegen. Natürlich. Man konnte einen Bürger nicht aufgrund seines Aussehens allein einsperren lassen. Wichtig war, was man tat. Aber was tat dieser monströs gerüstete Mann denn? Wo kam er her? Warum war er gerüstet wie er war?
Bevor ich irgendeine Art von rechtlichen Ansatz finde, muss ich herausfinden, wer er ist und was er tut.
Mit einem Seufzen blickte der Rechtsexperte zur Uhr und auf seinen Bücherstapel, der sich auf seinem Schreibtisch gebildet hatte.
Ich muss Nachforschungen anstellen.

Die Nacht war klar und kalt und irgendwie merkwürdig still. Es schienen weniger Menschen unterwegs zu sein als üblich.
Es war kurz nach elf Uhr. Jargon hatte ein wenig geschlafen, bevor ihn die Unruhe aus dem Bett getrieben hatte. Mit äußerster Vorsicht und extrem geschärften Sinnen schlich sich der kleine Mann durch Gassen und Straßen, wich verdächtigen Schatten und Laternen gleichermaßen aus und hielt sich durch Bewegung warm.
Was mache ich eigentlich hier draußen?, fragte sich Jargon im Stillen und bereute es ein weiteres Mal, sein Bett verlassen zu haben. Die Wahrscheinlichkeit, dem riesenhaften Mann über den Weg zu laufen war ja wohl ziemlich gering. Trotzdem hatte ihn das Pflichtgefühl aus den Federn getrieben, und bisher war es noch stark genug, ihn auf den Beinen zu halten.
Plötzlich bemerkte er, wie eine schmale Gestalt auf der Straße entlangging, von der die Gasse abzweigte, in der er gerade stand. Im Schein einer Laterne erkannte Jargon, dass es Numo war.
Der junge Mann war in seinen Mantel gehüllt und trug außerdem einen Schal und eine Mütze. Er hatte den typischen Ankh-Morporkianischen Gang gemeistert, der Vorsicht und Hast verband. Jargon fragte sich, was er wohl so spät noch draußen trieb und folgte ihm vorsichtig im Schatten. Nachdem er dem Zeichner einige Zeit gefolgt war, merkte Jargon, dass Nebel aufzog. Ziemlich schnell sogar. Tatsächlich zog der Nebel so schnell so dicht auf, dass Jargon den Sichtkontakt zu Numo verlor.
Hastig eilte der kleine Mann in die Richtung, wo er Numo zuletzt gesehen hatte, bleib aber vorsichtig. Tatsächlich stand der junge Mann immer noch da, wie Jargon bald erkannte. Numo hatte ihn noch nicht bemerkt und wirkte vom Nebel ebenso überrascht wie der Wächter. Vorsichtig bewegte sich der Künstler auf die nächste Wand zu und tastete sich weiter daran entlang. Der Nebel war so dicht, dass man kaum zwei Meter weit schauen konnte - an sich nicht sehr ungewöhnlich für Ankh-Morpork, vor allem in der Nähe des Ankh, aber so plötzlich zog der Nebel sonst nur in der Nähe der Unsichtbaren Universität auf. Jargon hörte Numo fluchen.
Wie nehme ich jetzt am besten Kontakt zu ihm auf?, dachte Schneidgut in einem Anflug von Schüchternheit, als ganz in der Nähe Rufe erklangen.
"Portz? Wo bist du?" Die Stimme klang jungendlich. "Verdammter Nebel."
Numo bewegte sich in Richtung des Sprechers, dicht gefolgt von Jargon, und prallte ziemlich überrascht mit einem Mann zusammen, der eben aus einer durch den Nebel verborgenen Seitengasse gerannt kam.
Die beiden landeten auf dem Boden.
"Entschuldigung", sagte Numo hastig, "ich habe sie wegen dem Nebel überhaupt nicht gesehen."
"Ja, verstehe ich, Mistnebel... äh..." Tinu half Numo auf, der sich unglücklich in seinem Schal verheddert hatte. "Haben sie zufällig einen großen, kahlköpfigen Mann gesehen, etwas größer als ich, hat eine Nase die meiner ähnelt?"
"Äh... nein, bedaure." Numo musterte den etwa drei Jahre jüngeren Mann vor sich. "Wenn es dringend ist, könnte ich ihnen gern beim Suchen helfen..."
"Wer wird gesucht?", fragte Jargon und trat aus dem Nebel. Oder eher, in Sichtweite.
"Oh! Guten Abend, Jargon!", rief Numo erschrocken, aber auch erleichtert aus. Tinu guckte nur etwas misstrauisch drein.
"Ich suche meinen Bruder. Der dämliche Nebel hat uns getrennt", sagte er dann.
"Ich helfe gern", meinte Numo und warf Jargon einen Blick zu, der ihn aufforderte etwas ähnliches zu sagen.
"Mh, ja. Ich auch."
Tinu streckte die Hand aus. "Tinu Brauninger." Er schüttelte zuerst Numo, dann Jargon die Hand.
Die drei sahen sich im dichten Nebel etwas hilflos um.
"Wohin sollen wir gehen?"

Sie waren seit etwa einer halben Stunde durch den Nebel geirrt, als Jargon plötzlich entfernte Stimmen vernahm. Es klang nach Streit. Der Instinkt sagte Bleib weg!, der Wächter in ihm drängte ihn, einzugreifen.
"Hört ihr das auch?", fragte Numo dann und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimmen zu hören waren.
"Ja. Wir sollten uns das ansehen", sagte Tinu ohne zu zögern. Jargon nickte schlicht zustimmend und griff mehr oder weniger instinktiv nach seinem Kurzschwert.
"Das klingt nach meinem Bruder", sagte Tinu als sie näherkamen. Er wurde schneller, und Jargon und Numo beschleunigten ihre Schritte ebenfalls.
"...habe keine Angst vor dir und werde auch nicht zögern, dich anzugreifen", schnappten sie auf, bevor sich der Nebel lichtete.
Vor ihnen standen Portz und der gewaltige Mann mit seiner Axt. Portz wirkte im Vergleich zu dem Mann in der Rüstung wie eine etwas zu klein geratene Kleiderpuppe.
"Hmmmm- das will ich gar nicht bezweifeln", dröhnte die Bassstimme des Gerüsteten. Sein Atem schoss wie aus einem Blasebalg aus seiner Brust und verwehte die Nebelschwaden.
Jargon wurde sehr plötzlich bewusst, wieso so viele Bürger ihre Furcht vor dem Rüstungsträger bekundet hatten. Er hatte Numos Skizze gesehen, aber sie wurde der leibhaftigen Gestalt nicht gerecht. Der Mann ragte knapp zweieinhalb Meter hoch, komplett in im Mondlicht schimmerndes Metall gehüllt. Runen und Edelsteine schmückten die Panzerplatten und hatten einen bedrohlich bedeutsamen Glanz an sich. Der Helm und seine Maske verhüllten das Gesicht bis auf den Mund, der ein breits Grinsen zeigte. Die bleichen Zähne wirkten unverhältnismäßig groß, ebenso wie die Hände des Mannes, die seine Axt umgriffen.
Jargon vermutete, dass seine eigenen Hände etwa dreimal auf die Handfläche des Mannes passen würden.
"Das ist auch besser so!"
Portz hatte sein Schwert gezogen und schien kampfbereit.
"Ich will mit dir kämpfen!"
Jargons Nackenhaare stellten sich auf. Tinu war bleich und wirkte furchtbar unentschlossen. Numo blickte zwischen Jargon und Portz hin und her.
"Ist das dein Bruder?", fragte Jargon.
"Ja." Der jüngere Brauninger war bleich.
Der Blasebalg-Atem zog noch einmal durch die Gasse.
"Ich möchte nicht mit dir kämpfen", brummte es.
Portz wirkte einen Moment lang fassungslos.
"Wie ist dein Name?", fragte er dann.
"Oh nein", murmelte Tinu.
"Was ist los?" Numo, mittlerweile ebenfalls erbleicht, sah besorgt zu seinem jüngeren Begleiter.
"Portz fragt diejenigen, die ihn beleidigen, immer nach ihrem Namen. Und dann fordert er sie zu einem formellen Duell heraus."
"Ein formelles Duell?"
"Ach, wirklich?", fragte Jargon interessiert. "Mit Adjudant und Degen?"
Tinu sah ihn schief an.
"Nein... das heißt, wer sich nicht wehrt, wird kaltgemacht."
"Oh." Jargon guckte enttäuscht. "Ich schätze, es gelten in gewissen Kreisen andere Gesetze."
"Ja..."
"Ich", schnaufte es laut in die Gasse. "bin Grimnir."
Portz war kurz still. "....und weiter?"
Der bärtige Riese schnaufte.
"Nur Grimnir. Das ist mein Name."
Numo kritzelte auf einen Block. "Interessant", murmelte er.
Tinu wirkte verunsichert und machte Anstalten, zu seinem Bruder zu gehen. Selbiger knurrte unzufrieden.
"Ich brauche aber einen Nachnamen... wie soll ich jemanden ohne Nachnamen zu einem Duell herausfordern?"
Die Schwertspitze des Furchtlosen summte in der Luft hin und her. Grimnirs Augen folgten der Klinge, sein Mund war noch immer zu einem merkwürdigen Grinsen verzogen.
"Dann fordere mich nicht heraus", brummte die Bassstimme. "Es bringt keinen Gewinn für dich."
"Hast du etwa Angst?!", brüllte Portz und ging zwei Schritte auf den riesigen Mann zu, der sich nicht von der Stelle rührte.
"Portz-", sagte Tinu ängstlich und streckte die Hand nach dem Arm seines Bruders aus.
"Du bist ein verfluchter Feigling! Kämpfe mit mir!"
Portz holte aus. Jargon und Numo hielten die Luft an. Tinu brüllte: "Portz, HALT!"
Als das Schwert in Richtung von Grimnirs Oberschenkel herabsauste, glomm eine Rune, die auf einem Schulterpanzer eingekerbt war, rot auf.
Es brummte leise. Portz blickte erstaunt auf sein Schwert. Die Klinge hatte sich aufgelöst. Alles, was von dem Stahl übrig geblieben war, rieselte auf den Boden.
Jargon starrte entsetzt auf die ehemalige Waffe, während das rote Leuchten langsam wieder schwand.
"Faszinierend", hauchte Numo neben ihm.
"Ich möchte nicht mit dir kämpfen", sagte Grimnir noch einmal. Portz warf zornig seinen Schwertgriff auf den Boden und hob die Fäuste.
"Du machst mir keine Angst! Ich kenne keine Angst!"
Diesmal ging Grimnir einen Schritt zurück, als Portz zuschlug. Die Faust des Mannes prallte sacht gegen die Brustplatte seines Gegenübers, der genau so weit zurückgegangen war, dass der Schlag keinen Schaden verursachen würde.
"JETZT KOMM HER UND KÄMPFE MIT MIR!", brüllte der wütende Brauninger.
"Ich werde nicht mit dir kämpfen." Grimnir ging noch einen Schritt zurück. Eine weitere Rune glomm rot, diesmal befand sie sich unter dem linken Auge der Schädelmaske. Ein merkwürdiges Zischen ertönte und der Nebel schien urplötzlich noch viel dichter zu werden. Mit metallenem Klirren ging Grimnir wieder einen Schritt zurück und wurde von den Schwaden verschluckt.
"BLEIB HIER!" Portz wollte dem gewaltigen Mann folgen, aber Tinu hielt ihn am Arm fest.
"Bleib hier, Portz! Ich bin dir eben schon hinterhergerannt!"
Schwer atmend blieb der kantköpfige Mann stehen. "Dieser Feigling!", rief er verächtlich, sein Gesicht blutrot vor Zorn.
"Ich... ich möchte gerne nach Hause", murmelte Tinu, der seinen Bruder noch immer festhielt.
Portz musterte ihn kurz und erkannte dessen bleiches, schweißüberströmtes Gesicht. Er schnaufte immer noch heftig, aber sein Zorn schien abzuebben.
Jargon erwachte langsam aus einer Art Schockzustand, und blickte zwischen den Brüdern hin und her.
Der Nebel um sie herum machte keine Anstalten sich zu lichten. Er hatte noch immer keine Ahnung, wo sie sich befanden - dabei kannte er die Stadt ziemlich gut.
"Was machen wir jetzt?", fragte Numo, an die Allgemeinheit gerichtet.
Es folgte ein stummer Moment, in dem sich die vier Menschen gegenseitig abschätzend musterten.
"Wie gut kennst du dich hier aus?", fragte Tinu zögerlich an Jargon gerichtet.
Der sah sich um.
"Normalerweise ganz gut... aber bei dem Nebel fällt es mir schwer, irgendetwas zu erkennen."
"Geht mir genauso", brummte Portz.
"Am besten suchen wir einen Platz, den wir alle kennen und gehen dann unserer Wege", schlug Numo vor.
Portz und Tinu guckten sich kurz an und nickten sich zu.
"Na gut", sagte Portz.

Während sie sich an Hauswänden hielten und versuchten, bekannte Markenzeichen zu finden, sprach Jargon Numo leise an.
"Was machst du denn noch hier draußen?"
Der größere Mensch zupfte unbehaglich an seinem vom Nebel durchweichten Schal herum.
"Ich konnte nicht schlafen... der Gedanke an diesen... Grimnir hat mich wachgehalten."
Jargon nickte und lächelte. "Mir ging es ziemlich genauso."
"Ach?" Der Künstler blickte kurz von der Wand auf den Wächter und zeigte ebenfalls ein sympathisches Lächeln.
Der Obergefreite wischte sich nebelnasses Haar aus dem Gesicht und nickte ernst.
"Ich wüsste einfach zu gern, was einen... was.... Grimnir... ist. Was ihn dazu gebracht hat, hierherzukommen und nachts durch die Stadt zu streifen." Er kratzte sich am Kinn. "Ich muss es wissen... es ist mein Job."
Numo nickte, leicht verwirrt, und sah wieder nach vorne, wo Portz und Tinu an der Ecke der Wand angekommen waren und auf sie warteten.
"Irgendeine Ahnung wo wir sind?", fragte Portz.
Numo murmelte etwas verneinendes, Jargon besah sich die Pflastersteine, die die festgetretene Erde der Gasse, die sie gerade verlassen hatten, ersetzte.
"Ich glaube, wir sind irgendwo zwischen dem Steinbruchweg und der Verlierenden Straße", vermutete er dann. "Die Steine sind hier rund und flach... aber etwas breiter als ich sie von der Kröselstraße kenne."
Die anderen starrten ihn an. Er schluckte.
"Äh... ich... gucke viel auf den Boden."
Tinu und Portz blickten sich an und zuckten mit den Schultern. Numo musste grinsen.
"Das heißt, wir könnten irgendwo zwischen dem Nilpferd und dem Viehmarkt sein", brummte Portz dann.
"Nicht sehr hilfreich", fügte Tinu hinzu.
Sie wateten weiter durch die Schwaden.
"Kann ich den Herren behilflich sein?", fragt plötzlich eine Stimme direkt hinter Jargon, der erschreckt aufschrie und um die eigene Achse wirbelte.
Die vier sahen sich einem sehr großen, dünnen, mit einem mittelgrauen Anzug bekleideten Mann gegenüberstehen. Er hatte ein breites Grinsen aufgesetzt.
"Wer bist du?", fragte Portz ohne Umschweife.
Die Gestalt verneigte sich und zog dabei ihren schlanken Hut.
"Ich bin Wali", sagte sie mit einem immer noch sehr breiten Grinsen. "Ich habe eure Stimmen im Nebel gehört und dachte, ihr benötigt vielleicht meine Hilfe."
"Wobei willst du uns helfen?", fragte Portz, der seinen Frust nicht verbarg und Wali spüren ließ, dass er ihn nicht leiden konnte.
"Oh... ich weiß nicht. Bei dem Finden eures Heimwegs vielleicht." Die schneeweißen Zähne des großen Mannes ergänzten sich gut mit seinem bleichen, feinen Gesicht.
"Ich traue dir nicht", sagte Portz ohne Umschweife. "Ich glaube, wir finden den Weg auch selbst."
Wali lachte. Es war kein entrüstetes oder ironisches Lachen. Es war ein einfaches, ehrliches, amüsiertes Lachen. Jargon glaubte zu spüren, wie es an seiner Wirbelsäule kribbelte.
"Viel Spaß!", rief er. Dann stakste er mit großen Schritten in den Nebel und war verschwunden.
"Das war... unheimlich", murmelte Numo.
"Tatsache", brummte Tinu und blickte zu seinem Bruder, der ziemlich gereizt wirkte.
"Ich glaube, wir müssen da lang", steuerte Jargon bei und ging vorsichtig in die Richtung, in der er die Kröselstraße vermutete. Er sehnte sich danach, aus diesem unglaublich dichten Nebel heruszukommen, an einen Ort den er kannte und der Sicherheit ausstrahlte. Das Wachhaus.
Die anderen drei sahen sich unsicher an, aber dann folgten sie ihm, bevor sie ihn aus den Augen verloren. Falls er sich verirrte, konnten sie ihm immer noch die Schuld geben.
Nachdem sie in paar Schritte gegangen waren, begannen die Glockentürme lautstark zu Schlagen. Es war zwölf Uhr. Jargon hielt inne, solange sich die Schallwellen durch die Nacht mahlten. Er hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet und behielt das Steinpflaster im Auge. Nachdem die letzten der Glocken verstummt waren, machte er vorsichtig weitee Schritte. Plötzlich spürte er, wie jemand nach seiner Hand griff.
"Wah! Was?!" Er fuhr erschrocken herum und erkannte gerade so Numos Umriss, der die Hand nach ihm ausstreckte. Der Nebel war offenbar noch dichter geworden.
"Wir nehmen uns an der Hand, damit wir uns nicht verlieren", sagte Numos Umriss.
"Das macht Sinn, schätze ich." Jargon nahm seine Hand und drehte sich wieder um. Es war praktisch unmöglich festzustellen, ob er in die gleiche Richtung sah wie zuvor. Er schluckte und sah wieder nach unten. Der Boden war in Dunkleheit und Nebel praktisch nicht zu erkennen.
"Verflixt", murmelte er.
"Was ist los?", hörte er Numos Stimme.
"Ja, was ist los?", fügte Tinu hinzu.
Portz sagte nichts.
"Ich kann nichts erkennen... Hat jemand Licht?"
Er konnte hören, wie die drei hinter ihm kollektiv mit einer Hand ihre Taschen abklopften[2].
"Hab nix."
"Ich auch nicht."
Portz schüttelte den Kopf, was niemand sehen oder hören konnte.
"Oh Mann." Jargon war bereits total vom Nebel durchnässt, er war sicher dass es den anderen nicht besser erging.
"Vielleicht sollten wir einfach zum nächsten Haus gehen und klopfen", schlug Numo vor.
"Oh, sicher", brummte Tinu. "Öffnest du auch jedem, der um Mitternacht bei dichtestem Nebel an deine Tür klopft und nach Licht fragt?"
"Guter Einwand."
Kurzes Rascheln.
"Ich habe ein Streichholz gefunden!", erklang Tinus Stimme.
Mehr undefinierbare Geräusche erklangen. Etwas fiel zu Boden.
"Es ist zu nass."
"Na toll", knurrte Portz. Seine Stimme klang noch wütender als sonst.
Plötzlich stach ein helles, warmes Licht in Jargons Augen. Wieder entfuhr ihm ein erschrockener Ausruf, er schirmte seine Augen ab.
"Ihr braucht Licht, wie?", fragte der heitere Wali vor ihnen. Er hatte eine Fackel in der Hand und teilte so den Nebel. Sein Grinsen war so beunruhigend authentisch wie zuvor.
"Ja!", knurrte Portz und stürmte nach vorne. Kurzerhand packte er den Griff der Fackel und versuchte, sie Wali zu entreißen. Es gelang ihm nicht. Der schlanke, grinsende Mann hielt sie felsenfest in der Hand und so sehr Portz daran ruckte, sie bewegte sich nur wenige Zentimeter.
"Nur langsam", spottete Wali, "wenn ich euch helfen soll braucht ihr es mir nur zu sagen."
"Wer bist du überhaupt?!", keuchte Portz, der mit beiden Händen an der Fackel zog.
"Das habe ich euch doch schon gesagt!" Wali lachte wieder. "Ich bin Wali. Ich kann euch gerne helfen, überhaupt kein Problem!"
Portz gab das Ziehen auf. Seine berechnenden Augen musterten den Anzugträger nochmals genau.
"Ich traue dir nicht."
Wali verdrehte die Augen. "Na und? Soll ich euch helfen oder nicht?"
"Portz, vielleicht-", setzte Tinu an, aber sein größerer Bruder ließ ihn nicht zu Ende reden.
"NEIN!", brüllte er. Er knurrte, beinahe wie ein Hund. "Ich hab genug von diesem Nebel, von dieser verfluchten Nacht und all diesen komischen Vögeln, die hier ohne Nachnamen rumlaufen!"
Er stapfte davon und bevor Tinu ihn aufhalten konnte, war er verschwunden.
"PORTZ! Warte auf mich!" Tinu hastete in die Richtung, in die der Ältere verschwunden war. Wali hielt ihn am Arm fest. Vom eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht fiel Tinu rückwärts und landete Knapp über dem Boden. Sein Sturz wurde nur durch den von Wali gehaltenen Arm gebremst, und das nicht besonders sanft.
"Was soll das?!", entrüstete sich Jargon und legte die Hand auf den Kurzschwertgriff.
Tinu entfuhr ein erschrockener Schmerzensschrei.
"An eurer Stelle würde ich im Licht bleiben", sagte Wali, noch immer lächelnd. "Sonst wird es bald sehr, sehr lustig."
"Portz!", rief Tinu. "Hilf mir! Er hält mich fest!"
Es kam keine Antwort aus dem Nebel.
"Portz! PORTZ!"
"Er ist wohl schon zu weit weg", sagte Numo leise, nicht sehr überzeugt von sich selbst.
"In der Tat", pflichtete Wali ihm bei. "Er ist ein harter Kerl, der kommt schon zurecht", fügte er hinzu und stellte Tinu auf die Beine, hielt ihn aber immer noch am Arm.
"Was ist hier los? Was hast du damit zu tun?" Jargon machte einen Schritt auf Wali zu. Der grinsende Mann war ihm alles andere als sympathisch. Wali stand breitbeinig da, die eine Hand an Tinus Arm, die andere hielt die hell leuchtende Fackel hoch. Seine schlanke Figur wirkte irgendwie so seltsam unwirklich. Der Anzug schien vom Nebel unberührt. Während das Wasser an Jargons Nase schon längst kondensierte und heruntertropfte war das Gesicht seines Gegenübers trocken und makellos.
"Dir das zu erklären wäre langweilig und würde ewig dauern", meinte Wali und seufzte. Er drückte Tinu die Fackel in die Hand und sah ihm in die Augen.
"Lass die ja nicht fallen!", sagte er mit einer unangenehmen Ernsthaftigkeit. Dann huschte er durch den Nebel und war verschwunden.
Tinu starrte kurz ins Leere, dann auf die Fackel, dann dahin wo Portz hinverschwunden war. Jargon und Numo rannten hinter ihm her, als er daraufhin losstürmte, die Fackel fest umklammert.
"Tinu!", rief Jargon außer Atem. "Warte! Wir haben keine Ahnung wo er hin ist!"
"Na eben!"
"Ich meine", fügte er hinzu, "vielleicht sollten wir bis morgen warten! Er wird sich bestimmt einfach melden!"
Tinu blieb stehen. Die Fackel in seiner Hand beleuchtete eine allen Wächtern wohlbekannte Tür.
"Das ist die Kröselstraße!", rief Jargon erleichtert. "Hier können wir unterkommen bis der Nebel besser wird!"
Tinu warf ihm einen zornigen Blick zu. "Ich werde nirgendwo unterkommen bis ich weiß, dass mein Bruder sicher ist!"
"Glaubst du, dass er wollen würde dass du hinter ihm herirrst?", mischte sich Numo ein. Seine langen, schwarzen Haare tropften.
"Das ist ihm vollkommen egal, er hat ja keine Angst um mich." Entgegen seiner Worte schien der Junge tatsächlich ins Zögern zu geraten. Er biss sich auf die Lippe. Sein Blick wischte zwischen der Wärme und Sicherheit versprechenden Tür und dem kalten, nassen Nebel hin und her.
"Du kannst ihn in dem Nebel nicht finden", sagte Jargon eindringlich. "Er weiß nicht, wo er hinläuft. Bleib hier."
Die Fackel zischte in der Feuchtigkeit. Ein unwirkliches Gefühl lag in der Luft. Eingeschlossen von grauen, undurchdringlichen Schwaden, mit nur der Tür des Wachhauses vor ihnen, standen die Drei da. Die Fackel warf einen goldenen Schein auf das alte, zerschabte Holz.
Dieser Nebel ist nicht natürlich, murmelte die leise, aber unendlich große Stimme der Angst. Es war, als würden einzelne Finger aus dem Nebel nach dem Licht greifen und versuchen, es zu ersticken.
"Na gut, das reicht!", knurrte Tinu. "Ich werde mich nicht davon abhalten lassen, meinen Bruder zu suchen!" Er machte einen Schritt auf die Nebelwand zu, die gehorsam vor der Fackel zurückwich.
"Lass uns wenigstens noch zwei Fackeln von drinnen holen!", flehte Jargon und griff nach der Türklinke. Etwas an dem Nebel brachte all seine Nackenhaare trotz des Kondenswassers zum stehen. Er wirkte, als würde er etwas unendlich großes verbergen, etwas, dass verborgen bleiben wollte und deshalb auf den Nebel zurückgriff. Und weil es so groß war, war der Nebel überall.
Trotz seiner Bitte ging Tinu los. Numo setzte an, ihm zu folgen und warf einen zögerlichen Blick auf Jargon.
Dem gefror das Blut in den Adern. Alles in ihm sträubte sich, die Türklinke des Wachhauses loszulassen. Er war wie festgefroren.
"Jargon", sagte Numo und ging weiter dem Jungen hinterher. Ihre Gestalten verschwammen im Nebel.
"Kommst du?"
"Numo- ich-" Jargons Stimme war leise, kalt, krächzend. Seine Hand wollte sich nicht vom Türgriff lösen. Seine Muskeln taten weh vom Krampf. Je weiter Tinu wegging, desto dunkler wurde es. Kälte und Dunkelheit schlossen sich um das Gesicht des Wächters. Wie eine Nasse Decke legte sich der Nebel auf seine Augen.
"Scheiße", fluchte Jargon. Die Angst war sehr, sehr groß. Doch er schaffte es, die Hand von der Türklinke zu lösen. Schnell rannte er in die Richtung, in die der Lichtkegel verschwunden war.
Er rannte einige Sekunden lang, bevor er realisierte, dass sie weg waren. Er sah nur finsteres Grau. Er hörte nichts, nur ein leises Rauschen und seine eigenen Schritte. Mit eisigen Händen griffen Kälte und Feuchtigkeit nach ihm und durchnässten alles, was er an sich trug. Wasser rann durch sein Gesicht, in seinen Nacken, in seine Stiefel und auch sonst überallhin wo es unangenehm war. Er fühlte sich, als würde er durch einen Teich laufen. Der Mangel an sichtbaren Dingen ließ ihn halluzinieren. Schon bald sah er verschwimmende Formen, spiralige, wabernde Strukturen, farbige und schwarze Punkte. Ein Wels schwamm an ihm vorbei. Seine Ohren spielten ihm ein blubberndes Geräusch vor, wie er es von Kochtöpfen kannte. Hier und da wuchsen Algen aus dem Boden. Muscheln und Krebse säumten den Boden.
Da packte ihn plötzlich eine sehr reale Hand am Arm, und er kniff die Augen zusammen.
"Was machst du denn?!", herrschte ihn eine kalte Stimme an. Sie klang verschwommen und seltsam, ganz anders als die akustischen Täuschungen die er bis eben wahrgenommen hatte. Er öffnete vorsichtig seine Augen und sah nach oben in Walis Gesicht. Der Mann wirkte noch blasser als zuvor. Er blutete aus einer Platzwunde neben dem Auge.
"Wieso bist du nicht bei dem Kerl, dem ich meine Fackel gegeben habe?", sagt er zornig.
"Er ist weggelaufen... ich war zu langsam...", sagte Jargon träge und versuchte, nicht in den Nebel zu schauen.
"Na toll... als hätte ich nicht schon genug zu tun..."
Wali bugsierte ihn durch die Straßen und brummte dabei vor sich hin.
"Es leben eine Million Leute in dieser Stadt, und nur ihr vier Idioten meint, draußen rumlaufen zu müssen. Sogar die Penner haben sich irgendwohin verzogen!"
"WALI!"
Eine gewaltige Stimme durchbrach die Stille des Nebels. Zwei klar umrissene rote Punkte stachen durch die graue Wand.
"Mist, nicht schon wieder-"
Wali stieß Jargon beiseite. Der kleine Mann stolperte unbeholfen, die Hände vor sich gestreckt in den Nebel hinein.
Etwas metallisches krachte mit großer Wucht auf Stein. Der Boden bebte kurz. Mit einem lauten Zischen zerriss der Nebel und ein kreisförmiger Windstoß legte eine Art Nebellichtung frei.
Jargon sah Grimnir, der seine Axt aus den Pflastersteinen riss und erneut ausholte. Wali stand ein paar Meter entfernt und schien sich auf einen Sprung vorzubereiten.
"BeschädigungvonstädtischenEigentum!", platzte es aus Jargon heraus. Sein Hirn war so verwirrt und verloren, dass es nach jeder Möglichkeit suchte, einen gewohnten Kurs einzuschlagen.
"Stadtwache, lassen sie die Axt fallen!"
Der Riese und der Schlanke starrten ihn an. Die Stadtwachemarke tropfte.
Ich muss sie später gut trockenreiben, damit sie nicht rostet, dachte der durchgeknallte Jargon.
"Was sie hier tun, verstößt gegen die Gesetze der Stadt Ankh-Morpork! Ich muss sie hiermit auffordern, sich mit mir zum nächsten Wachhaus zu begeben."
Er machte zwei Schritte auf die Beiden zu.
"Wie bitte?", flüsterte Grimnir leise. Er ließ die Axt sinken. Sein Kiefer mahlte, die Lippen zeigten verzogen Verunsicherung.
Auch Wali guckte belämmert drein.
"Ich muss sie beide bitten, mir zum nächsten Wachhaus zu folgen", wiederholte Jargon mit dünner Stimme den eingeübten Spruch. "Wenn sie Widerstand leisten, bin ich befugt... Gewalt..."
Haaalt!, schrie eine Stimme in Jargons Hirn. Zuvielzuvielzuvielzuviel!
"Äh", vollendete er den Satz.
Grimnir sah zu Wali.
"Entschuldigen sie, Herr Polizist", sagte er dann. Er klappte die Dämonenmaske mit den rot leuchtenden Augen hoch. Dahinter kamen zwei kleine, braune, ziemlich verwirrt dreinblickende Augen zum Vorschein.
"Ich versuche nur, diesem gemeinen Abgesandten der Hölle seine gerechte Strafe-"
"Ich?! Abgesandter der Hölle?! Du bist doch der Erzdämon aus dem dritten Ring!", entfuhr es Wali.
"Meine Herren, einer nach dem anderen bitte!", plapperte der zielstrebige Hirnteil Jargons weiter.
"Erzdämon?! Ich wurde jahrelang ausgebildet, um einem Teufel wie dir die Leviten zu lesen!", entrüstete sich Grimnir.
"Meine Herren, bitte!"
Wali und Grimnir starrten sich in die Augen.
"Herr Polizist", knurrte Wali, "dieser Fleischberg hier ist derjenige, den sie einsperren sollten. Ich bin nur hier, um zu verhindern dass er mehr von seiner Art herbeiruft."
"HA!" Grimnirs Lachen klang wie ein Kanonenschuss, in den sich ein Bär eingeschlichen hatte. "Du bist doch der, der das Ritual des Nebels hier vollzieht!"
"Von wegen! Ich habe sogar versucht, Leute wie unseren Polizisten hier in Sicherheit zu bringen!"
"Und das soll ich dir glauben?!"
"Meine Herren! Wenn sie nicht gleich aufhören zu streiten sehe ich mich gezwungen, Verstärkung zu rufen!"
"Herr Polizist", brummte Grimnir mit einer Stimme, die es irgendwie schaffte, respektvollen Ton mit Spott zu verbinden, "stimmt es etwa, dass dieser- dieses- der da ihnen geholfen hat?"
"Ja, aber das tut nichts zur Sache. Sie werden mir jetzt zum Wachhaus folgen, oder-"
Grimnir und Wali starrten sich an.
"Oder-"
Sie sahen zu Jargon.
"Äh-"
"So wies aussieht, sollten wir lieber zusammen arbeiten, als uns zu streiten", brummte der Riese und ließ so etwas wie Scham mitschwingen.
Wali sah ihn skeptisch an.
"Woher weiß ich, dass das nicht nur ein Trick von dir ist?"
Grimnir deutete auf ein Zeichen an seiner Rüstung.
"Diese Rune verbietet es mir, zu lügen. Kriegerehre."
Das entlockte dem schlanken Mann wenig mehr als ein Lachen. "Und was passiert wenn du lügst?"
"Dann verschwindet die Rune und ich bin für den Rest meines Lebens als Lügner gebrandmarkt."
"Soso. Und woher soll ich jetzt wissen, dass das stimmt?"
Grimnir lächelte. "Sie hat eine Sonderfunktion. Wen ich jemandem beweisen soll, dass das der Wahrheit entspricht, muss ich nur..." Er fummelte an seiner Maske herum und drückte auf eine der unzähligen Schriftzeichen. Die Rune, die er vorher aufgezeigt hatte, leuchtete blau und gab ein pulsierendes Geräusch von sich.
"Ähem", setzte Grimnir an. "Ich schwöre feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin!"
Die Rune knisterte, zischte laut und löste sich ploppend in Rauch auf. Auf der Rüstung war stattdessen nur noch ein schwacher, bläulicher Abdruck der Rune zu sehen.
"Grimnir", sagte Wali. "Du kannst hier noch so viel Rumploppen und -leuchten wie du willst, das beweißt überhaupt nichts. Schwör es einfach."
Damit fing er sich einen giftigen Blick ein.
"Einfach schwören? Ein Schwur ist ein ehrenvolles Gesetz! Nicht einfach eine Floskel!"
"Jaja, wieauchimmer", winkte Wali ab. "Mach einfach und ich glaube dir."
"Na gut", knurrte die Achttaktbenziner-Stimme Grimnirs. Mit einer großen Geste und viel Pathos hob er die Axt in Richtung Himmel. Ein Blitz schlug darin ein und badete die Szenerie in ein unheimliches, blaues Licht.
"Bei Io, dem Göttervater-"
Wali nickte. "Gut, das reicht."
Grimnir warf ihm einen tödlichen Blick zu und fuhr fort.
"Ich, Grimnir, Auserwählter des geheimen Stammes der Donnermönche-"
"Nein, wirklich, das reicht mir, du kannst-"
"SCHWÖRE HIERMIT, DASS ICH IN VIELEN LANGEN JAHREN-"
"Ich habs Verstanden!"
"LASS MICH ZU ENDE REDEN VERDAMMT NOCHMAL!"
Noch ein Blitz fuhr in die Axt herab. Schweißtropfen bildeten sich auf der Stirn des Riesen.
"Die Fähigkeiten erlangt habe, den Teufel Wali, der die Erde überquert und Chaos sät, zu erledigen. Und dies werde ich- Äh-"
Grimnir hielt inne.
"Also, eigentlich ist er wohl kein Teufel, und ich wollte mich mit ihm zusammentun um das Nebelmonster hier zu erledigen."
Seine mächtige Stimme hallte weit durch die Straßen der Stadt. Jargon hielt sich schon seit geraumer Zeit die Ohren zu.
Ein dritter Blitz fuhr in die Axt herab.
"Ja, mach das. Klingt gut", antwortete das Donnergrollen, das auf den Blitz folgte.
Dann schwand das blaue Licht. Grimnir atmete schwer, während der Nebel um sie herum wieder seine normale graue Farblosigkeit annahm.
Wali sah zum Himmel hoch.
"War das dein Papa, oder...?"
"Nein", antwortete Grimnir. "Das war der Hohepriester der Donnermönche. Er kann mit mir kommunizieren, wenn ich die Kraft der Axt nutze."
"Deine Axt kann also.. auf weite Entfernung sprechen?"
Grimnir nickte. "Das ist ihr Hauptverwendsungszweck."
Es herrschte Peinliche Stille™.
Grimnir und Wali sahen sich mehr oder weniger unschlüssig an. Dann, mit anschwellendem Grollen, meldete sich Grimnir zu Wort.
"Herr Wächter", tönte er und drehte sich sehr langsam um, die Axt in einer Hand haltend und das Visier seines Helmes verschließend.
"Du möchtest mich verhaften?"
Jargons Haare stellten sich auf, als ihn die dämonische Fratze anstarrte. Aber seine Hand hielt die Stadtwachemarke noch immer ausgestreckt, und es wäre inkonsequent, jetzt zu lügen.
"Äh, äh, äh, ich müsste, äh, zumindest eine Verwarnung und Schadenersatzforderung stellen - und, und- sie bitten mich zum Wachhaus zu begleiten."
Die ausgestreckte Hand begann langsam zu zittern. Jargon merkte plötzlich, dass ihm sehr, sehr kalt war. Nicht nur vor Angst.
Lange passierte nichts, außer dass sich das Zittern auf seinen ganzen Körper ausbreitete.
Dann grollte Grimnir: "In Ordnung."
Wieder passierte erstmal nichts. In Jargons Kopf herrschte Leere. Seine Lippen färbten sich blau und sein Sichtfeld verschwand hinter einem Vorhang aus grisselnden Lichtpunkten.
Dann virbrierte Grimnirs Bass erneut: "Aber ich möchte vorher, wenn möglich, bitteschön, mit Wali zusammen den hier aufgetauchten Nebeldämonen bezwingen."
Mit zitternden (Stimm-)Lippen hauchte Jargon "Na schön", bevor er in eine merkwürdig warme Ohnmacht fiel.

"Vergiss es, Tinu... lass uns zum Wachhaus zurückkehren...", sagte Numo mit klappernden Zähnen. Die Feuchtigkeit, die der Nebel mit sich brachte hatte ihn vollkommen durchnässt. Er fror entsprechend in der kalten Nacht, da halfen weder Schal noch Mütze.
"Jargon war klüger als w-wir...", murmelte er.
Sie irrten nun schon bestimmt seit einer halben Stunde durch die im Fackellicht kaum erkennbaren Gassen rund um das Schlachthausviertel. Von Portz keine Spur, ebensowenig wie von irgendwelchen anderen Einwohnern der Stadt.
"Er wird sich irgendwo einquartiert haben. Wahrscheinlich in irgendeinem Schlachthaus oder sowas."
Aber Tinu schüttelte nur den Kopf und lief weiter.
"Das ist nicht seine Art! Er ist zwar furchtlos, aber er hält sich an häusliche Regeln und manchmal auch ans Gesetz." Tinu sah sich eine Ecke einer Gasse genau an, entdeckte aber nichts besonderes. Er seufzte.
"Vielleicht sollten wir anfangen, die Bars in der Gegend abzuklappern...", meinte Numo. "Um diese Zeit haben die meisten noch offen."
"Hm", machte Tinu unschlüssig. "Unmöglich ist es nicht..."
Auch seine Klamotten hatten sich mit Wasser vollgesogen. Bei jedem Schritt, den die zwei machten, gab es ein Geräusch wie von einer überdimensionalen Schnecke beim Essen.
"Aber dazu müssen wir erstmal eine finden..." Das Licht der Fackel reichte nur wenige Meter weit. "Lass uns am Straßenrand entlanggehen."
An dieser Logik gab es nichts auszusetzen. In Ankh-Morpork konnte man problemlos eine Bar finden, sofern man sich lang genug vorwärtsbewegte.
Das gleiche galt allerdings für Probleme, Abfall, Bettler, unnötige Metallzäune, Markstände und so weiter.[3]
Nach kurzer Zeit erreichten sie eine Sackgasse.[4]
"Das ist eine interessante Fackel, die ihr da habt.", murmelte eine merkwürdige Stimme direkt hinter Numo.
"Äh", erwiderte der und drehte sich um. Er sah nichts als Nebel.
"Was ist los?" Tinu sah ihn irritiert an.
"Da hat grade jemand gesprochen." Numo guckte in den Nebel. "Aber er scheint jetzt weg zu sein."
"Ich bin immer noch da. Sieh genau hin..."
Numo kniff die Augen zusammen. Er meinte, zwei kleine rote Punkte im Nebel zu erkennen.
Zwei kleine rote Punkte im Nebel... das klingt irgendwie nach etwas, was man meiden sollte, meldete sich sein narrativer Verstand zu Wort.
"Wahrscheinlich", murmelte er.
"Komm doch noch etwas näher...", flüsterte die Stimme. Numo glaubte, etwas an ihm ziehe ihn vorwärts.
"Numo?", fragte sein menschlicher Begleiter. "Was machst du da?"
"Äh, nichts... ich muss nur..."
Tinu machte einen Schritt auf ihn zu. Das Fackellicht verscheuchte den Nebel und den Sog.
"Was machst du denn?!", fragte Numo wütend. "Ich hatte es fast- es war nur-"
"Was hattest du?"
Der Künstler zögerte und wunderte sich über sich selbst.
"Äh- ich weiß auch nicht genau... es schien sehr wichtig zu sein..."
"Numo", sagte Tinu und erschauderte. "Fang jetzt nicht mit komischem Mist an."
"Wieso denn nicht? Ist doch in dieser Stadt echt nichts ungewöhnliches." Vorsichtig bahnten sich die zwei entlang der Häusereihen ihren Weg durch die grauen Massen. Sie landeten, wieder, in einer Sackgasse.
"Schon", meinte Tinu leise, "aber das heißt nicht, dass er nicht komisch und- und- äh Mist ist."
Sie gingen entlang der Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Seite.
"Irgendwann muss es hier ja eine Seitenstraße geben", murmelte Tinu, merkwürdig fahrig. Er korrigierte den Griff um die Fackel mehrmals und leckte sich feuchten Nebel von der Oberlippe.
"Ich weiß nicht. Muss es?"
"Argh!", entfuhr es Numo, und er machte einen erschreckten Satz nach vorne.
"Numo!", keifte Tinu, "Hör auf mit dem Mist!"
"Ihr beiden seid sehr amüsant."
"Tinu, er spricht mit mir!"
"Was? Wer?"
Sie standen jetzt Rücken an Rücken. Numo war sich sicher, dunkle, wabernde Schatten im Nebel zu sehen, Und da waren sie wieder, die kleinen roten Punkte...
Tinu packte ihn am Schal, bevor er noch einen Schritt machen konnte.
"Das reicht jetzt. Wir gehen ins nächstbeste Haus, das wir finden."
Numo nickte verwirrt und ließ sich am Arm mitziehen.
"Dieser Nebel ist mir unheimlich."
Nach drei Schritten landeten sie in der selben Sackgasse wie zuvor. Tinu warf Numo einen bösen Blick zu und folgte wortlos, wie er glaubt, der Häuserreihe, die in einer Seitenstraße münden sollte. Sie mündete in einer türlosen Sackgasse. Sie sahen nur Ziegelsteinmauern, ein Abflussrohr, und einen sehr kleinen, schmalen Gully. Wasser tropfte leise aus dem Rohr und verschwand geräuschlos zwischen den stiftdünnen Metallgitterstäben. Numo atmete tief durch.
"Also gut, wir bleiben jetzt ganz ruhig", sagte er, mehr zu sich selbst als zu Tinu. Sein Herz klopfte viel zu schnell. "Ich lasse mich nicht weiter ablenken, wir folgen der anderen Häuserreihe, dann nehmen wir die erste Tür die wir finden und klopfen dort an."
"Ei- einverstanden", brachte sein Begleiter zwischen klappernden Zähnen hervor. Die Luft schien noch weiter abzukühlen, die Fackel zischte lauter als zuvor. Mittlerweile kamen zu Kälte und Nässe noch ein nagender Hunger und ein immer stärker werdendes Gefühl von Erschöpfung zu ihren Problemen dazu. Sie nahmen die Schritte jetzt langsam, einen nach dem anderen, entlang der unbekannten Seitengassen-Häuserreihe.
Verputzte Hauswände, zugemauerte Fenster, blanke Steinwände, Holzwände, ein Tor aus massivem Metall, ohne Klinke oder Knauf. Dann, endlich, eine Seitenstraße. Behutsam taten sie Schritt vor Schritt, Numo starrte auf die Fackel, Tinu auf ihre Füße.
Es wurde noch kälter. Auf den Wänden der Häuser bildete sich Raureif. Das Feuer der Fackel schien kleiner zu werden, dunkler, schwächer. Tinu zitterte.
"H- hätte nicht g-gedacht, dass es m-m-mir mal schwer fällt, eine F-fackel zu halten", brachte er hervor.
Da, endlich, sahen sie eine Tür. Eine einfache, dunkle Holztür, mit Türknauf, überzogen mit Frost. Sie stürzten sich geradezu darauf. Numo hämmerte mit beiden Fäusten dagegen.
"Bitte öffnen sie die Tür, wir erfrieren!"
Es gab keine Antwort.
"Hallo! Bitte öffnen sie! Hilfe!"
Nichts.
"Dieser verdammte Nebel, ich will doch nur schlafen-", ächzte der Künstler mit zitternden Knien.
Tinu schob ihn beiseite und trat kurzerhand auf Schlosshöhe gegen das alt wirkende Holz. Es krachte laut, aber die Tür hielt stand. Ein zweiter Tritt ließ das Schloss ausbrechen, die Tür schwang nach innen auf und zeigte nebelfreies, einladendes Dunkel.
"Nichts wie rein da!", sagte er dann und betrat das fremde Gebäude, dicht gefolgt von Numo. Sie lehnten die Tür von innen an und suchten hastig nach etwas, das sie davor stellen konnten, denn der Nebel schwappte nach innen. Er bildete Tentakel und wirbelnde Spiralen, wie Tinte in einem Wasserglas, und tastete sich nach drinnen vor. Numo glaubte, seine Stimme zu hören - "Wo wollt ihr denn hin? Ihr habt euch noch nicht mal verabschiedet..." - dann stellte Tinu einen alten Holzstuhl vor die Tür und verklemmte ihn an einer verbogenen Bodendiele. Die vorgedrungenen Nebelschwaden lösten sich widerstrebend auf und kondensierten nass auf dem alten Boden.
Dann herrschte Stille, aber keine entspannte, nette Stille. Es war die bedrückte Stille eines Kriegsgebietes, eine bedrohliche Stille. Staub wirbelte im Schein der Fackel. Einige Spinnweben hinge lose von der Decke.
Numo schluckte und blickte in das Zimmer, aus dem Tinu gerade den Stuhl geholt hatte. Es war offensichtlich eine alte Küche, das einzige Fenster bis zur Undurchsichtigkeit verstaubt. Es gab dort noch einen Tisch und einen zweiten Stuhl, einen alten Herd und mehrere Schränke. Es gab nichts zu essen, aber neben dem Herd lagen ein paar Scheite Feuerholz.
Tinu legte drei schmale Holzstücke übereinander und entzündete sie mit der Fackel. Das heißt, er versuchte es. Aber irgendwie wollte die Flamme von der Fackel nicht auf die Holzscheite überspringen. Sie hinterließ nicht mal Rußspuren.
"Warum wundert mich das nicht", murmelte er und stellte sie in einen alten Krug. Bei genauerer Betrachtung war einfach zu erkennen, dass die Fackel nicht im eigentlichen Sinn brannte - es war mehr, als würde ein Feuer am schwarzen, Stoffumwickelten Holz kleben und vor sich hin flackern. Jetzt, wo sie aus dem Nebel heraus waren, schien es auch wieder in normaler Stärke zu brennen.
Numo setzte sich in den übrigen Stuhl und gähnte. Seine Augen brannten, sein ganzer Körper fühlte sich erschöpft und schwer an, als wäre er viele hundert Meter weit geschwommen [5] .
Tinu dagegen war aufgedreht und ganz und gar nicht müde. Entnervt zog er sein Hemd aus und wrang die Nässe daraus.
"Dieser verfluchte Mistnebel ist nicht normal. Die Zauberer haben wieder mal was verbockt!", murmelte er und bemerkte nicht, wie Numo auf dem Stuhl einschlief. Er streifte sein Hemd wieder über.
"Ich schau mal ob ich was anderes zum Feuer machen finde."
Ohne eine Antwort abzuwarten verließ er die Küche. Das andere Zimmer in der Wohnung enthielt zwei alte Betten ohne Decken und zwei alte leere Kisten. Tinu hob die Matratzen hoch und fand mehrere tote Bettwanzen und eine Streichholzschachtel.
"Ha!"
Er nahm die Schachtel an sich und fand drei Streichhölzer und einen Cent darin. Fröhlich kehrte er mit feucht quietschenden Schuhen in die Küche zurück.
Das Fenster stand offen, Numo fehlte.
Obszön vor sich hin fluchend schnappte Tinu die Fackel und kletterte hinterher.
"Numo du verdammter Vollidiot! Wo bist du?!"

Wo bin ich?, fragte sich Numo. Er wusste, dass er schlief - aber irgendetwas war anders. Er fühlte sich bewusster und... kälter als sonst, wenn er schlief. Vage nahm er wahr, dass er rannte. Aber wohin? Um ihn herum war nur Grau, nur Kälte und Feuchtigkeit.
Nebel!, erinnerte er sich. Es ist sehr neblig heute.
Er versuchte, sich zu einer Wand hin zu orientieren. Allerdings fand er keine. Er rannte einfach nur geradeaus, aber er stieß weder auf Wände, noch auf sonst irgendetwas.
Das ist unmöglich, dachte er. In Ankh-Morpork stößt man immer auf IRGENDETWAS wenn man lange genug geradeaus läuft![6]
Aber dann erinnerte er sich daran dass er träumte und beruhigte sich etwas. Auch wenn das ein sehr ungewöhnlicher Traum war. Normalerweise gab es in seinen Träumen Farbe, Formen, Gerüche. Aber er fand nichts davon. Nur Nebel.
"Das ist ja doof", murmelte er und rannte weiter geradeaus. Vielleicht war noch jemand hier?
"Hallo!"
"Hallo!"
Diese Stimme! Er kannte diese Stimme!
"Wer bist du?"
"Ich bin Der Nebel."
Das klang irgendwie unrichtig[7].
"Du kannst nicht der Nebel sein."
"Warum denn?"
Numo gestikulierte, während er rannte.
"Nebel ist... Wasser. Waberig. Wasser ist ja auch nicht jemand."
"Aber ich schon."
"Aber dann bist du nicht einfach nur Nebel. Dann bist du spezieller Nebel."
"Was bist du eigentlich für Jemand, dass du darüber entscheiden kannst?" Die Stimme klang irgendwie... unangenehm. Weniger entspannt.
Numo schluckte und wählte seine nächsten Worte vorsichtiger.
"Ich bin Numo. Ein Mensch."
"Hallo Numo, Ein Mensch."
"Hallo... Der Nebel."
"Hallo."
Numo rannte eine Weile.
"Was macht man so als Mensch, Numo, Ein Mensch?"
"Numo reicht, danke."
"Was macht man so als Mensch, Numo?"
Numo rannte. "Rennen, scheinbar." Er überlegte kurz. "Und atmen. Und blinzeln."
Dann machte er langsamer und blieb stehen.
"Warum renne ich überhaupt?"
"Weil ich das wollte. Hallo Numo."
Der Nebel verdichtete sich plötzlich zu einer Form. Es war- kein Mensch. Es war annähernd humanoid. Numo meinte, einen Arm und eine rumpfähnliche Form zu erkennen. Und zwei rote, stechende Augen. Darunter war eine schwarze Öffnung, kreisrund. Es schien Numo, als würden die folgenden Worte aus der vagen Richtung dieser Öffnung kommen.
"Möchtest du mit mir kommen, Numo?"
"Wohin denn?"
"Überallhin, Numo."
Darüber dachte er kurz nach.
"Normalerweise befindet man sich als Mensch immer nur an einem Ort auf einmal."
"Na, das hättest du mir aber auch früher sagen können!"
Eiskaltes Wasser klatschte ihm ihns Gesicht. Numo schrie auf, als er erwachte. Mit Schrecken realisierte er, dass er mitten im Nebel auf dem eiskalten, dreckigen Kopfsteinpflaster Ankh-Morporks saß. Ihm war kalt, er war nass und er hatte keine Ahnung wie er hierher gekommen war.
"Wie bin ich denn hier gelandet", entfuhr es ihm zwischen klappernden Zähnen. Er zitterte und konnte sich nur mit Mühe auf seine taub-kribbelnden Beine rappeln.
"Hallo?!"
Es kam keine Antwort.
Mühevoll wankte Numo geradeaus, trat in einen Hundehaufen und riss sich an einer schlecht verputzten Wand die Handinnenflächen auf. Wenigstens wusste er nun, dass er wieder in Ankh-Morpork war, und dass es kein Traum war. Dafür tat es zu sehr weh. Fluchend tastete er sich an der Wand entlang und hinterließ Blutspuren[7a].
"Hallo, Der Nebel?!"
Er bekam keine Antwort.
"Ich bin bereit, mir das mit dem Überallhin nochmal zu überlegen!"
"Ach?!" Das Zischen des Nebels tat in seinen Ohren weh. Und war kalt.
"Ja, nur weil ich das als Mensch normal nicht mache, heißt das ja nicht, dass es nicht geht!"
"Dann lass mich rein!"
"Wie?"
Der Nebel verdichtete sich, diesmal ganz real und mit stark abfallender Temperatur. Auf Numos Haaren bildete sich Eis, seine Kleidung wurde steif und brüchig. Die Nebelgestalt, wie er sie im Traum gesehen hatte, tauchte vor ihm auf. Die rot leuchtenden Augen taten ihm weh, so kalt waren sie.
"Mach dieses Loch da auf."
"W-w-elchess L-loch?"
"Da wo die Luftschwingungen rauskommen. Wo das fleischige Ding drin rumzappelt."
Numo war sich sicher, dass es eine schlechte Idee war. Aber er öffnete den Mund so weit er konnte.
"Weiter."
"Ech g-gee n-nich w...w-w-eier."
Stahlzangen aus Eiseskälte klammerte sich an seinen Ober-und Unterkiefer.
"Ich mach das schon."
"HALT!"
Mit einem gewaltig brausenden Wind fegte der Nebel davon. Alles was davon übrig blieb war die Kälte und die neblige Gestalt, zwei arm-artige Tentakel an Numos Unter- und Oberkiefer festgeklebt. Man konnte wieder Häuser und die Straße sehen. Und Grimnir, der mit erhobener Axt mitten auf der Straße stand, das Gesicht der Helmmaske dem Nebelwesen zugewandt.
Sehr, sehr langsam löste sich der Stahlklammergriff von Numos Kieferhälften.
"Wer bist du denn jetzt?" Die Stimme klang schrill und kratzig. Die Nebelgestalt schwoll an und wuchs zur Größe eines Hauses an.
"Ich bin-"
"Ehrlich gesagt ist es mir egal! Du gehst mir schon den ganzen Tag auf die Nerven! Was willst du hier? Lass mich doch in Ruhe diesen Kerl hier essen!"
Numo empörte sich. "W-wie e-e-essen?!"
"Fresse!"
Numo spürte plötzlich einen dicken Eisklotz im Hirn und sackte Ohnmächtig zusammen.
"Du hast diese Stadt lang genug tyrannisiert, schändlicher Nebeldämon!"
Grimnir fasste die Axt fest mit beiden Händen und setzte sich in Bewegung. Er wirkte wie ein Güterzug, der langsam an Fahrt aufnahm. Diverse Runen an seiner Rüstung und Axt begannen in grässlichem lilafarbenen Licht zu leuchten. Er hob zu einem markerschütternden Schrei an. Auch die Nebelgestalt schrie, aber im oberen Frequenzbereich.
Dann prallten sie aufeinander. Grimnirs Axt arbeitete sich wie in Zeitlupe durch die Gestalt des Nebelwesens hindurch. Gleichzeitig wurde er von einer Frostschicht umhüllt, und seine Rüstung knackte laut unter der Belastung, während sich seine wenige freiliegende Haut blau verfärbte. Sie schrien weiterhin beide.
Dann sprang Wali vom anliegenden Hausdach, schrie ebenfalls (mittlerer Bariton) und beschwor helles, warmes Licht aus seinen Händen hervor, das die Nebelgestalt laut zischen ließ.
Es war ziemlich dramatisch, und sehr laut. Leider bekam es niemand sonst mit.
Schließlich wandelte sich der hohe Kampfschrei des Nebelwesens in einen Schmerzens- und dann einen Todesschrei. Ohrenbetäubendes Zischen erfüllte die Luft, als es in sich zusammenfiel und verflüssigte. Der Nebel Ankh-Morporks verlor deutlich an Intensität.
Und dann war es wieder ruhig. Für wenige Minuten war nur das Tropfen von Wasser und Grimnirs schweres Atmen zu hören.
"Nicht schlecht", sagte Wali dann, betont ruhig. "Aber ohne mich wärst du jetzt ein Eisklotz."
"Wohl wahr." Grimnir klappte das Visier hoch, lehnte die Axt an eine Hauswand und massierte sich Farbe in seine Lippen.
"Jetzt könnte ich etwas zu trinken vertragen."
Schritte ließen sie aufschrecken. Portz Brauninger kam aus einer Seitengasse, das Gesicht fahl, aber die Augen ausdruckslos wie immer.
"Das", brummte er, "war ziemlich beeindruckend." Er sah sich um und entdeckte den langsam wieder zu Bewusstsein kommenden Numo.
"Wo kommt der denn her?"
Wali seufzte. "Das ist eine sehr gute Frage, Herr Brauninger. Ich glaube, das Nebelmonster hat versucht ihn zu essen."
Portz wirkte verwirrt. "Ihn essen? Er sieht doch eher mager aus."
"Das stimmt", meinte Tinu, der ebenfalls gerade eintraf. Er brachte Wali seine Fackel, die dieser dankend annahm und die Flamme mit dem Mund von ihr heruntersaugte.
"Guter Trick", brummte Portz, kurz bevor sein Bruder ihm mit der Faust ins Gesicht schlug.
"Du blöder Mistkerl! Du hättest sterben können!"
Portz rieb sich den schmerzenden Kieferknochen.
"Entschuldige. Ich war sehr wütend."
"Ich weiß!" Tinu schlug ihn nochmal, aber weniger fest. "Trotzdem. Mistkerl. Was soll Mama sagen?"
"Woher soll ich das wissen?"
"Weiß ich doch auch nicht."
Einen Moment lang schwiegen sie alle.
"Verzeihung", sagte Numo dann und ging einen Schritt auf Grimnir zu.
"Ja?", grollte dieser.
"Dürfte ich sie zeichnen?"
Grimnir schwieg nachdenklich.
"Ja", brummte er dann und setzte sich langsam in Bewegung.
"Aber erst muss ich mich im Wachhaus melden. Herr Schneidgut muss mir noch eine Verwarnung und eine Schadenersatzforderung ausstellen." Er hielt kurz inne. "Meint ihr, es gibt warme Milch im Wachhaus?"

***


"Und dann hast du ihm eine Verwarnung wegen Beschädigung städtischen Eigentums ausgestellt", schloss Rea und klappte die Akte zu.
"Und eine Schadenersatzforderung."
Rea trank Tee und dachte nach.
"Ich schätze", schloss sie dann, "dass sich dieser Fall sehr viel anders entwickelt hat, als gedacht."
Jargon nickte. Auch er wirkte nachdenklich.
"Ich finde es sehr ärgerlich", sagte er dann in die Stille hinein.
Sie zögerte kurz, bevor sie sagte: "Weil du letztlich keinen Grund gefunden hast, ihn zu verurteilen. Weil sich das Problem eigentlich von allein erledigt hat."
"Ja."
"Weißt du", sagte sie dann und lehnte sich zurück. "Dann hast du halt einfach Pech."
Und dann beugte sie sich wieder vor und fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick.
"Aber bleib ja dran. Wehe, du lässt dich davon demotivieren. Du hast diesen Fall jetzt ernst genommen, und du hast dich damit beschäftigt. Und ich will, dass du das in Zukunft von dir selber aus machst. Wenn ich dir nächstes Mal wieder in den Hintern treten musst, bevor du einen Fall nimmst, kannst du was erleben."
Jargon nickte. "Ich- ich werde dran arbeiten."
Er atmete tief durch.
"Ich habe einfach Angst, dass ich durch meine Fehler andere Leute gefährde. Dass ich etwas falsch mache, und dann Menschen wegen mir leiden."
Sie nickte.
"Ich weiß. Das ist immer so. Aber es ist einfach so: Wenn du nichts tust, werden Menschen sicher leiden. Wenn du etwas tust, besteht wenigstens die Chance, dass du helfen kannst. Und dafür sind wir da. Zum Helfen. Nicht nur deine Kollegen. Du auch."
"Ja."
"Und das kannst du auch."
Er nickte. Sie trank noch einen Schluck Tee.
"Weißt du Jargon", sagte sie dann milder, "wenn du die zwei Kerle in dem Moment nicht aus dem Konzept gebracht hättest, hätten sie sich wahrscheinlich gegenseitig umgebracht. Und dann hätten wir jetzt den Salat. Du warst nicht nutzlos in diesem Fall. Denk da dran."
"Ja", sagte er wieder nur. Und er dachte an Numo, und was dieser ihm gestern erzählt hatte.
"Dass ich gezögert habe, als Tinu und Numo weiter gesucht haben. Das stört mich", schloss er dann.
Rea nickte zufrieden. "Gut. Bleib dabei."
Sie sah zur Uhr.
"Und jetzt raus mit dir, du hast Streife!"
[1]  Und durch den zuvor erwähnten rechteckigen Schädel.

[2]  Also, jeder mit je einer Hand. Nicht alle mit derselben.

[3]  Hunde, Katzen, Ratten, Essen, Erbrochenes, Ankhschlamm, Stadtwächter, die Mobilien, Abflusslöcher ohne Deckel, TMSIDR-Schnapper, Zahnärzte, Trolle, Zwerge, Gnolle, Untote, Fischhändler, Bäume, Straßenlaternen, Gesteinsbrocken, Karren voller Dung, Assassinen, den Kunstturm, zwielichtige Gestalten und Frau Kuchen.

[4]  Ja, die auch.

[5] Numo selber kann zwar nicht schwimmen, aber ich hielt diese Metapher für passend, um ein Bild der Erschöpfung zu vermitteln.

[6]  Beispielsweise Bars, und Hundekot- naja, ihr wisst ja.

[7]  Ja, unrichtig. Verklagt mich.

[7a]  Auch etwas, was man in Ankh-Morpork findet, wenn man nur lang genug geradeaus läuft.

Z�hlt als Patch-Mission f�r den Rechtsexperte-Patch.



Für die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster und Co-Webmaster behalten sich das Recht vor, inhaltlich fragwürdige Texte ersatzlos von der Homepage zu entfernen.

Feedback:

Von Ophelia Ziegenberger

08.9.2018

Gerne gelesen. Ich mochte Jargons immer wieder trocken eingestreute Empfindungen von "fand er gut" und "fand er nicht gut". Endlich mal jemand, der weiß, was er mag. ;-) Außerdem konnte ich natürlich nicht anders, als die dämonischen Kräfte und die Verführungskünste des Nebels bei ihrem Schalten und Walten zu bewundern. Und ich mochte die Figur des Künstlers. Und... go, Jargon, go! Weiter so!

Von Sebulon, Sohn des Samax

20.9.2018

Diese Wachegeschichte habe ich am gleichen Tag bis zum Ende gelesen. In der Mitte hat sie Fahrt aufgenommen, fand ich, und war fast etwas zu schnell vorbei. Ich bin rundum zufrieden.

Die Stadtwache von Ankh-Morpork ist eine nicht-kommerzielle Fan-Aktivität. Technische Realisierung: Stadtwache.net 1999-2024 Impressum | Nutzungsbedingugnen | Datenschutzerklärung