Diese Geschichte spielt noch vor Rachs Eintritt in die Wache und erfasst die Ereignisse rund um Ophelias Hausarrests und dessen Folgen für einen verliebten Palastangestellten.
Dafür vergebene Note: 12
Vorwort: Die Geschichte spielt noch vor Rachs eintrit in die Wache vor Ophelias verschwinden und ihrere anschließenden Rettung. Ebenso sei darauf hingewiesen, dass es sich hier rein um eine Charakterdarstellung handelt und es unter Umständen für den ein oder anderen Leser zu kitschig sein könnte :o). Allerdings hoffe ich ergibt sich auch ein nettes Gesamtbild von Rach und dass ist doch die Hauptsache.
Er bewegte sich lautlos. Eine seiner leichtesten Übungen, trotz des glatt gefliesten Bodens im Eingangsbereich des Hauses. Die Sonne war schon längst untergegangen und das Treppenhaus hell erleuchtet. Keine Chance ungesehen zu bleiben, sobald jemand auftauchte. Dennoch gönnte er sich den kleinen Nervenkitzel. Er konzentrierte sich auf die Holztreppe vor ihm und rief sich den sicher einstudierten Weg ins Gedächtnis, während er seine Schuhe auszog. Der dunkelhäutige Mann band die Schnürsenkel zusammen und schwang sich seine Schuhe um den Hals, jeweils einen Schuh mit der Hand gegen die Brust gedrückt, damit sie keine ungewollten Geräusche verursachen konnten. Mit nackten Füßen sprintete er nach oben und nahm dabei immer wieder zwei oder drei Stufen auf einmal. Bei dem letzten Treppenabsatz verlangsamte er seine Schritte und holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche hervor. Jeweils links und rechts gab es eine Tür. Er wandte sich zur Linken und kurz bevor er sie entriegelte atmete er tief durch. Er öffnete den Eingang nur einen minimalen Spalt breit und tastete über sich am Türrahmen nach dem Hebel, doch er fand ihn nicht an der gewünschten Stelle und ließ mit einem Seufzer schließlich die Tür mit einem Schubs aufschwingen.
»Rach, du hast die Falle nicht wieder aktiviert«, sagte er und warf seine zusammengebundenen Schuhe auf den Teppichläufer. Die Wohnung lag allerdings im Dunkeln und sein Mitbewohner saß nicht wie erwartet im Sessel und las. Die Stille verriet ihm auch, dass Rach weder in der Küche hantierte, noch eines seiner Musikinstrumente spielte. Doch wenn sein Freund nicht zu Hause war, wer sonst hatte die Falle deaktiviert? Esther schied ebenfalls aus – von ihr hatte er sich eben erst verabschiedet und wusste, dass sie heute Nacht noch eine Inhummierung vornehmen musste. Er schloss die Tür hinter sich leise und aktivierte wieder die Falle. Wer die Tür zu weit öffnete, bekam eine persönliche Begrüßung, die aus mehreren Giftpfeilen bestand. Jules vergewisserte sich, dass auf dem dünnen Drahtseil genug Spannung war, um die Druckluftmechanik der Blasröhrchen auszulösen, bevor er vorsichtig weiterging. Im Wohnraum angekommen bemerkte er das offene Fenster zur kleinen Dachterrasse. Ein leichter Windhauch von draußen wehte herein und brachte den Geruch von Rauch. Er rümpfte die Nase und sah in dem Moment auch das kurze Aufglühen einer Zigarette. Er trat wortlos nach draußen neben seinen Freund, der am Geländer lehnte und wie es aussah schon den zweiten Glimmstängel inhalierte.
»Hallo Jules«, sagte Rach und starrte dabei in die Ferne.
»Was ist los?«, fragte er und überlegte, was passiert sein könnte. »Du hast hier schon lange nicht mehr geraucht.«
Rach antwortete indem er mit den Schultern zuckte und Jules seufzte.
»Das letzte Mal, glaube ich, als du einen Auftrag nicht erfolgreich abschließen konntest.«
»Es geht nicht um die Arbeit.«, sprach sein Freund endlich und nahm einen tiefen Zug, bevor er die Zigarette zu seiner Freude ausdrückte.
»Warst du heute nicht verabredet?« So langsam dämmerte ihm, was los war. »Du und Frauenprobleme?«
Er musste ungewollt lachen, doch Rach schien das nicht zu kümmern. Er behielt seine Gedanken weiter für sich.
»Hat sie dich abserviert?« Jules versuchte es wieder ernster und Rach lächelte kurz.
»Das wäre leichter. Wesentlich leichter. «
»Na, sag schon! Oder glaubst du wirklich, jetzt damit anfangen zu müssen, Geheimnisse vor mir zu haben?«
»Ich weiß nicht wie viel ich dir sagen kann, Jules. Es ist nur alles sehr kompliziert, verstehst du?«
Sein Mitbewohner seufzte und wandte sich ihm zu, ehe er die Wohnung wieder betrat und eine Lampe entzündete. Er folgte ihm und schloss das bodentiefe Fenster. So hatte er Rach noch nie erlebt. Sie hatten sich immer alles erzählt – zumindest im Rahmen des Erlaubten. Was also war so Besonderes an dieser Frau, dass sein Freund sich so quälte? Er beobachtete seinen Mitbewohner, wie dieser Wasser in der offenen Küche aufsetzte. Er setzte sich an den Tresen, der Küche und Wohnbereich voneinander abtrennte. Auf dem Hocker neben ihm hatte es sich Lady, die Dame des Hauses, mal wieder bequem gemacht und schnurrte leise im Schlaf. Er strich der Katze über das blaugrau schimmernde Fell und das Schnurren wurde lauter. Jules konzentrierte sich wieder auf Rach, der anscheinend versuchte, sich selbst abzulenken, indem er jede einzelne Teedose öffnete und an deren Inhalt roch.
»Komm schon, Mann! Zwing mich nicht, Esther auf dich zu hetzten«, sagte er schließlich und Rach hielt in der Bewegung inne.
»Lass meine Schwester da raus!«
»Kein Problem. Du musst mir nur sagen was los ist«, antwortete er ruhig und Rach straffte seine Haltung.
»Du wirst nicht lockerlassen, oder?«
Er schüttelte zur Antwort kurz den Kopf und Rachs Körper sackte in sich zusammen, als jener sich gegen die Arbeitsfläche hinter sich lehnte.
»Also gut. Ich habe dir doch davon erzählt, wie das Ganze angefangen hatte?«, fragte Rach und Jules nickte, um ihn nicht zu unterbrechen. Dass die Frau in der Stadtwache als verdeckte Ermittlerin arbeitete, mochte ja noch einen gewissen Reiz ausüben, den er nachvollziehen konnte. Und Rach hatte auch berichtet, wie er in ihr Büro eingedrungen war, um eine Einladung zu hinterlassen. Doch dass diese Sache ernster werden könnte, hatte Jules bisher ausgeschlossen. Er hatte schon eine Befürchtung, behielt seine Bedenken jedoch erst mal für sich.
»Sie hat mir etwas verraten, dass es mir unmöglich macht, mich ihr anzuvertrauen. Und nun stehe ich vor der Wahl, ob ich überhaupt bereit bin mich darauf einzulassen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Jules verwirrt. »Dass wir beide aufgrund unserer Anstellung gewisse Dinge zu verschweigen haben – ja sogar bewusst lügen müssen, war dir von Anfang an klar. Du willst ihr doch sicher nicht sagen, was du wirklich für den Patrizier machst.«
»Nein, wo denkst du hin!«, sagte Rach mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn wieder beruhigte. »Allerdings sind wir sozusagen nie allein. Kann eine Beziehung noch funktionieren, wenn es keine Privatsphäre gibt?«
»Keine? Wenn sie überwacht wird, solltest du doch damit fertig werden.«
»Damit nicht, Jules«, antwortete sein bester Freund und er konnte ihn nur noch ungläubig anstarren. »Ich sagte schon, dass es kompliziert ist, oder?«
»Und mehr wirst du mir wohl auch nicht dazu sagen, richtig?«
»Nicht, solange ich nicht mehr darüber herausgefunden habe«, sagte Rach und ein Grinsen spielte kurz auf dessen Lippen, das Jules wieder das Schlimmste ahnen ließ.
»Ich kenne dich, Rach«, sagte er ernst und spannte seine Haltung an. »Ich fürchte, das Ganze reizt dich wegen des Nervenkitzels. Und wenn es so kompliziert ist wie du sagst, bringst du dich vielleicht nur unnötig in Gefahr.«
Sein Mitbewohner verzog die Mundwinkel und strich sich durch das Haar. Anscheinend wurde Rach erst jetzt bewusst, dass ihn mal wieder eine Herausforderung zu gewissen Handlungen trieb. Doch dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, Jules. Das ist es nicht.«
»Die Dame hat dir echt den Kopf verdreht was?«
Rach errötete leicht.
»Dann hast du echt ein Problem.«
Rach lachte auf und stieß sich von der Arbeitsplatte ab.
»Du weißt ja, wie ich Probleme sehe«, sagte sein Mitbewohner mit einem Lächeln und wandte sich wieder dem Teekessel zu, bevor dieser anfing zu pfeifen.
»Ja«, antwortete er angespannt. »Und ich fürchte, irgendwann gehst du an einer deiner Herausforderungen kaputt.«
»Solange ich dich zur Rückendeckung habe, mache ich mir da weniger Sorgen.«
»Manchmal glaube ich, du hast sie nicht mehr alle.«
»Sagt einer, der mit meiner Schwester zusammen ist«, konterte Rach gelassen und nach kurzer Zeit vielen sie beide in herzliches Lachen ein.
»Esther ist herrisch, stur, ärgert mich bei jeder Gelegenheit und...«
»Du liebst deine Schwester trotzdem«, unterbrach Jules seinen besten Freund.
»Sag ihr das bloß nicht!« Rach zwinkerte ihm zu.
Jules lächelte in sich hinein, während Rach immer noch seinen Tee zubereitete. Er war froh, dass sich die düstere Stimmung verflüchtigt hatte. Er glitt von dem Barhocker und holte zwei Flaschen Bier aus dem steinernen Schrank, dessen unterstes Fach mit Eis gefüllt und somit immer angenehm kühl war.
»Lass uns lieber zusammen einen trinken«, sagte er und reichte Rach ein Bier, der schon den Öffner griffbereit hatte und beide Flaschen köpfte, als hätte er nur darauf gewartet.
Sie stießen wortlos an und tranken einen Schluck, während sie sich gemeinsam ins Wohnzimmer begaben. Er schwang sich auf das Sofa und sein Freund ließ sich im Sessel nieder.
»Jules?«, sagte Rach leise. Er hatte schon befürchtet, dass die lockere Stimmung nur kurz anhalten würde. »Was würdest du an meiner Stelle machen?«
»Mit den Informationen, die ich habe, kann ich das schlecht beantworten«, sagte er und sein Freund seufzte. »Ich würde dir ja gerne helfen...«
»Schon gut, ich hätte nicht fragen sollen.« Rach trank einen großen Schluck aus der Flasche und verzog die Mundwinkel. Jules trank ebenfalls und fasste einen Entschluss. Seiner Ansicht nach hatte Rach sich schon längst entschieden und quälte sich unnötig. Einer Herausforderung, egal in welcher Form, konnte sein Freund noch nie widerstehen. Jules stellte seine Flasche auf dem Tisch ab und erhob sich in einer fließenden Bewegung. Sein Mitbewohner sah fragend zu ihm auf.
»Steh auf, wir gehen«, sagte er bestimmt und ging in den Flur.
Rach folgte ihm und beobachtete ihn argwöhnisch, während er seine Schuhe anzog. Als er fertig war, packte Jules seinen Mitbewohner wortlos am Arm und zerrte ihn mit sich aus der Wohnung.
»Was soll das werden, Jules?« Rach beobachtete ihn, als er schon dabei war, die Falle wieder zu aktivieren und die Tür abzusperren.
»Na, was wohl? Ich bringe dich auf andere Gedanken«, sagte er mit einem Grinsen. Rach schien nicht überzeugt. »Na komm schon! Wie lange ist es her, dass wir einen drauf gemacht haben?«
»Zu lange.« Sein Freund lächelte wieder und gemeinsam traten sie lautlos in die Nacht.
Der Wecker klingelte laut und schrill und dröhnte in seinem Schädel. Kopfschmerzen. Mit einer schnellen Handbewegung fegte er den Wecker vom Nachttisch, woraufhin wohltuende Ruhe einkehrte. Die Nacht war doch ausschweifender gewesen, als anfangs zu vermuten gewesen war.
Rach wühlte sich aus seiner Bettdecke. Er stöhnte genervt, als er die Augen öffnete und die Sonne ihn blendete. Er rieb sich die Stirn und richtete sich langsam auf. Auf dem Boden lag verstreut seine Kleidung vom Vortag und er brummte unzufrieden, als er einen Fleck am Saum der Hose entdeckte. Er strecke sich und gähnte, bevor er endgültig aufstand und seinen Anzug aufsammelte. Er hängte diesen über den Stuhl am Schreibtisch und ging, nur mit Unterwäsche bekleidet, aus seinem Zimmer. Von unten kam ihm schon der Geruch von frischem Kaffee entgegen und sofort hatte er den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Er ging langsam die Treppe nach unten und hatte von dort das ganze Wohnzimmer im Blick. Doch die Küche war erst ersichtlich, wenn man unten angekommen war.
»Guten Morgen«, sagte sein Mitbewohner, als er in das Wohnzimmer trat. Er stellte ihm eine Tasse auf den Tresen.
»Klatschianischer Kaffee?«, fragte Rach sicherheitshalber und bekam ein Nicken zur Antwort. Er setzte sich an die Theke und musterte Jules argwöhnisch. Seinem Zustand nach hatte Jules schon mehr als eine Tasse Kaffee – oder gestern Abend wesentlich weniger Alkohol – getrunken. Sein Freud war jedenfalls schon sehr viel munterer, wenn auch ebenso wenig bekleidet wie er.
»Kann es sein, dass du mich gestern Abend abgefüllt hast?«
»Entschuldige«, sagte Jules und stellte ihm Zucker und Milch hin. »Aber wenn du ein bisschen mehr intus hast, bist du wesentlich redseliger, mein Freund.« Jules zwinkerte ihm wissend zu, während er den starken Kaffee genießbar machte.
»Ich hoffe du hast deine Neugier befriedigen können.«
»Ein bisschen«, antwortete Jules, »Aber Kompliment! Du hast es mir nicht leichtgemacht.«
»Wie beruhigend«, sagte Rach sarkastisch und seufzte. »Dann kannst du mir ja jetzt sicher sagen, was du an meiner Stelle tun würdest.«
»Ich? An deiner Stelle?«, fragte Jules gespielt unwissend. »Ich würde mich nicht darauf einlassen. Aber wir wissen beide, dass du schon längst dein Herz an die Dame verloren hast.«
»Vielen Dank. Sehr hilfreich, Jules.«
»Bitte, bitte! Immer wieder gerne«, antwortete sein Freund und grinste ihn seltsam an.
Er rieb sich über den Nacken und nahm einen Schluck aus der Tasse, als er hinter sich jemanden hörte.
»Guten Morgen, Bruderherz!«
»Guten Morgen, Schwesterchen«, entgegnete er ohne sich umzudrehen. »Heute Morgen bleibt mir aber auch nichts erspart.«
Seine Schwester stupste ihn mit dem Finger in die Seite, ehe sie zu Jules in die Küche trat. Sie hatte ein Hemd seines Mitbewohners an, das ihr nur knapp bis zu den Knien reichte. Er schloss schnell die Augen, bevor er sehen musste, wie die zwei sich küssten. Diese Liaison ging seinem Gefühl nach schon eine halbe Ewigkeit und trotzdem konnte er sich nicht daran gewöhnen.
»Ich hoffe, dir ist bewusst, worauf du dich da einlässt«, sagte sie eindeutig an ihn gewandt und er ließ den Kopf hängen.
»Jules...«, sagte er angespannt. »Ich dachte wir sind Freunde.«
»Die besten!«, sagte Jules mit einem Lachen und klatschte in die Hände. »Na komm, mach dich frisch, wir müssen bald los.«
Sein Kollege kam um den Tresen herum und zog ihn vom Hocker. Sein Mitbewohner geleitete ihn, den Arm um die Schulter gelegt, zur Treppe und beugte sich zu seinem Ohr runter.
»Keine Sorge, Rach«, flüstere Jules, »Ich hab Esther nicht wirklich gesagt was los ist, sie ist nur etwas abgeneigt von der Tatsache, dass du dich mit einer Wächterin einlässt.«
Rach wandte sich seinem Freund zu, der ihm zuzwinkerte und schließlich mit einem leichten Schubs zur Treppe beförderte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er nach oben und betrat sein Zimmer. Missgelaunt suchte er sich einen Anzug aus und breitete sowohl Hemd, als auch Krawatte, auf seinem Bett aus. Eines stand fest: Dafür würde er sich bei Jules revanchieren.
»Du hast mir nicht alles gesagt, oder?«, fragte sie ihn und Jules drehte sich wieder zu ihr um, als Rach in seinem Zimmer verschwunden war.
»Unsere Freundschaft setze ich nicht aufs Spiel – auch nicht für dich«, antwortete Jules und lächelte sie an. »Fühle dich wie zu Hause, ich komme wieder, sobald ich kann.«
»Hattest du heute nicht deinen freien Tag?«, fragte sie und verzog ihre Miene.
»Mon chéri«, sagte er besänftigend. Der Klang seiner Muttersprache verfehlte bei Esther nie seine Wirkung. »Bitte verzeih mir. Doch ich möchte deinen Bruder in diesem Zustand ungern alleine lassen.«
Oben ging etwas zu Bruch und ein Fluch kam aus dem oberen Bad, kurz gefolgt von einem wütenden Aufschrei. Einen Augenblick später huschte Lady an ihm vorbei und sprang auf einen der Barhocker um sich demonstrativ das Fell zu putzen. Jules sah von der Katze zu Esther, die ihr breites Grinsen hinter der Tasse versteckte, und seufzte kurz.
»Du hast die Tür zum Badezimmer offen gelassen«, stellte er schlicht fest und verschränkte die Arme.
»Schau mich nicht so an! Ich konnte nicht widerstehen.«
»Kannst du nie«, sagte er mit einem Lachen und ging schließlich nach oben, um nach Rach zu sehen.
Er klopfte an, wartete allerdings nicht auf Antwort, sondern öffnete zügig die Tür. Er lehnte sich an den Rahmen und beobachtete, wie Rach sich rasierte. Nur mit einem flüchtigen Blick nahm er die auf dem Boden liegende Krawatte und das daneben zerbrochene Fläschchen wahr. Er konnte sich gut vorstellen, wie Lady den Schlips vom Rand der Wanne geangelt hatte und als Spielzeug missbrauchte, bis sein Freund mit dem erstbesten Gegenstand die Katze in die Flucht schlug. Es war nicht das erste und vermutlich auch nicht das letzte Mal, dass so etwas passierte. Er ließ es unkommentiert.
»Und wann gehst du zu ihr?«, fragte er gelassen. Rach hielt kurz in der Bewegung inne.
»Ich weiß nicht. Wann gehst du endlich zu meinem Vater und fragst ihn, was dir schon mindestens drei Wochen auf der Seele brennt?«
Er sah Rach fragend an und verstand nicht gleich, was jener meinte, bis sein Freund zwei ineinander verschlungene Kreise auf den beschlagenen Spiegel malte. Jules sah sich hektisch um und betrat schnell den Raum, um die Tür hinter sich zu schließen.
»Okay, tut mir leid«, sagte er schnell und hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin gestern Abend etwas zu weit gegangen.«
»Allerdings.«, war alles, was Rach dazu sagte, ehe er seine Rasur fortsetzte.
Jules seufzte und sah seinen Freund eindringlich an.
»Du wirst ihr doch nichts sagen?«
»Das kommt ganz auf dich an, Jules.«
Er ließ die Schultern hängen und vergrub kurz sein Gesicht in den Händen.
»Ich will dir doch nichts Böses! Du musst doch sehen, dass diese Frau eine Gefahr darstellt! Nicht nur für die Stadtwache.« Er gestikulierte aufgeregt. »Ich muss das berichten.«
»Ich weiß«, sagte Rach und stütze sich auf dem Waschtisch mit beiden Händen ab. »Ich bitte dich nur um etwas Zeit. Dann werde ich selber Bericht erstatten.«
»Auf deine Verantwortung!« Er wandte sich zum Gehen. »Auf
deine Verantwortung.«
Rach saß an einem der zahlreichen Schreibtische des Großraumbüros und hielt sich regelrecht an seiner Kaffeetasse fest. Es gab nicht für jeden Dunklen Sekretär einen eigenen Arbeitsplatz. In den meisten Fällen wurden ihre Fähigkeiten außerhalb des Palastes benötigt. Doch heute war er froh darüber, sich um den leidigen Papierkram kümmern zu müssen. Vor ihm hatte er die Akten zur Recherche für seinen nächsten Auftrag auf der Tischplatte verteilt und überflog die Berichte, in denen andere Inspektoren schon Ungereimtheiten aufgedeckt hatten. Die Stellen waren entsprechend markiert. Allerdings erkannte er die Zusammenhänge selbst nach zweimaligem Lesen immer noch nicht, da seine Gedanken wiederholt abschweiften. Immer wieder tauchte das Gesicht von Ophelia vor ihm auf und er meinte, ihre Worte zu hören, die alles veränderten. Er legte den Bericht beiseite, schwang seine Beine auf die Schreibtischplatte und lehnte sich zurück. Doch entspannt fühlte er sich dennoch nicht. Ophelias Worte, oder vielmehr ihr Geständnis, gingen ihm nicht aus dem Sinn. Noch nie hatte er von so etwas gehört! Und er wagte es nicht, weitere Nachforschungen anzustellen. Nicht, solange er sich seiner Gefühle für Ophelia nicht sicher war. Die Vernunft schrie geradezu danach, die Sache zu beenden. Doch, je länger er darüber nachdachte, sich von Ophelia zu trennen, desto schlechter fühlte er sich. Sie hatte ihm schließlich ihre Liebe gestanden und er hatte an dem Abend wirklich Mühe gehabt, beherrscht zu reagieren. Ihr erwartungsvoller Blick, die deutlich darin erkennbare Hoffnung, er würde ihre Gefühle sofort erwidern, hatte es ihm zusätzlich erschwert und er hasste sich in dem Moment dafür, dass er
vorschriftsmäßig gehandelt hatte. Sie kannten sich kaum! Erst recht nicht gut genug, um bereits diesen entscheidenden Schritt zu gehen, um diese Worte überhaupt in Erwägung zu ziehen! Sie hatte damit alles auf eine Karte gesetzt – und ihm Bedenkzeit gewährt. War er wirklich dazu bereit, sich weiter darauf einzulassen? Die letzten Wochen waren voller Glück gewesen. Jeden Tag, den er nicht mit ihr verbringen konnte, kreisten seine Gedanken um sie. Für ihn hätte es ewig so weitergehen können. An eine gemeinsame Zukunft ernsthafterer Art hatte er bis dahin nicht gedacht gehabt. Doch... eine Zukunft ohne sie, schien nicht vorstellbar? Sie liebte ihn. Und er liebte sie. Das wusste er in diesem Moment mehr als alles andere.
Nachdem er Rach guten Gewissens allein lassen konnte, holte er ein paar Informationen über Ophelia Ziegenberger ein und er musste zugeben, dass sie einen beachtlichen Werdegang hinter sich hatte. Allerdings, so umfangreich die palastinterne Akte auch war, hatte er den Eindruck, dass diese Informationen viel zu oberflächlich waren. Wenn er mehr erfahren wollte, musste er sie genauer unter die Lupe nehmen. Mit einem Seufzer legte Jules die Akte zurück und machte sich auf den Weg nach Hause. Als er dem Wachhaus immer näherkam, wurden seine Schritte langsamer und er suchte die Fassade nach dem Bürofenster der Wächterin ab. Es war noch früher Vormittag und bei keinem der Fenster konnte man reges Treiben erkennen. Kurzentschlossen entschied er sich, das Dach auf der anderen Straßenseite zu erklimmen. Er zog sich dafür in einen der Höfe in der Seitengasse zurück. Er brauchte nicht lange und suchte sich schnell einen geeigneten Beobachtungsposten. Dann lehnte er sich an einen der Schornsteine und begutachtete die Fenster des Wachhauses. Nach allem was er wusste, musste sie auf dieser Straßenseite im zweiten Stock sein. Schließlich erblickte er sie. Sie saß am Schreibtisch und war in ein paar Akten vertieft. Sie schien gewissenhaft vorzugehen und keinen Moment konnte er ein Anzeichen von Abgelenktheit erkennen. Weder ein verträumter Blick aus dem Fenster, noch fand die Tasse neben ihr Beachtung, bis sie fertig war und die Akte beiseitelegte. Jules kniff kurz die Augen zusammen, als sie einen Schluck aus ihrer Tasse trank und sich kurz darauf aus einer kleinen Kanne nachschenkte. Etwas störte ihn schon die ganze Zeit an ihrer Körperhaltung. Als sie sich zurücklehnte, erkannte er, was durch den Schreibtisch verborgen gewesen war. Ihr linker Arm war an ihren Körper festgebunden und wenn er die Situation richtig deutete, war das keine vorübergehende Einschränkung. Dafür war sie zu geschickt mit ihrer verbliebenen Hand. Vor ein paar Jahren hatte er sich einen Bruch zugezogen gehabt und seine linke Hand war zu nichts zu gebrauchen gewesen. Etwas, das ihn den ganzen Heilungsprozess über vor viele Herausforderungen gestellt hatte. Rach hatte das mit keinem Wort erwähnt, oder? Obwohl... das stimmte nicht ganz, gestand er sich ein. Als sein Freund das erste Mal von ihr berichtete, hatten sie beide darüber sinniert, ob die Attentäterin Nulla Nieselhoff sich einer solchen Behandlung unterziehen würde, um eine glaubhafte Tarnung aufzubauen. Dabei war Ophelia Ziegenberger damals nur die ganze Zeit ihrer Spezialisierung als Verdeckter Ermittlerin nachgegangen, trotz dieser Einschränkung. Er schob die Gedanken beiseite und versuchte sich wieder auf die Geschehnisse in dem Büro zu konzentrieren.
Er musste zugeben, dass sie eine gewisse Eleganz ausstrahlte. Und, nein, hässlich war sie nicht. Die Familie Ziegenberger war nicht reich. Aber sie hatten die vorhandenen Mittel für eine gute Erziehung investiert. Denn diese sah man ihr direkt an. Etwas, das sie mit Rach gemeinsam hatte. Und ihre Arbeit als Verdeckte Ermittlerin war ein weiterer Bereich, den sie und Rach sich gewissermaßen teilten. Auch, wenn die beiden nicht darüber reden konnten. Sie verstanden einander und langsam konnte er seinem Freund mehr nachempfinden. Allerdings brachte ihn das nicht bei seinem Problem mit dieser Beziehung weiter! Er hatte versprochen, nicht Bericht zu erstatten. Dennoch musste er mehr erfahren.
Für den Moment war seine Geduld erschöpft. Und Esther wäre sicher nicht begeistert, wenn er nicht bald zu ihr zurückkehrte. Er setzte seinen Heimweg über das Dach fort und nahm sich vor, der Wache bei nächster Gelegenheit einen nächtlichen Besuch abzustatten.
Ganze zwei Tage hatte er mit sich gehadert und musste sich dabei immer wieder die weniger hilfreichen Kommentare seines Mitbewohners anhören. Und er war Jules dankbar, dass dieser ihm die nötige Zeit gewährte. Allerdings hatte sein Freund Recht gehabt. Damit, dass er sich schon längst entschieden hatte. Und nun stand er hier vor der Tür mit der Hausnummer ‚eins‘ und wartete auf Ophelia. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals vor Aufregung. Er konnte sich einfach nicht beruhigen. Er hatte zwar eine gewisse Ahnung dazu, wann sie beim Wachhaus aufbrechen würde, allerdings wollte er sie unter keinen Umständen verpassen. Und sie beim Wachhaus abzufangen, schloss sich von vornherein aus.
Rach ließ den Blick über den Fünf-Und-Sieben-Hof schweifen und strich sich mit einer Hand über den Nacken. Er freute sich darauf, sie wieder zu sehen. Gleichzeitig fürchtete er, nicht die richtigen Worte zu finden. Geistesabwesend tastete er nach den Kettengliedern seiner Taschenuhr und sah dem einen oder anderen Passanten nach, der auf seinem Weg nach Hause oder zur Arbeit war. Als Ophelia schließlich um die Ecke kam, machte sein Herz einen Sprung. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass es noch schneller schlagen könnte! Er wandte sich ihr zu und lächelte, doch noch hatte sie ihn nicht bemerkt, sondern fischte ihren Schlüsselbund aus einer Gürteltasche. Kurz vor ihm blickte sie schließlich auf – und zuckte erschrocken zusammen. Der Schlüssel fiel ihr aus der Hand, doch er fing ihn auf, während er mit der anderen Hand die ihre ergriff und einen Handkuss andeutete. Ihre Fingerspitzen waren kalt und ihre Augenlider flatterten einen kurzen Moment, bevor sich ihr Blick klar auf ihn richtete.
»Es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen. Ich hoffe du kannst mir verzeihen«, sagte er, noch während er weiter ihre Hand hielt. »Darf ich dich ins Tortenstübchen einladen?«
Sie antwortete nicht sofort, sondern strahlte ihn nur an. Er fürchtete schon, nichts mehr außer dem Rauschen seines Blutes in den Ohren zu hören. Sie nickte ihm schließlich zu und er musste ob ihrer Sprachlosigkeit schmunzeln. Er legte ihr den Schlüssel in die Hand zurück und bot ihr den Arm zum Geleit. Ophelia hakte sich prompt ein. Gemeinsam machten sie sich auf dem Weg zu ihrer beider Lieblings-Café.
»Wozu brauchst
du den Schlüssel?«, frage der Alte argwöhnisch. Genau die Frage hatte er befürchtet. Jules war nicht für die Informationsbeschaffung zuständig. Sein Aufgabenbereich war von anderer Natur. Gerade diesen Schlüssel zu erfragen, war vermutlich verdächtiger als alles andere, das er hätte unternehmen können. Wenn er gewusst hätte, welcher der zahlreichen Schlüssel es war, hätte er sich sicherlich für einen anderen Weg entschieden. Doch der Schlüsselmeister, wie der Alte ihm gegenüber im Palast genannt wurde, hatte ein ausgeklügeltes System, um zu vermeiden, dass ihm etwas gestohlen wurde. Keiner seiner Schlüssel war markiert. Nur durch ihre verschiedenen Zacken und Kanten unterschieden sie sich. Es war ihm ein Rätsel, woher der Mann wusste, welcher Schlüssel zu welchem Schloss passte.
»Seit wann interessiert es dich, wozu wir die Schlüssel benötigen, Marv?«, fragte er genervt und hoffte, dass das genügen würde, um ihn nicht weiter zu löchern.
Der Schlüsselmeister lächelte nur verschmitzt und hatte ein neugieriges Leuchten in den Augen.
Jules hingegen setzte eine ernste Miene auf und spielte den verschlossenen Palastmitarbeiter. Schließlich schüttelte der Alte belustigt den Kopf und wedelte mit seinem linken Zeigefinger.
»Du Witzbold, man wird ja noch fragen dürfen.« Mit diesen Worten verließ Marvin den Raum und kehrte kurz darauf mit einem Schlüssel zurück. »Dies ist der Schlüssel zum Wachhaus.« Marvin hielt den Schlüssel nur an seinem Ende zwischen Daumen und Zeigefinder und wedelte damit, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Jeder Raum lässt sich dadurch öffnen und auch die Eingangstüren bleiben nicht verschlossen.« Jules sagte nichts, sondern nickte nur verstehend, während der alte Mann den Schlüssel auf der Theke ablegte und in der anderen Hand einen weiteren Schlüssel hochhielt. »Dieser hier ist für die Aktenschränke und die Spinde in der Umkleide«, sagte Marvin und legte den kleinen Schlüssel neben den anderen.
Jules wischte die Schlüssel von der Theke in seine Hand und lies sie grinsend in seiner Hosentasche verschwinden.
»Vielen Dank, Marv«, sagte er und wandte sich zum Gehen, doch der Schlüsselmeister ließ ihn nicht so einfach davonkommen.
»Nicht so schnell«, sagte der Alte mit Nachdruck. »Ich bräuchte da noch eine Unterschrift!«
Das Pferd wurde langsamer und er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick aus dem Wagen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Er sprang vom Gespann, noch bevor es zum Stillstand kam, um Ophelia rechtzeitig aus der Droschke zu helfen. Natürlich wusste sie sofort wo sie waren, schließlich hatte die Fahrt von ihrer Wohnung aus nicht lange gedauert. Er konnte an ihrem Gesicht die kurze Verwunderung ablesen. Der kleine Hinweis, dass sie heute draußen essen würden, war von ihm extra so gewählt gewesen und er lächelte zufrieden in sich hinein, dass die Überraschung bisher gelungen war. Der Fahrer reichte ihm den vorbereiteten Korb vom Kutschbock und Ophelias Miene hellte sich auf, als sie ein Picknick vermutete. Womit sie nicht ganz unrecht hatte. Allerdings hatte er nicht vor, sich auf die Wiese zu setzten.
»Lust auf einen kleinen Spaziergang, Madame?«, fragte er verschmitzt und sie hakte sich lächelnd bei ihm unter.
Der Abend war noch jung und der Spätsommer gewährte ihnen beiden ein paar Sonnenstrahlen, die Ophelia mit einem breitkrempigen Hut abwehrte. Er führte sie zielsicher zum See inmitten des Hide Parks. Und sah noch rechtzeitig, wie sich Jules vom Steg entfernte (den er bis eben für ihn bewacht hatte). Er steuerte mit ihr direkt auf die Holzplanken zu. Ophelia musste inzwischen sehen, was er vorhatte.
Am Ende des Stegs war ein Floß befestigt, auf dem Stühle und ein Tisch standen, letzterer für genau zwei Personen eingedeckt.
»Oh, Rach«, sagte sie neben ihm überrascht. »Wie wundervoll!«
Er löste sich etwas von ihr und stieg, ohne in der Bewegung inne zu halten, auf das Floß, das nur leicht wegen seines Gewichtes ins Wanken geriet. Nachdem er den Korb abgestellt hatte, setzte er einen Fuß zurück und reichte Ophelia eine Hand, um ihr auf das Wasser zu helfen. Sie zögerte leicht und betrachtete das kühle Nass einen Moment kritisch, bevor sie ihn wieder ansah und mit seiner Hilfe das Floß betrat.
»Darf ich bitten?«, sagte er und schob den Stuhl näher an den Tisch, während sie sich setzte.
Rach löste das Tau und stieß das Floß vom Steg ab, in dem Wissen, dass sie mit Hilfe der Sicherheitsleine im Wasser wieder an Land zurückkommen würden. Er fühlte sich beobachtet. Doch Ophelias neugierige Blicke hatten nichts mit dem gemeinsam, was er von seiner Arbeit her gewohnt war. Er nahm die bereits entkorkte Flasche Weißwein aus dem Gefäß mit Eis und schenkte ihnen beiden ein. Sie so ruhig zu erleben war ungewohnt. Allerdings blieb die berühmte peinliche Stille zu seiner Erleichterung aus.
»Ich hoffe du hast Hunger«, sagte er schließlich, während er eine kleine Suppenterrine aus dem Korb holte. »Der erste Gang – Maronen-Velouté mit Räucherlachs.« Er tat ihnen mit einer kleinen Kelle auf und garnierte die Suppe noch mit einem kurzen Handgriff, bevor er sich endlich zu ihr setzte und sein Glas erhob. »Auf einen wundervollen Abend!«, sagte er und fühlte, wie die Sorgen des Tages endlich von ihm abfielen, als sie ihr Glas ebenfalls erhob.
Sie wiederholte seine Worte, während sie das Glas an den Mund setzte und als sie es wieder abstellte, wusste er, dass sie ihre Neugier nicht mehr bremsen konnte. Er musste lächeln, als sie ihre Frage abwägte.
»Wie hast du das gemacht? Ich wüsste nicht, dass es hier beim Bootsverleih ein Floß gibt. Vor allem, weil dieser See nur für Angler freigegeben ist. Für alle anderen Freizeitaktivitäten gibt es schließlich den Mengensee.«
»Wenn du erlaubst, bleiben die Details ein kleines Geheimnis. Es ist allerdings hilfreich, im Palast zu arbeiten.«, sagte er und zwinkerte ihr zu. »Und ich hoffe du stimmst mir zu, dass die Aussicht hier wesentlich schöner ist.«
Sie deutete ein kurzes Nicken an und ließ den Blick über den See schweifen, dessen Oberfläche die sirupartigen Sonnenstrahlen nur schwach reflektierte und in sich aufzunehmen schien.
»War der Mann vorhin ein Kollege?«, fragte sie und er sah sie überrascht an.
Er hatte wirklich nicht geglaubt, dass sie Jules bemerken könnte. Doch jener war länger geblieben als nötig. Sein Freund war in seiner Neugier kaum von Ophelia zu unterscheiden.
»Nicht nur ein Kollege, sondern auch mein bester Freund und Mitbewohner.«
Sie schien zu überlegen, in welche Richtung sie das Gespräch lenken sollte und er musste dabei schmunzeln, während er den Löffel zum Mund führte.
»Verzeihung! Wir wollten nicht über unsere Berufe reden«, sagte sie leicht verlegen, was Rach mit einer wegwerfenden Geste kommentierte. Sie lächelte verschmitzt. »Wie wäre es mit etwas
Harmloseren, wie Familie?«
Er hätte sich beinahe verschluckt bei dem Gedanken, seine Familie als harmlos zu bezeichnen. Er räusperte sich leicht, um die Situation zu überspielen.
»Die Suppe ist vorzüglich, Rach«, sagte Ophelia mit einem Lächeln und Rach erwiderte es aufgrund des schnellen Themenwechsels. »Darf ich fragen, wer uns so gut bekocht hat?«
»Darfst du«, sagte er und zwinkerte ihr zu. Er machte eine längere Pause als nötig. »Das bringt mich allerdings etwas in Bedrängnis, wenn ich
den Koch schon vor dem zweiten Gang enthülle.«
Sie wartete geduldig auf seine Antwort und ihre ungeteilte Aufmerksamkeit war herrlich.
»Ich stand heute in der Küche. Es freut mich natürlich, dass es dir schmeckt.«, sagte er und war mit einem Mal noch aufgeregter, als ohnehin schon. »Ich hoffe, das beeinflusst nicht deine Meinung. Dein ehrliches Urteil ist mir wichtig.«
»Zu spät«, sagte Ophelia und errötete leicht. »Mein Urteil ist bereits gefällt. Es könnte jedoch kaum besser werden.«
Er musste bei ihren Worten schmunzeln und war völlig hingerissen von ihren Augen, die ihn in seinen Bann zogen, bis sie schließlich die Lider senkte und genüsslich weiter aß. Er tat es ihr gleich und konnte dabei den Blick nicht von ihr abwenden, während sie sich immer wieder bewundernd umsah. Sie nippte schließlich am Glas und sah ihn über den Rand hinweg an.
»Sehr viel Aufwand für ein Abendessen, Herr Flanellfuß. «
»Findest du?«, sagte er amüsiert und hob dabei die Brauen.
»Ich nehme nicht an, dass es deine Gewohnheit ist, Damen rot leuchtende Sonnenuntergänge auf dem Wasser bei exzellenter Verköstigung zu Füßen zu legen?«
Er sagte nichts dazu, sondern dachte kurz, dass er diesen Abend vielleicht schon zu früh angesetzt hatte.
»Dementsprechend aufwändig muss es gewesen sein, diesen einen Abend zu organisieren«, sprach sie weiter und strahlte ihn an, was ihn seine Zweifel sofort vergessen ließ. »Ich danke dir!«
»Um dir eine Freude zu machen ist mir kein Aufwand zu groß, Madame!«, sagte er mit einem Lächeln und strich peinlich berührt über die Tischdecke.
Sie wurde ganz verlegen, sah ihn allerdings weiter an und dabei fiel ihm auf, dass das schwarz ihrer kurzen Haare langsam dem natürlichen schönen rot wich.
»Das ist...«, sagte sie und fasste sich dabei verschämt an die glühenden Wangen »Ich fühle mich geehrt. Aber du solltest dich meinetwegen keinesfalls in Unkosten stürzen.«
Rach winkte ab. Wenn sie wüsste wofür er sonst sein Geld ausgab, würde sie vermutlich anders denken. Ein Besuch in einem Restaurant wie dem am Breitenweg ging nicht minder ins Geld. Doch das war ihm egal.
»Darüber brauchst du dir wirklich keine Gedanken machen.«
»Ich bin auch mit Wenigem zufrieden... und solange du bei mir bist... glücklich. «
Er deutete ein Nicken an und neigte den Kopf zur Seite.
»Das geht mir genauso«, sagte er und runzelte kurz die Stirn als er ihren ernsten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Rach... ich meine das ernst. Das alles... ich hätte so etwas nicht zu träumen gewagt.« Sie legte ihre Hand im Schoss ab. «Dass du dich überhaupt dazu entschieden hast... also... ich war mir fast sicher, dass wir uns nur zufällig wiedersehen würden und dann standst du plötzlich vor meiner Tür!«
Er merkte, wie ihm das Herz zum Hals schlug. Genau wie an jenem erwähnten Tag, an dem sie wieder zusammengekommen waren. Er sah sich außerstande, etwas zu sagen. Er war gewiss kein Frauenheld. Doch so unsicher wie in diesem Augenblick, hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
»Mein Leben hat sich in diesem Moment unwiderruflich in deine Richtung gewandt, das weiß ich.«, sagte sie und er hatte sich unbewusst vorgebeugt um ihr näher zu sein. Er war vollkommen verzaubert von ihr – allein wie sie ihn ansah brachte ihn beinahe um den Verstand und er stand einem Impuls folgend auf und brachte das Floß damit leicht zum schwanken. Er ging zu ihr, dabei auf sein Gleichgewicht bedacht. Und hätte dadurch beinahe nicht ihren besorgten Blick bemerkt.
»Pass auf! Soll ich dir meine Hand reichen?«
Sie streckte ihm sogleich ihre Fingerspitzen entgegen und ihre Sorge, er könne ins Wasser fallen, rührte ihn nur umso mehr. Er nahm ihre zierliche Hand aus der Luft und mit seiner anderen stütze er sich an der Kante des Tisches ab, als er vor ihr stand. Während er sich zu ihr herunterbeugte, küsste er ihren Handrücken und brach damit die Etikette des Handkusses. Als er wieder zu ihr aufsah, schaute sie ihn mit großen Augen an und hatte den Atem angehalten. Er lächelte sie weiter an, während er ihr noch näher kam. Sie blinzelte und er lockerte seinen Griff um ihre Hand, als er spürte wie ihre Finger zitterten. Er küsste sie und kurz kam ihm in den Sinn, dass dieser Kuss für Ophelia nicht nur der erste ihrer Beziehung sein könnte. Doch als sie seinen Kuss vorsichtig erwiderte, war der Gedanke verflogen.
Jules musste bei seiner Arbeit nie sonderlich darüber nachdenken was er tat. Und das war vermutlich auch besser so. Allerdings waren seine Gedanken ständig bei der Akte von Ophelia Ziegenberger und die neuen Informationen daraus verhießen nichts Gutes. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Rach wirklich alles von der Wächterin wusste. Umso länger er darüber nachdachte, umso mehr wünschte er sich, er hätte niemals die Akte eingesehen. Er atmete kurz durch und betrachtete seine Konstruktion, die aus dem Teppichläufer auf der Treppe eine Trittfalle machen sollte. Das Schwierigste an Inmuhierungsaufträgen des Patriziers war, dass es gewisse Bedingungen gab. Schließlich sollten weder die Assassinengilde noch die Stadtwache auf die Idee kommen, dass es sich bei dem Inhummierungen um unlizenzierte Morde handelte. Es blieben also nur wenige Möglichkeiten. Am leichtesten war es, die betreffende Person einfach verschwinden zu lassen. Der Palast bot dafür viele Möglichkeiten, wie etwa die Skorpiongrube. Wenn jemand verschwand gab es allerdings auch oft jemanden, der nach demjenigen suchte und das galt es oft, zu vermeiden. In diesen Fällen war Kreativität gefragt und meistens auch eine von seinen Fallen. Ein fingierter Sturz von der obersten Treppenstufe reichte oft, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Das Schwierige war, keine Spuren zu hinterlassen. Oder zumindest keine ungewöhnlichen. Er sah die Treppe nach unten und rückte den Teppich schließlich millimeterweise zurecht, bevor er sich wieder aufrichtete und vergewisserte, dass man die Erhöhung der Stufe von oben nicht sah. Jules Ledoux nickte zufrieden und nutzte das Geländer, um wieder nach unten zu gelangen, da jeder Tritt sein Werk zunichtemachen konnte. Unten angekommen hörte er kleine Schritte aus Richtung des Eingangsbereiches und seine Gedanken rasten. Es war noch mitten in der Nacht und laut langer Recherche seiner Kollegen waren Frau und Kind des Opfers bei Verwandten in Pseudopolis. Er drückte sich an die Wand und schaute um die Ecke, als die kleinen Schritte abrupt stoppten. Er sah ein kleines Mädchen und hinter ihr trat lautlos ein bekannter Schemen hervor.
»Agnes, wir hatten eine Abmachung«, sagte sein Konkurrent
[1] und hielt die Kleine an der Schulter fest. »Bleib bitte hinter mir.«
»Harm?«, sagte Jules überrascht während er aus dem Schatten trat. »Du hast deine Tochter mitgebracht?«
Die Augen des Mädchens leuchteten auf und sie war blitzschnell bei ihm. Ihre Attacke kam so plötzlich und unerwartet, dass er sich nur noch darüber wundern konnte, wie er auf dem Boden gelandet war.
»Hast du was gesagt, Krauskopf?«, sagte sie und hielt ihm ein Messer an die Kehle, während sie auf ihm saß.
»Agnes!«, zischte Harm und zog sie von ihm runter. »Was habe ich dir gesagt? Du sollst niemanden auf sein Äußeres reduzieren.«
»Ganz wie der Vater«, sagte Jules mit einem Lächeln und stand wieder auf.
»Verzeih mir Jules«, sagte Harm und dränge die kleine Agnes hinter sich, die nur widerwillig nachgab. »Ich habe erst bemerkt, dass sie mir gefolgt ist, als ich schon fast hier war.«
Jules winkte ab und wusste dabei nicht, was ihn mehr verwirrte: Das freche Mädchen oder Harm, der sie wegen ihrer Äußerung zurechtwies, allerdings nicht dafür, dass sie einen Kollegen mit einem Messer bedroht hatte.
»Soll ich die Spuren beseitigen?«
»Nein, nein! Unsere Vereinbarung gilt noch!«, sagte Harm schnell und sah kurz zu seiner Tochter. »Ich brauche die Prämie.«
»Schon gut, kümmere dich um sie. Ich erledige das hier.«
»Danke Jules, wie kann ich das wieder gut machen?«
»Du könntest meinen Papierkram erledigen«, sagte er und zwinkerte seinem Kollegen zu. »Geht jetzt besser!«
Harm nickte und nahm das kleine Mädchen bei der Hand. Er verabschiedete sich kurz, während das Mädchen Jules die ganze Zeit anstarrte. Erst, als die beiden das Haus verlassen hatten, entspannte sich seine Haltung etwas.
»Was ist hier los? Was machst du hier, Herr?«, fragte jemand hinter ihm, doch der Dunkle Sekretär reagierte nicht darauf.
»Moment mal! Ich habe eine Plakette der Gilde und ich habe meine Rechte!«, rief der aufgebrachte Hausbesitzer, als Jules Anstalten machte zu gehen. »Hierge... argh...«
Es polterte hinter ihm, als die Falle ihren Zweck erfüllte und sein Opfer die Treppe hinunterstürzte. Als es wieder still war, drehte Jules sich um und begann damit, die Falle zu entfernen, als hätte es sie nie gegeben.
»Herr Flanellfuß, ich bitte um die Hand deiner Tochter«, sagte der dunkelhäutige Mann ihm gegenüber und er knirschte mit den Zähnen.
Jules Ledoux straffte seine Schultern und er musterte ihn abschätzig, worauf der Quirmianer den Blick sofort senkte.
»Herr Ledoux, du bist es doch, der meinem Sohn nur Flausen in den Kopf gesetzt hat.« Jules sah ihn irritiert an und er hätte bei dem Anblick am liebsten laut gelacht, stattdessen presste er seine Lippen kurz aufeinander, ehe er weitersprach. »Und jetzt hast du es auf meine kleine Elena abgesehen?«
Der Quirmianer richtete sich schlagartig auf und sah ihn verzweifelt an.
»Rach? Glaubst du wirklich, dass er so reagieren wird?«
»Ich glaube zumindest, dass er dich nicht mit offenen Armen in der Familie begrüßen wird«, sagte er und schüttelte die strenge Haltung seines Vaters regelrecht ab. »An deiner Stelle würde ich ihn wohl nicht fragen.«
»Wenn ich es nicht tue, wird er mich nur umso mehr hassen«, sagte Jules und Rach hatte den Eindruck, dass er nicht nur wegen ihres kleinen Rollenspiels angespannt war.
»Da kann ich dir leider nicht widersprechen«, antwortete Rach und zwinkerte seinem Freund zu. »Aber du solltest dir die Meinung meines Vaters nicht so zu Herzen nehmen.«
Jules seufze und zuckte mit den Schultern. »Du hast vermutlich Recht. Ich will nur alles richtig machen.«
»Ich gebe es nur ungern zu, doch meine Schwester ist glücklich mit dir«, sagte er und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
»Danke, Mann!« Jules sah zu ihm auf und in dem Moment war er sich sicher, dass ihm an diesem Abend noch eine böse Überraschung bevorstand.
»Was hast du mir noch zu sagen?«, fragte er Jules direkt und sah ihn eindringlich an. Sein Freund sah ertappt zu ihm und wandte den Blick schließlich zum Fenster.
»Esther ist doch nicht schwanger, oder?« Zumindest würde das die Sorge um die Reaktion seines Vaters begründen. Doch bei dem Gedanken wusste er nicht, ob er die beiden beglückwünschen oder bedauern sollte.
»Bei den Göttern, nein!«, antwortete sein Mitbewohner erschrocken. »Wie kommst du darauf?«
Er zuckte zur Antwort mit den Schultern.
»Also? Was hast du mir zu sagen, Jules?«
Der Dunkelhäutige seufzte und ließ sich in das Polster des Sofas fallen.
»Setz dich, bitte!«
Er folgte der Bitte irritiert und umklammerte automatisch die Armlehnen des Sessels. So ernst erlebte er seinen Freund nur selten.
»Wie gut kennst du Ophelia?«, fragte Jules. Rach verschlug es glatt die Sprache. »Ich meine, was weißt du über sie und ihr Problem?«
Jules Finger deuteten bei seinen Worten vage zu seinem Kopf, doch er ließ den Arm gleich wieder sinken. Rach legte sich die Hand über den Mund und sah seinen Mitbewohner nur ungläubig an, während seine Gedanken rasten.
»Rach, ich habe etwas herausgefunden und wusste keinen anderen Ausweg«, sagte Jules ruhig.
Er ahnte schon worauf das hinauslief. Doch er wagte es nicht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen.
»Es tut mir leid aber ich habe einen Bericht geschrieben. Er müsste inzwischen seiner Lordschaft vorliegen.«
»Ich habe dir vertraut«, war alles was er hervorbrachte und Jules verzog seine Mundwinkel.
»Wusstest du, dass sie bei ihrem letzten Einsatz genau wegen ihres mentalen Problems aufgeflogen ist?«
Rach schloss die Augen, als könnte er so auch das Gehörte aussperren. »Und nicht nur das! Sie hat dabei nicht nur ihr Leben gefährdet, sondern auch das eines Kollegen!«
Er ließ langsam die Luft aus seinen Lungen entweichen und merkte dabei erst, dass er den Atem angehalten hatte. Rach hatte bewusst keine weiteren Nachforschungen mehr angestellt, nachdem sie ihm ihr Problem gestanden hatte. Er wollte unvoreingenommen eine Entscheidung treffen. Allerdings hatte er genau diese Art Information gefürchtet. Hätte er sich sonst anders entschieden? Nein, er hätte nur länger gezögert. Rach stand ruckartig auf und fixierte Jules wütend.
»Was hast du dir dabei gedacht?! Du hattest es mir versprochen...«
»Ich hatte dir Zeit versprochen«, entgegnete Jules nur. »Wie lange ist das her? Drei...vier Wochen? Sag es mir!«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Du bist blind und willst es einfach nicht wahrhaben«, sagte Jules und stand nun ebenfalls auf. »Du bringst dich unnötig in Gefahr. Glaub mir, ich handle nur zu deinem Besten, Rach.«
Das war genug.
Rach war nur einen Schritt vorgetreten und holte gleichzeitig aus. Er wusste, dass Jules ausweichen würde und so setzte er sofort nach. Die Faust traf mitten ins Gesicht und er schüttelte die schmerzende Hand aus, während Jules sich an seine Nase fasste.
»Schätze, das hab ich verdient«, sagte sein Mitbewohner und prüfte mit einer Handbewegung, ob seine Nase blutete.
Rach erwiderte nichts, sondern ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. Er hatte sich genug abreagiert und jetzt traf ihn dafür umso mehr die Furcht davor, was nun mit Ophelia geschehen mochte, im vollem Ausmaß.
»Es wird sich sicher eine Lösung finden«, versuchte sein
Freund die Wogen zu glätten. Und vielleicht hatte er damit sogar Recht? Allerdings konnte es auch ganz anders ausgehen.
»Eine Lösung, ja. Doch warum erzwingst du gerade diese? Wer weiß schon, wie seine Lordschaft entscheiden wird?«
Jules sah ihn nur entschuldigend an. Er nahm ihn kaum wahr. Er dachte angestrengt nach, welchen Ausweg es noch gab. Ihm wollte keiner einfallen. Er musste abwarten, welches Urteil der Patrizier fällen würde.
»Ich habe deinen Namen in meinem Bericht nicht erwähnt«, sagte Jules schließlich, um die Stille zu unterbrechen.
»Soll ich dir deswegen auch noch dankbar sein?«
Die letzten Tage war Rach ihm regelrecht aus dem Weg gegangen und er hatte den Eindruck, dass die Verabredungen mit Ophelia noch häufiger stattfanden. Falls das überhaupt noch möglich war. Solange Lord Vetinari in diesem Fall nicht agierte, würde sich daran wohl auch nichts ändern lassen. Was sich allerdings unmittelbar auf Jules Ernährung auswirkte. Rach kochte nichts mehr. Zumindest nicht für ihn. Und die Besuche bei den Imbissbuden der Umgebung häuften sich. Wenn er schließlich unweigerlich auf seinen Mitbewohner traf, zog dieser sich sofort in sein Zimmer zurück und malträtierte ihn mit den abscheulichsten Tönen seines Musikinstruments. Jules fragte sich inzwischen, ob das noch eine Querflöte war oder ein spezielles Folterinstrument. Er bereute seine Entscheidung nicht. Er hatte allerdings gehofft, dass Rach zur Vernunft kommen und etwas Abstand zu der Wächterin suchen würde. Zumindest solange, bis es eine Lösung für das Problem gab.
Jemand sprach ihn an und holte ihn aus seinen Überlegungen in das Hier und Jetzt zurück. Esther saß ihm gegenüber an dem kleinen runden Tisch und sah ihn amüsiert an.
»Entschuldige, ich war in Gedanken«, sagte er schnell und ließ kurz seinen Blick über die Dachterrasse schweifen.
»Na, macht dir mein Bruder wieder Sorgen?«, fragte sie und sah ihn dabei über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg an.
Er versuchte ein Lächeln zustande zu bringen und seufzte schließlich.
»Ja, leider. Diese Frau wird, fürchte ich, noch zu einem größeren Problem«, sagte er mehr zu sich selbst und bereute es sofort.
»Ein größeres Problem?«, frage sie neugierig. »Was verheimlichst du mir diesmal?«
»Vergiss es einfach«, winkte er schnell ab und lächelte nur, was Esther mit einem verächtlichen Schnauben quittierte.
»Ich verstehe wirklich nicht, was er an ihr findet...«
»Er wird seine Gründe haben. Ich hoffe nur, ich habe ihn nicht noch mehr angestachelt.«
»Jules, ihr mögt zwar beste Freunde sein, doch glaube mir: Das hat nichts mit dir zu tun!« Sie blickte amüsiert. »Er kann manchmal ebenso stur sein wie ich. Meistens, wenn ihm etwas wirklich wichtig ist.«
»Wenn er nur endlich seinen Kopf wieder einschalten würde!«, sagte er und winkte ab. »Aber lassen wir das Thema.«
»Hast du sie schon kennengelernt?«, fragte sie und er seufzte.
Sie wollte, wie so oft, nicht lockerlassen. Und wenn er Pech hatte, würde das den ganzen Abend so weitergehen.
»Nein. Ich kenne sie, wie du, nur aus ihren Einträgen im Klackernetzwerk.«
»Ich bin gespannt, wann es soweit ist. Mit Sophia hat er sich nicht so viel Zeit gelassen«, sagte sie und grinste dabei anzüglich. »Wir treffen uns manchmal immer noch auf einen Kaffee.«
»Oh, ich bin mir sicher, ihr habt dabei euren Spaß«, sagte er nur und dachte sich seinen Teil dazu.
Sophia Oderfünf war ebenfalls im Palast tätig und so liefen sie sich zwangsläufig über den Weg. Wahrscheinlich gäbe es ohne die Code-Expertin den einen oder anderen Auftrag des Patriziers gar nicht. Warum sie die Beziehung mit Rach beendet hatte, hatte Jules bis heute nicht rausgefunden.
»Wenn du wüsstest«, sagte sie und lachte dabei.
»Ich will es gar nicht wissen«, erwiderte er gekünstelt. »Aber ich kann mir denken, dass Rach – und ich wahrscheinlich auch – nicht gut dabei wegkommen.«
»Du hast es erfasst, mein Süßer!«
Nach ihrer Nachricht im Klackernetzwerk wäre er am liebsten gleich zu ihr. Doch er bremste seine Neugier und sorgte stattdessen dafür, dass der von ihr angekündigte Brief so schnell wie möglich bei ihm landete. Er hatte sofort einen Boten beauftragt, der das Kuvert in Empfang nehmen und direkt bei ihm abliefern sollte. Ihre Wortwahl hatte ihn soweit beunruhigt, dass er vor der Tür des Hauses auf und ab ging und jede Minute auf seine Uhr starrte. Sie hatte angedeutet, dass alles noch komplizierter wurde. Wie sollte das überhaupt noch möglich sein? Was war nur passiert, dass sie ihre Verabredung für heute absagen musste? Er war froh, als der Bote endlich zurückkehrte, damit er sich nicht weiter in den eigenen Gedanken verrannte. Er reichte dem Jungen ein paar Münzen für seine Mühe und öffnete den Brief, während er die Stufen nach oben zur Wohnung stieg. Oben angekommen, ließ er sich auf der obersten Stufe nieder. Jules war sicher zu Hause und er wollte gerade jetzt nicht dessen Aufmerksamkeit wecken. Er las den Brief zweimal und strich sich anschließend durch das Haar, steckte den Brief in die Innentasche seines Jacketts und verharrte einen Moment reglos, bis er schließlich aufsprang und sich auf den direkten Weg zum Wachhaus machte. Wie zur Scheibe hatte das passieren können? Hausarrest auf unbestimmte Zeit im Wachhaus? Allein der Gedanke war absurd – und dennoch nachvollziehbar. Er stockte bei dem Gedanken und schüttelte den Kopf. Er musste jetzt zu ihr und nicht die Entscheidung ihres Vorgesetzten unterstützen. Sie musste sich furchtbar fühlen. Er betrat instinktiv das Wachhaus über den Hinterhof und sprintete die Treppen nach oben zu ihrem Büro. Er klopfte nicht an, sondern riss die Tür auf und verharrte im Rahmen. Sie saß an ihrem Schreibtisch und hatte sich zu ihm umgedreht.
»Ophelia, was ist pa...«
Weiter kam er nicht. Sie war aufgesprungen und warf sich ihm regelrecht an den Hals, sodass er für einen Moment vergaß, warum er hier war. Er drückte sie erleichtert an sich und atmete tief durch.
»Rach«, sagte sie aufgeregt. »Du hast meinen Brief bekommen?«
»Wie kam es dazu?«, fragte er. Oder wollte er fragen. Doch sie redete schon von sich aus aufgeregt weiter und lehnte sich dabei an seine Schulter.
»Ettark Bergigs Bewerbungsgespräch war heute Abend noch auf der Tagesordnung und er hat ebenfalls, durch andere Umstände, Kenntnis von meinem Problem. Im Nachhinein betrachtet musste es dazu kommen. Er verweigerte dadurch eine Zusammenarbeit mit mir. Und Romulus bestand auf eine Aufklärung. Ich musste es ihm sagen und...«, sie stockte kurz, doch er hatte keine Gelegenheit etwas zu erwidern, da redete sie schon weiter. »Oh nein... es wird sicher bald die ganze Wache wissen! Ein Glück ist Mina da gewesen! Sie ist gerade in meiner Wohnung und...«
Er hörte ihr aufmerksam zu, doch es war nicht einfach ihr zu folgen, da sie von einem Gedanken zum anderen hastete und mit jeder Information kamen ihm seine eigenen Gedanken dazwischen. Sobald Vetinari von den neuesten Entwicklungen erfuhr – und das würde er – würde auch jener sicher handeln. Seit Jules den Bericht vorgelegt hatte, wartete Rach eigentlich nur auf das Urteil seiner Lordschaft.
»...jetzt im Moment reden die beiden wahrscheinlich schon über mich und beraten, was sie mit mir machen sollen.«
Er brauchte einen Augenblick bis er wusste, von welchen beiden Personen sie sprach. Doch die Bitterkeit ihrer Worte machte ihm deutlich, wie angespannt das Verhältnis zum Kommandeur schon war. Rach war sich einen Moment nicht mal mehr sicher, was schlimmer werden könnte – Das Urteil Vetinaris oder das des Kommandeurs – Vetinaris Hund?
»…und eigentlich dürfte ich dir das wahrscheinlich alles gar nicht erzählen, oh nein!«, sagte sie letztlich und holte ihn in das Hier und Jetzt zurück. Er war regelrecht erstarrt und sie sah zu ihm auf.
»Es tut mir so leid...«
»Dir muss gar nichts leidtun, Ophelia«, unterbrach er sie schnell, bevor sie sich weiter Vorwürfe machte.
»Rach, ich weiß noch nicht mal, ob du hier sein darfst!«
»Dann werde ich mich nun verabschieden, Madame«, sagte er mit einem Lächeln und löste sich etwas von ihr. »Ich will dir sicher keinen weiteren Kummer bereiten.«
Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern, doch ihre Mundwinkel verkrampften sich dabei nur und er tat das, was er mit am besten konnte. Er log.
»Wir finden eine Lösung.«
Jules hatte ein kleines Déjà-vu, als er die Wohnung betrat. Er ging gleich auf die Terrasse. Rach rauchte wieder und drückte gerade die Zigarette in dem Pflanzenkübel seiner Geranien aus.
»Muss das sein?«, fragte er etwas genervt, doch sein Freund beachtete ihn nicht. »Was ist diesmal passiert?«
»Mit dir werde ich darüber sicher nicht reden«, sagte Rach und schaute demonstrativ in eine andere Richtung.
Jules seufzte innerlich. Sie hatten schon Wochen nicht mehr wirklich miteinander geredet und langsam fürchtete er, dass die jahrelange Freundschaft ein Ende gefunden hatte.
»Das kann nur bedeuten, dass die Situation um Ophelia Ziegenberger schlimmer geworden ist«, sagte Jules und Rach schnellte zu ihm herum.
»Jules, ich warne dich. Keine Nachforschungen mehr. Es ist schon schlimm genug...«
»Und Vetinari wird es sowieso erfahren.«
Rach ließ verzweifelt den Kopf sinken, da er den Kern des Problems getroffen hatte.
»Doch sicher nicht von mir!«, fügte Jules schnell an und Rach sah skeptisch zu ihm auf. »Also, was ist los?«
Rach nahm sein silbernes Etui aus dem Jackett und steckte sich einen weiteren Glimmstängel in den Mund, doch bevor sein Freund die Zigarette anstecken konnte, hatte er sie ihm aus dem Mundwinkel gefischt.
»Es reicht jetzt!«, sagte er aufgebracht, »Ob du es nun glaubst oder nicht. Ich bin noch immer dein Freund.«
Rach seufzte und ging ohne Worte zurück in die Wohnung. Er folgte ihm schnell, doch Rach ließ sich nur in seinen Sessel fallen.
»Es tut mir leid«, sagte er und setzte sich gegenüber auf die Armlehne des Sofas. »Ich hätte den Bericht nicht schreiben sollen.«
»Sie hat Hausarrest, Jules.«
»Wie bitte?«, entgegnete er irritiert.
»
Hausaarrest. Sie darf das Wachhaus nicht mehr verlassen und ob ich zu ihr darf steht noch nicht fest.«
»Du machst Witze, oder?«, sagte er und versuchte, eine Regung bei Rach zu sehen, die ihm das bestätigte. Doch nichts dergleichen. »Ich meine… wie kam es dazu?«
»Ihre Vorgesetzten haben wohl die ganze Tragweite des Problems inzwischen erkannt und dementsprechend gehandelt. Die Reichweite ist größer, als ich bisher angenommen habe. Ich weiß gerade nicht, wie es weitergehen soll.«
Sein Freund atmete tief durch und Jules wusste nur zu gut, was Rach gerade am meisten beschäftigte.
Was wird Lord Vetinari unternehmen? »Er wird sie inhumieren lassen«, sprach er seinen Gedanken laut aus und Rach gab einen frustrierten Laut von sich.
»Ich denke an nichts anderes mehr!«, sagte Rach und schlug mit der Faust gegen das Polster. »Wie kann ich das verhindern?«
»Du meinst wohl wir? Wie können
wir das verhindern?«, sagte er mit einem Grinsen. Rach sah ihn kopfschüttelnd an.
»Das ist nicht witzig!«
»Ich meine das ernst. Ich werde herausfinden, wenn ein Inhumierungsauftrag für sie reinkommen sollte, dass weißt du genau.«
»Und wenn
du den Auftrag bekommst?«, entgegnete Rach schnell.
»Werde ich ihn nicht ausführen. Ganz einfach.«
»Ganz einfach«, sagte Rach mit spöttischem Tonfall, »Du vergisst dabei nur, dass du nicht der einzige bist, der diesen Auftrag kriegen könnte!«
Sein Mitbewohner war immer lauter geworden und Jules hob beschwichtigend die Hände.
»Ich bitte dich, wenn es wirklich so schlimm ist, sollte dir auch klar sein, dass es auch ohne meinen Bericht soweit gekommen wäre!«
Ihm fiel auf, dass er inzwischen auch lauter geworden war. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Rach schwieg.
»Glaube mir, es tut mir wirklich leid«, sagte er wieder ruhiger, »Aber du kannst mir schlecht die Schuld an eurer Situation geben.«
»Du hast Recht«, sagte Rach zu seiner Überraschung und stand auf.
»Wo willst du jetzt hin?«, fragte er und folgte seinem Freund, der schon dabei war, die Wohnung zu verlassen.
»Meine Arbeit machen«, sagte Rach nur, als wäre genau jetzt die Zeit dafür.
»Du willst was? Moment! Solltest du das nicht morgen früh erledigen?«
»Nein, morgen früh habe ich einen Termin mit dem Kommandeur«, sagte sein Mitbewohner mit einem Enthusiasmus, den er sicherlich nur spielte. »Er weiß nur noch nichts davon.«
Rach lächelte ihn auf seine typisch charmante Art an und Jules fragte sich, wie jemand seine Stimmung so einfach ändern konnte.
»Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«
»Wahrscheinlich«, sagte Rach nur und verließ die Wohnung.
Jules folgte ihm so schnell er konnte.
»Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt alleine lasse?«, sagte er, als Rach einen fragenden Blick hinter sich warf. »Schon vergessen? Ich gebe dir Rückendeckung.«
Er verharrte vor der Tür und sah kurz den Gang entlang in Richtung Ophelias Büro. Das folgende Gespräch würde entscheiden, ob er eine Erlaubnis bekam sie zu besuchen – oder nicht. Allein die Vorstellung, dass ihm dies verwehrt bleiben könnte, machte ihn nervös. Es nützte nichts. Er hatte um einen Termin gebeten und Breguyar hatte zugestimmt. Gute Voraussetzungen für ein ehrliches Gespräch, denn sonst hätte er einen Zug machen müssen, der jede weitere Kooperation sicherlich erschwert hätte. Das Büro für innere Sicherheit hätte ihm vielleicht auch nicht die nötigen Befugnisse erteilt. Doch wenn, hätte Breguyar nichts dagegen unternehmen können. Die Alternative wäre das Fenster gewesen und damit die Gefahr, alles nur noch schlimmer zu machen. Er atmete noch mal kurz durch und klopfte schließlich an. Noch war es nicht überstanden. Er trat nach dem obligatorischen ‚Herein!‘ ein und vor den Schreibtisch des Kommandeurs, nachdem er die Tür verschlossen hatte.
»Herr Flanellfuß nehme ich an«, sagte Araghast Breguyar und bot ihm mit einer Handbewegung den Stuhl vor dem Schreibtisch an.
»Ja, Herr. Danke, dass du dir die Zeit für mich nimmst.«
»Was willst du von mir?«, fragte der Kommandeur und musterte ihn dabei kurz.
Der Blick dabei sagte Rach allerdings, dass er gerade in eine Schublade gesteckt wurde, in die er sicher nicht gehörte.
»Es geht um Ophelia Ziegenberger...«, versuchte er es zaghaft. Und hatte damit vermutlich schon den ersten Fehler begangen.
»Ich ahnte es«, sagte sein Gegenüber und knirschte mit den Zähnen. »Du bist also ihr
Verehrer? Sicher, worauf du dich da eingelassen hast?«
»Nein«, antwortete er direkt. »Doch ich bin fest entschlossen, es herauszufinden, Herr.«
Breguyar lehnte sich etwas zurück und schmunzelte kurz.
»Dann gutes Gelingen, Herr Flanellfuß!«
»Herr, wenn ich mein Anliegen vorbringen dürfte...«, versuchte er es erneut, doch Breguyar winkte ab.
»Sie vertraut dir, oder?«, fragte der Püschologe. Rach nickte nur vage.
»Und du? Du würdest wirklich alles für sie tun?«
Rach starrte an die Wand hinter dem Kommandeur. Das Zimmer war komplett grün gestrichen und auch die Püschologencouch hinter diesem irritierte ihn etwas. Natürlich wusste er, in welcher Spezialisierung Breguyar in der Wache tätig war. Aber er hatte sein Anliegen noch nicht mal vorgebracht und der Püschologe nahm ihn schon stückchenweise auseinander! Er versuchte es mit einem weiteren Nicken.
»Was machst du beruflich, Herr Flanellfuß?«
Er zögerte und er zögerte deutlich zu lange für Breguyars Geschmack.
»Du willst eine Besuchserlaubnis von mir, oder nicht? Gut, denn genau deswegen stelle ich diese Fragen, Herr Flanellfuß.«
»Dann wird dir auch klar sein, dass es nicht gut für sie sein kann, sie komplett von der Außenwelt abzugrenzen?« Er sagte das lauter als beabsichtigt und Breguyar brummte unzufrieden.
Natürlich war dem Püschologen das Argument bewusst. Es war wahrscheinlich der einzige Grund dafür, warum Rach noch hier saß. Er musste diese Prüfung bestehen.
»Ich arbeite für den Palast«, sagte er und der Kommandeur rührte sich keinen Millimeter, sondern fixierte ihn regelrecht mit seinem Auge. »Ich bin Inspektor seiner Exzellenz, Herr.«
»Dann gebe ich dir einen guten Rat, Herr Flanellfuß«, sagte der Kommandeur und Rach spannte sich unwillkürlich an. »Rede nicht über deine Arbeit mit ihr! Alles was nicht auch in der Zeitung stehen könnte, darf sie nicht erfahren.«
»Das heißt, ich darf zu ihr?«
»So ist es. Doch versteh mich nicht falsch! Die Lösung für dieses Problem steht im Vordergrund und ich werde nichts unversucht lassen, Herr Flanellfuß.«
Die Worte waren deutlich und duldeten keinen Widerspruch.
»Wir verstehen uns?«, hakte der Kommandeur nach, während Rach noch darüber nachdachte, welche Folgen das bedeutete.
»Ja, Herr«, antwortete er und schluckte seinen Frust herunter. »Wenn du gestattest, gehe ich jetzt zu Ophelia.«
Dass was gesagt werden musste, wurde gesagt. Er wollte hier raus, bevor der Kommandeur sich umentschied oder ihm weiter auf den Zahn fühlen wollte. Breguyar nickte nur und Rach ergriff die Gelegenheit, um den Raum zu verlassen.
Das ging schnell. Sehr schnell und jetzt kam es auf jede Sekunde an. Bei dem Gedanken waren seine Beine schon von alleine losgelaufen und er legte zu einem Sprint an. Er hoffte inständig, dass sein Freund im Büro war. Als er den Korridor entlang raste, prallte er mit jemanden zusammen. Jules fiel. Er überschlug sich, rollte sich geschickt ab und war keine Sekunde später wieder auf den Beinen.
»Tut mir leid, hab's eilig«, sagte er schnell über seine Schulter und wollte gerade weiter, als er Rach hinter sich erkannte.
Sein Freund sah ihn nur fragend an und schien schon zu ahnen, worum es ging. Jegliche Farbe war aus dessen Gesicht gewichen.
»Wie schlimm ist es?«
»Nicht jetzt! Nicht hier...«
Rach nickte verstehend. Der Palast hatte seine Augen und Ohren überall und manchmal war man nicht mal in den eigenen vier Wänden sicher. Seine Gedanken rasten, während sie den Palast auf schnellsten Wege verließen. Rach sah alle paar Sekunden auf seine Taschenuhr, als könnte er so die Zeit verlangsamen.
»Ok, nun sag mir, wer hat den Auftrag?«, fragte sein Freund aufgewühlt, als sie den Garten betreten hatten.
»Harm...«
»Dann will er sie lebend!«, rief Rach aufgeregt, doch Jules schüttelte den Kopf.
»Lass mich ausreden! Das waren, wenn du so willst, die guten Nachrichten.« Jules seufzte ehe er weitersprach. »Falk hat ebenfalls den Auftrag.«
Als er den zweiten Namen ausgesprochen hatte, war Rach schon längst zum Sprint übergegangen und Jules rannte fluchend hinterher. Harm war spezialisiert im
Verschwindenlassen. Wenn er den Auftrag ausführte, würde Ophelia sich einfach in Luft auflösen. Falk allerdings war wie sie intern gerne scherzten vom Suizidkommando. Er brachte seine Klienten meistens dazu, wirklich sich selbst das Leben zu nehmen. In seltenen Fällen musste auch er solche Aufträge ausführen und sie behagtem ihm nie. Meist wurde dem Klienten die Situation nüchtern erklärt, als hätte dieser eine Wahl. Falk allerdings war ein Vampir und nahm Vetinaris Engelsnummer ziemlich ernst. Als Vampir hatte er sicherlich seine Methoden. Falk war jedoch ein Schwarzbandler und lehnte es strikt ab, seine Fähigkeiten einzusetzen. Niemand wusste oder wollte wissen, wie er es tat. Doch nach einem Gespräch von nur ein paar Minuten mit Falk, wünschte man sich, nicht mehr im selben Raum mit ihm zu sein. Die Panik seines Freundes war also nachvollziehbar. Allerdings gab ihnen das auch Zeit zur Vorbereitung. Der Auftrag war frisch. Beide Kontrahenten mussten sich auf Ophelia vorbereiten. Rach schien zum selben Schluss zu kommen, denn seine Schritte verlangsamten sich wieder. Oder seine Kondition hatte stark nachgelassen.
»Das ist Irrsinn! Niemand der Ophelia kennt würde auf die Idee kommen, dass sie…«
»Kannst du dir da so sicher sein?«, unterbrach er Rach schnell. So sehr er auch hoffte, dass sein Freund recht hatte, genau diese Überlegungen würden auch den beiden Kollegen durch den Kopf gehen.
»Wie lautet der Plan?«, setzte er schließlich hinzu und Rach sah ihn an wie ein gehetztes Tier.
»Ich bin noch nicht soweit...«
»Komm schon! Unter Stress arbeitest du doch am besten!«
Rach ignorierte seinen nicht ernst gemeinten Kommentar und zündete sich stattdessen eine Zigarette an.
»Ich muss nach Hause, ein paar Sachen vorbereiten. Du versuchst, die beiden ausfindig zu machen«, sagte sein Freund schließlich immer noch angespannt. »Ich will wissen, was genau sie vorhaben!«
»Bei Harm wird das kein Problem sein... doch Falk?«
»Tu es einfach«, sagte Rach außer sich und nahm einen langen Zug, so dass er husten musste.
»Schon gut! Beruhige dich erst mal! Ich tue, was ich kann und komme dann zu dir.«
»Ich werde bei Ophelia sein...«
»Ich versuche, dich vorher zu erwischen«, sagte Jules schnell und Rach nickte ihm dankbar zu.
Er war kurz davor das Wachhaus zu betreten, doch er entschied sich schließlich dagegen. Wenn alles in Ordnung war, würde Ophelia durch seine Anspannung nur misstrauisch werden und ihn fragen was los ist. Er fühlte sich eindeutig nicht in der Lage dazu, sich zu verstellen. Dies war zu persönlich und zu wichtig. Das Wichtigste war, sie durfte nichts merken. Es war schon kompliziert genug. So lange er einen Weg fand, sie zu beschützen, gab es keinen Grund, ihr etwas zu sagen.
Er betrat eine leere Gasse und begann den Aufstieg auf das Dach. Oben angekommen tastete er nach seinem Blasrohr und den Pfeilen, die er vorbereitet hatte. Wenn er Recht hatte, würden seine Kollegen, trotz aller Widrigkeiten, auch schon heute zuschlagen. Falls nicht, würde Jules hoffentlich herausfinden wann. Solange würde er Wache stehen. Er sah nur kurz zu ihrem Fenster, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Erleichtert atmete er ein paar Mal tief ein und aus, während er die Umgebung im Auge behielt. Er entschloss sich gewisserweise Patrouille zu gehen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, wie seine Kollegen – oder besser gesagt Jules Kollegen – vorgehen könnten. Noch ein paar Stunden bevor es dunkel wurde und er beruhigte sich langsam, als ihm klar wurde, wie unsinnig sein Verhalten war. Die Straßen waren belebt und das Wachhaus zu dieser Zeit gut besetzt. Noch war also genug Zeit. Doch für was eigentlich? Selbst, wenn er Harm und Falk aufhalten konnte – was dann?
In dem Moment hörte er, wie jemand das Dach ebenfalls betrat. Rach sah sich hektisch um.
»Ich bin es nur«, sagte Jules und schloss schnell zu seiner Position auf.
»Und?«, fragte Rach angespannt.
»Harm und Falk scheinen diesmal gemeinsame Sache zu machen, beide waren zusammen im Palast. Aber ich habe nachgedacht… Warum ausgerechnet Falk?«
Rach stutze, als ihm klar wurde, worauf Jules hinauswollte. Falk war ein Vampir. Auch wenn nicht klar war, wie Ophelias
Gabe sich auf ihn auswirken würde - Vetinari würde sicherlich nicht das Risiko eingehen. Was bedeutete, Falk war nicht auf Ophelia angesetzt- sondern auf ihn!
Jules beäugte ihn kritisch, als er sich durchs Haar strich und nervös auf und ab ging.
»Sag mir jetzt nicht, du wärst der Dritte im Bunde", wandte er sich an Jules.
»Was soll das jetzt bitte heißen?«, empörte sich sein Freund.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Rach eine weitere Person auf dem Dach gegenüber. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken und sprintete los, sprang und rollte sich ab. Es war Harm, der kaum überrascht schien und die Dreistigkeit besaß, ihm zuzuwinken, doch er hatte das Blasrohr schon erhoben.
»Halt…«
Weiter kam der Dunkle Sekretär nicht und Jules eilte herbei, um zu verhindern, dass Harm vom Dach stürzte.
»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«, fragte Jules außer sich und legte den bewusstlosen Kollegen ab.
»Wo ist Falk?«, fragte Rach ihn nur und ignorierte seinen Einwand völlig.
»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete er nur und betrachtete den Pfeil in Harms Nacken, bevor er ihn letztlich entfernte.
Die ganze Situation war surreal und er fühlte sich im falschen Klacker. Das Leben als Dunkler Sekretär war aufregend, keine Frage, doch das war selbst für ihn zu viel.
»Tu nicht so«, sagte sein Freund aufgeregt. »Falk ist eine Ablenkung… um mir Angst zu machen. Und glaub mir, ich bin in Panik! Denn es bedeutet, dass der eigentlich zweite Mann jemand anderes ist… du, Jules!«
»Du bist paranoid!«, entgegnete er schnell.
Das war absurd, er hatte seine Bedenken zu Falk selbst geäußert. Normalerweise war es Rach, der solcherlei Zusammenhänge zuerst schlussfolgerte, doch sein Freund war von der Problematik zu sehr mitgenommen und nun wirkte er wie ein Tier in der Falle, das selbst wenn man ihm helfen wollte zubiss.
»Vielleicht«, sagte Rach mit einer Ruhe und Besonnenheit die wirklich beängstigend war. »Gut möglich. Doch du hast den Bericht geschrieben…das Ganze ist deine Schuld!«
»Fängt das wieder an«, schrie Jules nun regelrecht. Er senkte seine Stimme jedoch gleich wieder, als er seinen Fehler bemerkte. »Glaube mir, ich bin auf deiner Seite! Du musst zugeben, das geht zu weit!«
Jules deutete zu dem Kollegen zu ihren Füßen und Rach zuckte nur mit den Schultern.
»Hast du überhaupt eine Ahnung dazu, wie es um Ophelia steht? Im Wachhaus ist sie das Ziegenberger-Problem, wusstest du das?«, sprach er weiter und Rach sah ihn überrascht an, ob der neuen Information. »Im Gegensatz zu dir, halte ich mich auf dem Laufenden. Du wagst es nicht eine Sekunde weitere Nachforschungen anzustellen, aus Angst, es würde dich zu sehr beeinflussen!«
»Ja, verdammt!«, schrie sein Freund verzweifelt auf. »Du hast Recht. Ich habe eine Scheißangst! Allein der Gedanke, ich würde mich um der Vernunft Willen von ihr fernhalten, bricht mir das Herz, Jules. Wenn ihr heute Nacht irgendetwas widerfährt oder sie auch nur mitbekommt, was um sie herum gerade geschieht... Ich weiß nicht, was dann passiert. Ich kann es mir schlichtweg nicht vorstellen. Also bitte sag mir, dass ich weiterhin auf dich zählen kann.«
»Schon vergessen?«, entgegnete er mit einem Grinsen. »Ich gebe dir Rückendeckung.«
Rach erwiderte das Lächeln kurz und strich schließlich seinen Anzug glatt.
»Also, wie lautet der Plan? Selbst, wenn wir Falk aufgreifen, oder wer auch immer noch involviert ist, das kann nicht gut enden.«, äußerte er schließlich seine Bedenken. So sehr er seinem Freund auch helfen wollte, er selbst sah keinen vernünftigen Ausweg aus der Situation. »Wir können nicht einfach unsere Kollegen
verschwinden lassen.«
Rach strich sich durchs Haar und wandte sich von ihm ab.
»Ich werde wohl oder übel Lord Vetinari die Situation erklären müssen... und wenn ich mich nicht irre, erwartet er mich bereits.«
Jules sah seinem Freund nur ungläubig hinterher und unterdrückte jeden Protest. Egal was sein Freund dem Patrizier erzählen mochte, Jules konnte sich kein Szenario vorstellen, in dem Rach heil davonkam.
Und da war er wieder. Im Büro des Patriziers und wartete auf dessen Urteil. Mit einer einfachen Predigt würde er dieses Mal sicher nicht davonkommen. Lord Vetinari hatte ihn, wie befürchtet, schon erwartet. Besser gesagt: Drumknott hatte ihn sofort ins Rechteckige Büro geführt. Inzwischen wartete er schon mindestens eine halbe Stunde, während seine Lordschaft eine besonders dicke Akte durchzugehen schien. Es war zermürbend und langsam bildete sich Schweiß auf seiner Stirn. Dennoch rührte er sich keinen Millimeter von seinem Platz. Er saß aufrecht, mit gestraften Schultern, seine Handflächen ruhten auf seinen Schenkeln. Rufus Drumknott stand wie so oft neben dem Patrizier und ab und an erfolgte eine stille Kommunikation, wobei Havelock Vetinari auf etwas im Dokument deutete und sein Sekretär daraufhin etwas notierte. Jede weitere Sekunde schweiften Rachs Gedanken ab und er hoffte inständig, dass Ophelia in Sicherheit war. Viel zu lange war er schon hier. Er fühlte sich wie ein Gefangener, obwohl er aus freien Stücken hier war. Mehr oder weniger. Am Ende hatte es wohl auf dieses Zusammentreffen hinauslaufen müssen. Sein Termin, solange dieser sich auch hinziehen mochte, war schon lange für heute eingeplant gewesen, da konnte man sich bei seiner Lordschaft sicher sein. Rach würde zumindest darauf wetten.
»Nun, Herr Flanellfuß«, erhob Lord Vetinari endlich seine Stimme. Dessen Aufmerksamkeit galt allerdings noch immer der Akte. »Ich bitte dich, möglichst schnell zum Punkt zu kommen.«
Und das war es. Einfach, kühl und abweisend. Nicht einmal ironisch oder sarkastisch, was Rach fast schon erwartet hatte. Und es verfehlte nicht seine Wirkung. Seine nächsten Worte waren ausschlaggebend, das war ihm so sehr bewusst, dass sein Mund auszutrocknen schien. Der Dunkle Sekretär leckte sich über die Lippen und atmete tief ein.
»Herr«, setzte er an, um sich seiner Stimme sicher zu sein. »Ich beantrage nach Artikel sechs der Stadtverordnung die Begnadigung für Oberfeldwebel Ophelia Ziegenberger.«
Lord Vetinari sah auf und zuckte mit den Mundwinkeln, während Drumknott sich vorbeugte und seinem Vorgesetzten etwas in seinen Notizen zeigte.
»Sieh an. Bringe ich dich etwa in Zugzwang, Herr Flanellfuß?«, entgegnete der Patrizier und lehnte sich zurück.
Rach hatte die Aufmerksamkeit seiner Lordschaft erlangt und zuckte mit den Schultern. Er hatte nichts mehr zu sagen. Der Gedanke war nicht neu und es gab sicherlich bessere Umstände. Und so schnell die Entscheidung nun auch schien, er hatte schon lange daran gedacht. Er musste sich eingestehen, dass Ophelias Hausarrest ihn dazu veranlasst hatte, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Jetzt allerdings bereute er, dass er sich davon hatte einschüchtern lassen.
»Meines Wissens, wurde noch nicht mal die entscheidende Frage gestellt. Was im Grunde die Voraussetzung für eine Begnadigung wäre.«
»Nun, ich hoffe inständig, dass ich noch die Gelegenheit dazu bekomme.«
»Verstehe« Lord Vetinari legte wie so oft seine Fingerspitzen aneinander. »Hoffen wir also, dass sie auch
Ja sagt.«
Der Patrizier war nun sichtlich amüsiert von der Situation und Rach traute seinen Ohren kaum.
»Vielen Dank, Herr«, entgegnete der Dunkle Sekretär schließlich und deutete einen Diener an.
»Damit wir uns nicht falsch verstehen, Herr Flanellfuß«, sagte Lord Vetinari und hob dabei mahnend die Hand. »Das ist kein Freibrief! Glaube nicht, dass du so einfach davonkommst. Ab sofort erwarte ich eine angemessene Berichterstattung und keine weiteren Sabotagen deinerseits.«
»Natürlich nicht, Herr.«
»Jeder bekommt nur einen Engel, Herr Flanellfuß, vergiss das nicht.«
Jules Blick war auf das Wachhaus gerichtet und dabei immer wieder darauf bedacht, die Konzentration nicht zu verlieren. Harm war noch immer nicht bei Bewusstsein, doch seine Atmung war normal und sein Zustand somit nicht besorgniserregend. Er hatte seinen Kollegen neben sich an den Schornstein gelehnt und hoffte, dass Harm bald aufwachen würde, um die Situation aufzuklären. Es wurde langsam dunkel und in Ophelias Zimmer brannte Licht. Alles ging seinen gewohnten Lauf. Niemand war auf den Dächern unterwegs. Keine ominöse Gestalt betrat das Wachhaus. Bis auf den Zwischenfall mit Harm, war alles ruhig, geradezu normal.
Jules seufzte innerlich.
Seine Sorge galt derzeit Rach und dessen ungewissem Schicksal. Sein Freund hatte sich einfach dem Patrizier ergeben! Er biss sich auf die Unterlippe, als er daran dachte, wie tief er selbst in der Misere steckte. Wusste seine Lordschaft bereits, dass er die Informationen an Rach weitergegeben hatte? War das Ganze eine Falle gewesen? Jules schüttelte bei dem Gedanken den Kopf. Er hörte sich schon genauso paranoid an wie Rach! Er musste lachen.
»Was ist bitte so komisch?«, fragte Harm neben ihm und fasste sich dabei in den Nacken. »Und was bitte war das?«
Jules richtete sich schnell auf und sah sich um, bevor er sich wieder auf seinen Kollegen konzentrierte.
»Sag mir besser, was du hier machst.«
»Ich gehe wohl eher zurück und erstatte Bericht.«, ignorierte Harm die Frage und machte Anstalten das Dach zu verlassen.
»Oh nein, hiergeblieben!«, sagte Jules und packte seinen Kollegen dabei am Handgelenk. »Du sagst mir erst wo Falk ist und wer noch involviert ist!«
»Du weißt, dass dies gegen die Vorschriften ist, Jules.«, entgegnete Harm gelassen.
»Bitte! Du hast Rach gesehen und wozu er derzeit fähig ist. Und ich befürchte das Schlimmste.«
»Jules? Hast du Flanellfuß die Information gegeben oder hat er auf eigene Faust gehandelt?«
Er runzelte die Stirn. Die Frage machte ihn stutzig und Harm schien regelrecht auf die Antwort zu lauern. Das Ganze wurde immer absurder.
»Lass ihn gehen!«, hörte er Rach hinter sich und er drehte sich überrascht zu seinem Freund um. »Harm hat recht. Er sollte Bericht erstatten.«
Jules ließ Harm ziehen. Und sein sonst so gut gelaunter Kollege zog stillschweigend vom Dach, während er sich das Handgelenk rieb.
»Sag mir bitte, dass dieser Alptraum vorbei ist«, sagte Jules an Rach gewandt, als sie schließlich wieder für sich waren.
»Bald... hoffe ich«, kam die zögernde Antwort seines Freundes. »Jules, es tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe.«
»Ha, ich hab mich ganz von allein in die Scheiße geritten.«
Er durchsuchte den Nachttisch und dessen Schubladen gründlich, doch er fand keinen versteckten Boden oder andere Mechanismen. Alles war normal und seine Suche bisher erfolglos. In den Schmuckkästchen war nichts Außergewöhnliches und im Tresor ebenso wenig. Nichts. Er wollte gerade aufgeben, als der Dunkle Sekretär eine Eingebung hatte. Er ging wieder hinunter in den Wohnbereich des Anwesens und steuerte auf den Kaminsims zu. Das roße Bild darüber beachtete er nicht weiter. Er öffnete die Schatulle. Sie war leer und er runzelte die Stirn.
»Was soll das werden?«, sagte jemand hinter ihm.
Rach schnellte herum.
»Ich freue mich über deinen Besuch, doch ich hätte nie gedacht, dass du mich bestehlen würdest.«
»Vater, bitte, ich habe dich nicht bestohlen!«
»Weil du nichts gefunden hast, nehme ich an«, sagte Emmet Flanellfuß und setzte sich in einen Sessel, »Suchst du das hier?«
Als sich der alte Assassine gesetzt hatte, holte er etwas aus seinem Gehrock und hielt es über sich in die Höhe. Die Ringschachtel, die Rach seit Stunden gesucht hatte, war die ganze Zeit bei seinem Vater gewesen. Er seufzte resigniert und ließ sich in den Sessel gegenüber fallen. Er sah zu dem Gemälde über dem Kamin – das Bild einer glücklichen Familie. Für ihn hingegen war es nur ein peinliches Porträt, das ihn als Baby zeigte.
»Also? Was hast du mir zu sagen, Junge?«
»Woher wusstest du, dass ich den Ring holen würde?«
»Lenk nicht ab!« Sein Vater war lauter geworden, doch Rach schwieg beharrlich und wartete auf Antworten. »Zufall, Rach, nichts weiter. Ich habe den Ring gerade vom Juwelier abgeholt. Ich lasse ihn regelmäßig aufpolieren. Also...«
»Wieso?« Er unterbrach seinen Vater verwirrt. Er war fest davon ausgegangen, dass er noch eine Weile das Haus für sich alleine hatte. Emmet Flanellfuß war an diesem Abend für gewöhnlich im Fingerhuts und probierte den neuesten Tabak.
»Sag bloß, ich werde Großvater«, sagte sein Gegenüber und Rach hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht irgendetwas Dummes zu sagen. »Nein?«
»Vater, ich habe die Richtige gefunden und bin entschlossen, den Rest meines Lebens mit ihr zu verbringen!«, sagte er schnell und hielt schließlich kurz den Atem an.
»Junge, was habe ich dir denn getan, dass du den Ring lieber entwenden willst, statt mich einfach darum zu bitten?«
Und da war er wieder, der enttäuschte Gesichtsausdruck. Seit seinem Austritt aus der Gilde, hatte er seinen Vater kaum anders erlebt.
»Ich wollte dich vor vollendete Tatsachen stellen, denn ich bin mir sicher, dass du mit dieser Verbindung nicht einverstanden wärst.«
»Wie kannst du dir da sicher sein?«
»Weil, ob du es glaubst oder nicht, du und Esther, ihr teilt die selben Vorurteile. Ihre Kommentare haben mir schon gereicht, um die Situation zur Genüge einschätzen zu können.«
»Ich bitte dich, mach dich nicht lächerlich, Junge«, sagte sein Vater nicht weniger aufgebracht als er selbst. »Mir liegt viel an deinem Glück, auch wenn ich sicher nicht mit all deinen Entscheidungen einverstanden bin. Ich bin dein Vater und liebe dich, egal was du tust!«
Er sah seinen Vater überrascht an. Einen solchen Gefühlsausbruch hatte er nicht von ihm erwartet. Emmet selbst von sich scheinbar ebenso wenig. Sein Vater strich sich über den Schlag seiner Hose und räusperte sich verlegen.
»Du und meine kleine Elena, ihr seid das Einzige, was ich habe.«
Rach ließ kurz seinen Blick über das große Zimmer schweifen und ihm wurde bewusst, wie einsam sein Vater sein musste, seitdem auch seine Schwester das Haus verlassen hatte. Sein Haar war inzwischen fast vollständig ergraut und das enttäuschte Gesicht war ein trauriges. Er presste die Lippen zusammen. Tat er seinem Vater etwa Unrecht und hatte viel zu lange an seinem jugendlichen Trotz festgehalten? Sein alter Herr wollte wieder ein Teil seines Lebens sein?
»Lass mich dir versichern, dass ich glücklich bin, Vater. Wir sind glücklich. Ich hoffe sehr, dass sie meinen Antrag annehmen wird.«
»Tanze mit ihr und sie wird ja sagen«, sagte sein Vater und sah dabei verträumt auf das Bild über dem Kamin.
»Ich habe schon, ein hoffe ich, passendes Stück erworben«, sagte Rach und musste grinsen.
»Wirst du sie mir vorstellen?«, fragte sein Vater zaghaft, als befürchte er, zu forsch zu sein. »Oder mir zumindest ihren Namen verraten?«
»Es ist zurzeit leider etwas kompliziert, doch bei passender Gelegenheit werde ich dir Ophelia natürlich vorstellen.«
»Kompliziert?«, fragte sein Vater und hob die Brauen.
Rach nickte angespannt und sein Vater hob beschwichtigend die Hände.
»Ich werde nicht weiter nachfragen, Junge, doch ich werde dir zuhören«, sagte sein Vater mit einem Lächeln und reichte ihm die Ringschachtel. »Wie ist es dir in letzter Zeit ergangen?«
Man hätte meinen sollen, dass er sich langsam an den Anblick gewöhnte. Doch die Anspannung wurde nur jedes Mal größer, wenn er seinen Freund auf der Terrasse erblickte. Die Wohnung lag wie immer im Dunkeln und Rachs Silhouette war nur zu erahnen. Nur das Glühen der Zigarette verriet dessen Anwesenheit. Jules begab sich sofort nach draußen und lehnte sich ans Geländer.
»Was ist es diesmal?«, fragte er schließlich.
Sein Freund entgegnete nichts, sondern förderte nur eine Ringschachtel zutage.
»Du bekommst doch nicht etwa kalte Füße?«
»Sicher nicht! Ich fürchte nur...« Rach unterbrach sich, um einen weiteren Zug von seiner Zigarette zu nehmen. »Was, wenn sie nicht gleich ja sagt? Oder schlimmer, sie lehnt ab?«
»Darüber machst du dir ernsthaft Sorgen?«
Jules konnte nicht anders und musste lachen. Wenn eines klar war, dann dass Ophelia und Rach zusammengehörten. Allein, was sein Freund schon in Kauf genommen hatte um diese irrsinnige Beziehung aufrecht zu erhalten! Ophelia, so viel wusste er, war Rach von Herzen zugetan. Und er zumindest konnte die Turteltauben oft genug zusammen erleben, um sich sicher zu sein. Jules hätte nur nie geglaubt, dass sein Freund mal so verliebt sein könnte, dass er die Anzeichen selbst nicht deuten konnte.
»Das ist nicht witzig, Jules!«
»Oh doch, und wie!”, entgegnete er zwischen einem Atemzug und prustete wieder los.
»Schön, dass ich dich erheitern kann.«
»Liebe macht wohl wirklich blind, mein Freund.« Jules hatte sich wieder beruhigt. »Aber im Ernst. Ich glaube nicht, dass du dir darüber den Kopf zerbrechen musst.«
»Ich hoffe du hast Recht.«
»Deine einzige Sorge sollte der Klatsch der Kollegen sein. Es macht schon die Runde, dass du dich als Paragraphenreiter herausstellst. Ich möchte dich wirklich nicht noch weiter runterziehen aber die Wetten laufen schon... darüber, wann du sie fragen wirst.«
Rach seufzte und Jules konnte dabei nicht sagen, ob sein Freund selbst unschlüssig über den möglichen Zeitpunkt seiner Frage war. Oder ob es das Bedauern über eine Wette war, auf die er nicht setzten konnte.
»Tu mir einfach den Gefallen und frag sie noch vor Oktotag.«
Rach sah ihn ob seiner Aussage direkt an: »Deine Zuversicht hätte ich gerne. Aber ich hoffe, wir sind dann quitt?«
»Ich hatte wegen dir einen Termin beim Patrizier...«, antwortete er und schüttelte dabei gespielt den Kopf. »Bevor wir quitt sind, mein Freund, vergeht noch viiiiiel Zeit.«
»Du wirst mir das jetzt bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben, stimmt‘s?«
»Jap«, sagte Jules und klatsche gut gelaunt in die Hände. »Nun... wann fragst du sie?«
Rach grinste ihn für einen Moment an und drehte die Ringschachtel in seiner Hand.
»Anscheinend noch vor Oktotag.«
»Guter Mann, das wollte ich hören.«
Jules ging vergnügt ins Wohnzimmer und war noch immer amüsiert über Rachs Unsicherheit in der Angelegenheit. Natürlich war die Situation alles andere als einfach, doch warum einfach, wenn auch kompliziert ging?
ENDE
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Gedankenverloren
[1] Angeordnete Inhumierungen von Lord Vetinari waren eine ernste Angelegenheit und wenn in den Augen des Patriziers jemand wirklich sterben musste, ging er auf Nummer Sicher. Havelock setzte immer zwei Mitarbeiter an, die sich auf Inhummierungen spezialisiert hatten. Wer es schaffte, bekam eine Prämie. Es galt der Grundsatz: Vier Hände töten mehr als zwei. Dem Opfer blieb somit keine Chance. Wickelte es den einen um den Finger oder legte ihn herein, so war der andere zur Stelle. Es blieb den Dunklen Sekretären selbst überlassen, ob sie zusammenarbeiteten und somit die Prämie teilten. Oder nicht. Doch eines durfte nie geschehen: dass sie sich gegenseitig an die Gurgel gingen. Man konnte nie wissen, ob ein dritter zur Beobachtung eingeteilt war. Als Dunkler Sekretär musste man mit der Paranoia leben, sie liebkosen und jederzeit ignorieren können.
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