Dunkle Phase

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von Gefreiter Wilhelm Schneider
Online seit 23. 08. 2018
Zeitmönche haben die Geschichte auf den 12. 09. 2014 datiert
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 Außerdem kommen vor: MaganeKanndraRabbe SchraubenndrehrNyria MaiorSenray RattenfaengerJargon SchneidgutRach FlanellfußRogi FeinstichMina von Nachtschatten

Einige Nächte lang die Zelle eines Gefangenen bewachen. Das wird wohl sogar für einen frischen Gefreiten zu schaffen sein, nicht wahr?

Dafür vergebene Note: 13

TAG 22

Ein rasender Flug durch tiefschwarze Finsternis. Die hohen Peilsignale des Anderen dicht vor sich. Eine scharfe Kurve, so eng geflogen, dass er die Nähe der gemauerten Kellerwand als kalte Berührung auf den Flügeln spüren kann. Dann ein blendend greller, senkrechter Lichtbalken, der sich nur für eine letzte Sekunde noch direkt vor ihm zeigt. Und der Aufschlag. Die Kollegen um ihn herum. Aufregung, pulsierende Herzen, pulsierendes Blut. Das Gefühl unerträglich alter Macht, Dominanz, die ihn auf direktest mögliche Weise auf die Knie zwingen will, über die Gedanken, die Gefühle. Ein Angriff, aus der Verzweiflung heraus. Entweder Bestehen und sie damit irgendwie retten. Sie beide. Sie alle! Oder fallen, endlos. Schmerz, pfeilgenau, allumfassend, schrecklich! Ein undefinierbarer Verlust! Und irgendwann ein einsam-euphorischer Heimweg... über Umwege... heim... zu ihr. Voller Hoffnung. Voll naiver Unwissenheit zum Kommenden.

TAG 23

Es hieß, Raistan habe den Alten durch ein magisches Siegel vor dessen Gruft festgesetzt. Eine wacheseitig verhängte Untersuchungshaft der speziellen Art. Vermutlich war solch ein Vorgehen dem Kommandeur nur deswegen möglich, weil diesen eine Freundschaft mit dem jungen Zauberer verband. Standardprozedere war das jedenfalls eher nicht. Und es hielt den Greis auch nicht wirklich davon ab, sein Gift zu verspritzen. Wilhelm war sofort als mögliche Nachtwache auserkoren worden. Nicht nur gehörte er zu den Eingeweihten, wodurch der Kommandierende ihn nicht erst auf ein gewisses Stillschweigen im Zusammenhang mit dem Alten einschwören musste, sondern er schien auch auf geistiger Ebene die besten Chancen zu haben, unbehelligt aus den Sticheleien Raculs hervorzugehen. Immerhin war er selber ein Vampir und auf diesem Gebiet bewandert. Zumindest bot sich den Kollegen dieses Bild. Er selber war zwar nervös, bei der Aussicht, einige Nächte an der Gruft Wache stehen zu müssen. Aber zu dem Zeitpunkt beschäftigte ihn noch viel mehr der Gedanke an eine andere persönlich bedeutsame Gefahr. Der Pakt mit dem Dämon. War dieser tatsächlich endlich als erfüllt und größtenteils als beendet anzusehen? Konnte er sich als befreit von der Gefahr ansehen, unwillkürlichen Rückkopplungen ausgesetzt zu sein, wie es der Kreatur beliebte? Senray hatte sich zu einem Test bereiterklärt gehabt. Widerwillig, da sie ihm nicht wehtun wollte. Und auch ihm selber gefiel es keinesfalls, dass sie dazu gezwungen war, ihre Haut mit einem kleinen Schnitt zu versehen. Aber das Resultat war es wert gewesen. Der Dämon schien den größten Teil seiner Macht über ihn damit eingebüßt zu haben, dass Wilhelm die auferlegten Bedingungen erfüllt und sowohl zu Ophelias Rettung beigetragen, als auch Senray aus der Gefahrenzone herausgehalten hatte. Einige Stunden lang hatte ihn Euphorie erfüllt gehabt. Doch dann...

Die erste Gruftwache hatte ihn regelrecht überrollt. Die folgenden Stunden, ja, der ganze daran anschließende Tag, zeichneten sich vor allem durch Verwirrung und einen schwer zu lokalisierenden, emotionalen Schmerz aus. Er befand sich danach in einem seltsamen Zustand, ähnlich jenem, den die Menschen beschrieben, wenn sie eine fiebrige Grippe auszukurieren hatten. Deren Erzählungen davon deckten sich überraschend deutlich mit seinen eigenen, neuartigen Empfindungen. Er konnte sich nicht gut konzentrieren und seine Gedanken schienen ein bösartiges Eigenleben zu entwickeln, wanderten hierhin und dorthin, unfähig, eine Frage zufrieden stellend aufzulösen oder von bestimmten Grübeleien bewusst abzulassen. Er fühlte sich gefangen zwischen Zweifeln, die wie Ratten an seiner Seele nagten, während er gleichzeitig zu erschöpft war, um ihnen Einhalt zu gebieten. Racul hatte die dunklen Stunden zu zweit weidlich ausgenutzt, indem er, einer Schlange gleich, dicht hinter der magischen Barriere lauerte und mit seiner leise zischenden Stimme zustieß. Er hatte in so vielen Bereichen von Wilhelms Existenz herumgebohrt, dass diesem noch immer der Kopf schwirrte. Und in jede Fuge und Lücke, die er als Ansatzpunkt seiner mentalen Hebel vorfinden konnte, hatte der Alte seinen ätzenden Sarkasmus tropfen lassen, seine abgrundtiefe Verachtung für einen Artgenossen, dem er nicht einmal dieses Prädikat zugestehen wollte. Er hatte sich auf geistiger Ebene mit spitzen Krallen in Wilhelms Selbst gebohrt, soweit ihn die Barriere nicht davon abhielt. Und er musste an Erinnerungen und Gefühle heran gekommen sein, die Wilhelm in Sicherheit geglaubt hatte. So hatte Racul über die Macht des Dämons gelacht, die jener über ihn hatte. Er hatte Wilhelm für dessen Schwäche abgeurteilt und ihm Schande zugeschrieben dafür, aus dem Tod der eigenen Eltern profitiert zu haben - durch deren hinterlassenes Erbe. Raculs raspelndes Krächzen in der Dunkelheit, dessen verächtliches Lachen, hatten sich ihm eingebrannt. Und dessen hämische Vorwürfe hatten seine Gedanken auch Stunden später noch in verletzende Endlosschleifen geschickt. Einzig das Bild von Senray vor seinem inneren Auge hatte ihm helfen können, der Gedankenspirale zu entkommen.

TAG 24

Die Nachricht erreichte ihn über Umwege. Er hatte seinen freien Tag für Einkäufe nutzen müssen und sich nach diversen Marktständen und Geschäften für Spezialzubehör am Pseudopolisplatz wieder gefunden. Aus einem Impuls heraus war er zum Wachhaus rüber gelaufen und hatte es betreten, in der vagen Absicht, auf den Dienstplan zu sehen und seine Taschen und Tüten auf einen Kaffee in der Kantine abzustellen. Er war auch neugierig darauf gewesen, was geredet wurde. Welche Informationen es, trotz ihrer aller Geheimhaltung, bis hierher geschafft hätten. Und er hatte den Wunsch verspürt, vielleicht einen der Kollegen aus dem Rettungszirkel anzutreffen, sei es auch nur, um wissende Blicke auszutauschen und sich damit zu bestätigen, dass sie sich das alles nicht eingebildet hatten. Und erst war es unterhaltsam gewesen. Die Schlagzeilen der aufgeschlagenen Tagespresse auf einem der Kantinentische. "Stadtwächter fassen vampirischen Massenmörder", "Vetinari macht kurzen Prozess mit Jungfrauenschlächter" und "Geheimnisvoller Profi-Mob aus Überwald räumt im Ankh Morporker Schlamm auf!!!" Schlagzeilen, die im Gemunkel der fliegenden Wortfetzen vor dem Kaffeedämon ebenfalls auftauchten, zusammen mit Vermutungen und großem Rätselraten. Und dem eingebrachten Halbwissen der Ereignisse innerhalb des Wachhauses in den letzten Wochen. Die Gerüchteküche war am Brodeln und sie war erstaunlich nahe an den wahren Fakten dran, soweit Wilhelms feines Gehör dem zu folgen vermochte. Es trafen sogar ihn einige verstohlene Blicke. Ja, er gehörte endlich wirklich dazu, zum Rettungszirkel. Es hatte ihn mehr gekostet, als er zu Beginn geahnt hatte. Und stünde er nochmals vor derselben Entscheidung... aber diese ganze Geschichte hatte ihm auch etwas sehr Kostbares eingebracht. Ohne die Suche nach Ophelia, ohne sein ungeschicktes Vorgehen bei der Suche nach Informationen dafür, wäre ihm Senray niemals in gleicher Weise aufgefallen...
Sein seliges Grinsen in die Tasse mit undefinierbarer Brühe wurde abrupt unterbrochen, als ein sichtlich aufgeregter Kollege an die anderen an der Ausgabe herantrat und ihnen von einem Zwischenfall an dem neuen Einsatzort erzählte, der "Grusel-Gruft". In der vergangenen Nacht hatte es den dort postierten Kollegen anscheinend schlimm erwischt.
Wilhelm lauschte nun nicht mehr in unauffälliger Weise. Er war plötzlich sehr hellhörig geworden, hatte den Blick auf die Kollegentruppe geheftet und seine Hände krampften sich bei dem Gehörten um die warme Tasse.
Sie hatten für die letzte Nachtwache auf Ettark Bergig zurückgegriffen. Bei dem kräftigen Menschen war aufgrund von dessen allgemein bekannter Grundeinstellung Vampiren gegenüber davon auszugehen gewesen, dass er mit vollem Einsatz hinter der Aufgabe stehen würde, einen der schlimmsten dieser Art sicher zu verwahren. Eigentlich war er trotzdem nicht die erste Wahl des Kommandeurs gewesen, soweit Wilhelm wusste. Die Gefahr, dass Racul über uneingeweihtes Personal verlauten ließ, wie illegal die ganze Aktion gewesen war, mit der er festgesetzt worden war, schien zu hoch. Aber es war auch absehbar gewesen, dass die anstehenden Nachtwachen anstrengend würden und das dafür eingesetzte Personal aus Fürsorgegründen rotieren sollte. Und für den Bergiger sprach absolut, dass er im Kampf gegen Vampire erfahren war und felsenfest von sich behauptete, deren geistigen Angriffen eine Art Immunität entgegensetzen zu können. Optimal, wenn es um einen der Uralten ginge.
Aber, wenn Wilhelm dem atemlosen Bericht des Kollegen Glauben schenken durfte, war das offenbar nicht ausreichend gewesen, um die Nachtwache unbeschadet zu überstehen. Sie hatten ihn in den Morgenstunden bewusstlos zu Füßen des Alten vorgefunden, während jener bösartig hinter der magischen Barriere gelauert und nach einem neuen Opfer gegiert hatte. Bergig hatte aus Augen, Nase, Ohren und Mund geblutet, als man ihn fand und sein Puls war schwächer gewesen, als gut für ihn. Der Kollege war eilig in Sicherheit gebracht worden und lag nun erst mal für einige Tage hier im Lazarett, unter Rogis Aufsicht.
An der Getränkeausgabe ging es daraufhin hoch her mit den Ahnungen und Vermutungen und die zentrale Frage wurde genüsslich zerpflückt, wen es dann stattdessen in den Folgenächten mit diesem Posten treffen würde.
Wilhelm hatte betroffen in seine Tasse gesehen. Er wusste die Antwort. Immerhin hatte er die erste Nachtschicht deutlich besser überstanden, als der menschliche Kollege. Seine Schultern waren ein Stück weit herab gesunken. Doch er kam nicht einmal wirklich auf die Idee, seine Einkäufe zusammenzuraffen und zu flüchten, ehe er jemandem auffallen mochte, der ihn dann zum Kommandeur zitieren würde. Nein, er wusste um seine Pflicht. Die Sache war also noch nicht ausgestanden. Er konnte dem Kommandeur genauso gut einen Weg abnehmen. Womit er sich mühsam aufgerafft hatte und seine Schritte gen dessen Büro lenkte.

TAG 25

Inzwischen hatten die Kollegen eine Lösung für das Beleuchtungsproblem an der Gruft gefunden. Da die Kräfte des alten Vampirs normales Feuer geradezu "auszusaugen" schienen, als wenn er sich dessen Energie aneignen würde, so dass Kerzen und Fackeln in seiner Nähe schnell verloschen, hatten sie auf nicht übliche Verfahren der Lichterzeugung zurückgreifen müssen. Und ironischerweise hatte sich herausgestellt, dass die kleinen Signaldämonen, mit denen sie in der Wache über längere Strecken per Farbcodierungen und Morsen miteinander kommunizierten, kein nennenswertes Problem mit der Macht des Urahnen hatten. Ergo waren einige der winzigen Nutzdämonen zweckentfremdet und als Gangbeleuchtung abkommandiert worden. Als Wilhelm in dieser zweiten Nachtwache hier herunter kam, empfing ihn daher eine rötliche Lichtreflexion rundum an Wänden und Decke, als wenn er sich dem rauchverhangenem Portal ins Pandämonium nähern würde. Ein Vergleich, der ebenso unwillkürlich in ihm aufkam, wie fatal. Die feurigen Bilder, die dies in ihm weckte, schmeckten nach Asche und reizten ihn in der Kehle. Der Blick des Alten hinter der Barriere traf ihn direkt im Sinn, dessen Spott kratzte wie mit scharfen Nägeln über sein Innerstes.
"Oh, wir hatten schon das Vergnügen. Dann nehme ich an, dass du der Auserwählte sein dürftest. Der entbehrliche Happen, den man mir zum Fraße vorwirft, um niemand Wichtigen gefährden zu müssen mit diesem lächerlichen Plan."
Wilhelm musste dem Alten eines neidlos zugestehen: Er hatte die Gabe, einen zu durchschauen und gezielt dort zu treffen, wo es wehtat. Keine Fähigkeit, die ihm selber in irgendeiner Form als erstrebenswert erschienen wäre. Aber eine sehr effektive Waffe, um sich Distanz und Macht zu verschaffen. Er ahnte, dass er am besten stumm den Nachtdienst ableisten und den Uralten hinter seiner Barriere ignorieren sollte. Aber das fiel ihm schwerer, als erwartet.
"Wilhelm Schneider also... der Verräter unserer Art, der sich auf die Seite der Verlierer stellt... der sich für eine hoffnungslose Sache aufopfert, ohne dass es irgendwen interessieren würde... Spielzeug niederster Kreaturen, seien es die Menschen oder dieses Dämonenweibsbild. Sage mir, wie geht es dir heute?"
Die Frage war schockierend. Sie traf ihn überraschend, zumal als ihm bewusst wurde, dass sie in dieser Art nur ein einziges Mal in all den vergangenen Jahren an ihn gerichtet worden war - von Senray. Sollte es möglich sein, dass das außer ihr und den Feind, wirklich niemanden interessierte? Und diesen ja auch nur, um darauf eingehen und ihm noch mehr zusetzen zu können, das war klar.
Wilhelm wich Raculs Blick aus und biss sich auf die Lippe, auch wenn er es nicht über sich brachte, ihm gänzlich den Rücken zu kehren. Stattdessen versuchte er, sich auf Raistan zu konzentrieren, der ihn in dieser Nacht mit einem Auftrag des Kommandeurs begleitet hatte. Und auch Rogi schien es wichtig gewesen zu sein, dass er sich auf diese Art des zusätzlichen Schutzes einließe. Er hatte kein gutes Gefühl dabei. Zumal dadurch nur noch deutlicher auf seine Unfähigkeit hingewiesen wurde, sich selbst zu schützen. Vielleicht würde es helfen. Aber es wäre zugleich eine Demütigung. Und noch war der zusätzliche Schutz nicht errichtet worden! Die Kräfte des Alten walteten bis zu einem gewissen Grad um ihn herum und er wusste in dem Moment, als er dessen krächzendes, heiseres Lachen hörte, dass jener auf seine Gefühle gestoßen sein musste.
"Du bist bereits so tief gesunken... da noch über eine theoretische Demütigung nachzudenken ist absurd. Was für ein lächerlicher Haufen! Glaubt ihr wahrhaftig, ich würde mich für immer hier festsetzen lassen? Der kleine Zauberer wird nicht ewig halten, seine Kräfte schwinden, wie das Tageslicht bei Einbruch der Winternacht! Und was dann? Könnt ihr schnell genug rennen? So schwach, so unbedeutend! Du nichtsnutziger Fadenbeisser musst dir also sogar von ihm helfen lassen, hmmm? Was für eine Schmach, nicht wahr? Du verursachst zusätzlichen Aufwand, wie unangenehm."
Raistan warf dem Vampir lediglich kurz einen bösen Blick unter gerunzelten Brauen zu, sonst jedoch konzentrierte er sich auf ihn.
"Wilhelm, ich würde den Bannkreis von hier", womit er ihm einen Punkt am Boden markierte "bis hier etwa für dich ausrichten. Über die ganze Höhe und Breite des Ganges. Wäre das in Ordnung?"
Der gezeigte Bereich wäre lang genug, um ihm einige wenige Schritte Bewegungsspielraum zuzugestehen. Auch wenn ihn das nicht darüber hinwegtäuschen würde, faktisch ebenso in einem Gangabschnitt gefangen zu sein, wie der Haftierte hinter ihm. Ein Bannkreis gegen Untote... aus dem er von selbst nicht heraus kommen würde. Er wäre darauf angewiesen, entweder durch den Anbruch des Tages und das Aufgehen der Sonne oder - wenn dies vorher nötig werden sollte - von einem Kollegen befreit zu werden. Einem Kollegen, der nur dafür hierher zitiert werden müsste. Was, wenn bis dahin etwas Unvorhergesehenes passieren und man ihn vergessen würde?
Raculs leises Raspeln spottete von der Seite.
"Das hat man doch längst... dich vergessen. Du wirst mir überlassen, auf dass ich mir die Wartezeit vergnüglich vertreiben kann. Finde dich damit ab und nimm es hin."
Raistan richtete sich hoch auf und reckte sein Kinn dem Alten entgegen, als er das hörte. Doch er antwortete nicht ihm, sondern wandte sich direkt an Wilhelm.
"Er erzählt bösartigen Unfug. Ignoriere ihn einfach!"
Und dann schritt Raistan den angedachten Bereich ab, brachte an bestimmten Eckpunkten Kreidemarkierungen an, wechselte auf die dem Ausgang zugewandte Gangseite - und aktivierte Wilhelms Gefängnis. Ein grünliches Licht wetterleuchtete still im Gang auf, flackerte über ihrer beider Gesichtszüge, während sie einander ansahen, ehe es wieder verblasst.
Raistan räusperte sich dezent, ehe er seinen Blick losriss. Er trat einen Schritt zurück.
"Das war es auch schon. Merkst du eine Veränderung?"
Wilhelm schloss die Augen und konzentrierte sich. Und wirklich! Die gedanklichen Tentakeln, die sich zuvor regelrecht um ihn gewunden hatten, waren von ihm abgefallen. Auf seiner Haut und seinen Sinnen schien sich zwar eine schmierige Schicht aus magischem Öl abzulagern - zumindest fühlt sich der Druck des Bannspruchs so an - aber dafür waren die Krallen verschwunden, die sich immer tiefer in ihn graben wollten. Eine Erleichterung. Er atmete vorsichtig auf.
"Danke!"
Der Zauberer warf Racul hinter ihm einen letzten bösen Blick zu, dann wandte er sich mit einem Nicken zum Gehen.
"Gern geschehen. Pass nur auf, dass du nicht versehentlich gegen die Abgrenzungen stößt. Es wäre zwar nicht gefährlich, dazu müsstest du in ganz anderer Verfassung sein, als deiner normalen. Aber es wäre... sehr unangenehm."
Wilhelm nickte und sah Raistan nach, als der den Gang zurück ging und im Dunkel verschwand.
"Euch fehlt allen eine ordentliche Freizeitbeschäftigung! Wer, der noch bei Verstand ist, würde sonst die wenige gegebene Zeit der Sterblichen darauf verwenden, einen Ewigen festhalten zu wollen? Ihr seid doch alle wahnsinnig!"
Wilhelm sah sich in dem ihm verbliebenen Bereich innerhalb der Bannmarkierungen um - und stellte fest, dass der Stuhl sich außerhalb befand.
Der Blick des Alten musste dem seinen gefolgt sein, denn dieser kommentierte seine stumme Feststellung mit einem heiseren Lachen.

TAG 26

Die zweite Nachtschicht hatte sich noch länger als die erste angefühlt. Den Greis zu ignorieren, wie Raistan es vorgeschlagen hatte, war schlichtweg unmöglich gewesen. Wilhelm hatte sich zwar davon zurückhalten können, dem Alten auf dessen Sticheleien verbal zu kontern, er hatte aber nicht vermeiden können, bei bestimmten Treffern in dessen Anfeindungen zusammenzuzucken – was jenem Antwort genug gewesen war. Die Stunden bis zum Sonnenaufgang waren ihm endlos erschienen. Dann jedoch war Raculs Gestalt plötzlich zu flüchtigem Nebel geronnen und hatte sich zurückgezogen. Das rötliche Schimmern der Beleuchtungsdämonen hatte für einige Minuten in vollkommener Stille auf allem in der Gruft gelegen. Und als nächstes schon rieselten magische Partikel rund um ihn zu Boden, wie sanft nachglimmender, grüner Funkenflug. Mit den ersten Sonnenstrahlen über der Gruft brach der Bann in sich zusammen. Ein neuer Tag. Wilhelm hatte einen Moment lang noch ängstlich zu der verbliebenen Barriere vor dem Gruftzugang gesehen. Dann jedoch, als eine Reaktion des Uralten ausblieb, war er den Gang hinunter geeilt, hatte sich in den Bibliotheksraum gesetzt, auf den dort bereit gelegten Formblättern einen knappen Bericht zu der absolvierten Nachtschicht hinterlassen, diesen unterzeichnet und war gegangen. Auf kürzestem Wege.
Leider wirkte die Schicht nachhaltig in seinem Inneren nach. Er fühlte sich besudelt, beschmutzt. Und Verwirrung klebte an ihm, wie Teer, schwarz und schwer. Er hatte schon in den Wochen davor nur wenig Erholung gefunden gehabt und inzwischen fühlte er sich wirklich ausgelaugt. Und Durst hatte er auch.
Dann aber war ihm Rabbes Brief wieder eingefallen und er wusste, dass er sich dringend hinlegen und alles andere um einige Stunden verschieben sollte. Das würde auch den Durst erledigen. Sie hatte ihn einfach angeschrieben, sich auf diverse kursierende Gerüchte bezogen, ihm Unvorsicht und Leichtsinn vorgeworfen und ihm in ihrer typisch rigorosen Art einen gemeinsamen Abend vorgeschlagen. Dem konnte er sich kaum entziehen. Und irgendwie wollte er das auch gar nicht. Rabbe war ein netter Mensch. Vielleicht nicht zu jedem. Aber zu ihm schon. Auf ihre ganz eigene Art. Sie hatten sich unter ungewöhnlichen Umständen in Zivil getroffen, damals, als sie noch nicht wussten, dass sie beide Wächter waren. Und irgendwas zwischen ihnen hatte sich eingeklinkt und funktionierte seit dem. Er fand sie unterhaltsam und erfrischend lebendig, mit ihrem aufbrausenden Wesen, aufrichtig und direkt. Und sie mochte wohl seine trockenhumorige und nicht immer hundertprozentig legale Sichtweise, seine Gelassenheit – wenn er das richtig verstanden hatte. Und gemeinsam... sie konnten sich gegenseitig Auszeiten aus dem Wachealltag ermöglichen, ohne sich dem anderen gegenüber verbiegen zu müssen. Sie verstanden das Weltbild des Gegenübers und vertrauten daher einander. Und vielleicht hatte sie Recht, wenn sie ihn zu einem Abend auswärts verdonnerte.
Er hatte sich gegen Abend mit einiger Mühe vom Bett aufgerappelt und an den Küchentisch vorgekämpft. Er hatte es geschafft, sich frische Kleidung anzuziehen. Sogar an Socken und Schuhe hatte er zu dem Zeitpunkt bereits gedacht gehabt, wo er es sonst momentan bevorzugte, barfuss zu gehen. Sich gewissermaßen zu "erden". Dort, am Küchentisch, hatte er wie der sprichwörtliche Schluck Wasser in der Kurve gesessen, den Blick verhangen und stumpfsinnig vor sich ins Nichts gerichtet.
Die Ruhephase war – wie schon die davor – nicht erholsam gewesen. Er fühlte sich im Anschluss beinahe noch schlimmer. Wie gerädert. Seine Gedanken bewegten sich in endlosen Kreisen und führten ihn immer und immer wieder zurück zu Raculs verletzenden Worten.
Dass er sicherlich selber wüsste, wie wenig hilfreich seine Anwesenheit für die Kollegen sei? Dass er ein seltsamer Gefährte sei, wenn es ihn so wenig berührte, für den kleinen Zauberer eine Belastung zu sein, wo er doch zusätzlichen Kraftaufwand für den Schwächling bedeutete. Mit diesem Extra-Bannspruch. Aber er sei ja ohnehin irgendwie nicht ganz richtig im Kopf. Das sei allein schon daran ersichtlich, dass er auf diesen Untotenabwehrzauber bestand – gegen sich selber! Da schlösse sich ja ganz offensichtlich der Kreis zu der ersten Vermutung, die Racul gleich zu Beginn in den Raum geworfen hatte: Wilhelm könne einer erniedrigenden Behandlung anscheinend einen gewissen Genuss entnehmen. Sich selber von einem Magier mit einem aggressiven Bann belegen zu lassen, gehe schließlich in die gleiche Richtung, wie die Knechtung zu Füßen eines Dämons...
Als seine Haltung bei diesen Überlegungen so weit in sich zusammengesunken war, dass in seiner Westentasche die Uhr unangenehm gegen seine Rippen drückte, zog er diese müde heraus. Es stellte sich heraus, dass er genauso gut schon hinunter und Rabbe entgegen gehen konnte. Das war so oder so vermutlich das Beste. Schließlich räumte Hannah noch, bevor sie ging, im Verkaufsraum auf und er war sich nicht ganz sicher, wie die beiden Frauen im Zweifelsfall miteinander auskämen.
Er konnte Rabbe gerade so abfangen, als sie den Laden betrat und sie gleich wieder auf dem Absatz hinauslotsen. Auf der Straße, im verblassenden Abendlicht, erkannte er ihre Aufmachung zur Gänze. Und zu seinem Erstaunen über ihre Pünktlichkeit gesellte sich ehrliche Bewunderung hinzu. Es war mehr als ungewohnt, sie so zu sehen, mit Hemd und Hose aus fast schon kostspieligem Tuch, einer teuren Jacke und edlem Schuhwerk. Und hatte sie ihr Haar besonders gekämmt?
"Womit habe ich den Aufwand verdient, werte Freundin?" Er beeilte sich, hinzuzufügen: "Steht dir aber ausgezeichnet."
Sie schnaubte verächtlich.
"Nur, weil ich im Alltag praktische Kleidung bevorzuge, heißt das nicht, dass ich nicht weiß, wie man sich in 'besseren' Kneipen zu verhalten hat."
"Oho! Du führst mich also in ein gehobeneres Etablissement? Werden sie mich dort überhaupt einlassen, neben dir?"
Sie lachte mit dem typisch bissigen Unterton, den andere oft als angriffslustig missverstanden, den er aber als Humor der raueren Sorte schätzen gelernt hatte, als nonverbales, schonungslos ehrliches Kommentieren mitschwingender Erwartungen.
"Ha! Sehr witzig. Dein besonderer Geschmack wird, glaube ich, nur in zwei Arten 'Ätablissmans' bedient. In denen, die auch von eher uncharmanten Werwölfen besucht werden und jenen, die eher von der höheren Gesellschaft fräquäntiert werden. Auf Werwölfe im schummrigen Licht kann ich gerne verzichten. Also besuchen wir ein Lokal, das ich bei einer... früheren Mission kennen gelernt habe."
Womit sie ihn, wie sich schnell herausstellte, in Richtung Haufen führte.
Die kalte Luft weckte gewissermaßen seine Lebensgeister, so dass sie munter plaudernd an einem stilvoll beleuchteten Gebäude mit unbeschriftetem Kellereingang anlangten. Er sah erfreut auf.
"Ah! Sehr schön!"
"Aha. Also doch schon hier gewesen, was?"
Sie lächelte amüsiert und er nickte mit einem Grinsen zur Bestätigung. Das letzte Mal war zwar schon länger her. Immerhin war es auch eine Budgetfrage, wie oft man sich einen hiesigen Besuch leisten konnte. Aber das versprach ein außerordentlich angenehmer Abend zu werden.
Auf Rabbes Klopfen öffnete sich ein Sehschlitz in der Tür.
"Heutiges Passwort?"
"Blauer Reiter!"
Und dann traten sie auch bereits ein, begrüßt durch das höfliche Nicken des Portiers.
Das Ambiente war luxuriös und gediegen. Das weiche Licht stammte von unzähligen Kerzen in schweren Kronleuchtern. Im Vorraum, bei der Garderobiere, wo Wilhelm seinen Halbmantel abgab, waren die Gespräche aus den Folgeräumen durch all die vielen samtenen Vorhänge nur gedämpft zu hören.
Er wandte sich gut gelaunt Rabbe zu und bot ihr seinen Arm.
"Darf ich dich hinein begleiten? Als dein Herr für den Abend?"
Ihm war bewusst, wie wenig ihr dieses Spiel mit den althergebrachten Rollen zusagte. Sei es jenes der Erwartungen an Mann und Frau, ebenso wie jenes andere, um Macht und Einfluss. Aber so etwas wie euphorischer Übermut hatte ihn ergriffen und er war willens, diese Grenze in gutmütiger Weise etwas anzutesten. Seine Augen verrieten ihn gewiss, selbst im Halbdunkel.
Sie unterdrückte nur gerade so ein amüsiertes Prusten.
"Ich muss wohl, oder?"
Mit einem Grinsen hakte sie sich bei ihm ein und nannte dem Portier die Reservierung.
Wilhelm genoss es, sie zum Tisch zu führen. Nur als er ihr den Stuhl zurechtrücken wollte, zögerte sie sichtlich... und setzte sich stattdessen in den daneben.
"Das ist zuviel! Das ist mir zu albern!"
Einen Moment war er dadurch aus dem Konzept gebracht. Doch dann hatte er sich wieder gefasst und setzte sich mit leichtem Bedauern und schiefem Lächeln.
"Schade eigentlich."
Sie errötete leicht. Was ihr ebenfalls bezaubernd stand – er ihr aber auf keinen Fall sagen würde. Denn dann wäre der Abend gelaufen, so viel war gewiss. Stattdessen nahm er die Speisekarte und reichte sie ihr mit neckendem Blick, ehe er an den Kellner gewandt sagte:
"Sie möchte für uns bestellen."
Mit halb verärgertem, halb amüsiertem Blick nahm sie die Karte entgegen, überflog das Angebot mit schnellem Blick und bestellte.
"Ich denke, wir hätten gerne eine Flasche 'Hochburg Gennua 1967' und den 'Sofia Auenberg 28 2'...oder?"
Er konnte nicht anders, als ihr mit einem leichten Wink sein Einverständnis zu jedweder Entscheidung anzudeuten. Sie hatte ein hervorragendes Restaurante ausfindig gemacht, sich in Schale geworfen und sich obendrein darüber informiert, was als guter Jahrgang für ihn angehen mochte. Er war gerührt. Sie ließ nicht jeden an ihr Innerstes heran, war manchmal etwas eigen. Umso mehr wärmte ihn die Erkenntnis: Rabbe mochte ihn. Ohne, dass er das Geringste dafür konnte. Und er hatte großes Glück damit, dass er ihr diese Freundlichkeit bisher nicht mit zusätzlichem Aufwand oder damit, ihr irgendwie versehentlich weh zu tun, vergolten hatte. Eine ungute Neigung seinen Mitlebewesen gegenüber, die ihn in den letzten Wochen vermehrt zu begleiten schien.
Er lehnte sich zurück und ließ den Blick über die anderen Gäste und die Aussicht schweifen.
"Eine gute Idee, hierher zu kommen. Danke für die Einladung. Damit hattest du vermutlich wirklich den richtigen Riecher. Einen Abend abschalten."
Er lächelte sie entspannt an.
"Wilhelm, man muss kein Püschologe sein, um zu sehen, dass du... eine Auszeit brauchst."
Sein Lächeln verblasste und er blickte betroffen auf die Tischdecke.
"So offensichtlich? Dann kennst du mich bereits zu gut..."
"Ist das schlimm?"
Er sah wieder auf, freundlich doch mit leichter Ironie im Lächeln.
"Nicht wirklich. Nur... ungewohnt. Wer hätte das gedacht? Als ich mich der Wache anschloss hatte ich nicht vor, mich damit vorhersehbar zu machen. Und nun..."
Sie schnaubte leicht und lächelte. Womit sie gemeinsam nach ihren Gläsern griffen und deren Düfte inhalierten. Ihre Blicke begegneten sich, als sie die Gläser aufeinander zu führten.
"Auf die Freundschaft!" - "Auf die Freundschaft!"
Dann stießen sie mit sachtem Klingen an und das Gespräch kam plaudernd und ungezwungen in Gang. Es war leicht, mit ihr zu reden. Und das Blut schmeckte vorzüglich. Leicht und frisch, regelrecht jung.
"Wie war dein Tag?"
Sie sah kurz aus dem Fenster und runzelte leicht die Stirn.
"Arbeite immer noch an meinem neuen Trainingsprogramm. Ich komme nicht so gut voran, wie ich gerne würde. Habe den Mord an einer alten Frau in der Ulmenstrasse gelöst. Sehr alltäglicher Fall. Ihr Sohn hat sie mit einem Käselaib erschlagen, weil sie ihn nicht die Tochter des Mäusefarmers heiraten lassen wollte." Sie machte eine abwinkende Geste. "Ansonsten Papierkram. Der I.A-Zwerg hat wieder versucht, irgendwelche Dinge aus mir rauszukriegen. Hat behauptet, ich wüsste irgendwelchen Kram über dich und euren... euren Zirkel. Keine Ahnung, wie er darauf kommt." Sie nippte an ihrem Wein und schmunzelte hinter dem Glas.
Er musste grinsen und blickte vorsichtshalber tiefer in sein eigenes Glas.
"Von mir hast du nichts."
Sie kicherte.
"Wie? Was? Wie sollte ich denn auch? Wir kennen uns ja kaum! Und selber? Wie hast du den Tag verbracht?"
Er ließ das helle Rote schwenkend im Glas kreisen.
"Hmmm... ich hatte heute den Zwischentag. Von daher habe ich es langsam angehen lassen. Haushalt hauptsächlich. Nichts Weltbewegendes also. Ich habe nicht viel geschafft. Zu lange im Bett gelegen."
Sie klang leicht zweifelnd, als sie ihnen beiden nachschenkte – nicht zum ersten Mal.
"Klingt ja entspannt?" Sie kratzte sich am Kopf und trank dann betont den nächsten Schluck. "Wenn ich mir vorstelle, die ganze Nacht einen Wahnsinnigen zu bewachen, der versucht, in meinen Kopf einzubrechen, würde ich auch länger als sonst im Bett bleiben."
Er konnte nicht anders, als ihr mit stummem Nicken zuzustimmen.
"Ist schon in Aussicht, wie lange du diesen Zirkus mitmachen musst?"
Er schüttelte nur sacht den Kopf, was sie zu einem missbilligenden Geräusch veranlasste.
"Ich würde ja jetzt sagen 'Kriegst du dafür wenigstens Extra-Sold?' Aber ich glaube, das ich nicht wirklich das Thema daran für dich, hm?"
Er warf ihr einen belustigten Seitenblick zu.
"Als wenn! Denkst du wirklich, Araghast würde an so was denken?"
"Pah! Nein. Bin lange genug in diesem Knauserverein."
"Ich kann schon froh sein, dass ich zwischendurch frei bekomme. Und ich bin froh darüber! Wirklich!"
Wilhelm griff zum Glas – nicht nur des Genusses wegen.
Rabbe grummelte in missbilligendem Tonfall.
"Ohne die Ziegenberger wärst du jetzt nicht in dieser Situation."
Er setzte sein Glas auf dem Tisch ab, hielt es aber noch immer fest. Er starrte eine Zeitlang wie versteinert aus dem Fenster, ehe er dazu ansetzte, die Abwesende zu verteidigen.
"Es ist nicht ihre Schuld. Sie hatte lange genug unter unsereinem zu leiden. Wir können grausam sein. Es war richtig, sie zu befre..." Er hielt mitten im Satz inne, sah kurz zu Rabbe hinüber und trank dann den Rest im Glas auf Ex.
Rabbe beobachtete ihn.
"Ich wollte dich nicht aufregen."
"Schon gut..."
Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht, während sie die Gelegenheit ergriff, den Nachschub zu ordern.
"Einen 'Auberjois 7' bitte und eine 'Madeleine von 874'. Danke!"
Er sah überrascht auf und lachte leise, sobald der Kellner fortgeeilt war.
"Willst du mich betrunken machen?"
Sie tat unschuldig und konterte in neckendem Tonfall.
"Wieso betrunken? Das Bisschen wirst du doch aushalten?"
Er musste trotz des zuvor ernsten Themas lachen.
"Selbstverständlich, werte Kollegin. Nur, Vorsicht! Nicht, dass du versuchst mitzuhalten und dann unterm Tisch landest. Sonst machst du mir womöglich noch ewig Vorwürfe!"
"Ha! Du unterschätzt meine Fähigkeiten!"
"Tue ich das?"
Er wollte sie mutwillig herausfordern, doch sie wurde erstaunlich schnell wieder ernst.
"Weißt du... Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir einen Gefallen tue, wenn wir nicht über... die Sache reden. Ich habe die letzten Wochen ganz gut beobachten können, dass du dich da ganz schön reingesteigert hast. Du hast mal gesagt, dass du der Wache beigetreten bist, weil du... es spaßig fandest. Aber seit Kurzem... ich sehe, wie sehr dich die ganze Sache mitgenommen hat. Und wie du hier sitzt, zeigt doch recht deutlich, dass du nicht... 'ok' bist. Ich bin mir nicht sicher, ob dein Verhalten im Moment mehr als pflichtbewusst oder als selbstzerstörerisch zu bezeichnen wäre..."
Ihre offenen Worte bestürzten ihn. Mit deutlicher Zurückhaltung wich er ihrem Blick aus.
"Mag sein..."
Sie zuckte mit den Schultern.
"Wenn du nicht reden willst, musst du natürlich nicht."
Er seufzte tief.
"Rabbe... es ist... ich... Es ist nicht so, als wenn ich nicht mit dir reden wollen würde. Ich muss nur..." Er gab sich einen Ruck und trank das Glas in einem Zug aus, ehe er es etwas zu ruppig für dieses Ambiente abstellte und sie dann fast trotzig ansah. "Ach, egal! Zum Pandämonium mit den Regeln! Wir kennen uns gut genug. Ich weiß, dass du dichthalten kannst. Und ich will dir nicht vor den Kopf stoßen. Aber ob es mir irgendwas bringt, darüber zu reden... keine Ahnung."
Sie hob überrascht die Augenbrauen und nickte langsam.
"Musst du wissen."
Wilhelm holte tief Luft und begann leise zu reden.
"Es sind die verfluchten Sonderschichten. Die machen mich fertig. Jetzt schon! Dabei haben sie erst angefangen! Aber ich sehe natürlich ein, dass sie sein müssen. Wir können nicht riskieren, dass er heraus kann und sich in... Dinge einmischt. Die Sache mit Ophelia muss erst unter Dach und Fach sein."
Er schenkte sich frustriert nach, während sie fragend eine Augenbraue hob.
"Was genau muss... 'unter Dach und Fach' sein? Wie soll das weitergehen?"
"Hmm... das ist eine... sehr spezielle Sache... häng das bloß nicht an die große Glocke. Sonst köpft die von Nachtschatten mich. Und auch Ophelia wäre vermutlich nicht erfreut, wenn sie wüsste, dass andere davon erführen, außerhalb des Rettungszirkels."
Rabbe schnaubte zugleich spöttisch und etwas pikiert.
"Wilhelm, ich habe schon so viele illegale Sachen gemacht... Ich bin die letzte, die irgendetwas 'an die große Glocke' hängt. Was hier gesagt wird, verlässt diesen Tisch nicht, keine Sorge."
Er räusperte sich. Sie war eine Person, die ihm gegenüber nicht feindlich eingestellt war; eine dritte Meinung, im zerstörerischen Einerlei seiner Gedankengänge der letzten Tage. Er sah sich kurz aber aufmerksam um, ehe er sich leicht vorbeugte und dezent die Stimme senkte, die Finger den Stiel des Weinglases umspielend.
"Der Gefangene... und Ophelia... sie sind durch ein geistiges Band aneinander gekettet. Unlösbar. Er hatte Ophelia als eine Art persönlicher Sicherheit entführt, vor einem Jahr. Damit niemand sie als Druckmittel gegen ihn verwenden kann. Bis hin zu dem Punkt, dass man seine tausendjährige Existenz damit beenden könnte, stattdessen ihr das Leben zu nehmen. Wenn man das im Hinterkopf hat, wird deutlich, dass es nahezu unmöglich gewesen wäre, ihn mit normalen Mitteln zu... besiegen."
Sie nickte.
"Er... er wollte Ophelia unter keinen denkbaren Umständen gehen lassen. Aber als wir... also... an dem Abend... wir mussten sie da rausholen! Sie hätte das nicht mehr lange überlebt, zumindest nicht in irgendeiner Form, die diesen Begriff zu tragen wert gewesen wäre... also... haben wir zu... unkonventionellen Mitteln gegriffen."
Er nahm einige kräftige Schlucke und merkte, wie ihm das Blut allmählich zu Kopfe zu steigen begann, gewissermaßen. Die neue Sorte lag schwerer im Mund, satter. Die Erinnerungen machten ihn abwechselnd betroffen und unterstrichen die in ihm lauernde Erschöpfung.
Rabbe lauschte aufmerksam – und schenkte ihm schweigend nach.
"Mina... also die Kollegin von Nachtschatten... sie hat uns allen in der Gruft das Leben gerettet. Indem sie auf Ophelia Anspruch erhoben hat. Ganz formal. Es war das Einzige, was ihn gestoppt hat. Weil es auf die alten Traditionen gründet. Und Ophelia hatte sofort zugestimmt, selbst, als sie noch im Käfig war. Aber jetzt muss es eben eingetragen werden, die Details müssen geklärt werden, Formalia... Es muss jedenfalls offiziell sein, bevor er die Chance hat, rauszukommen."
Rabbe sah ihn ungläubig an. Dann stieß sie fast empört die Luft aus. Und dann runzelte sie die Stirn, ehe sie sich die Nasenwurzel zu massieren begann. Eine Zeit lang tranken sie schweigend, während Rabbe ihre Gedanken zu dem Gehörten zu sortieren schien.
"Das... das heißt also... das heißt, du musst diesen ganzen Mist mitmachen... weil die Nachtschatten offiziell ihren Anspruch über die Ziegenberger eintragen lassen muss. Und wenn das gelaufen ist, ist es rum, oder wie?"
Sie schaute ihn verblüfft an und er nahm einige kräftige Schlucke aus seinem Glas, die er nun, wo er sich den Stein vom Herzen geredet hatte, erst so richtig genüsslich die Kehle hinunter rinnen lassen konnte, während er gedehnt antwortete.
"Hm-hm..." Er deutete sacht mit dem inzwischen leeren Glas auf sie. "So ungefähr. Glaube ich. Und außerdem muss er latürnich... ähm, natürlich, bestraft werden. Er ist immerhin ein Massenmörder. Man kann nicht einfach durch die Gegend gehen und mindestens dreißig Mädchen auf dem Gewissen haben. Auch ohne dabei zu gehen!"
Sie legte kurz ihren Kopf in die Hände und massierte ihr Gesicht, ehe sie ihn wieder hob und ihn auf einen Ellenbogen auf dem Tisch abstützte. Sie seufzte.
Seine Gedanken machten sich selbständig und er beeilte sich, die vorige Aussage zu korrigieren.
"Wobei... mehr. Bestimmt viel mehr. Das sind nur die, die Ophelia in dem einen Jahr mitbekommen hatte. Und... ein Gewissen hat er auch nicht. Also kann man das nicht sagen, dass er die auf dem Gewissen hat."
Rabbe runzelte die Stirn und ihre Stimmung verfinsterte sich.
"Erinnert mich an einen Typen, den ich in Überwald kannte. Alles Schurken!"
Sie goss sich rigoros nach und bemerkte, dass ihrer beider Flaschen damit geleert waren. Sie winkte dem Kellner.
Wilhelm grinste sie breit an.
"Was suchst du jetzt für mich aus, meine werte Herzenskollegin?"
"Puh..." Sie zog einen zerknitterten Notizzettel aus der Hosentasche und spickte fast unauffällig darauf. "Wie wär's mit...", sie hatte offenbar Schwierigkeiten, ihre eigene Handschrift zu entziffern."...dem Frida-15? Soll so richtig... blutjung sein, wenn du mir das Wortspiel gestattest. Sophia-56 dagegen ist wohl eher süffig..."
Er deutete spöttelnd auf ihre Flasche.
"Du musst dich auf jeden Fall mehr anstrengen." Und im euphorischen Überschwang grinste er den netten Kellner an und wedelte großzügig mit der Hand. "Ich bezahle alles, was sie bestellt. Einfach alles! Tun Sie einfach, was sie sagt!"
Rabbe kicherte.
"Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich dich einlade?"
"Egal! Ich hab mir das jetzt anders überlegt."
Rabbe sah dem Kellner kurz hinterher, ehe sie nachdenklich fortfuhr.
"Diese Sache mit dem Besitzrecht ist total skurril."
"Jap. Völlig antiquiert. Sowas von altmodisch."
Rabbe deutete mit einer Hand auf.
"Verstehe mich nicht falsch. Ich stamme aus Überwald. Ich kenne den ganzen alten Scheiß. Aber genau das ist der Punkt. Es ist alter Scheiß. Dass wir auf so was zurückgreifen müssen..."
"Genau! Richtig traditioneller 'traditioneller Scheiß'!"
Rabbe lachte leise.
"Du musst es ja wissen."
"Von vorvorvorvorvorvorgestern. Mindestens! Ich kann so was nicht abhaben!" Er schüttelte etwas zu heftig den Kopf und unterließ das lieber sofort wieder, weil ihm dabei etwas schwindlig wurde. "Hab' ich ihm auch gesagt. Aber das stört ihn nicht. Er findet mich zu modern. Ich bin kein echter Vampir."
Sie sah ihn kurz verwirrt an.
"Wer? Racuuul?"
"Jap. Eben jener."
"Blödfisch. Dummer. Der weiß doch nichts."
Wilhelm merkte, wie seine Stirn sich in Falten legte.
"Also ich weiß noch weniger. Er ist ziemlich alt. Da bekommt man viel mit." Ein Gedanke störte ihn massiv. "Sage mal..."
"Hmmm?"
"Findest du das in Ordnung, wenn man einfach so über Menschen rumbestimmt? Er ist nämlich dieser Ansicht. Ich meine... wir sind schon besser als ihr. Wir können viel mehr Sachen. Aber irgendwie... Wenn man das mit kleinen Kindern vergleichen würde, dann müssten die Stärkeren doch auch den Schwächeren helfen? Also ich find das nich richtig. Ihr tut mir manchmal ganz schön leid. Ihr könnt nich mal fliegen! Wenn ich mir vorstell, ich könnt das nich mehr..."
Der Gedanke stimmte ihn unerwartet traurig, beinahe schwermütig.
Rabbe sah ihn komisch an und atmete auf einmal anders, irgendwie verkrampft. Ihre Augenbrauen rückten dicht zueinander und ihre Zähne... das war kein Knirschen aber irgendwie...
"Du meinst also, Vampire sind mehr wert, als Menschn oder Zwerge, weil sie fliegn könn' und von Natur aus stärker sind, oder wie?"
Ihr Tonfall klang wie ein geschärftes Messer und er zuckte unwillkürlich zusammen, so überraschend traf ihn die Veränderung ihrer Stimmung.
"Oh, tut mir leid! Ich wollt dir nich zu nahe treten, Rabbe. Du bist ja auch einer. Wie konnt ich das nur vergessen? Dabei is' dein Herzschlag echt nich zu überhörn!"
"Ich weiß nich? Vielleicht, weil ich so viele Wesn getötet oder schwer verletzt hab, die sich mir deutlich überlegn glaubtn?"
"Hm... deine Körpersignale... sind komisch. Die sind... schief? Verschoben?"
Ihre Augen funkelten ihn dunkel an.
"Gib mir mal ein' Anhaltspunkt! Welches Leben is mehr wert: das eines zweihundert jährigen Vampirs oder das eines siebenjährigen Menschn-Mädchens?"
Das, was sie sagte, die Art, wie sie es sagte, gaben die entscheidenden Hinweise.
"Du bis' sarkastisch. Ich hab was falsch gemacht." Diese Erkenntnis betrübte ihn zutiefst. Hatte er nicht vor wenigen Minuten noch voller Dankbarkeit erkannt gehabt, dass er sich ihrer unbegreiflichen Freundschaft glücklich schätzen konnte und keinen Schatten darauf werfen wollte, durch seine eigenen Unzulänglichkeiten? "Schon wieder! Ich mach immer so viel falsch. Rabbe, es tut mir leid! Kann ich es wieder richtig machen? Bitte?"
"Vielleicht? Ich weiß nicht. Ich denk... du hast... Ophelia geholfen. Weil du falsch fandst, was ihr passiert ist. Und du findest die Sache mit dem Besitzrecht falsch und antiquiert. Has' du gesagt?"
Er nickte heftig und fühlte sich ganz elendig dabei. Schnell griff er nach dem Tisch, um das Schwanken zu unterbinden und sich besser auf Rabbe konzentrieren zu können.
"Wilhelm, weiß' du übahaupt, was du grad eben gesagt hast?"
"Hmmm? Nein? Was hab ich gesagt?"
Sie atmete wieder sehr beherrscht.
"Du has'... du hast gesagt, dass Menschen weniger Wert sein als Vampire. Weil wir von Natur aus schwächer sind und nich fliegen könn'."
Wenn er ehrlich war, konnte er nicht beurteilen, ob diese Aussage stimmte oder nicht. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, das gesagt zu haben. Aber so wie sie es sagte, klang es ganz schrecklich und war nichts, hinter dem er stehen könnte.
"Nein! Nein, nein, nein! Das hab ich nich gesagt! Ganz bestimmt nich! Also... ihr könnt wirklich nich fliegen. Das weißt du aber, stimmts? Aber das heiß' nich, dass ihr weniger 'wert' wäret."
Sie sah ihn mit offener Skepsis an.
"Aha."
Er lächelte hoffnungsvoll.
"Ich mag Menschen!"
Es war ein kindischer Impuls und mehr als nur riskant, in dieser Phase eines so bedeutungsvollen Diskurs. Aber er konnte einfach nicht widerstehen und ließ seine Fangzähne mit vergnügtem Grinsen ausfahren.
Rabbe kommentierte das mit einem sehr trockenen "Ja, zum Trinken."
Er musste kichern, versuchte aber sofort wieder, betont ernst zu schauen.
Rabbe begann zu grinsen.
Er atmete erleichtert auf und sah sie würdevoll an.
Woraufhin sie lachen musste.
"Du versuchst zwar, streng zu guck'n aber du bist viel su... viel zu angetrunken."
"Und du nicht, oder wie? Hehehe..."
Sie grinste unwillkürlich, obwohl sie es nicht wollte.
"Ich bin nüchtern."
Sie konnte ihm nicht böse bleiben, was für ein Glück! Er grinste in sein Glas.
"Ja, klaaaaar..."
Sie seufzte plötzlich schwer und rieb sich ernst über das Gesicht.
"Oh, Wilhelm... du darfst so ein' Scheiß nicht sagn. Wilhelm... meine Familie wurde von ei'm wahnsinnigen Werwolf umgebracht, der glaubte, er wär besser, als alle andern. Der glaubte, dass Menschen niedere Wesen sein. Du kannst nicht... ich geh' dir an die Gurgel, wenn du noch mal so ein' Scheiß sagst..."
Ihre Worte ließen ihn regelrecht erstarren. Ein Klumpen setzte sich in seiner Kehle fest und machte ihm das Schlucken schwer. Nicht wegen ihrer unverhohlenen Drohung. Sondern wegen des unmittelbaren Gefühls eines tragischen Verlustes, den er wie seinen eigenen fühlte. Rabbes Trauer war seine eigene Trauer, ihre ungeweinten Tränen die seinen, so direkt traf das Gesagte in sein Innerstes.
Unbemerkt davon sprach sie weiter.
"Also... also nich meine ganze Familie... meine kleine Schwester. Das Mädchen war sechzehn... so was... vergisst man nisch..."
Sie nahm einen tiefen Schluck Wein und ließ sich in ihren Stuhl zurücksacken, ehe sie wieder seinem Blick begegnete.
"Rabbe..." Er konnte spüren, konnte hören, wie seine Stimme zitterte und fast zu brechen drohte. Was kein Wunder war, bei dem Gefühlschaos, das plötzlich in ihm tobte. "Familie... Familie ist so wichtig... es tut mir schrecklich leid!"
Ihr Blick veränderte sich. Sie wirkte überrascht. Darüber etwa, dass er mitempfand? Wie konnte sie daran zweifeln? Ihr Blick wurde milder.
"Du konntest es nicht wissen. Und du bis' nich mehr ganz nüchtern."
"Aber... aber... es tut mir trotzdem leid!" Sie war so tapfer! Da trug sie diese schreckliche Last Tag für Tag nahezu klaglos mit sich, nur damit er daher kam und sie ihr brutal vor Augen führte? Er ließ den Kopf hängen. "Immer und immer wieder. Ich sollte nich mehr mit andern reden. Dabei tu ich ihnen nur weh. Oder Schlimmeres..."
"Schwachsinn!"
"Doch! Ist so! Sagt er auch."
Rabbe verzog ihr Gesicht zu einer leichten Grimasse, als sie fragte:
"Wer denn? Racu-uuul? Racul ist ein Mistkerl! Ein alter, dreckiga Nichtsnutz von ei'm Blödmann. Er sagt das nur, um dich zu verunsichern! Hast du Ophelia geholfen, oda was? Hattest du ein' persönlichn Nutzen davon? Nein! Reine Selbstlosigkeit! Weiß der Geier warum..."
Er wusste, dass das nicht stimmte aber sie schien uneinsichtig, hatte wohl schon etwas zuviel getrunken. Er blickte sich möglichst dezent um, ehe er sich vorbeugte und flüsterte.
"Ich bin eine Belastung. Wirklich! Und... sogar eine Gefahr für mich selbst! Sieht man doch an dem Dämon. Selber Schuld, so einfach is das."
Rabbe widmete sich ihrem Glas, fragte aber deutlich irritiert:
"Was redst du da üba einen Dämon?"
Er beugte er sich leicht über den Tisch vor und sprach noch leiser, als bisher, weiter.
"Der Dämon. In Senray. Ich war zu leichtsinnich. Aber... der mag das nich... wenn man über den redet."
Rabbe konzentrierte sich auf ihn, sah dabei aber irgendwie verwirrt aus. Obgleich sie immer wieder bestätigend nickte.
"Jaaaa... jedenfalls... jetzt hab ich den Schlammassel für imma an der Backe. Also den Dämon. Nich Senray. Obwohl sie da dazu gehört. Man kann die beiden ja nich trennen. Leider. Ein bisschen wie mit Ophelia und Racul."
Rabbe nickte immer noch.
Er trank, stellte das Glas ab und stützte seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab, um darauf wiederum sein Kinn abzustützen. Seine freie Hand kippte leicht das Glas und drehte es, während er müde die zerlaufenden Blutschlieren an der Glasinnenseite beobachtete.
"Ich hasse den Dämon. Glaub ich zumindest."
"Das is... verständlich."
Er versuchte, sich zu konzentrieren. Das Thema war zu ernst, für Ungenauigkeiten.
"Also... ich mag ihn jedenfalls überhaupt nich. Bösartiges Vieh!"
Rabbe nickte und teilte seine Meinung ebenso spontan, wie enthusiastisch.
"Bösartig!"
"Ja, total!" Hier saß jemand, der ihn voll und ganz verstand, dem er von ganzem Herzen sein Leid klagen durfte. Sie hatte ihn ja sogar genau deswegen hierher geschleppt, nicht wahr? "Jedesmal, wenn ich mich mit ihr anlege, wischt sie mir eins aus. Und das tut so verdammt weh."
"Kann ich mir denkn."
"Ich musst mir neue Hemden nähn deswegen! Dauernd kokelt das Brandmal wieder durch meine Haut durch. Und dann eben auch durch die Hemden! Und die Sache mit den aufgeschlitzten Händen war einfach nich fair! Das war total übertrieben. Dabei hatte ich gar keine Schuld!"
Er stellte das Glas endgültig ab und hielt Rabbe anklagend seine Hand vor die Augen. Sie betrachtete seine Handfläche und die Fingerinnenseiten, die Fingerkuppen. Wodurch sie nicht umhin kam, all die hellen kleinen Narben zu bemerken, die jene über und über bedeckten. Ihre Augen weiteten sich und sie fluchte leise.
"Scheisse... das is echt heftich!"
Wilhelm versuchte fast im Reflex, Senray in Schutz zu nehmen.
"Ich mein... Senray auch nich! Sie hatte auch keine Schuld. Sie hatte sich nur 'n Papierschnitt geholt. Da kann man ja nichts für. Kann passiern. Der Dämon is einfach echt mies."
Rabbe trank ihr Glas Wein in einem Zug aus und winkte nach Nachschub.
"Echt mies!"
"Ja." Seine Gedanken kreisten automatisch um das kleine Vogelherz und allein ihr Bild vor seinem inneren Auge stimmte ihn milder. "Nyria mag sie nich..."
"Wen?"
"Sen..."
Rabbe verzog leicht den Mundwinkel.
"Ich könnt jetz auch nich sagen, dass ich Nyria besonders mag."
Er dachte daran, wie unvoreingenommen jene sich zu ihm hinabgebeugt hatte, um ihm nach Rachs Giftpfeilattacke wieder aufzuhelfen. Er mochte ihre leicht schnoddrige und doch so überraschend durchdachte Art, ihre Zielstrebigkeit und ihre verbissene Loyalität Raistan gegenüber. Das, wovor er selber sich so an dem Erbe seiner Art fürchtete, schien sie völlig als ihr angestammtes Recht akzeptiert zu haben, was ihn zugleich faszinierte und lockte: Territorialdenken! Sie kam so leicht damit zurecht. Er merkte kaum, wie sich ein wehmütiges Lächeln auf seine Lippen stahl.
"Och, Nyria is nett."
Rabbe konterte desillusioniert.
"Nett sein reicht auf diesa Welt nich."
Nun lächelte er sie bewusst an.
"Aber es is besser, als nich nett sein." Und während sie die leeren Flaschen auf dem Tisch konzentriert umsortierte, fügte er hinzu. "Du bis auch nett."
Sie sah ihn nur kurz an und grummelte regelrecht dabei, als wenn er sie beleidigt hätte und sie das nur aus reiner Höflichkeit ungesühnt im Raum stehen ließe.
"Ich hab mich noch nie nett gefund'n un' es hat gut funktioniert!"
Er musste über ihre Unlogik kichern, was ihr wiederum ungewollt ein Grinsen entlockte.
"Rabbe! Das funktioniert doch anders! Man findet sich nich selber nett! Andre müssn ein' nett finden!"
"Müssn? Müssn? Von wegen!"
"Na gut, müssn nich."
Ihre Stimme wurde unwillkürlich etwas lauter, als sie sich ereiferte.
"Ich bemüh mich doch nich, dass irgendwer mich nett finden muss!"
Wilhelm stütze noch immer amüsiert sein Kinn auf.
"Aber wenn sie es machen, dann kann man nichts dagegen machen."
"Ha! Ha!" Sie zeigte mit kreisendem Finger willkürlich in die Gegend und bohrte Löcher in die Luft. "Doch! Man kann sich weigern!"
Sie war herzerfrischend und mitreißend, so wundervoll enthusiastisch und fehlgeleitet und... einfach zu nett! Er konnte nicht anders, als ihr das zu beweisen, es ihr zu zeigen. Schwankend stand er auf, beugte sich zu ihr und umarmte sie. Um sich daraufhin mit seligem Lächeln wieder hinzusetzen.
"Da! Nix kannst du dagegen machen!"
Rabbe prustete laut los vor Lachen.
"Ach jaaaaa?!"
"Ja!"
Blitzschnell und überraschend agil für die Menge der geleerten Flaschen vor ihnen beugte nun sie sich zu ihm vor... und zerstrubbelte zielgerichtet mit freundlichem Grinsen sein Haar. Schon saß sie wieder zufrieden in ihren Stuhl zurück gelehnt.
"Wie nett is das noch, hm? Frisur ruiniert!"
Damit hatte er nicht gerechnet. Verdattert fasste er sich an den Kopf und tastete dort nach dem neuen Arrangement.
Rabbe kicherte wieder.
Er ließ seine Hand verlegen sinken, dann lächelte er scheu.
"Pah! Ich find dich trotzdem nett."
Sie kämpfte offensichtlich gegen ihre stetig steigende Erheiterung an.
"Dann mach halt. Is aber ein Fehler."
Er versuchte, mit beiden Händen wieder Ordnung in sein Haar zu bringen, wobei ihr Grinsen immer breiter wurde. Irgendwann zeigte sie prustend auf seinen Kopf.
"Du hasses nur schlimma gemacht!"
Er gab es auf und ließ die Hände sinken, lächelte.
"Senray würde sagen, du bis unmöglich!"
Rabbe stieß wieder ihr kleines 'Ha!' aus.
"Die Rattenfänger! Has du deshalb so viel mit ihr rumgehang? Wegen dem Dämon?"
Wilhelm stützte sich mit der Wange auf der aufgestellten Hand ab. Er war bei ihrer Frage fast glücklich.
"Ja, der Dämon is Schuld. Oder ich."
Der Gedanke an den Dämon hätte ernüchternd sein können. Auch, weil er mehr als nur ahnte, ihm nur knapp entkommen zu sein. Noch immer ein Restrisiko an sich haften zu haben. Und dann riskierte er dessen neuerlichen Zorn, indem er sich jemand Weiterem anvertraute, den Kreis der Mitwisser erweiterte? Aber andererseits... woher sollte der Dämon in diesem speziellen Fall davon erfahren? Und... Rabbe war etwas anderes! Er war so froh, dass sie ausgezeichnet selber auf sich aufpassen konnte. Sie brauchte ihn nicht dafür. Es war in Ordnung, dass er sich ihr einfach nur als Gesellschaft anschloss und sich kaum um sie sorgte. Erleichtert lehnte er sich etwas weiter zurück.
Rabbe hingegen kam ins Plaudern. Ihre lebhafte Art zu reden faszinierte ihn von jeher und es schien unmöglich, sich ihr zu entziehen. Sie scherzte und spottete auf freundliche Weise über ihn, ihre Augen blickten dabei immer wieder schalkhaft zu ihm. Und er verlor sich in ihnen, so dass ihre Aufmerksamkeit ungewollt an ihm hängen blieb. Sie blinzelte, versuchte anscheinend irritiert, ihren Blick wieder abzuwenden. Doch der Versuch war wenig überzeugend.
So ein wunderschönes blau...
Er nahm am Rande seines sich verengenden Blickfeldes wahr, dass sie fahrig nach einer verborgenen Waffe zu tasten schien. Doch die Bewegung erstarb mittendrin und ließ sie mit ruhig ausgerichtetem Blick zurück. Für ihn war es keine neue Erfahrung, wenn so etwas passierte. Aber er dachte auch gerade nicht darüber nach, warum es geschah oder was es bedeutete. Es war einfach so. Er mochte sie, er mochte den gemeinsamen Abend. Und die räumliche Distanz zwischen ihnen schien zu schwinden, das Lokal verblasste. Wilhelm spürte, wie er mentale Grenzen gleich Schleiern durchquerte, die über sein Wesen streiften, frisch und kühl. Eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf wollte ihn nervös darauf hinweisen, dass es vielleicht keine gute Idee war, die Situation dieserart auszunutzen. Dass Rabbe später, wenn sie wieder die Gelegenheit dazu hätte, vermutlich nicht nur 'wenig erfreut' über seine Zuneigung wäre. Dass sie ein aufbrausendes Temperament und deutlich bessere Fähigkeiten im Nahkampf hatte, als er selber. Aber die Stimme war unaufdringlich. Und Rabbes geistiges Foyer war so friedlich. Nichts und niemand, das oder der ihn angriff. Zudem breitete sich vor ihm ein völlig unerwartetes Bild aus!
Ein Steinpfad lud ihn zum Betreten ein. Mit Wasserfällen zu beiden Seiten. Der Himmel, oder vielmehr die Decke, entzog sich weit, weit oben seinem Blick. Einige seltsame schwarze Monolithen standen immer wieder in dem vor ihm liegenden Abschnitt der Landschaft, soweit er das vom Anfang des Weges her erkennen konnte. Er zögerte nicht länger. Die Szenerie hatte etwas zugleich einladend Freundliches und Mysteriöses an sich. Die unebenen Steine unter seinen Schuhen waren leicht rutschig, von der sprühenden Gischt der Wasserwände. Er lief langsam, blickte sich dabei staunend um. Ihre Gedanken hatten diesen ungewöhnlichen Vorraum mit einer Intensität errichtet, die sogar dem Moos in den Zwischenräumen des Steinbetts filigrane Struktur und dem Weg einen fast überwältigenden Duft von Fluss und erdigem Waldboden verliehen hatte. Das war selten. Der Weg endete vor einer Tür, die mitten im steinernen Untergrund stand, umgeben von milchigen Nebelbänken. Seltsam normal, im Vergleich zu dem Rest der traumartigen Umgebung. Er öffnete die Tür. Und befand sich in einem Wald, scheinbar am nahen Rand von diesem oder mit Zugang auf eine Lichtung, direkt vor ihm. Er schlenderte der Helligkeit entgegen, ließ die Tür hinter sich. Und trat kurz darauf auf einen Sandstrand hinaus. Ein Schreibtisch stand mitten im Sand, dort, nahe der Gezeitengrenze. Er trat näher... und atmete tief durch. Das Meer! Es lag weit und frei vor ihm, von einer Seite des Horizonts bis zur anderen. Frischer Wind wehte ihm leicht den Sand entgegen, der prickelnd wie Champagnerbläschen gegen seine Haut traf. Der Himmel hier war bewölkt und bewegt, doch sowohl jener, als auch die leichten Wellen zu seinen Füßen, strahlten Ruhe aus. Frieden.
Er strich im Vorbeigehen mit den Fingern über den Schreibtisch. Eine Wachemarke, ein Messer, ein roher blauer Edelstein... und eine Ikonographie, gerahmt, mit den Gesichtern von Kindern. Lachenden Gesichtern.
Der Anblick schmerzte unsagbar in seinem Brustkorb. Er fasste sich erschrocken an das Hemd und hatte einen Moment lang Angst, dass das elendige Brandmal begonnen haben könnte, sich neuerlich glühend durchzubrennen. Aber da war nichts. Nur Narbengewebe und Stille.
Er wollte mit seinen Fingern das Bild berühren, zuckte aber kurz davor zurück.
Nicht seines! Rabbes! Persönlich...
Er wandte sich schnell ab und stolperte stattdessen zum Wasser. Kurz davor fiel er auf die Knie. Er setzte sich erschöpft an den Strand und sah hinaus auf das Meer. Seine Stimmung schwankte zwischen Melancholie und Zuneigung, als er leise in die Luft hinein sprach.
"Rabbe? Deine Gedanken... sie sind wundervoll..."
Sein Blick schweifte in die Ferne. Er konnte sich kaum satt sehen an diesem machtvollen Szenario! Wie nur konnte es sein, dass sie nach außen hin eine dermaßen permanente Kampfbereitschaft signalisierte, während sie in ihrem Inneren eine solche Landschaft barg, solche Gestalt gewordene Ruhe?
Das trunkene Schwindelgefühl, das er mit in diese Welt gebracht hatte, überrollte ihn fast und schwankend fing er sich mit einer Hand ab. Schnell schloss er die Augen und konzentrierte sich lieber auf das stete Rauschen der Brandung und den leisen Gesang des Windes.
Zu viel. Zu viel Schmerz, zu viel Kampf. Zu viele Gedanken... zu viel von dem Blut, zum Abschalten...
Er musste dringend wieder zu sich finden. Und hier war ein guter Ort dafür.
Wilhelm ließ sich in den Sand zurückfallen, breitete dabei die Arme aus. Er atmete tief durch. Seine Gedanken kamen zur Ruhe.
"Rabbe?", murmelte er leise, "Wenn du mich hörst... ich bleibe etwas... hier ist es gut... tut mir leid... ich versuche, nicht zu stören... ich werde... ganz... leise... sein..."
Und weit, weit entfernt, spürte er, wie sein Körper die Augen schloss. Dann: die Brandung, der Wind und erlösendes Vergessen.

Wind auf Armen und Gesicht. Ein leises Rauschen, das in natürlichem Zyklus auf- und abschwoll. Kühler Grund im Rücken, uneben, sandig. Und der Geruch von algigem Wasser und nassem Holz.
Er schlug die Augen auf.
Grauer Himmel. Sich jagende Wolken.
Wo...?
Die Erinnerungen tröpfelten in seinen trägen Sinn. Und eine ungute Erkenntnis verfestigte sich.
"Oh verd..."
Wilhelm rappelte sich schnell auf und stand keine zwei Sekunden später am Strand. An ihrem Strand! Und er wusste, was das bedeuten musste. Er war komplett weggetreten gewesen und das garantiert nicht nur für einige Minuten. Wenn ihm nach einer Trinkorgie wie die der vergangenen Nacht so etwas passierte (wenn auch normalerweise im eigenen Kopf), dann dauerte es einige Stunden, ehe er normalerweise wieder ansprechbar war. Der Zustand war noch am ehesten mit dem zu vergleichen, was Senray unter Schlafen verstand, wenn auch in der Tiefschlafphase- beziehungsweise Fast-Schon-Koma-Variante. Und da er normalerweise umsichtig genug war, solche Sauftouren auf freie Nächte zu beschränken und schnell genug den Heimweg anzutreten... normalerweise...
Er rieb sich nervös die Hände an den Hosenbeinen ab und sah sich um.
"Nicht gut... gar nicht gut..."
Mit einem hektischen Ruck wandte er sich dem hinter ihm liegenden Waldrand zu und eilte zurück.
"Wenn ich nur wüsste, wie lange... ob sie schon wach geworden ist und..."
Er traute sich nicht einmal, die Fragestellung im Stillen zu Ende zu denken. Stattdessen hastete er durch das gefallene Laub des nun seltsam düster wirkenden Waldes. Kam das daher, dass er auf dem Hinweg sozusagen aus dem Wald heraus getreten und damit dem Licht entgegen gelaufen war, während er nun quasi in das Unterholz zurück musste? Seine Schuhe verfingen sich immer wieder in den hohen Wurzeln der Bäume, die unter dem Laub verborgen gleich Stolperfallen auf ihn warteten. Seltsam! Er war zuvor so viel erschöpfter gewesen, als er sich jetzt fühlte, hätte er da nicht viel eher mit schlurfendem Schritt hängen bleiben müssen? Hinter sich vernahm er den Klang der Brandung, die sich deutlich stürmischer anhörte, als noch vor wenigen Momenten. Ein Frösteln rieselte ihm das Genick hinab. Auch, wenn er nicht gerne darüber nachdachte... er ahnte, worauf alle diese kleinen Indizien hindeuteten.
Eine Sturmböe fuhr durch den Wald, schüttelte die Wipfel über ihm und schmiss loses Geäst in seinen Weg, so dass er nur eben gerade so im vollen Lauf ausweichen und in ein Brennesselgestrüpp fallen konnte, mit den ausgestreckten Händen zuerst. Das Beissen der Pflanze prickelte schmerzhaft über seine Finger, doch er verkniff sich jeden Laut.
Das menschliche Gehirn nahm einen Eindringlich fast immer wahr. Es reagierte auf diese Erkenntnis nur sehr unterschiedlich! Bei den allermeisten Menschen löste seine heimliche Anwesenheit in deren Gedanken nur ein leichtes Unwohlsein aus, wenn überhaupt. Er wurde unterbewusst erahnt, als kalter oder warmer Hauch abgestempelt oder schlichtweg als Auswuchs der persönlichen Fantasien abgetan, als Tagtraum, den es pflichtbewusst zu ignorieren galt. Andere schrieben seine Präsenz dort, wo er nicht hingehörte, einem höheren Einfluss zu. Sie empfanden das Gefühl, seinen Geist in sich zu tragen, als so außergewöhnlich und ungewohnt, dass sie sich von Magie oder vom Göttlichen berührt wähnten, von Der Lady beachtet oder stillschweigend von Om betrachtet. Und dann gab es jene Individuen, die seine Anwesenheit alarmierte. Ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht, ob sie darin geschult waren, dieses Eindringen gezielt zu kontern... oder eben nicht. Deren Gedankenwelten nahmen ihn vor allem als unerlaubten Fremdkörper wahr... den es auszuschalten galt!
Erinnerungen an Rogis Gedankenszenarien kamen in ihm hoch und er versuchte, so lautlos wie möglich aus dem Gestrüpp herauszutreten. Aber irgendwie hatten sich unter den Brennnesseln trockene Stöcke angesammelt, die nun bei jedem Schritt von ihm krachend zerbarsten. Ein Donnergrollen zog tief über den dunkelgrauen Himmel und ein merkwürdig gelbliches Zwielicht schlich sich zwischen die Bäume. Er rannte das restliche Stück des Weges zu der Tür mitten im Wald. Finsternis sickerte aus ihren Fugen und an ihrer Schwelle hervor. Wilhelm zögerte, dann jedoch griff er nach der Klinke. Es hatte ja keinen Sinn, er musste schließlich wieder hinaus.
Ein elektrischer Schlag fuhr ihm bis in die Schulter hinauf. Mit einem Schmerzensschrei riss er die Hand zurück. Durch den plötzlichen Muskelkrampf in den Fingern, der ihm nicht gestattete, bewusst loszulassen, gelang es ihm damit sogar wirklich, auch die Tür zu öffnen, doch dann krümmte er sich erst mal über seinen inwendig brennenden Arm. Der Schmerz konnte nicht körperlich sein. Aber das machte ihn nicht erträglicher. Er biss die Zähne zusammen und atmete stoßweise, bis er sich wieder getraute, die Schonhaltung aufzugeben. Dann richtete er sich langsam auf... und besah sich die vor ihm liegenden, unheilvollen Tatsachen.
Rabbe musste wieder wach sein, anders war der Anblick der Passage nicht zu erklären. Und nun, im verteidigten Zustand, ergab dieser Weg so viel mehr Sinn. Es würde kein Vorbeikommen geben. Die Wasserfälle links und rechts donnerten mit einer Gewalt hernieder, die nichts mehr mit den heiteren Wasserspielen des mystischen Abendanblicks zu tun hatte. Wenn er vom Steinpfad abkäme, würde ihn die Wassergewalt zerschmettern. Gleichzeitig glänzten die Steine in der Gischt wie poliertes Glas. Gestern war der Weg schon uneben und rutschig gewesen. Heute würde dieser ihm vermutlich das Genick brechen - zumindest, wenn ihn einer der schwarzen Monolithen erwischte. Richtig. Diese bewegten sich nun. Nicht gemächlich oder gar behäbig, sondern schnell und abrupt, wie Raubtiere bei der Jagd. Der Anblick hätte komisch sein können. Wenn er nicht ein echtes Problem dargestellt hätte.
"Oh, Rabbe... wieso nur?"
Zwei der schwarzen Felsen, die in seiner Nähe gewesen waren, stoppten beim Klang seiner kaum hörbar gewisperten Worte. Und rutschten langsam näher, wie zwei seltsame Wildkatzen auf der Pirsch, die nur noch kurz benötigen würden, um ihr Vorgehen zu koordinieren und die Beute zwischen sich einzukeilen.
Wilhelm wartete nicht eine Sekunde länger, sondern schlug die Tür vor sich zu - diesmal ohne die Klinke zu berühren.
Hier zu bleiben war unmöglich. Darüber brauchte er sich keinen Illusionen hinzugeben. Und allein durch diese Todesfalle würde er es ebenfalls nicht schaffen. Rabbes inneres Abwehrsystem hatte ihn längst verortet, so dass auch Aussitzen keine echte Option darstellte. Er konnte sich nicht mehr verstecken – jetzt blieb ihm nur noch der offene Weg, frontal, in voller Sichtweite. Er musste ihre bewusste Aufmerksamkeit erringen, ihre Hilfe gezielt erbitten.
Wilhelm atmete tief durch und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Dann legte er seinen Kopf in den Nacken, schloss die Augen...
... und konzentrierte sich darauf, das Bild dieser ihn umgebenden Landschaft auszublenden und ihren direkten Gedankenfluss zu erreichen, so wie man mit winterkalten Fingerspitzen von außen an eine warm beleuchtete Scheibe fasst, oder mit ihnen in die trübe Wasseroberfläche eines moorigen Sees eintauchen würde.
"Rabbe?"
Helle Streiflichter zogen wie lautlose Sternschnuppen vor seinen Augenlidern vorüber, eine Stimme erzählte in fast mürrischem Ton, wobei er nur hin und wieder auch verstand, wovon sie sprach.
"...man, man, man... hoffe, dir genauso dreckig... möchte mal wissen... gemacht hättest, wenn ich nicht... wart' s nur ab... von wegen, nicht mithalten... auf der Rechnung... schon gedacht... na, egal, hatte ich ja eh angeboten... erst mal Kaffee..."
Offenbar führte sie verkaterte Selbstgespräche. Er lehnte sich weiter vor in ihre bewusste Wahrnehmung.
"Rabbe!"
Die Streiflichter zogen nicht mehr ungehindert an ihm vorbei, er konnte spüren, wie sie ihn umstrudelten, als wenn er ein Stein im Flussbett wäre, ein Hindernis, das umgangen gehörte, als wenn es schon Ewigkeiten dort läge. Es war schlichtweg nicht vorgesehen in diesem Geist, dass Etwas oder Jemand hier spontan auftauchte.
"...wooah... mein armer Schädel! Nächstes Mal achte ich darauf, dass... ist doch nicht normal so... aber dann, sag ich dir gleich, mein Lieber, bist sowieso du..."
Es half nichts.
"RABBE, verdammt noch mal!"
Die Stimme verstummte und es wurde finster um ihn. Eine Sekunde lang war es still. Dann...
Etwas traf ihn mit Wucht und schleuderte ihn in übertragenem Sinne zu Boden. Er landete auf dem Rücken, die Lunge zusammengepresst, der Untergrund spitz und kantig in seine Schulterblätter gerammt und schneidende Windböen peitschten ihm Dinge ins Gesicht, Regen, frostige Eiskristalle, Blätter, Zweige...
"Rabbe, ich bin es! Es tut mir lei... hmbfhlmmhhh..."
Ein Schwall Sand schlug ihm orkanartig ins Gesicht und er brauchte wirklich nicht die Augen öffnen, um zu verstehen, dass ihre innere Landschaft zum Angriff übergegangen war. Vermutlich konnte er noch froh sein, die Tür zu den Felsen geschlossen zu haben.
"Kannst du mich hören, Rabbe? Wenn ja, ich brauche deine Hil... uff!"
Ein massiver Ast war aus der Baumkrone über ihm heraus gebrochen und durch eine Sturmböe auf ihn geschleudert worden, zielsicher quer über den Magen seines hier manifestierten Gedankenkörpers gedroschen.
"Rabbe, wirklich... das..."
"Nicht in echt jetzt, oder? Wilhelm?"
Er öffnete vorsichtshalber doch lieber die Augen, auch wenn er sie dabei mit den Händen abzuschirmen versuchte – gerade rechtzeitig, um sie weit aufzureißen und hastig mit dem gesamten Körper herumzuwirbeln auf dem splittrigen Blattwerk des Waldbodens. Er rollte noch in die neue Position, da bebte die Erde auch schon unter dem Aufprall des gefällten Baumes dicht neben ihm. Er gestand sich ein, dass er allmählich mehr als nur nervös wurde.
"Das... das war ein klein wenig übertrieben, findest du nicht auch? Bitte... könntest du dich etwas beruhigen? Ich brauche deine Hilfe!"
"Ich fass es nicht! Was... versteh ich das richtig, dass du... also... du verarschst mich, oder? Was, verflucht noch mal, machst du in meinem Kopf, Wilhelm Schneider!?!"
Die empörte Vibration ihrer Gedankenstimme war so unmittelbar zu spüren, als wenn die Luft auf seiner Haut flimmern würde.
Er beeilte sich, sie zu beschwichtigen.
"Das ist jetzt nicht so einfach zu erklären. Ich..."
"Oh, und wie das einfach zu erklären ist! Sonst kannst du was erleben!"
In leicht vorgebeugter Habachtstellung hielt er nach allen Seiten zugleich Ausschau, was durch den harschen Sturmwind erschwert wurde, der ihm eisig in die Augen blies und immer wieder seine Haare in die Sicht flattern ließ. Ein schweres Poltern hinter ihm ließ ihn zusammenzucken und er sprang beiseite. Hinter der Tür warfen sich wohl die Gesteinswächter als Rotte gegen das Hindernis, um einen Durchbruch zu schaffen und ebenfalls seiner habhaft zu werden.
"Gestern Abend muss ich versehentlich in deinen Sinn gerutscht sein und..."
"Versehentlich? Versehentlich in... Raus! Sofort!"
"Ich würde ja! Nur zu gerne!"
Er behielt das bebende Holz der Tür im Auge.
"Ja dann mach es doch endlich! Oh, Wilhelm, ich dreh dir den Hals um... was dir nur einfällt, einfach so..."
"Rabbe! Jetzt hör' doch mal zu! Ich kann nicht wieder raus! Du hinderst mich daran!"
Er war sich nicht sicher, ob das nun ausgerechnet der sicherste Weg wäre, sie auf seine Lage hinzuweisen. Wenn ihr Unterbewusstes erst realisierte, wie viel Macht ihm wirklich gegen den Fremdkörper zur Verfügung stand... aber andererseits war es der schnellste. Und Zeit, dachte Wilhelm mit Blick zu der bebenden Tür, wurde allmählich nicht ganz unbedeutend.
"...ich wunder mich schon die ganze Zeit, was das für seltsame Kopfschmerzen sind, wie so ein Dorn im Schädel, und du..." Sie hielt inne, stutzte, als seine Worte richtig bei ihr ankamen. "Was soll das heißen, ich hindere dich daran? Ist das eine von diesen ganz miesen Ausreden? Lass dir gesagt sein, ich finde das nicht witzig! Ich würde dich nur zu gerne rausschmeißen, wenn ich könnte!"
Der Wind riss noch immer an seiner Kleidung und schlug ihm die Haare ins Gesicht. Aber zumindest trafen ihn keine Gegenstände mehr und das Poltern hinter der Verbindungstür hielt inne. Er straffte seine Gestalt.
"Deine Gedankenebene findet meine Anwesenheit ebenso wenig amüsant, das kann ich dir versichern. Ich habe es hier mit einigen... ähm... Schwierigkeiten zu tun. Stelle es dir vielleicht wie einen dieser Übungsparcours von Araghast vor? Nur in aggressiver. Und fantasievoller. Jedenfalls... du bist besser darin, das aufrecht zu erhalten, als ich darin, es zu überwinden."
Sie schien irritiert. Der Wind legte sich nun ebenfalls und so etwas wie Windstille senkte sich über ihn.
"Du willst damit sagen... du meinst, ich habe dich in meinem Kopf 'eingeknastet'?"
Er empfand so etwas wie Verlegenheit und noch bevor er ihr direkt antworten konnte, bekam sie einen Lachanfall.
Wilhelm seufzte leise.
"Gnihihihi... das geschieht dir sowas von zu Recht, Wilhelm, wirklich! Hast gedacht, das fällt nicht auf, oder wie? Und jetzt... du kommst echt nicht von alleine raus? Wie witzig!"
Seine Schultern sackten herab und er seufzte etwas lauter, als zuvor.
"Rabbe... lass den Quatsch!"
Wieder ihr zutiefst amüsiertes Lachen, dem sich dieser schadenfrohe Unterton beizumischen begann - der sich sonst in ihrer beider Gespräche eher auf abwesende Dritte bezog.
"Wenn du irgendeine Form von Hilfe willst, lass gefälligst das Rumkommandieren. Sonst werfe ich dich mental noch viel tiefer in den Kerker!"
Wilhelm konnte sich regelrecht ihr breites Grinsen vorstellen. Er atmete bewusst tief durch. Wenigstens hatte ihre innere Landschaft sich beruhigt.
"Ok... ich lass das Rumkommandieren. Ich... es tut mir leid! Es war wirklich ein Versehen! Ich hatte das nicht vor. Ich wollte dir gestern nicht zu nahe treten. Das alles... es war nicht geplant oder so. Ich bin versehentlich hierher geraten. Das weißt du, ja? Unser lockeres Miteinander ist mir wichtig und ich wollte das ganz sicher nicht mit solch einer Dummheit gefährden."
Eine warme Windböe durchfuhr den Wald und ihre Gedankenstimme war gestaltgewordene Resignation.
"Na gut... ich will mal nicht so sein. Auch, wenn ich nicht verstehe, wie das aus Versehen passieren kann. Ich meine... ausgerechnet in meinen Kopf? Das sollte sowas von unattraktiv sein, Sperrgebiet, nicht zum Rumlungern geeignet. Wie man sich das freiwillig antun kann... du musst schon ziemlich seltsame Hobbies haben, Wilhelm, seltsame Neigungen, um so abgebrüht zu sein..."
Er sah sich im inzwischen wieder ruhigen Wald um, betrachtete das satte grün, lauschte dem Rascheln des Laubes und dachte an den Strand.
"Dein Selbstverständnis... ich vermute, das stimmt nicht ganz mit den tatsächlichen Gegebenheiten hier überein. Deine Gedanken sind... sie sind... sehr schön... angenehm."
Sie schwieg betroffen. Dann antwortete sie ihm mit einem Unterton, den er nicht ganz zuordnen konnte.
"Wenn ich dir da wieder raushelfe... du... du erzählst niemandem jemals davon, ist das klar? Habe ich mich klar ausgedrückt?"
Er nickte mit einem schiefen Lächeln, das sie nicht sehen würde.
"Selbstverständlich erzähle ich niemandem von deiner Gedankenebene. Hältst du mich wirklich für solch eine Plaudertasche? Seit wann das? Nein, solche Dinge gehen niemand Dritten etwas an."
"Aber wirklich!"
"Rabbe!"
"Ich mein ja nur..."
Wilhelm wandte sich vollends der Tür zu.
"Na gut. Wenn du soweit wärst?"
"Äh... keine Ahnung? Was soll ich machen?"
Er wusste es selber nicht so genau. Jeder Geist funktionierte anders. Selbst Rogi, die über eine gute Selbstkontrolle verfügt hatte, war damals der instinktiven Versuchung verfallen und hatte ihn auf dieser Ebene aus einem Reflex heraus neuerlich angegriffen gehabt. Die Gefahr war also unverhältnismäßig hoch, dass Rabbes auf Verteidigung ausgerichtetes System nicht einfach die Arbeit einstellen würde, nur weil diese sich auf einer höheren Bewusstseinsebene etwas entspannte.
"Ich versuche noch mal, den kritischen Bereich hier zu betreten. Am besten du... bleibst einfach gelassen? Ruhig?"
"Was meinst du mit 'kritischen Bereich', Wilhelm?"
"Also... das ist ein Areal in deinen Gedanken, das wie ein sehr schmaler, gefährlicher Durchlass aufgebaut ist. Stelle dir eine Schlucht vor, die zum Auflauern… oder besser, nein! Stelle dir das lieber nicht vor! Dumme Idee! Denk nicht drüber nach! Es ist... ich muss da jedenfalls durch. Und du solltest mir den Weg freihalten, wenn irgend möglich."
"Äääh... okäää... was auch immer du sagst."
Er griff nach der Klinke... hielt aber einige Millimeter vorher inne. Und überlegte es sich anders. Stattdessen sah er sich schnell um, bückte sich und griff nach einem stabilen Ast – mit dem er die Klinke herunterdrückte, ihn einhebelte und die Tür zu sich öffnete.
Der Steinpfad lag vor ihm, glatt und glänzend. Und auch die Wasserfälle zu beiden Seiten hatten sich etwas beruhigt, wenn auch dabei nichts von ihrer innewohnenden Kraft eingebüsst. Kein geheimnisvolles Abendidyll, eher ein hellwacher Kontrollposten. Erst recht im Hinblick auf die schwarzen Obelisken, die schattengleich ihre Standorte wechselten, mal hierhin, mal dorthin huschten, lautlos, schnell.
"Rabbe? Es gibt hier so... dunkle Gedanken. Sehr schnelle, dunkle Gedanken. Die sich mir bedrohlich in den Weg stellen. Du kannst sie nicht zufällig irgendwie abschalten? Langsamer machen?"
Rabbe klang verwirrt.
"Wie meinst du das? Dunkle Gedanken? Wie soll ich mir das vorstellen?"
Er seufzte wieder.
"Schon gut. Es wäre auch zu unwahrscheinlich gewesen, dass du weißt, wovon ich rede und gezielt eingreifen kannst. Hmmm..."
Sie klang leicht genervt.
"Aber wenn du rein gekommen bist, muss sich das Ganze doch auch wieder umkehren lassen. Alles andere wäre total unlogisch, oder?"
Er beobachtete erschöpft den Pfad und dessen Hindernisse auf dem Weg in die Freiheit. Ohne große Hoffnungen sandte er den einen Impuls, der normalerweise zumindest als Richtungssignal herhalten konnte. Doch selbst darauf kam kein Echo.
"Die Umstände sind komplett unterschiedlich. Gestern waren wir beide... sagen wir mal, sehr viel gelöster. Sehr, sehr... sehr viel... entspannter. Es fehlten gewisse Hemmnisse in den unteren Bewusstseinsebenen. Vor allem eben auch so etwas wie Selbstverteidigungsmechanismen. Und... lass mich raten. Mein Körper ist momentan nicht so richtig in deiner Nähe?"
Sie prustete sogar in Gedanken spöttisch.
"Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich hab' dich extra noch nach Hause gebracht! War das jetzt verkehrt oder wie? Selbstredend parke ich dich nicht in meinem Bett! Und neben dir in deinem Bett schlafen gehen, wollte ich gestern Nacht auch nicht unbedingt. Also, ja! Du bist nicht hier. Also... dein Körper."
Er schloss die Augen und rieb sich mit den Händen über das Gesicht, während bei ihr der zweite Gedanke seiner Aussage ebenfalls ankam.
"Mit gelöster, meinst du besoffen. Wir waren beide voll bis zum Hemdkragen. Und wenn du mir jetzt sagen willst, dass das den Zugang für dich in meinen Kopf bedeutet hat... und es deswegen ganz genauso den Ausgang bedeuten soll... Wilhelm... das meinst du nicht ernst. Oder? Sag' mir jetzt nicht, dass du das ernst meinst!"
Er kaute unschlüssig auf seiner Unterlippe und sah schweigend zu den lauernden schwarzen Felsen.
"Wilhelm!"
Er ließ den Kopf hängen.
"Wilhelm... Alter! Ich hab' in vier Stunden Dienst!"

Diesmal hatte sie sich selbst übertroffen. Nicht nur darin, sich gezielt innerhalb allerkürzester Zeit abzuschießen. Eine eilig auf dem Weg zu ihm besorgte Flasche Jimkin-Bärdrückers-Alter-Und-Gut-Gelagerter-Extrastarker-Drachenblutwhisky hatte dabei ausgezeichnete Dienste geleistet. Sondern auch darin, ihm zuliebe in absurder Weise in Vorleistung zu gehen, ohne zu wissen, ob er ihr diesen enormen Freundschaftsdienst jemals angemessen vergelten könnte. Nach dieser Aktion hatte Rabbe so richtig was gut bei ihm, das stand fest. Da gab es kein Diskutieren oder Rumdeuten.
Die Gedanken-Monolithen stellten nun kein ernst zu nehmendes Problem mehr dar, ebenso wenig, wie die leichten Blessuren, die er sich geistig in ihrem Sinn zugezogen hatte. Der frisch strömende Blutvorrat des Vorabends in seinen Adern heilte alles das quasi in Sekunden, selbst ohne dass er sich darauf konzentrieren musste. Und kaum am ursprünglichen Beginn des Weges in ihren Geist angelangt, musst er nur noch die Augen schließen und sich dem Sog in seinen Körper überlassen.
Wilhelm schlug die Augen auf. Diesmal sah er die vertrauten Dachbalken seines Schlafzimmers über sich. Eine matte Bewegung neben ihm ließ die Decken und Laken rascheln. Er setzte sich blitzschnell auf und sah zu Rabbe hinab. Sie hatte noch immer die Kleidung vom Vorabend an – wie er selber auch, wie ihm ein schneller Blick an sich herab bestätigte – aber im Gegensatz zu ihm, der sich deutlich erholter fühlte, sah sie miserabel aus. Sie hielt sich den Arm mit leidvollem Ächzen über die Augen.
Auf seiner anderen Seite kam es ebenfalls zu Bewegung und Hannahs Herzschlag trat näher.
"Wilhelm, sie ist einfach hier reingeplatzt und hat behauptet... also... vielleicht sollte ich dazu vorher erwähnen, dass Ezra und ich uns heute Morgen gewundert hatten, als wir dich im Verkaufsraum unten auf dem Kundensofa gefunden haben und du absolut nicht ansprechbar warst. Ezra war so frei, dich in dein Bett hoch zu tragen. Und eben tauchte dann diese unbekannte Frau auf, die darauf bestanden hat, zu dir gebracht zu werden, sich einfach mit auf dein Bett zu setzen und sich dann... die Kante zu geben. Weil du... nicht mehr aus ihrem Kopf heraus könnest?"
Rabbe stöhnte herzzerreißend und er klopfte ihr vorsichtig auf ihr Knie.
"Schhhh, schon gut, alles wird gut."
"Oooooh... steg dir dein Alleswirdgud sonswohin, Willem..."
Hannahs Blick wechselte auf sehr aussagekräftige Weise zwischen ihm, Rabbe, dem Bett... und ihm. Sie war mindestens ebenso wenig darüber erfreut, eine weitere "Neue" in seinem Bett zu wissen, wie Rabbe darüber erfreut war, in eben jenem gelandet zu sein. Die Aussage 'Es ist nicht, wonach es aussieht!' lag ihm auf der Zunge – aber es sah ja nicht mal so aus! Hannahs stummer Vorwurf dieser Art konnte doch nicht ernst gemeint sein? Also sparte er sich das gleich und nahm Rabbe einfach in Schutz. Das war das Allermindeste, was sie jetzt verdiente. Das und... oh! Er sollte sich sofort darum kümmern!
Schnell sprang er auf und beugte sich zu ihrem Beutel hinab, aus dem sie wohl auch schon die Alkoholflasche gezogen hatte. Ein Griff und er entnahm diesem ein kleines, unsagbar intensiv duftendes Papiertütchen sehr teuren Inhalts, während er gleichzeitig mit Hannah sprach.
"Das hat seine Richtigkeit. Sie hat mir damit nicht einfach nur einen großen Gefallen getan, sie hat sich regelrecht mir zuliebe aufgeopfert! Wirklich, Hannah! Schau nicht so! Ich habe einen dummen Fehler gemacht gestern. Und zu viel getrunken. Oh ja, bei weitem zu viel! Ich muss mich jetzt erst mal darum kümmern, ihr den Klatschianer aufzubrühen, danach können wir gerne weiterreden."
Sie folgte ihm, mit einem letzten skeptischen Blick auf die ächzende Frau mit der völlig verstrubbelten, schwarzen Kurzhaarfrisur, in die Küche.
"Sag' bloß, sie ist noch eine von deinen... Kolleginnen?"
Mit geübten Griffen heizte er den kleinen Bollerofen hoch und setzte Kaffeewasser auf.
"Ja, ist sie."
"Tatsächlich also, soso."
Er weigerte sich schlichtweg, auf die nonverbalen Bestandteile dieser Konversation einzugehen. Dafür fehlte ihm derzeit der Nerv. Was sie aber nicht daran hinderte, ausgerechnet diesen Gesprächsfaden weiter zu verfolgen.
"Wie viele deiner... 'Kolleginnen'... werden denn noch so auftauchen?"
Irgendwie war ihm die Frage unangenehm. Eigentlich ging sie das gar nichts an! Er hatte ihr nie mehr als... gewisse Stunden zugesagt. Wenn sie sich mehr von ihm wünschte, dann war das nicht seine Schuld. Und spätestens als Senray in seinem Leben aufgetaucht war, hatten sie all das bereits durchdiskutiert. Vernünftig und freundlich. Was also sollte das nun? Wenn er die Möglichkeit weiterer Damenbesuche rundweg abstritt, würde sie es womöglich als persönliche Zusage an sich interpretieren, als Alleinstellungsmerkmal. Wenn er jedoch nicht darauf einginge, könnte es sie verletzen. Gefühle waren nun einmal nicht logisch. Wer wusste das besser, als er, der er sich immer wieder der Nähe des Dämons aussetzte, nur weil...
Er schüttelte den Gedanken schnell ab. Nein! Er ließ sich nicht von Hannah in eine Ecke manövrieren.
"Weder habe ich geplant, weitere Kolleginnen zu mir einzuladen – noch habe ich das Gegenteil geplant. Wir werden uns also wohl beide gleichermaßen überraschen lassen müssen, nicht wahr?"
Der klatschianische Kaffee lief inzwischen bereits durch und allein dessen Aroma befreite die Gedanken von jeglichen Beschönigungen und Abmilderungen. 'Heiße Rote Wüste' war nichts, womit zu spaßen war.
Hannah spürte es ebenfalls und wandte sich schnell ab. "Ich... bin unten. Falls du was brauchst."
Er nickte fast geistesabwesend, während er die tiefschwarze Brühe vorsichtig in ein winziges Tässchen gab. Womit er sich langsam auf den Rückweg ins Schlafzimmer machte.
Rabbe lag noch immer inmitten seiner weißen Laken. Ihre vertraute, schlanke Gestalt wirkte seltsam deplaziert an diesem Ort.
Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante und stellte die Tasse vorsichtig neben sich auf den Boden. Dann beugte er sich über sie und strich ihr zögerlich das Haar aus dem Gesicht. Oder zumindest hatte er das vorgehabt. Sie war dagegen.
"Rabbe?"
Sie fuchtelte seine Hand beiseite, wandte unwillig ihr Gesicht ab und rollte sich sogar auf die Seite. Ihr ganzer Körper krampfte sich bei dieser Bewegung vor Unwohlsein zusammen und sie zog ihre Füße an ihren Magen hoch. Was selbstredend auch ihre Schuhe auf das Bett zog.
"Lassmich..."
Kurz zuckte er bei dem Anblick zusammen, den das auslöste. Ihre Schuhsohlen waren braun und schwarz von Straßendreck – genauso wie daraufhin die zuvor schneeweißen Laken. Seine Hände schwebten unschlüssig in schmerzhaftem Akzeptieren in der Luft, ehe er sie wieder zurück nahm und tief durchatmete. Ein kleiner Preis, für ihren Beistand. Kaum der Rede wert. Ja, das war teures Leinen... gewesen. Und, nein, diese Art Dreck ging ganz sicher nicht wieder raus. Aber jetzt war es ohnehin zu spät. Da konnte er die hässlichen Schleifspuren und Schmadderklumpen auch genauso gut ignorieren. Er ließ die Hände resigniert fallen und konzentrierte sich wieder auf Rabbe.
"Ich habe dir den Kaffee mitgebracht. Er riecht sehr gut. Soll ich dir aufhelfen?"
"Issie weg?"
"Du meinst Hannah? Ja, die ist wieder nach unten gegangen."
Ihre Augenlider flatterten, als wenn sie sich sehr darum bemühte, ihn anzuschauen. Vergeblich.
"Wenn du... wenn du dich nich dran häls, Willem... das wirs dus für imma bereun! Du darfs es keim' erzähln! Mein Kopf! Mein Kopf is mein Kopf! Das erzählste keim'!"
"Versprochen!"
Sie schien darüber nachzudenken, ehe sie nickte. Was keine gute Entscheidung gewesen sein konnte, da sie sofort darauf wieder ächzte.
"Rabbe, lass mich dir aufhelfen. Etwas Kaffee und es geht dir wieder besser."
Er wollte ihr beistehen, sie aufrichten und stabilisieren. Doch sie weigerte sich standhaft, auch nur die kleinste Hilfestellung von ihm anzunehmen. Flüche wechselten sich mit Ächzen und Stöhnen ab und es war mehr als offensichtlich, dass sie ihm diese Situation wirklich übel nahm. Ihr unsteter Blick barg vorwurfsvollen Groll. Sobald sie einigermaßen aufrecht saß, hielt er ihr die Tasse dicht unter die Nase, ehe er sie ihr an die Lippen führte. Die Wirkung setzte prompt ein, wie bei dieser kostspieligen Investition auch allgemein beabsichtigt. Rabbe riss die Augen auf und schnappte nach Luft, die sie gierig in ihre Lungen sog. Er konnte spüren, wie ihr Herzschlag rapide an Tempo zulegte. Sie blinzelte heftig... dann wandte sie sich mit wütendem Gesichtsausdruck und absolut klarem Blick ihm zu.
Ihre Faust traf ihn mitten ins Gesicht.
"Au!"
Er presste sich beide Hände an den Wangenknochen, verzichtete aber vorsichtshalber auf irgendeinen Kommentar. Für einen Moment sahen sie einander nur schweigend an. Dann schloss sie kurz die Augen und atmete tief durch. Sie stand schwerfällig auf, drehte sich zu ihm um – und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Müde bückte sie sich zu ihrer Jacke am Boden und zog diese mit einer umständlichen Langsamkeit an, die mehr als alles andere davon kündete, wie sehr sie die letzten Stunden tatsächlich ausgezehrt hatten. Sie sah ihn ernst an.
"Kein Wort! Zu niemandem! Auch nicht zu deiner kleinen Freundin." Ein schiefes Grinsen schlich sich in ihre Mimik. Dann fügte sie hinzu: "Nächstes Mal zahlst du." Und damit war sie weg.
Wilhelm wartete noch, bis er ihre schweren Schritte am Fuße der Holzstiege ankommen hörte. Dann erst ließ er den Selbstheilungsprozess einsetzen. Die Prellung verschwand schnell, ebenso wie der dazu gehörige Schmerz. Er nahm die Hände vom wieder intakten Gesicht und faltete sie stattdessen im Schoß. Sein Blick wanderte unwillkürlich zu den Dreckspuren auf seinen Laken.
Er dachte an die Ruhe und den Frieden dieser inneren Landschaft, die noch immer in ihm nachhallten. Und er musste lächeln.

TAG 27

Wenige Stunden später bereits war ihm dieses Lächeln wie vom Gesicht gewischt. Zum ersten Mal innerhalb der Zeit seiner Wachezugehörigkeit, war er nicht pünktlich zur Schicht erschienen. Pünktlich, wie er diesen Begriff zu definieren gewohnt war. Nämlich zehn Minuten vor der Zeit. Mindestens. Und das bewusst. Ein Verhalten, für welches er sich in seinem tiefsten Inneren schämte. Er hatte Angst davor entwickelt, sich in den gefährlichen Bereich des Zugriffs zu begeben und diesen Schritt bis zum spätest möglichen Zeitpunkt hinausgezögert. Ein feiges Verhalten. Was die Sache nur schlimmer machen würde, darüber war er sich im Klaren. Und wirklich... als er knapp zur vereinbarten Zeit eintraf, um Raistans zusätzlichen Schutz in Empfang zu nehmen, stand Racul bereits lauernd hinter dem großen magischen Siegel seines Kerkers. Ein böses Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus, als er Wilhelms ansichtig wurde.
"Du stinkst nach Orgie, kleiner Schneidermeister."
Geistige Krallen gruben sich augenblicklich in sein Inneres, kratzten Furchen in den äußersten Verteidigungsring seines natürlichen mentalen Schutzmantels. Er zuckte zusammen und wäre am liebsten vor Scham dem Zauberer gegenüber im Boden versunken, welcher bereits leise die nötigen Formeln murmelnd vor sich hinarbeitete. Und Wilhelm war sich sicher, dass dieser nicht taub war und sehr wohl mitbekam, was der Alte ihm spottend vorwarf, auch wenn Raistan nicht erkenntlich auf das Gesagte reagierte!
Raculs Stimme lachte heiser.
"So viel Angst vor deiner Schwäche, dass du dich mit dem Blut verschiedener Frauen in einer einzigen Nacht für mich wappnen musstest?"
Wilhelm konnte den Hohn der verschatteten schwarzen Augen nicht länger ertragen und wandte sich ab. Er versuchte, sich stattdessen auf Raistan zu konzentrieren. Raistan, der ihm gerade zu helfen im Begriff stand. Nur noch wenige Sekunden, dann würde der Zugriff des Alten auf ihn weiter eingeschränkt sein. Das war nicht zu viel verlangt – bis dahin die Haltung zu bewahren und über den Anfeindungen zu stehen. Danach würde es leichter werden. Bis dahin... er stemmte sich auf psychischer Ebene wie ein Troll gegen eine kippende Hauswand, redete sich ein, dass er deren Einsturz aufhalten könnte, wenn er nur fest genug daran glaubte und stillhielte. Die Wand unter seinen gedachten Händen aber verflüssigte teilweise ihre Oberfläche, rann an seinen Fingern hinab, tropfte die Ellenbogen hinunter und saugte sich langsam in seine Ärmel.
Das krächzende Lachen wurde satter.
"Wie erbärmlich! Du hast dich von einem Menschen aushalten lassen? Sie hat dafür bezahlt, dass du trinken konntest?"
Wilhelm beobachtete krampfhaft den Magier. Dessen rituelle Aufsagungen und dessen präzise Gesten.
"Das könntest du so viel preiswerter haben. Es laufen genug von denen auf den Strassen herum. Aber natürlich... dazu müsste man Vampir genug sein. Ich verstehe das. Lieber hinter den Regeln verstecken, die von hilflosen kleinen Opfern verfasst wurden, sich von Anderen an die Leine legen lassen, um nicht zur eigenen Natur stehen zu müssen. Das könnte schließlich bedeuten, den Kuschelstatus zu verlieren und eine starke Hand zeigen zu müssen. Das ist nichts für dich, richtig?"
Raistan beschloss den Zauber mit einer eleganten Geste seiner schlanken Hand und einem letzten Wort, woraufhin der Untotenbann hell rund um Wilhelm aufleuchtete, sich wie ein lautloses Wetterleuchten grün um ihn ergoss, von Wand zu Wand und an diesen entlang schoss, bis er ihn einmal umflossen hatte und prickelnd verblasste. Es blieb lediglich wieder das leicht ölige Summen auf seiner Haut. Und das Gefühl eines von ihm herabfallenden Druckes, wie das Abschütteln einer Eisschicht, die sich zu verfestigen gedroht hatte. Erleichtert atmete er auf und lächelte Raistan dankbar an. Welcher ihm mit einem kleinen Lächeln antwortete.
Er sah dem Magier nach, als dieser ging, bis der Gang dunkel und leer vor ihm lag, hinter seiner eigenen, nun unsichtbaren, Barriere.
Und hinter ihm hub Raculs Stimme neuerlich an, diesmal jedoch mit fast schmeichelndem Unterton.
Wilhelm fuhr sofort misstrauisch herum.
"Ohooo... du magst ihn. Den widerlichen kleinen Zauberer. Und doch setzt du ihm so zu? Du weißt genau, dass er schwach ist. Was meinst du, wie lange er diese zusätzliche Belastung aushalten wird, hm?"
Er sollte ihn ignorieren, nicht auf dessen Äußerungen eingehen, richtig. Aber diese Strategie hatte er bereits erprobt. Und sie war kläglich gescheitert. Sie hatte es nicht besser gemacht oder leichter zu ertragen. Er konnte genauso gut antworten... kontern.
"Er ist stärker, als du tust."
"Falsch!" Die Replik kam so schnell, wie das Zuschnappen einer Schlange. "Er täuscht nur sogar sich selbst. Das weißt du genauso gut, wie ich. Immerhin hast du das selber erkannt, um es mit mir zu teilen."
"Er... er weiß um seine Grenzen."
"Und überschreitet diese regelmäßig!"
"Er... wird beschützt. Im Auge behalten. Da ist jemand, der sich um ihn sorgt und ihn vor Schaden bewahrt."
Raculs Grinsen wirkte wölfisch, mit den stets ausgefahrenen, viel zu spitzen Augenzähnen.
"Jaaa...", sagte er genüsslich gedehnt, "Er wird beschützt... und nicht du bist derjenige, dem er dieses 'Privileg' zugesteht. Traurig!"
Wilhelm lächelte schief.
"Das ist in Ordnung so."
Racul betrachtete ihn mit schadenfrohem Grinsen, welchem Wilhelm mit fatalistischem Gleichmut zu begegnen bemüht war. Er durfte die Sticheleien des Alten nicht an sich heran lassen. Vielleicht würde es ihm ja auf diese Weise gelingen? Wenn er sich schlichtweg weigerte, dessen Standpunkt zu teilen?
Etwas im Blick seines Gegenübers änderte sich, wurde fast nachdenklich. Raculs Lächeln dunkelte nach und Wilhelm stellten sich langsam die winzigen Haare im Nacken auf. Dessen rauchige, kratzige Stimme wisperte durch den Gang, nahm so etwas wie einen gespannt abwartenden Unterton an, der nichts Gutes verheißen konnte.
"Wobei ich ihn betreffend eingestehen muss...", der Alte setzte eine bedeutungsvolle Kunstpause, sich deren Wirkung auf ihn vollends bewusst, "Der kleine Zauberer birgt... ein gewisses, nicht gänzlich uninteressantes Potential."
Wilhelm wollte sich den angedeuteten Gedankengängen verschließen. Doch zu spät! Racul betrachtete ihn durch die unsichtbare Trennwand des magischen Siegels, als wenn er sich seiner gewiss wäre – und sprach genüsslich weiter. Jedes Wort eine Verletzung, der Wilhelm wehrlos gegenüber stand.
"Als du sein Inneres erkundet hast, da warst du beeindruckt von der nahezu unaufhaltsamen Zielstrebigkeit, die in ihm schlummert, nicht wahr? Wusstest du jedoch auch, dass er dadurch das Zeug zu einem der ganz großen Skrupellosen in sich trägt? Ich habe ihn ebenfalls geprüft. An theoretischem Wissen und praktischer Erfahrung mangelt es ihm nicht. Wenn er wollte, könnte er über seine Mittelmäßigkeit hinauswachsen. Er könnte an die arkanen Zerstörer heranreichen, die das Antlitz unserer Stadt damals prägten mit ihren Zwistigkeiten."
Wilhelm ballte die Hände unbewusst zu Fäusten und schüttelte den Kopf.
"Aber er will nicht! Du sagst es selbst. Er verzichtet, zugunsten seiner Menschlichkeit, auf solch eine Macht. Was ihn weit über viele andere erhebt."
Der Uralte betrachtete ihn fast unbewegt durch das schattige Licht der Kommunikationsdämonen, die den Gang nur notdürftig erhellten. Das farbige Licht spiegelte im schwarz seiner Pupillen, wie magische Blitze.
"Noch nicht!"
"Was... was willst du damit..." Er schaffte es nicht, den Satz vollständig auszusprechen.
Der Blick des Alten hielt den seinen ohne die kleinste Mühe.
"Du verstehst, nicht wahr? Wie du selber es so schön formuliert hast. Er verzichtet zugunsten seiner Menschlichkeit! Doch was, wenn man ihm diese nähme?"
Wilhelm war einen Moment sprachlos ob der Drohung, die so unverhohlen zwischen ihnen in der Luft schwang. Er musste schwer schlucken. Das schleichende Zittern in seiner Stimme verriet seine emotionale Aufgewühltheit nur zu deutlich.
"Du... das ist unmöglich. Dazu fehlen dir die Möglichkeiten."
"Bist du dir da wirklich so sicher?" Racul hob bedeutungsvoll eine seiner Klauenhände und strich mit ausgestrecktem Zeigefinger über die Luft dicht vor seinem Gesicht. Sein Blick blieb reglos auf Wilhelm gerichtet, als die überlange Kralle dabei Funken stiebend an der unsichtbaren magischen Barriere entlang fuhr. Das Siegel leuchtete für den Moment giftgrün auf, füllte den Gangbogen, der sich an dieser Stelle zur Gruftkammer hin öffnete, vollständig in seiner vielfach verschnörkelten Pracht aus. Und entweder leitete die Substanz der Kralle den Rückstoßeffekt des Zauberbanns nicht an Raculs Körpersensorik weiter. Oder dieser brachte sämtliche dafür notwendige Selbstbeherrschung des Effekts Willen auf, um eine stattfindende Reaktion zu unterdrücken und eventuelle Schmerzen, die aus dieser Aktion resultieren mochten, zu unterdrücken. Einzig seine Mundwinkel zuckten minimal mit bösem Wissen. Er hob spöttisch und sehr langsam eine Augenbraue. "Wie gesagt... es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, mich hier halten zu wollen. Irgendwann werde ich diesen Bann fallen lassen. Und denkst du wirklich, ich könnte dann den Zauberer ungeschoren davon kommen lassen, der hierfür verantwortlich ist? Zumal seine körperlichen Reserven bis dahin sinken... und sinken... und sinken... was meinst du, wie viel er einer überraschenden Aufwartung meinerseits dann noch entgegen zu setzen hätte? Irgendwann... wenn er nicht damit rechnet... inmitten einer Nacht purer Erschöpfung... wenn das Licht in seiner Kammer längst gelöscht und sein wachsamer Fußabtreter dienstlich gebunden ist... Menschen müssen schlafen, habe ich mir sagen lassen."
Der Gedanke biss sich unbarmherzig in Wilhelm fest, ob er es wollte oder nicht. Er konnte Raistan förmlich vor sich sehen, wie dieser sich nach und nach verausgabte und dann in einen tiefen Schlaf sank – allem und jedem hilflos ausgeliefert! Seine Erinnerungen konfrontierten ihn sofort mit den Bildern des Zauberers, wie jener zu Beginn der Rettungsaktion bewusstlos in den Keller des Wachhauses an ihm vorüber getragen worden war. Oder wie er Raistan selbst in seinen Armen gehalten hatte, als dieser über die Anstrengung des Kristallkugelversuches zusammengebrochen war. Es war so wahrscheinlich! So typisch für den jungen Mann!
"Nein! Das...", seine Stimme schwankte zwischen verzweifelter Ohnmacht und erwachender Wut, erst recht in Anbetracht dessen, dass die Worte, die sich von seinen Lippen lösten, wie das trotzige, nutzlose Gestammel eines Kindes klingen mussten. "...das darfst du nicht..."
Racul legte seinen Kopf in den Nacken und lachte auf.
"Und wer sollte mich aufhalten? Du etwa?"
Wilhelm wandte sich brüsk ab und lief die wenigen Schritte, die ihm innerhalb des eigenen Bannbereiches gestattet waren, entlang. Dieses Mal war die Sitzgelegenheit im Inneren des Areals untergebracht. Als er daran vorbei kam, griff er mit frustrierter Wut nach dem Stuhl, drehte sich um und schleuderte ihn mit der übermenschlichen Kraft eines erwachsenen Vampirs dem Alten entgegen. Das Möbel flog in die erste Barriere und ließ diese nicht nur in giftigem Wetterleuchten grell aufblitzen, sondern explodierte auch augenblicklich auf dieser Seite des magischen Schildes in unzählige brennende Holzsplitter, die auf ihn zurückgeschleudert wurden. Er musste seine Hände hochreißen, um die glühenden Geschosse abzuwehren.
Der Uralte lachte schallend.
Winzige Pflöcke bohrten sich durch seine Kleidung und sengten Löcher in diese. Sein Herz und seinen Kopf hatte er instinktiv geschützt, so dass diese verschont blieben. Nur seine Hände, Arme und Beine bekamen einige Treffer ab. Diese ließen sich vergleichsweise harmlos abschütteln. Es hätte ihn schlimmer erwischen können. Aber der Schmerz war spürbar. Zusätzlich zu der nagenden Verzweiflung in ihm. Er richtete sich wieder auf und ignorierte die flackernden Holzsplitter auf dem Boden rundherum. Seine Hände presste er zu Fäusten geballt an seine Seiten, während er fast schon routiniert den Heilungsprozess einleitete - der bei so vielen Treffern und Streifschüssen in seiner Haut einen nicht unbeträchtlichen Anteil des frischen Blutvorrates der vorigen Nacht aufbrauchte!
Raculs Lachen verstummte abrupt und jener beobachtete ihn mit finsterer Genugtuung.
"Eure Truppe schuldet mir einen neuen Leibeigenen." Raculs Stimme senkte sich zu einem bedrohlichen Flüstern und sein Blick offenbarte kalten Hass. "Ihr habt mir Sebastian genommen. Und so widerspenstig dieser auch war... er war etwas Besonderes. Nützlich! Wertvoll! Es ist also nur angemessen, wenn ich nach einem gleichwertigen Ersatz in euren Reihen suche. Und der Zauberer wäre - selbst von mir erzwungen noch - ein vielfach verheißungsvollerer Vampir, als du es je sein wirst! Und er ist Jungfrau! Ich bin also durchaus nicht abgeneigt." Sein Augenmerk bekam etwas Kalkulierendes. "Sag, Wilhelm Schneider... dem so viel an den Menschen um sich herum liegt... wen von ihnen würdest du vor mir retten wollen? Wenn ich dir die Chance gäbe, einen von ihnen von meiner Rache zu erkaufen, damit ich jenen verschone, sobald ich diese Gruft hinter mir lasse... welcher wäre es? Tatsächlich der Zauberer? Oder einer der anderen? Deine kleine Rothaarige ist ebenfalls noch unberührt. Außer natürlich seitens der dreckigen Feuerkreatur. Aber vielleicht würde das nur etwas Kreativität fordern? Und ebenfalls keine uninteressante Frage in diesem Zusammenhang... was wärst du bereit, dafür zu geben?"
Wilhelm spürte, wie er regelrecht erstarrte.
Und der Greis begann zu grinsen, je länger er ihn dabei beobachtete, wie er dem Gedankenkarussel zu entkommen versuchte. Die Fragestellung griff automatisch, wie die Zahnung eines metallenen Getriebes. Es war unmöglich, die einmal begonnenen Gedanken willentlich aufzuhalten. Gleichgültig wie gewiss die Überzeugung schien, dass Racul sich nur einen bösartigen Spaß mit ihm erlaubte. Wen würde er retten? Senray? Magane? Oder Raistan? Diese drei hatten es über die letzten Wochen fraglos in den Kreis jener Menschen geschafft, denen seine besondere Sorge galt. Und Ophelia. Natürlich. Aber ganz gleich, für wen er sich entschiede, die Übrigen wären nicht weniger wert. Die Aufgabenstellung war unlösbar. Zumal er nichts sein Eigen nennen konnte, was Racul auch nur in Versuchung geführt hätte, im Austausch. Er war unbedeutend und mittellos, schwach und wertlos, selbst wenn er sich selber im Austausch anböte... er würde nur Verachtung und Spott als Reaktion ernten. Er hatte nichts und konnte nichts...
"Nun? Was wären sie dir wert?"
Wilhelm schüttelte langsam den Kopf.
"Oh, nichts? Das ist natürlich bedauerlich. Dann werde ich mich wohl als erstes dem kleinen Zauberer widmen müssen. Hm... wie wohl dessen Blut schmecken wird? Mag sein, dass ich das dann noch vor dir herausfinde, nicht wahr? Ich kann es dir dann ja berichten. Allein dafür würde es lohnen, dich bis zum Schluss aufzusparen, wenn ich mich nach und nach an jedem von euch räche. Und dann... was meinst du? Solange ich die seltsamen Erinnerungsbücher meide, die du in seinem Sinn gesehen hast, solange sollte es möglich sein, die Gefahren zu umgehen, oder? Ja, ich denke, ich werde deine Pfade beschreiten, wenn ich seinen Geist breche. Wie lange er wohl den zu erwartenden Widerstand aufrechterhalten kann, wenn ihn gleichzeitig sein Blut verlässt? Zehn Sekunden? Weniger? Hmmm, unwahrscheinlich. So kämpferisch talentiert war gerade einmal Sebastian damals und jener war auf geistigem Gebiet kein Neuling, im Gegenteil. Er war erprobter und äußerst talentierter Telepath. Wir werden sehen."
Wilhelm sah rot. Er spürte unfassbare Wut in sich aufsteigen, einen so heftigen, von seiner Hilflosigkeit befeuerten Zorn, auf diesen arroganten Widersacher, dass er knurrend auf Racul zustürmte.
Und an der vorgeschalteten Barriere gestoppt wurde. Gleich dem Stuhl vor ihm prallte er gegen die verfestigte Magie, welche sich mit einem Energieblitz auf ihn entlud und ihn zurück und zu Boden schleuderte. Einige Sekunden lang blieb er benommen zwischen den Holzsplittern liegen. Alles was er sehen konnte war grellgrünes Licht, das ihm die Sinne zu versengen schien. Seine Haut fühlte sich regelrecht glitschig an von einem öligen Magiefilm, der juckend und brennend, gleich flüssigem Russ, in seine Poren einzog. Als das Rauschen in den Ohren nachließ, hörte er wieder das inzwischen vertraute Lachen des Alten.
"Ich hätte nicht gedacht, dass es dermaßen leicht würde, dich aus der Reserve zu locken. Steh auf! Die Nacht ist noch lang. Oder willst du lieber gleich liegen bleiben?"

TAG 28

Die Stunden vom Sonnenaufgang an verliefen eintönig und zäh, wie einkochender Teer. Kaum war Racul verschwunden und der Zusatzbann um Wilhelm gefallen, begann dieser damit, die Spuren der Nacht im Gang sorgfältig zu beseitigen. Er räumte die verkohlten Holzsplitter zusammen und nahm statt des zerstörten Stuhls einen der zerfledderten Sessel aus dem Roten Zimmer, Ophelias ehemaliger Zwangsunterbringung. Niemand würde nach dem Verbleib des anderen Sitzmöbels fragen, da war er sich sicher. Man würde stillschweigend davon ausgehen, dass er es sich einfach für die kommenden Nächte etwas bequemer eingerichtet hätte. Und der Dschob war so undankbar, dass ihm diese vermeintliche Abweichung vom Protokoll wohl kaum angekreidet würde. Er hatte seinen Bericht kurz gefasst, wie die davor ebenfalls. Wer wollte schon Rumgejammere lesen? Nein, bei den Protokollen ging es um echte Zwischenfälle. Nicht um ungefährliche Wehwehchen aufgrund selbstverschuldeten Verhaltens. Die Gefühlsausbrüche dieser Nacht waren unkontrolliert gewesen, unbedacht. Unentschuldbar. Er hatte sich vor dem Alten zur Lachnummer herabgewürdigt.
Nur... dessen unverhohlene Drohungen gegen all die Menschen in seinem Umfeld... gegen all die leuchtenden Persönlichkeiten, die sich neuerdings mit ihm abgaben, wo er nicht einmal deren Geduld wert war...
Wilhelm hatte sich mit den Händen übers Gesicht gerieben. Er ignorierte die anderen Passanten auf den morgendlichen Strassen, lief wie blind zwischen ihnen hindurch, in Gedanken. Darum bemüht, seine Gefühle einzufangen und zu beruhigen.
Er durfte sich nicht gehen lassen! Er musste das aussitzen! Jedenfalls... solch eine Schande musste er nicht auch noch für die ihm nachfolgende Rogi protokollieren. Sein Verhalten hatte keine negativen Nachwirkungen für Raculs Arrest oder die Kollegen, er konnte es schlichtweg unterschlagen. Es genügte, dass er und der Alte davon wussten.
Auf dem Heimweg hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, an einem der wenigen Cafés zu halten, die auch frisch gezapfte Mitnahmegetränke anpriesen. Dann jedoch hatte ihn die Erschöpfung übermannt und er war nur noch auf kürzestem Wege heimwärts geschlichen. Er hatte die Hintertür durch die Werkstatt genommen, falls Hannah bereits im Laden vorne herumgeräumt hätte. Doch glücklicherweise war noch niemand sonst im Gebäude angekommen, so dass er sofort die schmale Holzstiege in seine Wohnung erklimmen und sich dort verkriechen konnte. Er wechselte nur schnell in eine leichte Hose und ein Hemd, anstelle seiner stellenweise deutlich versengten Uniform und ließ sich barfüßig auf das Deckbett fallen.
Er würde die Dienstkleidung ausbessern müssen. Ein Ersatz wäre eigentlich praktisch. Wer konnte schon ahnen, was dem Alten in den kommenden Nächten noch einfiele. Vielleicht am Abend.
Als wenig später das übliche Rumoren seiner beiden Mitarbeiter in der unteren Etage doch noch einsetzte, hatte ihn das etwas eingelullt. Sein Blick richtete sich verschwommen an die Zimmerdecke und seine Gedanken schwebten in angenehmem Leerlauf. Das sanfte Murmeln von Hannahs Stimme im Kundengespräch, das leise Klimpern der Vorhangringe auf der Stange der Umkleidekabine, das stete Rattern der Nähmaschine aus der Werkstatt, das immer wieder aussetzte und anfuhr... bis irgendwann Hannah am Türrahmen des offen stehenden Zugangs zu seinem Schlafzimmer anklopfte und sich verhalten räusperte. Er hatte nicht einmal mitbekommen, wie ihre Schritte oder ihr Herzschlag sich ihm genähert hatten!
"Wilhelm?"
Er war sofort aufgeschreckt, wenn der Moment, in dem er seinen Blick auf sie zu fokussieren versuchte, sich auch etwas zog. "Ja?" Er setzte sich mühsam auf.
"Unten ist jemand für dich."
Sein erster Gedanke galt Senray. Doch jene kannte Hannah nach den letzten Wochen bereits sehr gut, bei ihr hätte sie nicht von "jemandem" gesprochen. Und sie hätte sie auch nicht angekündigt. Senray wusste, wie sie zu ihm in die Wohnung kam. Und das Vogelherz brauchte auch nicht um eine Erlaubnis dafür bitten. Wer war es also sonst? "Jemand?"
Hannah betrachtete ihn deutlich zu aufmerksam für seinen Geschmack, doch sie enthielt sich eines Kommentars. Stattdessen seufzte sie nur lautlos und trommelte mit ihren Fingern gegen das Holz des Türrahmens.
"Eine deiner Kolleginnen. Eine Magane Schnitzer."
Er erhob sich zügig vom Bett und strich sich Hemd und Hose glatt.
"Magane?" Er war überrascht. War irgendwas geschehen, von dem sie ihm berichten wollte? Hatte er irgendetwas aus dem Blick verloren? Betraf es den Gefangenen? Oder den Rettungstrupp? Ophelia gar? Was war es gewesen, das zu heute anstand? Ophelia war heute zu Mina umgezogen, nicht wahr? Die Planungen hatten den heutigen Morgen vorgesehen, um Ophelia unter größter Behutsamkeit vom Junge Damen-Institut abzuholen und in Minas Haus zu transportieren. Um den im Raum stehenden Anspruch zu verdeutlichen. War dabei etwas schief gegangen? War die Gerettete doch noch zu schwach gewesen in ihrer Konstitution? "Sofort. Ich komme sofort mit nach unten. Danke!"
Hannah bedachte ihn mit einem letzten kritischen Blick, dann wandte sie sich um und ging vor. Er hielt kurz inne, als ihm klar wurde, dass er im Begriff stand, in den Verkaufsraum zu gehen. Ohne Socken und Schuhe. Als Geschäftsführer. Falls außer Magane auch Kunden dort wären, würde das in den Kreisen, in denen diese sich üblicherweise bewegten, gelinde gesagt Irritation auslösen. Etwas, das es zu vermeiden galt, wenn nicht schneller als es ihm lieb wäre, Gerüchte zu seiner Zurechnungsfähigkeit entstehen sollten. Er korrigierte den Fehler widerwillig und folgte erst dann seiner Angestellten.
Als er den Verkaufsraum betrat, blieb er abrupt stehen. Mit diesem Anblick hatte er nicht gerechnet. Auf dem eleganten Kundensofa mit den zierlich verschnörkelten Beinen und dem cremefarbenen Samtbezug saß die Kollegin - und schlief. Sie war in den wenigen Minuten, die Hannah benötigt hatte, um ihn zu informieren, eingenickt. Und offenbar war das nicht ohne guten Grund geschehen, denn sie sah mehr als nur erschöpft aus. Die Gedanken an Racul oder Ophelia lösten sich augenblicklich in Luft auf. Die Hexe wollte aus anderem Beweggrund zu ihm. Es würde vermutlich um ein persönliches Anliegen gehen.
Er trat an sie heran und sprach sie sanft an. Berühren, um sie aufzuschrecken, wollte er sie nicht. Nach allem, was sie in den letzten Wochen in Sebastians 'Obhut' durchgestanden haben musste, wäre ihm das ihr gegenüber wie ein Übergriff erschienen, der ihm weder zustehen, noch vermutlich bekommen würde.
"Magane?" Sie schreckte ähnlich hoch, wie er es selber eben erst getan hatte. Als ihr Blick sich klärte und ihre Haltung sich wieder straffte, nickte er ihr voller Mitgefühl zu. "Du wolltest mich sprechen?"

Er führte sie in die Wohnung nach oben und sie setzten sich an eben jenen Küchentisch, an dem er auch mit Senray schon so viele Stunden im gemeinsamen Gespräch verbracht hatte. Es war nicht zu übersehen, dass Magane gegen eine tiefreichende Erschöpfung ankämpfte, die weit über das übliche Maß bei Menschen hinausging. Eine Vermutung, die sie ihm umgehend bestätigte, als sie ihn mit der schockierenden Neuigkeit überrumpelte, aufgrund eines Zwischenfalls beim Training mit Senray, von dieser zu ihm geschickt worden zu sein. Alpträume. Im Fall der Hexe allerdings absichtlich geformte und ihr als bleibende Folter hinterlassene Szenarien. Raculs vampirischer Assistent verfestigte selbst posthum noch seinen sadistischen Ruf. Er rächte sich quasi aus der Urne heraus, verwehrte seinem letzten Opfer das Loslassen und die Heilung. Wilhelm hatte Mitgefühl mit ihr, ohne Frage. Aber als ihm ziemlich schnell klar wurde, welche Bitte sie an ihn zu richten gedachte, sank ihm das Herz. Er fürchtete allmählich, dass er den Kollegen des Rettungstrupps ein falsches Bild vermittelt hatte. Sie erinnerten sich vor allem daran, dass er Rogi helfen und sie von Raculs Manipulation hatte erlösen können. Vergaßen sie dabei all die vielen Momente, in denen seine wandernden Gedanken Unheil heraufbeschworen hatten? Und Magane wollte ihn nicht nur um einige Stunden traumlosen Schlafes, mithilfe der ungefährlichen Vampirhypnose, bitten. Worauf sie sich für diesen frühen Nachmittag dann auch erst einmal einigten. Um wenigstens das schlimmste Schlafdefizit auszugleichen, bevor sie sich an irgendwas Anderes heranwagen konnten. Nein, sie lud ihn in die tiefen Schichten ihres Unterbewusstseins ein! Und er hatte nur schwach abwehren können. Immerhin wusste er sehr genau darum, wie nahe an der Klippe sie stehen musste, wenn sie sogar das Einsetzen der ersten ernsten Symptome eingestand! Sie halluzinierte bereits phasenweise. Und niemand konnte sich dem Horror verschließen, den die Vorstellung einer mächtigen Hexe auslösen musste, welche die Kontrolle über sich verlor!
Und mächtig war sie, wie ihm die Bilder seiner Erinnerung immer wieder vor Augen führten! Sie allein hatte die Herausforderung angenommen und Raculs Assistenten nicht nur von Ophelia abgelenkt, sondern ihn letztlich gestoppt. Jenen Vampir, der es erfolgreich mit ihrem gesamten Rettungstrupp aufgenommen hatte. Sie hatte sich ihm schlichtweg unverrückbar in den Weg gestellt und ihn solange in seine Schranken verwiesen, bis der Assassine ihn endgültig mit dem Pflock fortschaffen konnte.
Und nun zahlte sie den Preis dafür.
Wilhelm hatte tief durchgeatmet und leise geseufzt.
"Du weißt, dass ich kein Püschologe bin..."
Woraufhin sie trocken antwortete.
"Oh ja, auf die Stunden mit Bregs darf ich mich außerdem freuen. Das hat er mir schon angedroht."
Wilhelm hatte schief gegrinst.
"Das wäre vermutlich interessant. Zu erfahren, was der Kommandeur von solch einer laienhaften aber dafür umso direkteren Art der Hilfe ausgerechnet durch mich hielte. Vermutlich wäre er nicht begeistert. Und würde mich das spüren lassen."
Sie lachte.
"Mach dir deswegen keine Gedanken."
Seine Selbstzweifel waren allerdings stark und er spürte echte Angst davor, ihr durch sein Unvermögen zu schaden.
"Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, Magane. Es könnte passieren, dass ich dir nicht helfen könnte. Oder es sogar schlimmer machen würde, versehentlich... Ich... bin kein Profi in so was.”
Doch sie schmetterte seine Bedenken ab. Und konterte nach einigem Hin und Her letztendlich mit einem Argument, dem er nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
"Ich vertraue dir."
Und das tat sie. Sie wechselten in sein hell und gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer, damit Magane auf der dortigen Chaisselonge Platz nehmen konnte. Spätestens seit Senrays häufigen Übernachtungen während der kritischen Phase des Rettungseinsatzes, hatte er dafür gesorgt, dass hier Schaffelle und Kissen zu der ohnehin bereit liegenden leichten Strickdecke dazu gekommen waren. Und jetzt, für Magane... es war einfach der sinnvollste Ort für sie, sobald die Hypnose greifen und ihr Körper zur Ruhe kommen würde. Insofern sie nicht sein Bett nutzen wollte. Eine ablehnende Haltung, die er sehr gut nachvollziehen konnte. Wenige Minuten später ließ sie ihn in ihre Gedanken, hieß ihn dort willkommen. Sie führte ihn fast routiniert herum, wie man einem guten Freund die Räume des eigenen Zuhauses vorführen würde. Die allgegenwärtige Dunkelheit dort kündete vom Einfluss des eingeäscherten Vampirs. Es gab Schäden in der Substanz ihrer Gedanken, Einschlaglöcher, eingedrückte Türen. Und dann führte sie ihn, auf seinen Wunsch hin, exemplarisch in zwei manipulierte Träume - und er konnte ihr nur mit Mühe seine schwindende Hoffnung und sein wachsendes Grauen verhehlen.
Sebastian von und zu Perez war ein regelrechter Künstler in unauffälliger Einflussnahme gewesen. Ophelias Vermutung wirkte immer unanfechtbarer, wenn sie konstatiert hatte, dass auch Sebastian in seiner grausamen und nicht zu rechtfertigenden Verwerflichkeit letzten Endes ein Opfer gewesen sei. Dass jener, Zeit seiner Existenz unter Racul, gegen unlösbare Fesseln angekämpft hatte. Und, dass Racul seinen unterjochten Bediensteten niemals hätte ziehen lassen. Der Alte hätte sich keinen geeigneteren Handlanger wünschen können! Sebastians Handschrift war ebenso unauffällig wie genial, absolut beeindruckend. Wilhelm selbst konnte sich in all den Jahren, die da noch kommen mochten, nicht vorstellen, auch nur annähernd solch ein Geschick auf geistiger Ebene zu entwickeln. Und er hatte sich vor den ganzen Ereignissen rund um Ophelia für einen eher talentierteren Vertreter seiner Art gehalten! Nun jedoch... Wie sollte er die geheimen Verbindungen, die unsichtbaren Fäden und Zwänge lösen können? Wenn er in dieses Geflecht vernetzter Gedanken und Erinnerungen wie ein unwissender Schlachter in einen Topf mit Innereien griffe, verborgene Grenzen und Absicherungen des Meisterpuppenspielers ignorierend, so würde er Magane auf gedanklicher Ebene womöglich verstümmeln! Es war ausgeschlossen, dass er irgendetwas von all dem auch nur anrührte, ehe er sich nicht wenigstens die Zeit dafür genommen hätte, sich einen genauen Überblick zu verschaffen. Er musste unterscheiden können zwischen einer grundlegenden Manipulation Sebastians oder einer leichten Weichenstellung in neuer Richtung. Er musste eine kopierte Erinnerung von einer solchen trennen können, die neu erschaffen worden war. Denn alle diese Alpträume würden unterschiedliche Herangehensweisen von ihm verlangen, wenn er die Hexe nicht einem ungeheuren Risiko aussetzen wollte.
Er hatte schonend versucht, ihr seine Bedenken mitzuteilen. Er bezweifelte, dass sie das gesamte Ausmaß dieses speziellen Erbes zu erfassen vermochte. Und sie schien seine Hemmungen nicht gänzlich ernst zu nehmen. Dennoch einigten sie sich auf ein weiteres Vorgehen. Über die Schlafhypnose hinaus. Er würde sie in den nächsten Wochen daheim aufsuchen. Dort konnten sie in einem ruhigen Raum für sich sein oder bei Bedarf auf ein kleines Flachdach ausweichen, ganz wie es passen würde. Das Heim der Hexe konnte ihr zusätzlichen Halt bieten, um die folgenden Sitzungen zu stabilisieren - bei denen er ihren Geist erst einmal betrachten und nach den Eingriffen Ausschau halten müsste. Auf diese Art und Weise erhoffte er sich zumindest einen ersten Einblick. Und dann... sie würden sehen, ob er wirklich imstande wäre, ihr zu helfen. Auf jeden Fall aber würde er ihr spätestens im Anschluss an diese Sitzungen traumlosen Schlaf schenken, damit sie im Alltag funktionieren konnte.
Überhaupt war sie sonderbar zugänglich. Sie hatte trotz der eben erst durchlebten Gefangenschaft unter der Willkür eines Vampirs keinerlei Kontaktscheu zu ihm. Auch unreflektierte Vorurteile gegen seine Art konnte er an ihr keine ausmachen. Und sie musste früher regen Kontakt zu mindestens einem Vampir gehabt haben, der ihr wohlgesonnen gewesen zu sein schien. Denn als er ihr das Prinzip des vampirischen Hypnoseschlafs erklären wollte, winkte sie nur ab. "Ich kenn das von früher."
Und wirklich bat sie ihn schlicht darum, sie so lange unter seiner Hypnose schlafen zu lassen, wie ihr Körper dies zum Regenerieren benötigen würde. Er solle den Prozess nicht unnötig unterbrechen. Nur, falls es zu lange dauern würde, möge er bitte ihre Familie darüber informieren, dass es ihr in seiner Obhut gut ginge, damit diese sich keine Sorgen um sie machen würden. Er versprach es ihr. Und er nahm sich stillschweigend vor, wenn möglich, die ganze Zeit über an ihrer Seite zu wachen. Das hatte er für Senray damals auch getan, bei deren erstem traumlosen Schlaf unter seinen Fittichen. Wenn der erste Anlauf reibungslos verliefe, wäre er sicherlich beruhigter und mehr dazu bereit, künftige Sitzungen ohne Aufsicht einzuleiten. Aber beim ersten Mal... er wusste eben nicht, wie der menschliche Geist im Einzelfall reagieren mochte. Sie waren alle so unterschiedlich.
Sie hatte sich vertrauensvoll zurückgelehnt und ihn einfach nur direkt angesehen, bereit dazu, in die unauslotbaren Tiefen seines Blickes zu versinken. Seine Augen waren das letzte, was sie sah - ehe ihr die eigenen zufielen. Ein tiefer, ruhiger Schlaf übermannte sie. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, ebenso wie ihr Atem. Die magische Kraft der Hexen zirkulierte in ihrem Körper. Wenn er seine Augen schloss, konnte er die entsprechende Aura fast sehen. Darüber hinaus sickerte der Duft dieser rein weiblichen Magie konstant durch ihre Haut nach außen und breitete sich allmählich wie unsichtbarer Bodennebel in dem kleinen Zimmer aus, füllte die Luft seiner Wohnung mit ihrer Präsenz. Aber das war nicht schlimm. Er mochte ihren Geruch. Dieser schien sich mit dem Duft der Kräutertöpfe aus der Küche zu verbinden und eine harmonische Komposition einzugehen, deren einzelne Bestandteile kaum zu benennen waren. Auf jeden Fall irgendwie frisch, sauber und freundlich.
Wilhelm saß ihr einen stillen Moment lang einfach nur gegenüber, die eigenen Hände ineinander gefaltet, und beobachtete sie.
Seltsame Gefühle klangen in ihm, wie vorsichtig angestoßene Tempelglocken.
Überraschte Dankbarkeit für ihr Vertrauen. Sorge darum, mit welcher Verantwortung sie ihn durch ihre Bitte belud. Die Furcht, dieser Aufgabe nicht gerecht werden zu können. Einen Hauch von Humor, ob der seltsamen Situation. Immerhin war sie die wievielte Frau, die sich neuerdings in sein kleines Leben geschlichen hatte? Er war den Frauen nie abgeneigt gewesen aber wie sehr sich solche absurden Situationen in letzter Zeit häuften, verwunderte ihn dann doch. Zumal sie eine gewisse Ironie bargen - während er zuvor keine tieferen Gefühle für eine der Damen entwickelt hatte, kamen sie ihm nun allesamt auf emotionaler Ebene - in unterschiedlichster Weise - unsagbar nahe!
Der Vampir hatte sich mit einem Seufzer von dem Anblick der Hexe gelöst und war aufgestanden, um ihr eine Decke überzulegen.
Menschliche Körper kühlten aus. Zugleich benötigten sie Wärme, um sich zu entspannen und zu erholen.
Er heizte den Kamin in diesem Raum ein. Dann ging er kurz in die untere Etage und sprach mit Hannah, erklärte ihr die Situation. Und bat sie darum, einen Botenjungen mit einer kurzen Benachrichtigung an Maganes Familie zu senden. Sie versprach ihm, alles Nötige in die Wege zu leiten. Was sie darüber hinaus dachte, behielt sie vorerst für sich. Er ahnte, dass sie ihm seine Erschöpfung ansah und ihn schonen wollte. Ihre Aufmerksamkeit folgte ihm spürbar, als er nach oben zurückkehrte. Dort zog er sich den Sessel zwischen Kamin und Sofa, um an der Seite der friedlich Schlafenden aufzupassen und dabei etwas zu lesen. Ihr Ruhepuls schwang in dem kleinen Raum, wie der sanfte Rhythmus eines Uhrwerkpendels.
Der Nachmittag neigte sich dem Abend entgegen. Hannah hatte kurz im Türrahmen gestanden und sich in ihren Feierabend verabschiedet. Nein, er brauchte nichts. Dann wurde es still um ihn und dunkel, nicht in Hinsicht auf das sichtbare Licht, denn geistesabwesend legte er regelmäßig Holz nach, in den Kamin. Aber die untere Etage versank in der Stille der Nacht, die Bewegung des Lebens auf den Straßen, die immer gegenwärtige Geräuschkulisse einer Großstadt, verebbte.
Sein Blick wanderte in die Flammen. Ebenso wie seine Gedanken. Fort aus der Sicherheit seines Zuhauses, hin zu den Erinnerungen an einen Ort der Niederlage.
Er wollte das nicht! Aber er war so müde. Und es fehlte ihm der entscheidende Funken an Aufmerksamkeit, um zu spüren, wie es sich anbahnte und es vorher aufzuhalten.
Die Bilder der eisigen Verachtung, die ihn neuerdings nächtens traf, begannen sich zu vermengen mit jenen älteren Eindrücken. Mit glutvollen Augen, die ihn viel früher schon für seine Schwäche verspottet hatten. Die seine Einwilligung in das eigene Verderben forderten. Die ihn festhielten und ihn in eine bis dahin ungeahnte Welt aus Schmerz stießen. In glühende Pein, die sich durch seinen Körper fraß wie Rattenbrut. Agonie, die seiner untoten Anatomie das Atmen aufzwang - und diesen Vorgang gleichzeitig zu etwas Unerträglichem machte. Jedes kleinste Keuchen ein Anfachen kokelnder Partikel in seiner Lunge, die wie aus dem Nichts entstanden. Feuerknospen in seinen Organen, deren Erblühen ihm eine Ewigkeit zum Auskosten dieser Erfahrung bescheren würden, die ihn bei vollem Bewusstsein, unendlich langsam, von innen heraus einzuäschern begannen. Und dabei stetig von seinen eigenen Kraftreserven zehrten, ohne ihm zu gestatten, diese zu regenerieren. Gebannt in einen privaten Höllenkreis, den niemand von außen zu erkennen vermochte. Verdammt dazu, irgendwann vor Schwäche in einer Ecke seiner Wohnung zusammenzubrechen und dort als wimmernder Elendshaufen zu verkommen.

TAG 29

Die Nacht verging und vor den Fenstern stieg leuchtend das Morgenrot empor, befeuerte mit goldener Patina seine Erinnerungen an sie.
"Frierst du etwa, kleiner Vampir? Soll ich dich etwas… wärmen?"
Er war gefangen in ihrem Blick. Wie damals. Der Dämon in Senrays Gestalt lächelte ihn boshaft an. Ihre Lippen kommentierten seine verzweifelte Lage mit süßlicher Ironie.
Stunden verstrichen in der friedlichen Stille eines heimischen Nachmittags vor dem Kaminfeuer. Und in Gedanken leistete die Feuerkreatur ihm gewissermaßen Gesellschaft.
"Sag' mir deinen Namen!" Wilhelms Hände krampften sich geistesabwesend um das nutzlose Buch und zerknitterten dessen Seiten.
"Sag' mir deinen Namen!" Seine dunklen Pupillen spiegelten die tanzenden Flammen vor ihm.
"Sag' mir deinen Namen!" Er schloss die Augen. Sein Körper verkrampfte sich bei dem erinnerten Schmerz. Ihre Fragen waren nicht nur schlicht einfordernde Worte gewesen, sie waren glühende Klingen gewesen, die sich wie mit physischer Gewalt in sein Fühlen gerammt hatten, ein Angriff, der nach dämonischem Regeln ablief, ausgeführt mit einer unheiligen Machtentfaltung in ihren Worten und deren Silben, denen er nichts entgegenzusetzen gehabt hatte.
Sein Kiefer presste sich unbewusst zusammen, bei dem Kampf darum, seine Schreie von damals für sich zu behalten.
Er versuchte, sich aus den Gedanken zu lösen, sich von den Bildern zu distanzieren. Das war vorbei! Nicht mehr real! Nur Erinnerungen!
Vergeblich.
"Na also... War das denn so schwer?" Ihr qualvoll durch ihn hindurch rieselndes und aufglühendes Feuer hatte ihm Momente genommen. Es gab Lücken in den Bildern. Abschnitte, von denen er nur noch ahnte, wie sie begonnen oder geendet hatten, wie sein Blick in ihre roten Augen verschwamm. Bis sie ihn wieder einfing. Das unerträglich schmerzhafte Gefühl ihrer Brandzeichen, die sich als äußere Wunden zusätzlich in ihn gegraben und ihn verschmort hatten, wo auch immer sie Freude daran gefunden hatte, ihn zu berühren, über dem Herzen, unter seinem Kinn, am Hals...
"Du bekommst von mir eine einzige Chance... sieh es als Vorschuss. Der natürlich zurückgezahlt werden muss... lauf, kleiner Vampir! Lauf! Bevor ich es mir doch noch anders überlege."
Und in seinen Erinnerungen sah er an sich hinab, sah auf seine Füße, als er stolpernd durch schwarze Asche rannte, so schnell er es mit diesem gepeinigten Körper noch vermochte, verzweifelt, kaum bei Sinnen. Und doch nicht schnell genug. Er gab alles! Kam jedoch nicht von der Stelle. Und spürte den heißen Atem des Dämons im Genick.
"Wilhelm?"
Er schreckte auf. Wieder. Das Buch fiel ihm aus den Händen und zu Boden. Drei menschliche Herzschläge!
Er blickte auf, während er sich hastig nach dem fallen gelassenen Gegenstand bückte, den Schmerz in sämtlichen Muskeln ignorierend, die sich während der Vergangenheitsbilderschau in ihm verkrampft hatten.
Im Türrahmen stand Hannah – und neben ihr ein junger Mensch: Tom, Maganes Sohn. Er warf Magane auf dem Sofa einen schnellen Blick zu, doch bei ihr schien alles beim Alten. Ihr Körper ruhte, ebenso wie ihr Geist.
"Tom..." Er stand möglichst gelassen auf, hielt das zugeschlagene Buch zwischen seinen Händen. Etwas irritierte ihn. Das Bild Raistans entstand flüchtig vor seinem inneren Auge. Aber Hannahs kritischer Blick lenkte ihn sofort davon ab. Sie nickte ihm kurzangebunden zu und ging wortlos wieder hinunter in den Laden, ließ ihn mit dem Besucher und dessen nicht ansprechbarer Mutter allein.
"Sör..." Der schlaksige Bursche kam einige Schritte näher, wobei dessen Augenmerk zwischen Wilhelm und dem Sofa hin und her huschte. Kurz vor ihm angelangt, schien ihm der Zettel in seiner Hand einzufallen. Diese zuckte plötzlich vor und präsentierte Wilhelm ein kurzes Anschreiben in Hannahs Schrift. "Wir haben deine Nachricht bekommen, Sör. Und ich wollte... wir möchten gerne wissen, wie es Mutter geht. Um sicher zu sein. Dass es ihr wirklich gut geht. Ich wollte das mit eigenen Augen sehen, weil ich es ja auch immerhin Elisa erklären muss und... also... ich hoffe, dass das in Ordnung ist, wenn ich sie einfach kurz hier besuche."
Der Vampir nickte. Und schwindelte leicht, als ihn wieder etwas streifte, eine Ahnung, ein... Duft?
Wilhelm starrte den Jungen an. Magie! Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, inmitten der Aktivitäten des Rettungstrupps, waren letztlich nur wenige Tage vergangen. Aber der Sohn der Hexe hatte einen Entwicklungsschub durchlebt. Die potentielle Macht in ihm begann zu knospen. Und im Gegensatz zum würzigen Duft, den die Kraft seiner Mutter bereits seit Stunden in der Wohnung verströmte, der auf Wilhelm eher besänftigend und entspannend wirkte, wand sich Toms betörende Note beunruhigend, gleich schnell wachsendem Efeu, um den Vampir. Mit einer fast hypnotischen Intensität. Toms Magie war unreif. Sie pulsierte unregelmäßig aus ihm heraus, ungezähmt, in der einen Sekunde kaum mehr als ein vager Hauch, in der nächsten mit der betäubenden Wucht einer Flutwelle, die das bewusste Denken fortzuspülen drohte. Seine Magie schmiegte sich mit dem Träger-Aroma des Blutes einer gesunden Jungfrau liebkosend über Wilhelms Haut und ließ etwas in dessen Kopf prickeln wie Champagnerbläschen.
Er war durstig.
Schnell trat er einen Schritt zurück. Er deutete wie mit einladender Geste auf Magane, um Tom zu ihr zu geleiten und ihn von seinen eigenen Reaktionen abzulenken. Die Situation war ungünstig. Er würde dem Jüngling alles wie gewünscht erklären und konnte nur hoffen, dass dieser dann schnell wieder ginge. Nicht, weil er ihn loswerden wollen würde! Nein, eher wegen des Gegenteils. Er war kein Kind mehr. Er war diesem Status nun endgültig entwachsen. Und somit auch dem Schutz des einen Tabus, das Wilhelm sich von jeher gesetzt hatte. Der angehende Zauberer stand hier in diesem viel zu kleinen Raum vor ihm – als junger Mann. Und er war sich dessen nicht bewusst.
Wilhelm räusperte sich und konzentrierte seinen Blick auf Magane.
"Sie schläft. Wie du sehen kannst. Sie kam mit der Bitte um Hilfe zu mir. Die Gefangenschaft war nicht leicht für sie und... hat sie mit gewissen Träumen zurück gelassen. Mit Bildern in ihrem Sinn, die ihr den Schlaf geraubt haben. Ich habe die Möglichkeit, ihr zeitweise zu helfen. Damit sie schlafen und sich etwas erholen kann. Danach ist sie wieder ganz auf sich gestellt. Und normalerweise... normalerweise werden Menschen von selbst vergleichsweise schnell wieder wach, wenn ihr Körper der Ansicht ist, sie hätten genug Schlaf aufgeholt. Aber sie hatte lange nicht mehr geruht. Und deswegen dauert es bei ihr etwas länger, bis sie wieder wach wird. Aber keine Sorge, es handelt sich vermutlich nur noch um einige Stunden. Nur hatte sie mich darum gebeten, den Prozess nicht zu unterbrechen. Und deswegen... lasse ich sie in Ruhe schlafen."
Der junge Mann stand eine Zeit lang still schweigend neben der Chaisselonge und betrachtete seine Mutter.
Und Wilhelms Blick wanderte unwiderruflich zu ihm zurück. Die Luft in der Wohnstube reicherte sich derweil immer mehr mit verführerischen Geruchskomponenten an und machte ihm das Atmen schwer.
"Moment? Das Atmen?"
Wilhelm hätte sich am liebsten die Hand über die Augen gelegt. Wie töricht! Immer häufiger verfiel er dieser menschlichen Angewohnheit, dabei war er nicht dazu gezwungen, zu atmen! Er konnte es jederzeit unterlassen. Nur... dieser köstliche Duft! Freiwillig verzichten? Er musste schwer schlucken. Dennoch... dies war nicht der richtige Zeitpunkt für ein Spiel mit dem Feuer. Zu viele Baustellen, die bereits jetzt seine volle Konzentration abverlangten. Wenn er noch einen Funken Vernunft über hätte, würde er die Finger vom Sohn der Hexe lassen.
Er stellte das Atmen ein. Und auch, wenn das Prickeln unterschwellig weiter über seine Haut und durch seinen Kopf schlich, die Wucht der Erfahrung ließ deutlich nach. Er konnte dem jungen Mann dessen Fragen beantworten und dabei ab und an seinem Blick ausweichen.
Wenig später verließ Tom mit einem höflichen Gruß die Wohnung.
Wilhelm wartete noch einige Sekunden, ehe er zu dem Fenster der Dachschräge eilte und es weit aufriss. Dass er damit einen Gutteil der Wärme des Kaminfeuers an das unbeständige, kühle Wetter draußen einbüsste, war ihm gleichgültig. Magane war gut in die Decken gewickelt, auch sie würde es nicht stören.
Er stand mit geschlossenen Augen am Fenster und inhalierte die frische Luft. Oder was man in dieser Stadt so nennen durfte. Der Abend dämmerte bereits. Nicht mehr lange und er würde zur nächsten Nachtschicht los müssen. Aber nicht sofort. Etwas Zeit blieb ihm noch. Eine Gnadenfrist.
Seine Sinne weiteten sich, lauschten auf die Geräusche seiner Umgebung. Maganes sanften Atem, ihren ruhigen Herzschlag, das Knistern des Kaminfeuers, das Knacken im alten Gebälk des Fachwerks, dem Rattern der Nähmaschine in der Werkstatt unter seinen Füßen, dem Wehen des Windes vor dem offenen Fenster, den kratzenden Metallbeschlägen der Räder auf dem Kopfsteinpflaster drunten, dem schweren Pochen der Hufeisen auf den Holzplanken im Rinnstein, dem weit entfernten Rufen der Sumpfdrachen irgendeines leichtsinnigen Händlers, den noch weiter entfernten Marktschreiern, den trägen Schiffsglocken vom Flussufer, den unzähligen menschlichen Lebenszeichen dort draußen, die in jedwede Richtung vorübereilten, dem aufgeregten Pulsschlag seines kleinen Vogelherzens, welches sich zielstrebig seinem Haus näherte... Senray?
Er öffnete die Augen und blickte sich etwas irritiert um.
"Was macht denn...", weiter kam er gedanklich gar nicht, da klopfte es unten in der Werkstatt auch schon an der Hintertür. Wilhelm brauchte nicht lange überlegen. Er schloss unverzüglich das Fenster. Und mit einem Wimpernschlag stand er am Lieferanteneingang und öffnete ihr.
Sie lächelte ihn regelrecht verlegen an.
"Hallo Wilhelm!"
Er konnte nicht anders, als die Erschöpfung und die verwirrenden Gefühle der letzten Stunden beiseite zu drängen und sie mit Freude eintreten zu heißen.
"Senray! Komm doch rein!"
Kaum in der Küche, bot er ihr warmen Kakao und Kekse an, die sie auch gerne annahm. Sie war so berechenbar, so unkompliziert. So wundervoll! Natürlich suchte sie ihn wegen der Kollegin und Mentorin auf. Sie hatte Magane immerhin zu ihm geschickt und war um deren Wohl besorgt. Sie war solch ein herzensguter Mensch! Er versuchte, sie zu beruhigen. Was ein wenig davon erschwert wurde, dass es ihm nicht ganz leicht fiel, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Er konnte so auch nicht verhehlen, dass es ihm leichter fiele, Magane für die Stunden der anstehenden Nacht in ihrer Obhut zu wissen. Diese Schichten ließen sich wohl kaum mit irgendeinem der Kollegen tauschen. Und sie sich selbst zu überlassen, wäre ihm wie gesagt nicht rechtens erschienen, in diesem ersten Anlauf. Senray erklärte sich bereit, in seiner Abwesenheit bei Magane zu bleiben, und er gab ihr kurzerhand den Ersatzschlüssel für die Werkstatttür. Damit würde sie sich fortan selbst Zutritt zu seinem Haus verschaffen können. Er mochte den Gedanken irgendwie, auch wenn jener nur kurz durch seinen Sinn streifte, ehe der Dienstantritt sich endgültig in den Vordergrund seiner Aufmerksamkeit platzieren konnte.

Diesmal sahen sie einander schweigend an - während Raistan nahezu routiniert die Barriere um Wilhelm wob. Der Blick des Uralten zeugte von Spott und von Vorfreude. Wilhelm hingegen setzte konzentriert alles daran, ihm keine Angriffsfläche zu bieten. Er wollte standhalten. Ganz gleich, wie erfahren und stark Racul sein mochte, Wilhelm war fest entschlossen zu demonstrieren, dass er sich nicht kleinkriegen lassen würde. Raistans Aufmerksamkeit streifte ihn mehrmals, doch auch davon würde Wilhelm sich dieses Mal nicht ablenken lassen. Er würde seine Konzentration sammeln und Racul keinen Fingerbreit Boden gewinnen lassen!
Das boshafte Lächeln des Alten weitete sich und Wilhelm rann es eiskalt im Genick herunter.
Der Untotenbann schloss sich merklich um ihn und das eisige Rühren an seine Gedanken verblasste.
"Ich bin dann soweit fertig, Wilhelm. Ich mache mich auf den Weg. Viel Erfolg heute Nacht!"
Wilhelm winkte ihm beiläufig nach, fixierte aber dennoch weiterhin Racul mit seinem Blick. Er fürchtete sich vor dem Moment, wenn jener den Mund aufmachen und den nächsten Angriff auf seinen Kerkermeister beginnen würde. Er hörte die Schritte des Zauberers verhallen. Dann...
"Einen wundervollen guten Abend, werter Möchtegern-Artgenosse! Wie steht es um dich?"
Er versuchte, seine Mimik neutral und den Blick aufrecht zu halten. Was den Alten nicht daran hinderte, fortzufahren.
"Du hast damit begonnen, deinen selbstmörderischen Ruf als Titel anzusehen, den es zu verteidigen lohnt?"
Wilhelm presste seine Lippen zusammen. Racul hingegen teilte die seinen zu einem höhnischen Lächeln.
"Inzwischen gehen also schon zwei tödliche Damen ein und aus in deinen Privatgemächern!"
Wilhelm blinzelte heftig. Er hatte sich wirklich und wahrhaftig konzentriert gehabt! War davon ausgegangen, dass er es vielleicht sogar geschafft hatte, Racul von seinen Gedanken fernzuhalten, sich abzuschotten. Und nun das! Innerhalb der wenigen Minuten des relativ freien gedanklichen Zugangs zu ihm, der sich dem Alten nun einmal leider immer dann öffnete, wenn Raistans magischer Schutz noch nicht vollständig emporgezogen war, hatte Racul zielgerichtet einen Umstand aus seinen Gedanken und Emotionen herausgefiltert, der ihm lohnend erschien, um darauf einzugehen.
"Es genügt dir nicht, dass das Dämonenweib dich in den Staub getreten und mit ihrem Zeichen gebrandmarkt hat, als persönliches Eigentum? Nein, du bereitest der Kreatur auch noch ein weiches Bett! Du hofierst sie, bettelst um das Wohlwollen der kleinen Rothaarigen, an der alles nach unwürdigem Opfer schreit! Du gehst so weit! Bis hin zu dem Versuch, zu vergessen, dass sie den Dämon in sich trägt! Welcher wiederum nichts schöner fände, als dich wieder kriechen zu sehen. Was für ein bodenlos idiotisches Verhalten! Und als wenn das nicht genug wäre, holst du ihr Gesellschaft ins Haus, die kaum besser ist. Die Vampir-Schlächterin! Die Hexe, die mir Sebastian genommen hat!" Racul legte den grausigen Schädel leicht schief und lächelte mit einem fast sanften Verziehen seiner blassen, dünnen Lippen. Seine Stimme heuchelte krächzendes Mitgefühl, als er sehr leise in den schattigen Gang wisperte. "Möchtest du vergehen, Wilhelm? Möchtest du ins große Vergessen eingehen? Warum sagst du das dann nicht? Es gibt so viele andere Möglichkeiten dazu. Ehrenvollere. Würdevollere, als sich von einer Hexe oder einem Dämon nachstellen zu lassen." Der mächtige Vampir hinter der magischen Barriere legte eine bedeutungsvolle Pause ein, die seinen folgenden Worten nur umso mehr Bedeutung beimaß. "Wünschst du dir meine Hilfe?"
Wilhelm hielt dem Blick nicht länger stand, er sah mit einsetzender Verzweiflung beschämt zu Boden und schüttelte vehement den Kopf.
"Nein! Nein, so ist das nicht! Ich will nicht... So sind sie nicht! Ich will ihr helfen! Beiden! Ich will ihnen nur helfen. Sie sind... sie haben viel durchgemacht und sind freundlich und hilfsbereit, da ist es nur angemessen, ihnen ebenfalls beizustehen. Und..."
"Du holst dir den Tod in dein Haus, in seinen wundervoll vielfältigen Variationen. Leugne es nicht! Du wirst ihm damit automatisch darin beistehen, dir das wohlverdiente Ende zu bereiten. Exzellent! Lass dich nicht aufhalten! Denn mir kann es nur recht sein. Denke nicht, mir läge etwas an dir. Beileibe nicht! Du kennst die Gesetzmäßigkeiten. Wer eine Waffe bei sich trägt, wird sie auch irgendwann nutzen. Wer mit seinen Dämonen spielt, wird sich wehtun. Aber wenn das dein Wunsch ist, so stehe ich dem als letzter im Wege. Ich könnte dir nur unter Umständen eine Abkürzung anbieten. Ein stilvolleres Ende, wenn du so willst. Immerhin wären derzeit eine Feuerbestattung bei vollem Bewusstsein oder eine sich endlos hinziehende Schmerzensfolter mit tödlichem Endpunkt die wahrscheinlichsten Szenarien für dich. Aber bitte... dein damaliges Zögern gegenüber den Forderungen des Dämons zeugte ja bereits davon, dass schnelle und klare Konsequenzen nicht so deine Sache sind. Du gehst es lieber gemächlich an. Genießt jeden Moment daran. Genießt die Vorfreude, hm? Spürst du in ihrer beider Nähe dieses gewisse Prickeln?"
Wilhelm fühlte sich missverstanden und er spürte, wie eine Welle aus Scham in ihm aufstieg, gleich den Gezeiten. Natürlich legte Racul es genau darauf an. Er verdrehte nicht nur Worte im Mund, sondern sogar schon Gedanken im Kopf, ehe sie ans Tageslicht zu treten vermochten. Aber die Gefühle, welche jener damit heraufbeschwor, ließen sich weder ausschalten, noch verdrängen.
Er widersprach, leise und mit flackerndem Blick, als wenn er sich selber erst wieder von seinen eigenen hehren Motiven überzeugen müsse.
"Senray ist nicht gleichzusetzen mit dem Dämon. Sie will mir nichts Böses. Und Magane hat in Selbstverteidigung gehandelt. Das darf man ihr nicht vorwerfen. Dein Diener hatte ihr übel mitgespielt, wie du sehr wohl weißt. Für dich selber hättest du mindestens das gleiche Recht eingefordert. Wenn du an ihrer Stelle gewesen wärest."
"Du vergisst dich wieder einmal, Schneiderlein. Ein Vergleich zwischen Jäger und Beute hinkt. Und ist nicht angemessen. Die Hexe hat nicht wirklich... 'Grundrechte', die ihr in selbstverständlicher Weise zustehen würden. Deine Überzeugungen hin oder her. Sie ist eine frei verfügbare Ressource, auf die jedem Vampir der Zugriff offen steht. Im besten Falle könnte ich sie noch als nützliches Werkzeug ansehen. Aber auch das... so wie sie sich querstellt... eher nicht. Ich frage mich ja immer wieder, wie es dazu hat kommen können, dass du die Natur der Dinge, die elementarsten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, nicht begriffen hast? Liegt es in deinem frühen Schmarotzertum? Hätten Vater und Mutter dir das richtige Verständnis erst noch eingebläut? Du bist so entartet!"
Die beinahe flüchtige Erwähnung seiner verstorbenen Eltern traf ihn unvermittelt, wie ein Pflock, der auf seiner Brust aufsetzte, bereit dazu, sich tief in seine inneren Organe zu versenken. Eiseskälte flog über seine Haut, seine Arme, so dass er eine Gänsehaut spürte. Er griff sich an die Brust und rieb sich mit der Hand über die imaginäre Trefferzone. Der Moment verging und er schluckte schwer.
"Menschen sind keine... frei verfügbaren Ressourcen!"
"Ach? Nicht?" Racul straffte seine Haltung und hob das Kinn. Er legte seine Hände locker im Rücken ineinander und betrachtete Wilhelm gleich einem spöttischen Lehrer von oben herab. "Dann bin ich gespannt, von welchen Quellen du dich neuerdings nährst. Katzen? Hunde? Oder gar... Ratten? Vor wenigen Tagen waren es zumindest noch Menschenfrauen gewesen. Der Gestank nach Orgie an dir war beredtes Zeugnis dessen und hätte genügt, deine wahre Haltung zu dem Thema zu offenbaren. Deine Erinnerungen hätte es dazu nicht einmal mehr gebraucht gehabt. Denn, weißt du... Taten sprechen lauter als Worte!"
Wilhelm fühlte sich elender, je länger dieses surreal ehrliche Gespräch zwischen ihnen andauerte. Kurz dachte er darüber nach, sich abzuschotten und zu schweigen, nicht weiter auf Raculs Argumente einzugehen. Fast sofort jedoch übernahm das immer stärker werdende Gefühl, sich um jeden Preis verteidigen und von den Vorwürfen reinwaschen zu müssen, das Ruder. Diese Andeutungen, diese Unterstellungen... sie waren dermaßen beschämend! Er konnte sie unmöglich unangefochten im Raum stehen lassen.
"Das war ganz etwas anderes! Ich habe teures Blut in einem angesehenen Restaurante geordert, welches darauf spezialis..."
Er kam nicht dazu, auszusprechen. Racul fiel ihm ins Wort. Dessen Blick bohrte sich kohlschwarz und mit gehässigem Grinsen in ihn.
"Mach dich nicht lächerlich! Du bist ein erwachsener Mann mit funktionstüchtigem Gehirn. Zumindest tust du so, als ob. Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, dir sei noch nie durch den Sinn gegangen, dass die abgefüllten teuren Sorten unmöglich in solchen Massen, wie sie angepriesen werden, von Freiwilligen herrühren können?"
Wilhelms Gedanken kamen abrupt zum Halt. Er hatte sich selber nie als naiv oder einfältig angesehen. Immerhin hielt er sich politisch auf dem Laufenden, las aufmerksam die Tagespresse. Das allein war schon so viel mehr, als die meisten seiner Mitbürger für nötig ansahen. Er redete mit unzähligen Leuten! Und gerade der Austausch von Informationen war seine heimliche Leidenschaft dabei, bis hin zu dem Punkt, dass er einigen Kunden Rabatte im Austausch gegen Informationen gewährte. Und doch...
"Aber... es sind doch extra besondere Clubs eingerichtet, in denen Menschen, die Geld verdienen möchten und vom Geschmack ihres Blutes her in Frage kommen..."
Der alte Vampir lachte heiser.
"Ah. Du glaubst also der Mär von der guten Haltung, hm? Auf dem Zettel auf der Flasche stehen einige schnörkelige Worte, die dem entsprechen, was du dir wünschst. Und der Inhalt schmeckt so gut! Bloß nicht weiterdenken, nur nicht die mannigfachen Möglichkeiten in Erwägung ziehen, die solch einen logistischen Aufwand im Hintergrund überhaupt erst lukrativ gestalten könnten, hm? Du hast bisher immer in die falsche Richtung gesehen. Die Augen bewusst vor dem verschlossen, was du hättest sehen können. Das waren Themen, die dich nicht interessiert haben, die du dir selbst gegenüber nicht eingestanden hast. Denn, wenn die leicht zu kaufende Flasche roter Glückseeligkeit nicht mehr ohne Gewissensstiche zu erreichen ist, dann spätestens wäre es ja an der Zeit, zur wahren Natur der Dinge zu stehen, richtig? Und du könntest nicht verzichten! Wir wissen das beide. Deine kleine Testphase bei den degenerierten Kakaotrinkern war nicht mehr als das. Ein lustloses Experiment, um deinen Kundenkreis zu erweitern, eine geschäftlich arrangierte Phase ohne persönlichen Mehrwert. Du hast dem nichts abgewinnen können und könntest heute, mit diesem Wissen im Sinn, auch nicht wieder dorthin zurückkehren. Du willst Blut. Du brauchst es! Dieser Drang, diese Lust, ist das einzige Anzeichen an dir dafür, dass du einst einer der unseren hättest werden können."
Hätte sich der Boden zu seinen Füßen in diesem Moment aufgetan, Wilhelm hätte sich fallen lassen. Schuldgefühl und Schande brannten heiß in ihm.
Racul lachte grausam.
"Nein, die Wenigsten von denen kommen freiwillig zum Zapfen an die vorgeschriebenen Orte. Sie alle treiben Armut oder Angst – oder beides. Schlachtvieh, das langsam ausgenommen wird, das pünktlich zum Läuten der Glocke in die Ställe gerufen und gemolken wird. Gleich, ob Mann, Frau oder Kind. Wäre Sebastian nicht so exzellent im Verstellen seiner Schrift gewesen, ich könnte darauf wetten, dass einige der besonders hochpreisigen Sorten auf ihren Etiketten sich ihm zuordnen ließen. Er hatte da so seine Vorlieben. Weit gefächerte Fähigkeiten. Leider kamen seine Bezugsquellen kaum jemals für mich in Frage. Unter jenen lassen sich so gut wie nie Jungfrauen ausmachen."
Für einen Moment schien der Alte tatsächlich in nostalgischen Erinnerungen zu schwelgen. Dann erst richtete sich sein Blick merklich wieder auf Wilhelm – der noch immer stumm auf seine verkrampften Hände sah.
"Oh. Habe ich soeben an deinem Weltbild gerüttelt? Das tut mir ja so gar nicht leid. Vielleicht musst du doch zugeben, dass sie nichts als Ressourcen sind, hm? Immerhin nutzt auch du tagtäglich ihre Situation aus und erntest nach Belieben. Vielleicht nicht direkt, Auge in Auge. Das wäre ja wieder die ehrliche Art und Weise eines aufrechten Vampirs, mit den Dingen umzugehen. Erwachsen! Nein, du möchtest in deiner verklärten Kindheitswelt bleiben, möchtest, dass andere sich für dich die Finger schmutzig machen. Damit du nur noch ein Geldstück hinzulegen brauchst. Wenn du so willst, halten andere für dich das Vieh, die Lieferanten und Unterhändler, die Restaurantbesitzer. Sie jagen für dich. Macht es das besser für die Menschlein? Oder macht es dich vielleicht nur unselbständiger?"
Wilhelm dachte an die Nacht mit Rabbe, an die Flaschenetiketten mit den ansprechend gestalteten Schriftzügen. An die Altersangaben. Er fühlte sich bloßgestellt und erbärmlich, so schuldig! Er wäre am liebsten auf der Stelle gegangen, um sich nicht eine Sekunde länger von Racul aburteilen zu lassen.
Wie sollte er jemals wieder trinken können, ohne vor diesen Informationen bewusst die Augen zu verschließen? Denn – realistisch betrachtet – musste er davon ausgehen, dass eine schlechte Behandlung menschlicher Spender, wenn diese offenbar schon in Bereichen, die nach Außen einen guten Ruf wahren konnten, so schockierend selbstverständlich anzunehmen war... dass diese schlechte Behandlung dann erst recht auf die Spender des schnell zu habenden Blutes der Straßenhändler zutreffen musste!
Er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Racul durfte ihn nicht noch mehr verunsichern. Nur... wenn er wieder die Augen davor verschlösse... der Alte würde Recht behalten! Racul sah durch ihn hindurch, wie durch Glas! Sah jeden Flecken und Schmutz in ihm.
Ein schaler Geschmack lag ihm im Mund und verursachte leichte Übelkeit.
Wie sollte er Senray jemals wieder in die Augen sehen können, wo sie solch eine hohe Meinung von ihm hatte? Sie ahnte ja nicht einmal, dass er bereitwillig solche Schuld auf sich geladen hatte!
Wilhelm bekam kaum noch mit, wie Racul mit fast zugänglichem Tonfall für die restlichen Stunden der Nachtwache auf ihn einredete, wie dieser die Vor- und Nachteile solch einer flexiblen Haltung der Blutreserven abwog, wie er das organisatorische Geschick seines genommenen Assistenten lobte. Kurzum, wie jener mit herablassender Freundlichkeit den Anschein eines Gespräches auf gleicher Augenhöhe erweckte, indem er Wilhelm großzügig Rat für erfolgreiche Jagden anbot. Wie er auf ihn einredete mit der Grundaussage, dass die freie Hatz in den nächtlichen Strassen der Stadt so viel ursprünglicher und ehrlicher sei. Artgerechte Haltung! Und dass diese Art der Nahrungssuche Wilhelm zumindest die Möglichkeit böte, selbst zu bestimmen, welche Opfer am ehesten in Frage kämen, wenn er ihnen keine Ungerechtigkeit oder nachhaltigen Schaden zuzufügen gedachte. Denn wer könne das schließlich besser beurteilen? Wilhelm selber oder ein anonymer Geschäftsmann, dem es nur um dessen Geldbeutel ginge?
Der greise Vampir betrachtete ihn mit fast väterlichem Wohlwollen durch die Barriere.
"Denke sorgfältig darüber nach, mein Junge!"
Wilhelm hielt seinen Blick beschämt gesenkt, in seinem Kopf herrschte Chaos, ebenso wie in seinen Gefühlen. Mein Junge... Irgendetwas daran fühlte sich so dermaßen richtig an? Und gleichzeitig so falsch! Und es tat weh...
Als der Morgen anbrach und die zusätzliche Barriere um ihn fiel, schleppte er sich regelrecht in den unterirdischen Salon einige Meter weiter, um seinen Bericht zu schreiben. Die Worte gingen ihm schwer von der Hand. Er fügte die erhaltenen Informationen so gut es ging aneinander. Bevor er lethargisch unterschrieb und sich auf den Heimweg machte.

TAG 30

Er konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken auf dem Weg zu sich nach Hause in endlosen Schleifen um Raculs Worte kreisten. Er versuchte immer wieder, aus dem Gehörten auszubrechen. Aber die Anläufe misslangen. Raculs Repertoire an Beleidigungen schien unerschöpflich und vermengte sich in seinem Sinn mit den übrigen Aussagen, die ihm den Boden unter seinen Füßen Stück für Stück zerschlugen.
"...du Schandmal für deine Art... ehrlicher gegenüber dir selbst... Futterfreund... sie jagen für dich... wandelnder Gossendreck... ins große Vergessen eingehen... Kriecher... werde mich an jedem von euch rächen, sobald diese Formeln fallen... Stadtlakai... schwacher, kleiner Magier, der er ist... du Humanist! Wen würdest du erretten, wen freikaufen wollen... Abschaum in Uniform... sie sind freie Ressourcen... ich werde dich bis zum Schluss übrig lassen, damit du ihrer aller Ende betrauern kannst... Menschenfreund..." Und dann wieder die freundlicheren Töne des heutigen Morgens, die ihn restlos ins Wanken brachten. "...mein Junge..."
Er kam an dem Verkäufer mit dem Bauchladen vorbei, der wie jeden Morgen zu dieser frühen Stunde auf der gegenüberliegenden Straßenseite frisches Blut im Pappbecher anpries. Er blieb stehen. Alles in ihm tat weh vor Erschöpfung. Und der Gedanke war plötzlich klar und präsent: Er hatte zu wenig getrunken, in Anbetracht der aktuellen Anforderungen, denen er sich ausgesetzt sah. Wenn er die mentalen Kämpfe bedachte, seinen Sturz in die magische Barriere, die geheilten Wunden nach all den Treffern mit brennenden Stuhlsplittern... es wäre klüger gewesen, wieder zu trinken.
"...alle treiben Armut oder Angst... Schlachtvieh... immerhin nutzt auch du tagtäglich ihre Situation aus... erntest nach Belieben... nur noch ein Geldstück..."
Nein. Er konnte sich nicht jetzt damit befassen. Diese Frage war zu schwierig, zu groß, für seinen derzeitigen Zustand. Er... würde die Problematik einfach ausblenden. Noch ging es auch so.
Damit gab er sich einen Ruck und wandte den Blick ab von dem Straßenhändler. Dessen Anpreisungen folgten ihm noch lange, als leises Flüstern in seinem Hinterkopf.
Endlich erreichte er die Werkstatt. Er lehnte seine Stirn an die Metalltür des Hintereingangs und atmete einige Male tief durch.
Senrays Herzschlag flatterte von oben herab und streichelte sanft seine Sinne. Sie war bereits wach. Und aktiv. Auch der Herzschlag der Hexe war aus dem Ruhestatus erwacht. Sie schienen beide in der Küche zu sitzen. Und allmählich sickerten sogar ihre leisen Stimmen kaum hörbar bis zu ihm herab, wenn er sich darauf konzentrierte, den stetig anschwellenden Straßenlärm auszublenden. Verstehen konnte er sie jedoch nicht.
Er lächelte mit geschlossenen Augen.
Es hatte etwas absolut Besänftigendes, zu ihr heimzukommen.
Wilhelm öffnete die Augen und straffte seine Haltung. Er kratzte Energie in sich zusammen, wo auch immer er sie noch fand, und stieg in die Wohnung hinauf.
"Sie hat den Frühstückstisch gedeckt. Wir werden gemeinsam frühstücken, wie vor dem Rettungseinsatz. Nur diesmal sogar zu dritt. Nicht ich allein. Fast wie bei einer Familie..."
Das leichte Ziehen in seinem Brustkorb war gleichzeitig schmerzhaft und bittersüß. Er nahm sich vor, keine seiner Sorgen zu diesem Anlass durchschimmern zu lassen. Es war eine so schöne, so hoffnungsvolle Situation. Er würde einfach sein Bestes geben, um die beiden Frauen mit Freundlichkeit und Gastfreundschaft zu umsorgen. Denn, ganz gleich, was der Alte ihm in den dunklen Stunden weiszumachen versuchte... das hier war die Realität! So waren sie wirklich! Sie waren Freunde. Kostbare Personen, die sich freiwillig mit ihm abgaben. Das würde er unter keinen Umständen wegwerfen.
Wilhelm öffnete die Wohnungstür, die die Wärme oben halten sollte. Er grüßte laut vernehmlich und sofort kam Senray aus der Küche gestürmt, um ihn zu begrüßen. Ihr Haar stand zu allen Seiten wie Nestflaum ab und er hätte nur zu gerne mit seinen Händen vorsichtig durch die Frisur gestrichen.
"Wilhelm! Du kommst gerade recht! Der Tisch ist fertig gedeckt und der Tee zieht. Einmal Minze für dich, ist das richtig?"
Er lächelte sie breit an, was sie glücklich erwiderte.
"Das ist richtig, danke!"
"Keine Ursache! Komm nur rein! Ich habe den Stuhl aus dem Wohnzimmer dazu gezogen. Er ist zwar eigentlich etwas niedrig aber wenn du möchtest, kann ja ich darauf..."
Er lachte unwillkürlich.
"Sen, alles gut! Ich bin groß genug dafür, auch etwas niedriger zu sitzen. Wenn du dich damit an den Küchentisch setzen würdest, hätten wir nicht viel von deiner bezaubernden Gesellschaft, mein kleines Vogelherz. Also keine unnötigen Umstände!"
Sie errötete prompt bei der Nennung seines Kosenamens für sie und verschwand kichernd in der Küche.
Fast mit der gleichen Bewegung, mit der er seine Schuhe und Strümpfe abstreifte, sobald er die Türschwelle überschritt, betrat er auch schon den kleinen Raum. Sie hatten den schmalen Tisch reichlich eingedeckt und den Bollerofen eingeheizt. Kräuterduft und die Magie der Hexe vermengten sich zu einer frischen Einheit und Magane blickte ihm wach entgegen. Er nickte ihr zu.
"Und? Wie geht es dir jetzt?"
Sie grinste.
"Viel besser. Regelrecht erholt. Ich schulde dir was, Wilhelm."
Er schüttelte fast verlegen den Kopf und blickte stattdessen auf das aufgetischte Essen.
"Lass uns nicht darüber reden. Es freut mich, dass es funktioniert hat. Und wie ich sehe, habt ihr nun Großes vor."
Senray klatschte aufgeregt in die Hände.
"Nicht nur wir, Wilhelm. Du auch!"
Sie setzten sich gemeinsam an den Frühstückstisch und begannen, plaudernd Dinge anzureichen, zu scherzen und zu lachen. Die Stimmung war gelöst, absolut angenehm. Und Wilhelm ertappte sich bei dem Gedanken, dass Racul eben doch Unrecht haben mochte. Er war nicht auf Blut angewiesen. Er könnte vielleicht sehr wohl zu der lustlosen Schonkost der Schwarzbändler zurück finden. Wenn er nur wollte. Wenn es mehr solcher Morgende gäbe, die ihn dafür mit freundlicher Heiterkeit auf den Pfad der Tugend führen täten. Vielleicht machte er sich ja nur etwas vor, wenn er dachte, seine Existenz wäre ohne diesen Genuss eine unerträgliche blutleere Hülle? Es hatte sich seit dem letzten Mal so viel getan, so viel verändert. Er selber hatte sich verändert!
Sein Blick wanderte mit stiller Bewunderung zu der kleinen Kollegin, die gerade über eine eher trockenhumorige Bemerkung der Hexe lachte.
Das kleine Vogelherz wäre vermutlich froh darum, wenn er diesen Teil seines Daseins abzulegen versuchen würde. Sie hatte sich in den letzten Wochen schon an so viel gewöhnt, suchte trotz seiner verbleibenden Gewohnheiten seine Nähe. Sie versuchte, seine Ernährung auszublenden und ihm die menschliche Hausmannskost ebenso schmackhaft zu machen. Das war rührend. Zumal er der festen Nahrung nicht abgeneigt war, sie erinnerte ihn irgendwie an... früher. Die Düfte... frisches Brot aus dem Ofen, Gewürze, heiß aufgebrühter Kaffee... zu Hause...
Einen Moment noch ließ er seinen Blick auf ihr ruhen. Senrays Augen funkelten vor Freude und ihr Herzschlag streichelte samtig über seine Haut, wie warme Sommerböen.
Ja, alles war gut.

TAG 31

Wilhelm sah zweifelnd an dem Haus empor, in dem die Hexe wohnte. Es fügte sich zwischen all die anderen Häuser der Strasse und schien sich kaum von diesen zu unterscheiden. Etwas sauberer vielleicht. Und mit bepflanzten Töpfen an den Fenstern, wo bei den anderen Wohnungen oft nur dunkle Fensterhöhlen in noch dunklere Hintergründe zu blicken schienen. Aber sonst... zumindest vom Gehweg aus war an ihrem Zuhause nichts Besonderes auszumachen. Sein kundiger Blick streifte kurz den Ladenbereich mit dessen präsentierter Auslage in den Schaufenstern. Er strich nervös seine Kleidung glatt - und zog an der Türglocke.
Es dauerte nicht lange, bis sie ihm öffnete.
"Wilhelm. Sogar so zeitig. Komm rein!"
Es geschah nur selten, dass er diesen untrüglichen Sog einer offiziellen Einladung verspürte. Das letzte Mal war es geschehen, als Senray ihn nach Ophelias Rettung zu sich in die Wohnung eingeladen hatte. Da hatte dieses Gefühl allerdings nur einen Sekundenbruchteil angedauert, ehe der angriffslustige Kater und dessen Krallen ihn vollständig davon ablenkten. Davor konnte er sich nicht einmal an das letzte Mal erinnern. Aber hier... Maganes Türschwelle zu überschreiten fühlte sich an, als wenn er auf einer frischen Böe ins Haus getragen würde. Wusste sie, was sie tat? Sie hatte nicht unbedingt die traditionellen Worte dafür genutzt. Aber sie hieß ihn wirklich willkommen, sich voll und ganz seiner Natur bewusst. Sofort spürte er zugleich mit der ehrlichen Freude über diese Geste auch einen Hauch Sorge. Sie gab ihm damit Zugriffsmöglichkeiten, mit denen sie vorsichtig sein sollte.
"Ich dachte mir, dass wir erst mal im Wohnraum schauen. Ob der für dich in Ordnung wäre. Aber du kannst auch auf die Dachterrasse und dich dort umsehen. Ich bin mir nicht sicher, was dir lieber ist. Immerhin ist es noch einigermaßen frisch draußen."
Er folgte ihr die schmale Treppe hinauf in den zweiten Stock und musste sich für eine Sekunde unauffällig abstützen, als ihn der geballte Duft der begabten Familie einfing. Als sie den Bereich der ersten Etage querten, strahlte dieser von Glaubensenergie, die wie mit heissen Nadeln gegen seine Sinne drängte. Der Empfang im Haus der Hexe war noch heftiger, als er es ohnehin vermutet hatte. Aber richtig, die Großmutter der Kollegin war altgediente Hexe, es gab festen Glauben, Amulette und mehr.
Schnell folgte er ihr weiter hinauf. Das heisse Stechen ließ nach, dafür wurde die harmlosere, magische Hintergrundstrahlung auf gewisse Weise intensiver. Quirliger und unmittelbarer, fast aufdringlich. Auch das nicht wirklich überraschend. Maganes Tochter barg großes magisches Potential in ihrem winzigen Kleinkindkörper. Und Tom... dessen Magie durchpulste die zurückhaltenderen Energiewolken von Mutter und Schwester regelrecht, wie Blitze eine Nebelbank. Und das, obwohl es sich "nur" um Reste der täglichen Präsenz handelte!
Frische Luft klang auf einmal verlockend.
Sie erreichten die obere Wohnung und Magane öffnete ihm die Tür. Der magische Rückstandsnebel umfloss ihn, wie die dicht mit scharfen Gerüchen angereicherte Luft einer achaten Großküche. Er stellte augenblicklich das restliche Atmen ein und spürte nur noch das Prickeln diverser Aromen auf seinen Lippen. Ob es anderen Vampiren ähnlich erginge? Oder war er aus irgendeinem Grund extrem sensibel?
Sie betraten ein gemütlich eingerichtetes Durchgangszimmer. So viele Sitzgelegenheiten, wie hier standen, wurde es vermutlich auch als gemeinsamer Wohnbereich genutzt. Aufgelockert mit ein Paar vergessenen Socken, einem Buch mit Lesezeichen, Kissen, leeren Wassergläsern und benutzten Tassen. Es gab Strickzeug in einem Korb und einige getrocknete Kräuterbündel, die wohl nur kurz beiseite gelegt worden waren, um sie später fortzuräumen. Zwei kleine Fenster an den jeweils entgegen gesetzten Enden des eher lang gezogenen Raumes spendeten ein wenig Tageslicht. Für seinen aktuellen Bedarf zu wenig, um sich hier spontan wohlzufühlen, wie er sich heimlich eingestand. Aber da die Bewohner ohnehin alle ausgeflogen schienen, das Sitzrund also im hier üblichen Familienleben eher gegen Abend bei verschwenderischem Kerzenschein genutzt wurde, worauf unzählige halb heruntergebrannte Stumpen hindeuteten, schien das außer ihm niemanden zu stören.
Weitere Türen gingen von hier ab. Linkerhand vermutete Wilhelm automatisch die Zimmer der Kinder. Er gab der Versuchung nach und ließ Luft in seine Lunge strömen. Toms Note zumindest war unverkennbar hinter einer der Türen konzentriert.
Er wandte sich schnell ab, der offen stehenden Tür rechterhand zu. Von dort duftete es nach Kräutern und zog ihn unwiderstehlich an. Magane folgte ihm schweigend.
Die Küche. Diese war vergleichsweise klein. Auch hier gab es nur ein Fenster. Aber jenes deutete auf einen reich bepflanzten Dachgarten hinaus, der trotz der kühlen Jahreszeit überraschend kräftig in Saft stand. Grün in allen Schattierungen, dazu einige vereinzelte Blütenknospen auf einem Beet, das sogar hinter der Ecke der großzügigen Fläche, die von hier aus erkennbar war, weiterzugehen schien. Einen derart großen Garten sah man selten in Ankh-Morpork, noch seltener im Privatbesitz einer Person, die nicht in den reicheren Vierteln wohnte. Und innerhalb der Küche... die freiliegenden Balken des Fachwerks bargen sozusagen einen hängenden Garten im Inneren der Wohnung - unzählige Bündel zusammengeschnürter Kräuter hingen zum Trocknen von der Decke herab. Er stand mitten in dem kleinen Raum mit den blank gescheuerten Arbeitsflächen und drehte sich lächelnd zu Magane um.
"Das ist ganz wundervoll."
Die Kollegin freute sich über seine Begeisterung.
"Danke. Man gibt sich Mühe. Kann ich dir irgendwas zu Trinken anbieten?"
Fast hätte er sich zu einem unpassenden Scherz hinreißen lassen. Im letzten Moment erinnerte er sich an den Grund seines Besuches und daran, dass die Gastgeberin nur zu reale Erfahrungen mit seiner Art ihr Eigen nannte. Er hätte vor Scham im Boden versinken können. So etwas durfte ihm keinesfalls herausrutschen. Schnell wandte er sein Augenmerk dem Dachgarten zu.
"Ein Tee wäre etwas sehr Gutes. Die Kollegen waren ja während der Besprechungen des Rettungszirkels voll des Lobes. Vor allem Raistan. Aber auch Senray. Dein Tee... er tut ihr in besonderer Weise gut, nicht wahr?"
Magane machte sich daran, den Herd anzufeuern und Wasser aufzusetzen. Dabei nickte sie noch immer lächelnd.
"Das hoffe ich doch. Zumindest ist es beabsichtigt." Sie deutete auf die kleine Sitzecke und er folgte der Aufforderung, setzte sich so, dass er sie weiter beobachten konnte, ihr dabei aber nicht im Wege stand. Das starke Rosmarin-Aroma vermengte sich über seinem Kopf mit dem der Minze und er atmete die Mischung unwillkürlich tief ein. Magane betrachtete ihn einen Moment lang nachdenklich. "Du könntest etwas Entspannung gut gebrauchen, oder?"
Wilhelm lachte leise.
"Das ist eine dieser Aussagen, die nahezu immer und auf fast jeden zutreffen, würde ich meinen. Aber, ja, natürlich. Derzeit hätte ich nichts dagegen."
Ihre Augen blickten ihn wissend an, ehe sie sich dem Teegeschirr zuwandte und aus einigen aufgereihten Döschen eine Pulvermischung aus zerriebenen Kräutern zusammenzustellen begann. "Vielen Dank noch mal, für deine Hilfe mit dem Schlaf."
Er wollte abwehren aber sie unterbrach ihn mit einem kurzen Blick, ohne ihre Arbeit dabei zu unterbrechen.
"Nein, wirklich. Das gibt mir die Möglichkeit mein... Potential im Griff zu haben. Und dadurch bei meiner Familie zu sein. Mir bedeutet das sehr viel."
Es war fast erschreckend, wie sehr er ihren Dank in sich aufsog. Natürlich hatte er ihr helfen wollen. So wie jetzt ja auch beabsichtigt. Und die Chance, dass es ihm gelingen würde, war bei dieser oft erprobten Technik außerordentlich hoch gewesen. Das Resultat hätte ihn also nicht dermaßen euphorisch werden lassen müssen, wie es das noch immer tat. Aber er war unsicher gewesen. War es noch. Irgendein kleiner Bereich seiner Gedanken wollte ihm ständig aus dem Hintergrund heraus weismachen, dass das nicht gut gehen konnte, dass es einen Haken an der Sache geben und er alles ruinieren würde. Dass er ungeeignet für diese Aufgabe wäre und irgendwas übersehen hätte. Und wenn es sich nicht sofort zeigen würde, dann vielleicht mit Verzögerung, irgendeine Nebenwirkung, die nur bei Hexen griffe? Man spielte nicht mit Magie! Und er schon gar nicht, Stümper, der er war. Was redete er sich nur ein, dass ausgerechnet er ihr helfen könne, wo er mit seinen 200 Jahren gerade einmal als naiver Jugendlicher unter den älteren Vampiren durchging? Es fehlte ihm an so viel Lebenserfahrung, etwas, das man nicht mit Gutgläubigkeit und freundlichen Wünschen ausgleichen konnte. Da brauchte er ja nur an die Erkenntnisse der letzten Nächte zurückdenken. Hoffnung allein war...
Er stoppte sich. Nein! Das waren... vergiftete Gedanken. Nicht falsch vom Kern ihrer Aussage her, gewiss. Aber sie waren... zu einseitig. Unausgeglichen. Zu sehr auf das Ängstliche und Negative konzentriert. Sie waren das, was der Alte ihm weiszumachen versuchte. So durfte er nicht denken, nicht jetzt. Irgendwann anders konnte er sich mehr mit diesen Aspekten auseinandersetzen, sie auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen - Resultate für sich ableiten. Aber nicht jetzt, da Racul nur darauf wartete, dass er ihm weitere Ansatzpunkte dafür lieferte, in tiefere Bewusstseinsebenen einzubrechen, um ihn weiter zu verunsichern.
Jetzt gerade ging es Magane besser. Und er hatte dazu beigetragen. So gesehen... jetzt war es gut, jetzt durfte er ihren Dank annehmen und sich darüber freuen, etwas Positives bewirkt zu haben.
Wilhelm erwiderte ihr Lächeln.
Sie setzte ihm eine getöpferte Tasse vor und sah ihn erwartungsvoll an.
Er nahm jene in beide Hände, wärmte sich daran und ließ sich mit geschlossenen Augen von dem Kräuterduft umgarnen. Er atmete bewusst ein - und wohlig aus. Er seufzte leise, als sich seine Schultern etwas entspannten. Dann begann er an dem heissen Getränk zu nippen. Der Tee war ein Gedicht! Sanfte Wärme füllte ihn, rührte selbst an die Kellerkälte, die sich in den letzten Nächten in seinen Knochen eingenistet hatte. Er fühlte sich, als wenn er die vereiste Oberfläche eines Sees wäre, die unter den Sonnenstrahlen eines Frühlingsmorgens aufbräche. Freundliche Bilder regten sich in den verschatteten Bereichen seiner Gedanken, gleich einem menschlichen Kreislauf, der ins Stocken geraten und nun wieder angekurbelt würde. Der Tee war so angenehm! Er war eines jener Dinge, die dem Dasein Schönheit verliehen. Und davon gab es so viele! Er musste sich wirklich wieder mehr auf die guten Dinge konzentrieren. Das entsprach so viel mehr ihm selbst, als diese anhaltende Schwarzmalerei. Hey, es gab immerhin Tee auf der Scheibe!
Er genoss jeden Tropfen und öffnete seine Augen erst wieder, als er die Tasse bedächtig vor sich abstellte. Das war kein normaler Tee gewesen! Sicherlich war er soeben in den Genuss einer jener Mischungen gekommen. Ophelias Erinnerungen geisterten kurz durch die seinen. Er blickte auf und begegnete Maganes überaus zufriedenen Blick. Sie begann zu grinsen.
"Das... ich hätte dein Angebot eines Tees schon viel früher annehmen sollen. Das ist... sehr... gut."
Sie lachte leise. "Freut mich, dass ich dir auch etwas Gutes tun kann."
Er grinste verlegen und spöttelte leicht, als er den Blick senkte. "Nette Hexe!"
Sie nahm lachend seine Tasse und spülte sie sorgfältig ab.
Er räusperte sich. "Nun denn! Machen wir uns besser mal an die Arbeit!"
"Der Wohnraum ist schon mal raus, so viel habe ich mitbekommen. Es bleiben anscheinend noch die Küche und der Dachgarten. Wo möchtest du die Sitzung lieber stattfinden lassen?"
Sein Blick schnellte zum Fenster, ohne dass er es hätte aufhalten können. Jetzt, wo er sich rundum aufgewärmt fühlte, zog es ihn vor allem an die frische Luft draußen.
Sie lächelte und trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch. "Alles klar. Dann hole ich nur eben Decken, Sitzkissen und meinen Umhang. Genügt dir der deine? Oder soll ich dir noch eine zusätzliche Decke zum Umlegen bringen?"

Kurz darauf saßen sie gut eingemummelt auf Decken und Kissen inmitten des heimlichen Gartens über den Dächern der Stadt. Ein kalter Wind pfiff ihnen über die Gesichter. Aber es fühlte sich herrlich an. Vermutlich lag es an der anhaltenden Wirkung des Tees auf ihn, doch Wilhelm war dankbar dafür und würde sich hüten, das zu hinterfragen: Er spürte einen Hauch Optimismus. Die Nervosität, die ihn noch beim Klingeln an der Haustür so vollständig erfüllt hatte, die Zweifel und Ängste... sie waren nicht fort. Aber sie waren zu etwas Nebensächlichem geschrumpft. Er würde sehen, wie weit er kam mit diesem Versuch, Maganes unsichtbare Verletzungen einzugrenzen.
Er rieb seine Hände kräftig aneinander, in dem Bemühen, guten Willen zu zeigen. Nicht, dass er wirklich die Hoffnung hegte, sie damit nennenswert aufzuwärmen. Dann bot er ihr diese wie zu einer Einladung hingestreckt dar.
"Ich werde nur schauen. Wie gesagt, die Veränderungen scheinen mir sehr komplex und erst einmal werde ich noch nicht eingreifen, sondern vor allem versuchen, seine Einflussgrenzen aufzuspüren und irgendwie zu kategorisieren. Da kann noch nichts schief gehen."
Magane beugte sich leicht vor und sah ihm fest in die Augen, als er seine Hände an ihre Schläfen legte.
"Wilhelm, ich habe keine Sorge. Wirklich! Es besteht kein Grund für dich, mich mit Samthandschuhen anzufassen. Du wirst es nicht schlimmer machen, als es ist, vertrau mir!"
Er musste schwer schlucken, während sie seinen Blick einen Moment länger hielt, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen. Erst als er zaghaft nickte, schloss sie ihre Augen und gab sich der Berührung hin.
Wilhelm tat es ihr gleich. Und sein Geist fiel augenblicklich in den ihren, sein innerer Blick öffnete sich dem finsteren Vorraum ihrer Persönlichkeit. Sie begrüßte ihn in ähnlicher Weise, wie beim vorigen Mal, bedachte ihn dabei allerdings mit einem sehr langen Blick auf seine hiesige Erscheinung. Ihm wurde bewusst, dass er diesmal nicht daran gedacht hatte, auch das eigene geistige Abbild auf den Besuch bei der Hexe vorzubereiten. Schnell sah er an sich hinab. Und entspannte sich minimal. Das ging noch. Es hätte schlimmer sein können. Dann stand er eben in schlichtem, leichtem Baumwolltuch vor ihr, Faltenhose und Hemd. Nun ja, dass das Hemd offen über der Hose hing und er barfuss vor ihr stand, das war nicht sein übliches Auftreten. Aber es war nicht mit dem zu vergleichen, wie Rogi ihn damals wahrgenommen hatte. Mit einem entschuldigenden schiefen Grinsen knöpfte er das Hemd über dem roten Narbengewebe des Brandmals zu.
"Entschuldige bitte. Ich habe... mich auf Anderes konzentriert."
Die Kollegin lächelte unverbindlich, enthielt sich aber eines Kommentars. Stattdessen wandte sie sich um und gemeinsam betraten sie den langen Gang hinter dem Durchbruch, den der fremde Vampir vor gar nicht so langer Zeit brutal in ihre mentalen Schutzwälle geschlagen hatte. Hier war es dunkel. Aber sie wussten, wo sie hin wollten. Das Pendant des Portals am Pseudopolisplatz erhob sich groß und schäbig vor ihnen. Magane stieß die Doppeltür auf. Dahinter befand sich - anders als in der Realität - ein weiterer Gang. Tür reihte sich an Tür, seltsam unstrukturiert durchnummeriert.
Sie sah ihn fragend an. "Welche zuerst?"
Er zuckte mit der Schulter. "Das dürfte vermutlich egal sein. Gehen wir sie einfach der Reihe nach durch."
Sie nickte emotionslos. "In Ordnung. Dann landen wir als erstes auf dem Dach, bei einer Trainingseinheit mit Kanndra."
Gemeinsam betraten sie die Szenerie. Das Dach des Wachhauses an einem windigen Abend. Es musste geregnet haben, denn First und Schindeln waren glitschig. Die beiden sich ähnlich sehenden Frauen liefen über die schrägen Flächen. Sie gaben sich zwar wortkarg aber er konnte ihren Gesichtern ansehen, dass sie die Übungen genossen. Ihre Wangen waren gerötet und das zerzauste Haar klebte ihnen an den Schläfen. Die erfahrenere FROG fragte immer wieder kurz nach und die erinnerte Magane antwortete knapp. Dann eine Irritation - das Traumabbild rutschte aus, taumelte, kippte. Ihre Trainingspartnerin griff schnell nach ihrer Hand und bekam sie rechtzeitig zu packen. Kanndra lehnte sich routiniert dem Gewicht der anderen entgegen, langsam und gelassen. Sie wusste, was sie tat. Und die Situation entspannte sich soweit, dass Magane bereits aufatmete. Da blinzelte Kanndra. Und ließ los. Magane hatte ihr Gleichgewicht nahezu wieder gefunden gehabt. Aber nicht standsicher genug, um dem plötzlichen Stoß der Kollegin irgendwas entgegen zu setzen zu haben. Mit wild rudernden Armen kippte sie wieder nach hinten. Und fiel schreiend über die Dachkante.
Wilhelm schloss kurz die Augen, als der Todesschrei abrupt verklang.
Magane neben ihm räusperte sich leise.
Er sah zu ihr. Ihre Blicke trafen sich wortlos. Er war fast in Versuchung, ihr sein Beileid auszusprechen. Wer konnte schon ahnen, wie oft sie dieses aufgezwungene Szenario inzwischen durchlebt hatte. Aber dann wieder... Worte konnten ihr nicht viel helfen. Und genau dafür war er hier. Er musste sich auf Ansätze konzentrieren, dem entgegen zu wirken. Also, was hatten sie da? Er blickte zu der Traum-Kanndra, die nun, da ihre Aufgabe erfüllt war, jeglicher Fremdsteuerung beraubt, einfach nur noch tatenlos und mit leerem Blick auf dem nächtlichen Dachfirst stand. Wilhelm ging vorsichtig auf die Kollegin des Rettungszirkels zu. Er musste Magane nicht fragen, um zu wissen, dass das eben gezeigte Verhalten ab einem gewissen Zeitpunkt absolut atypisch für die FROG gewesen war.
"Lass es neu starten."
Er konzentrierte sich auf Kanndras Gesichtsausdruck, als ein Windstoß sie streifte, sie blinzelte und dann losließ. Maganes markerschütternder Schrei verebbte, doch er sah nur Kanndras Augen. Der Moment von Sebastians Eingreifen, in dem jener die geträumte Erinnerung zu einem geformten Alptraum umgelenkt hatte, war leicht zu benennen, wenn man ihn erst einmal erahnt hatte. Und genau hinsah, hinspürte. Der Einfluss des anderen Vampirs schob sich wie eine Eisscholle in kaltem Wasser über das andere Bild und sank dann in dieses ein. Raculs Assistent hatte seine Ziele über die charakteristischen Verhaltensweisen des Traumpersonals gelegt. Etwas, was zwar die Grundlage beibehielt, die Erinnerung war in diesem Fall also noch vorhanden, vermutlich sogar unbeschädigt, wenn man die Fremdeinflüsse extrahieren und wie eine gehärtete Wachsschicht wieder abziehen könnte. Aber... tja. Da war es wieder. Er hatte so etwas nie zuvor gemacht. Er konnte das alles anschauen und gewisse Schlüsse ziehen, sogar erahnen, was vielleicht möglich wäre... aber wie sollte er das umsetzen? Der Vergleich mit dem Wachs hinkte in der Hinsicht, dass Sebastians Einfluss sich, gleich der Eisscholle im warmen Wasser, in diesem auflöste! Und wie sollte man Wasser von Wasser trennen? Er konnte wohl kaum Maganes Erinnerungen in einen Topf geben und mit allerlei Zusätzen auskochen oder sie in einer Salatschleuder von Ungewolltem befreien.
Wilhelm seufzte leise und wandte sich ihr zu, ohne seine Gedanken auszusprechen. Stattdessen lächelte er bemüht und deutete auf die Tür, durch die sie den Traum betreten hatten.
"Ich denke, ich habe einen ungefähren Einblick. Mehr werde ich hier nicht heraus bekommen. Lass uns gleich den nächsten ansehen."

Kaum hatten sie die hiesige Zugangstür von außen geschlossen und sich der daneben genähert, begann der dazu gehörige Traum bereits, indem Magane quasi in Magane materialisierte, aus dieser heraustrat und energisch gegen die angebliche Bürotür klopfte.
"Silly, mach auf, ich will diese Diskussion nicht alle paar Tage führen müssen..." Von dahinter wurde um Geduld gebeten und es war Wasserplätschern zu hören. Als schließlich geöffnet wurde, erkannte Wilhelm den Kollegen mit dem gemeingefährlichen Gedankenlabyrinth wieder, dessen mentale Eingangshalle eher der hinterhältigen Schwingtür einer gut besuchten Kneipe glich. Sofort meinte er, sich an einen übelkeiterregenden Kopfschmerz zu erinnern. Tatsächlich wies das Bild erstaunlich viel Gemeinsamkeit mit jenem auf, wie der ältere Vorgesetzte sich auch damals bei ihm am Wachetresen dargestellt hatte, um sich zu beschweren. Nur dass er das Handtuch diesmal umgewickelt trug. Und sonst nichts. Zwischen Magane und jenem Kollegen entspann sich ein Streitgespräch über die Nutzung von Büros als Zuberräumen. Gerade, als Magane ihren Standpunkt als frisch Weisungsberechtigte dem Älteren gegenüber verdeutlicht hatte und sich sichtbar zum Gehen abwenden wollte, stolperte sie stattdessen überraschend in den Raum. Und wurde von dem gerügten Kollegen noch in derselben Sekunde niedergeschlagen. Wilhelm beobachtete mit Schaudern, wie der freundliche ältere Mann die Bewusstlose hinter sich her zu der Zinkwanne schliff, sie mühsam über den Rand hievte, um sie dann, als sie mit einem Ruck im Wasser wieder zu sich kam, zu ertränken. Es war ein ungleicher Kampf. Maganes Beine hingen noch halb über den Rand hinaus, so dass ihr Oberkörper unweigerlich tiefer hing und sie - sich nur mit ihren Armen immer wieder abrutschend aufstemmend - nicht genug Gegendruck und Halt aufbauen konnte. Zumal ihr diese immer wieder mit gezielten Schlägen in die Armbeugen weg geschlagen und der Kopf zugleich, fest im Haarschopf gepackt, untergetaucht wurde. Sie schlug und trat, strampelte und schnappte für Sekunden nach Luft. Doch es genügte nicht. Ihre Gegenwehr erlahmte. Bis diese zu einem krampfhaften Zucken wurde. Und dann erstarb. Der Kollege ließ sie endgültig in den Bottich rutschen. Ihr Körper drehte sich leicht ein, dann trieb sie, mit dem Gesicht nach oben, dicht unter der Oberfläche. Der zwangsverpflichtete Mörder stand, nun, da er sein Tagewerk vollbracht hatte, wie eine abwartende Marionette neben der Wanne, den Blick ins Leere gerichtet.
Wilhelm sah kurz zu der schweigenden Hexe neben sich hinüber. Sie betrachtete ihre eigene Leiche scheinbar unbewegt. Und doch...
Eine Bewegung im ansonsten eingefrorenen Bild zog Wilhelms Aufmerksamkeit auf sich. Die kleine gelbe Bade-Ente, die so etwas wie das Wahrzeichen des Kollegen zu sein schien, schwebte vom Boden empor und landete sacht, wie liebevoll auf dem ruhiger gewordenen Wasser abgesetzt, neben dem haarumkränzten Gesicht der Toten. Wo sie etwas herumdümpelte.
Gänsehaut richtete ihm die feinen Härchen auf den Armen auf und ihm wurde schlecht. Dennoch trat er schnell an die Szene heran und kniff die Augen zusammen in dem Bemühen, die verschleierte Präsenz des wahren Übeltäters an irgendeinem weiteren Hinweis festzumachen.
"Kannst du bitte nur diese letzte Sequenz wiederholen?"
Sie trat leise neben ihn. "Ich kann es versuchen."
Die Ente löste sich aus einer Pfütze und schwebte der Wasseroberfläche im Zuber entgegen.
"Nochmal!"
Die Ente löste sich aus einer Pfütze und schwebte der...
"Nochmal!"
Die Ente löste sich aus einer Pfütze...
"Stopp!"
Wilhelm war in die Hocke gegangen und studierte den Augenblick ganz genau von nahem. Neben sich spürte er die echte Magane heran treten und sich ebenfalls hinunterbeugen. Er deutete auf zwei Stellen.
"Siehst du das?"
"Jetzt wo du darauf zeigst, ja. Ich würde fast meinen, dass der Schuhabdruck in der Pfütze vorher nicht zu sehen war. Genauso wie der Umriss des feuchten Hosenbeins. Wird es deutlicher, wenn man darum weiß?"
"Probieren wir es aus. Nochmal!"
Die Ente schwebte empor. Und sowohl der Schuh in der Pfütze, als auch das befeuchtete Hosenbein nahmen weiter Kontur an. Ohne, dass er etwas hätte sagen müssen, konzentrierte Magane sich nun ausschließlich auf diesen Szenenbestandteil und kurz darauf konnten sie die Szene vollständig betrachten, inklusive eines Abbildes des sadistischen Assistenten, wie dieser sich unbewusst zum Tatzeitpunkt selber projiziert hatte. Magane fror den Moment ein. Sebastian von und zu Perez stand mit ausgesprochen zufriedenem Lächeln im schadenfrohen Gesicht neben dem Zuber und setzte das Spielzeug regelrecht sanft im Wasser ab.
Wilhelm befeuchtete sich nervös die Lippen und räusperte sich, während sie nur unbewegt Sebastians Abbild betrachtete.
"Der Vorteil ist, dass sich dadurch extrem genau sein Handlungsbereich eingrenzen lässt. Wozu auch immer das später gut sein mag. Aber... es ist auf jeden Fall gut."

Der nächsten Tür näherten sie sich in einhelligem Schweigen. Der Kollegin war offensichtlich nicht danach, ihn mit vielen Worten auf das Kommende vorzubereiten.
Ihnen öffnete sich die Szenerie der Pathologie im Keller des Wachhauses am Pseudopolisplatz. Inklusive des Geiers, der dösend in seiner Ecke hockte. Der Raum war leer und sauber aufgeräumt, die Schränke geschlossen, die Tische blank poliert. Sonst... nichts.
Wilhelm runzelte verwirrt die Stirn. Was daran stellte einen Alpt...
Unter einer der Arbeitsplatten der Obduktionstische regte sich ein Gegenstand, als wenn dieser entnommen und angehoben würde. Ein Diktierdämonenkasten schwebte empor - und wurde scheinbar geschüttelt. Dem Gezeter des hohen Stimmchens gesellte sich eine fast gelangweilte, eher aristokratisch samtweiche Stimme hinzu.
"Was zeichnest du normalerweise auf?"
Wilhelm holte soeben Luft, um Magane darum zu bitten, auch hier von der neu entdeckten Möglichkeit Gebrauch zu machen, doch diese kam ihm zuvor. Sebastians Bild musste sich ihr so eingebrannt haben, dass sie - einmal um seine Gegenwart in diesem Traum, an dieser Stelle wissend - keinen zweiten Gedanken daran verschwenden musste, ihn klar und deutlich vor Augen zu haben. Sein Abbild in diesem manipulierten Szenario entstand vollständig und ohne die leiseste Verzögerung mit dem nächsten Wimpernschlag. Der Aggressor stand locker im eleganten Anzug neben dem Tisch, eine Hand in seine Hosentasche versenkt, in der anderen neugierig den kleinen Kasten betrachtend. Auf die Antwort des Nutzdämons, er würde Obduktionsberichte protokollieren, leuchtete regelrecht ein böses Lächeln auf dem Gesicht des anderen Vampirs auf. Er stellte den Kasten auf dem Tisch ab. "Dann erzähl mir mal von all den Toden, die du aufgezeichnet hast." Er steckte beide Hände in die Hosentaschen, was sein Jackett in einen aparten Faltenwurf legte, ihm aber ebenso unbewusst wie gleichgültig zu sein schien, und begann beim Zuhören durch den Raum zu spazieren, sich alles mit distanziertem Interesse anzuschauen. Der Diktierdämon während dessen legte mit Maganes Stimme los.
Wilhelm folgte der Projektion des Assistenten und beobachtete dessen Gesicht. So etwas wie zarte Enttäuschung zeichnete sich in Sebastians Mimik ab. Dessen Augenbrauen zogen sich minimal zusammen und seine Lippen schienen etwas schmaler zu werden, als seine Mundwinkel sich leicht neigten. Sebastian seufzte lautlos und flüsterte kaum hörbar: "Langweiler und Stümper!" Die Schlussfolgerung lag auf der Hand. Der Andere hatte sich Inspiration für dessen eigenen "Projekte" erhofft. Wie konnte man nur so leben, so sein? Und der Alte hatte in seinem bösartigen Assistenten gewissermaßen ein Ideal gesehen, trauerte dieser Kreatur noch immer hinterher!
Die geträumte Magane betrat ihren hiesigen Arbeitsplatz und die versehentliche Selbstprojektion des bösartigen Vampirs eilte ihr mit vorfreudigem Lächeln voraus in den Nebenraum. Wilhelm schloss sich der Prozession an und blieb im Türrahmen stehen.
Drinnen in dem kleinen Büro saß eine Zwergin am Schreibtisch, Avalania von Gilgory, erinnerte er sich vage an deren Namen. Sie polierte ihre kleine Axt und in Wilhelm stieg bei diesem Anblick eine ungute Ahnung auf zu dem, was gleich geschehen könnte, um aus einem harmlosen Gespräch zweier Kolleginnen einen Alptraum zu schaffen. Ein schneller Blick zu Sebastians Gesicht verstärkte die Befürchtung. Dessen Augen funkelten um die Wette mit dem polierten Schneideblatt der Waffe. Und dann glitzerte das blanke Metall durch den Raum, folgte einer imaginären Flugbahn, die es unausweichlich in Richtung der geträumten Hexe führte.
Wilhelm wich instinktiv einen Schritt zurück. Diesmal konnte er den Blick nicht zum wahren Schuldigen lenken, diesmal hörte er das dumpfe Reißen des Fleisches, das Bersten der Knochen, immer von neuem, das Spritzen, Kleckern und Fließen von Blut, das stete Tröpfeln. Er hörte diese Geräusche lauter noch, als Maganes Schmerzensschreie. Und frisches rot füllte sein Blickfeld. Es spritzte überall hin. Der Boden war voll mit Blut, Pfützen, Rinnsalen!
Er schloss die Augen und krallte die Hände in seine Hosenbeine.
Eine fremde Erinnerung gesellte sich dazu und überrollte ihn mit plötzlicher Wucht. Ophelias! Er erinnerte sich in Form ihrer Gedanken, als wäre er an ihrer Stelle, als wäre es sein Blut, das alles tränkte, während der Igor seinen aufgerissenen Hals allein mit den Händen abzupressen versuchte, während sie aneinander gedrängt im Finstern eines Sarges herumgeschleudert wurden von dem wahnsinnigen Angreifer außerhalb. Alles klebte vom warmen Blut und der Körper trommelte in seinem Kampf ums Überleben, pumpte mehr und mehr Blut, verschwendete es nach draußen.
Die verschiedenen Eindrücke überlagerten einander.
Durst! Unsagbarer Durst!
Die grausamen Geräusche stoppten und er spürte für einen Moment nur sein eigenes Zittern und den verkrampften Kiefer.
"Wilhelm? Was ist los mit dir? Ich habe den Traum angehalten. Sollen wir lieber rausgehen?"
Er konnte nur stumm nicken. Dann löste sich das typische Gefühl der Gedanken-Reise auf, wie zerfasernder Nebel. Über sein Gesicht strich kalter Wind und die Düfte der Kräuter um sie beide herum bedrängten ihn regelrecht, nach der relativen Geruchlosigkeit der Gedankenwelt.
Ophelia... wie hatte er sie vergessen können? Nicht... gänzlich. Aber... er sollte sie besuchen. Wollte es. Sie hatte so viel durchgemacht. Magane war nicht die einzige, die nach dem Aufenthalt in diesem Keller litt, ganz sicher nicht. Ein Krankenbesuch. Bestimmt wäre er inzwischen der letzte, der mit diesem Ansinnen aus dem Rettungstrupp vorstellig werden würde? Dabei war sie so kostbar! Er hatte sich nicht ohne Grund für sie eingesetzt gehabt. Und doch... erst dieses blutige Massaker in Maganes Träumen erinnerte ihn an sie? An seinen Wunsch, zu wissen, wie es ihr ginge? All das Blut...
Er öffnete die Augen - und begegnete prompt dem vorwurfsvollen Blick Maganes.
"Wann hast du zuletzt was Ordentliches getrunken?"
Seine Gedanken kamen stolpernd ins Hier und Jetzt zurück. Er fühlte fast so etwas wie Schuldbewusstsein. Nach kurzer Besinnung antwortete er ihr leise.
"Vor fünf Tagen?"
"Trotz der besonderen Umstände? Kein Wunder, dass dich die Nachtschichten so fertig machen, wenn du obendrein Diät hältst!"
Die soeben gesehenen Bilder wirbelten durch seinen Sinn. Maganes Frage prallte auf Raculs hämische Argumente. Und der Durst verspottete sein Zögern ohnehin, ließ ihn sich verwirrt selber in Frage stellen. Wie sollte er ihr in diesem Zustand darlegen können, was ihn bewegte, was ihn hemmte?
"Das ist keine Diät. Das ist... ich..."
"Ja?" Ihr Blick blieb unnachgiebig und missbilligend.
"Es hat sich keine... passende Gelegenheit ergeben."
Nun wirkte sie leicht spöttisch. "In Ankh-Morpork?"
Er konterte ihren Blick schweigend. Sie würde ihn auslachen, wenn er ihr mehr sagte, nicht wahr? Benahm er sich lächerlich?
Sie wartete kurz, ob da noch was von seiner Seite aus käme, dann rappelte sie sich entschlossen auf. "Gut. Ich muss das nicht glauben. Aber so können wir nicht weitermachen. So kannst du nicht weitermachen. Durstig schaffst du die anderen Träume nicht. Und dem Problem der sich angeblich nicht bietenden Gelegenheit, ein paar Schlucke zu trinken, lässt sich begegnen."
Er wich ihrem Blick aus. Sie wollte ihm helfen, das war deutlich herauszuhören. Und das war sehr nett. Irgendwie. Aber...
Er konnte den Gedanken nicht einmal beenden, da kam sie auch schon zurück auf die Veranda, in der einen Hand eine dunkle Flasche, in der anderen ein Glas. Sie setzte sich ihm wieder gegenüber, entsiegelte die Flasche demonstrativ, schenkte ihm ein und reichte ihm das Glas mit strengem Blick.
Er nahm es notgedrungen entgegen. Aber seine Hand sank wie mit einem Bleigewicht beschwert in seinen Schoß und sein Blick klebte zu gleichen Teilen verunsichert, wie sehnsüchtig an dem süßen Lebenselixier. Er konnte nicht einmal verhindern, dass sich seine Zähne aufgrund des Durstes langsam herausfuhren. Er musste trocken schlucken.
"Was ist das Problem?" Ihre Stimme. Klar und kritisch aber auch neugierig. "Erklärs mir!"
Er sah entschuldigend zu ihr auf, das Glas zwischen seinen Fingerspitzen haltend.
"Das Problem ist, dass man nicht sicher sein kann, dass das Blut freiwillig gegeben wurde. Wirklich freiwillig."
Sie runzelte leicht die Stirn. Dann winkte sie rigoros ab. Seine Bedenken schienen ihrer Meinung nach zweitrangig im Vergleich zu seinem Wohlergehen.
"Okay, nein, das kann man nicht. Da kann man sich nur sicher sein, wenn mans direkt von der Quelle nimmt. Aber das kann ich dir leider nicht anbieten. Also, trink!"
Fast hätte er gelacht. War die Situation wirklich so einfach für sie zu lösen? Und dachte sie, ihm ginge es mit seinen Skrupeln genauso? Andererseits hatte sie Recht. Er war an einem Traum gescheitert! An einer nicht realen Situation. Wie sollte er sich in einer echten Notlage zusammenreißen können, falls diese in den nächsten Tagen aufträte, wenn er sich nicht einmal im Anblick einer Illusion im Griff hatte? Und solange Racul nicht rechtskräftig verurteilt und er selber von den Nachtschichten erlöst wäre, bestand durchaus die Gefahr weiterer Zwischenfälle. Der Alte würde nicht locker lassen. Dazu kam, dass er sich nicht nur schuldig fühlte, sondern auch schmutzig. Scheinheilig gar! Wem wollte er was vormachen? Früher hatten ihn solche Bedenken nicht aufgehalten. Es hatte Situationen gegeben, in denen er seinen eigenen Durst über das Zögern einer... Gespielin gestellt hatte. In denen er vorsichtig zwar aber dennoch... unangemessen überheblich... nachgeholfen hatte, um eine Entscheidung zu seinen Gunsten zu beschleunigen. Womit nahm er sich also das Recht heraus, jetzt so zu tun, als wenn er etwas Besseres sei, als wenn er ein moralisches Anrecht darauf hätte, pikiert zu tun und den Märtyrer zu spielen, wenn so viel davon abhing, dass er die ihm übertragenen und die ihm anvertrauten Aufgaben erfüllte?
Magane konnte er so schließlich auch nicht helfen. Dabei hatte er ihr sein Wort gegeben, es zu versuchen!
Er sah sie mit schiefem Lächeln an - und hob das Glas. Er atmete tief das schwere Aroma ein und begann langsam und bedächtig, das Glas zu leeren.
Sofort verstummten die blutigen Bilder des Traumes und die nagende Gier in seinen Eingeweiden sank in ihn zurück, wie modriges Herbstlaub, das von wucherndem Moos zärtlich verschlungen wurde. Er leckte sich erleichtert über die Lippen.
Magane sah ihn zufrieden an.
"Besser?"
Er nickte. "Danke!"
"Keine Ursache. Na gut. Belassen wir es für heute dabei."
Inwendig atmete er bei diesen Worten auf. Mochte seine körperliche Gier auch zum Schweigen gebracht sein, die hämische Stimme in seinem Kopf war es nicht. Und er war nicht unbedingt erpicht darauf, Magane in diesem Moment sein Inneres zu präsentieren.

~

Nur noch wenige Stunden, ehe er wieder hinunter an die Gruft musste. Die Sitzung am Vormittag mit der Hexe und die eine Auftragsarbeit in der Werkstatt, an der er seitdem noch weitergearbeitet hatte, das alles zehrte merklich an ihm. Er fühlte sich nicht gut. Aber diese Dinge hatten ihre Berechtigung und Notwendigkeit. Die Zeit zwischen den Nachtschichten fühlte sich so oder so unnatürlich kurz an. Er durfte sich nicht gehen lassen, wenn er überhaupt noch irgendwas in den hellen Stunden schaffen wollte. Natürlich war das anstrengend. Aber er konnte den Alltag um die Wacheverpflichtungen herum ja auch nicht einfach abschalten. Er würde sich später ausruhen.
Wilhelm blickte an der altehrwürdigen Fassade des Hauses empor, vor dem er auf der Straße stand.
Der Gedanke an Ophelia war nach der Sitzung mit Magane allenthalben hartnäckig aufgetaucht und hatte sich nicht mehr beiseite schieben lassen. Er hätte längst zu ihr gehen sollen. Nun ließ dieser Wunsch sich nicht wieder vergessen. Und das war ja auch nicht nötig. Er wollte ja zu ihr. Und sie würde ganz sicher nicht übermäßig viel Unterhaltung von ihm erwarten. Ein kurzer Krankenbesuch, aufrichtig und ehrlich gemeint. Das wäre höflich. Und dann wüsste er auch darüber Bescheid, wie es ihr wirklich ginge. Einmal vorsprechen, ihr endlich persönlich und unter vier Augen begegnen, ihr beteuern, wie froh er war, dass er hatte helfen können und nun endlich doch noch alles für sie gut werden würde. Mehr nicht.
Sein Blick wanderte von links nach rechts über die gesamte Frontfläche. Die Art des Baustils ließ mindestens einen weiteren Gebäudeflügel auf der Rückseite erahnen und er nahm an, dass dort noch ein kleiner Garten anschlösse. Purer Luxus in einer Stadt wie der Großen Wahoonie. Immerhin waren Bauflächen Mangelware und Grundstücke teuer.
Er räusperte sich fast schüchtern.
Das Haus war groß und... traditionell? Es strahlte den alten Standesdünkel aus, der an Generationen einflussreicher Vampire gemahnte. Er selber hingegen...
Der Anblick verwunderte und verunsicherte ihn.
Er hätte Mina von Nachtschatten nicht so eingeschätzt gehabt, dass ihr an einem präsentativen Auftreten gelegen wäre. Andererseits hatte er sich auch nie die Mühe gemacht gehabt, ihren Namen in der hiesigen Städtepolitik zu verfolgen oder gar bis in überwäldische Bereiche hinein zu recherchieren. Vielleicht war das ein Fehler gewesen? Von was für einem Geschlecht war Ophelia aufgenommen worden? Spätestens mit ihrem Auftritt vor dem Uralten hatte von Nachtschatten bewiesen, dass sie den Schneid dazu besaß, all die traditionellen Werte hoch erhobenen Hauptes zu vertreten. Vielleicht unterstrich dieses eindrucksvolle Anwesen lediglich einen Wesensaspekt der Kollegin, den diese während der Ausübung ihrer Wachetätigkeiten außen vor ließ? Würde sie ihn überhaupt empfangen? Er konnte mit keinem gewichtigen Namen aufwarten. Racul hatte nur zu deutlich gemacht, wie höherrangige und ältere Clanangehörige über ihn denken mochten. Und nur, weil er ein Kollege war... Das hier war privat. Es könnte passieren, dass Mina von Nachtschatten auf den formellen Weg bestehen würde, gemäß dem er sich erst im Voraus mit einigen gesiegelten Zeilen auf teurem Büttenpapier anzukündigen hätte. Dass sie sein plötzliches Auftauchen als Missachtung ihres Hoheitsgebietes betrachten würde. Er hatte sich nie großartig Gedanken über solche Traditionen gemacht, da er bisher darauf verzichtet hatte, eventuelle Möglichkeiten auf dem gesellschaftlichen Parkett auszureizen. Er musste schließlich nicht außer Haus, um seiner Kunst nachzugehen, um einflussreiche Würdenträger persönlich zu treffen. Dazu fehlte ihm sogar die Zeit. Er hatte sich einen dermaßen guten Ruf erarbeitet in den ganzen Jahren - die Kunden kamen zu ihm, nicht umgekehrt.
Wilhelm senkte den Blick von den Ziertürmchen über die Wasserspeier und die gotischen Bogenfenster. Sein Augenmerk blieb an dem schweren Türklopfer haften. Die hässliche Fratze wirkte wenig anheimelnd. Stattdessen wappnete er sich innerlich, trat vor und zog am Seil des Türgongs.
Nach einem Moment des Wartens öffnete ihm eine Angestellte. Irgendetwas an ihr war irritierend, da sie keine deutlich zuzuordnende Dienstmädchenuniform trug. Kleine Dinge, die aber von Ungereimtheiten kündeten. Eine Ausbeulung in einer der Schürzentaschen, die klassischerweise nur zu Dekor-Ornamenten zu verkommen hatten. Ein wirrer Lockenschopf, ungezähmt, beinahe ignorant zur Schau gestellt, gänzlich ohne irgendeine Art von Häubchen. Ein zarter Duft von Hühnerbrühe, welcher an ihren Kleidern zu hängen schien. Viel zu robustes Schuhwerk, das deutlich von weiten Strecken über das städtische Trottoire kündete, denn vom lautlosen Treppensteigen in diesem Kasten. Vielleicht erfüllte sie in diesem Haushalt eher die Stellenbeschreibung des 'Mädchen für Alles'?
"Ja, bitte?"
Ihr Blick und ihre Haltung kündeten von Vorsicht und Misstrauen, ja, sogar von der hohen Wahrscheinlichkeit dessen, dass sie ihre hinter der Tür verborgene Hand nach einem Gegenstand zu strecken gedachte, der ihr zur nachhaltigen Verteidigung ihrer Position im Türrahmen gereichen konnte.
Wilhelm beeilte sich, sich vorzustellen.
"Guten Tag! Wilhelm Schneider mein Name. Ich bin ein Kollege der Damen und wollte mich persönlich nach Fräulein Ziegenbergers Zustand erkundigen, ihr einen Krankenbesuch abstatten." Mit peinlicher Plötzlichkeit fielen ihm seine Visitenkarten ein und er zückte das Etui. Wenigstens das konnte er vorweisen. "Bitte... wenn Sie mich ankündigen könnten?" Er reichte ihr eines der edlen Kärtchen und sie nahm es entgegen, wobei sie aber nur einen flüchtigen Blick drauf warf, ehe sie die Tür mit der kurz angebundenen Bitte vor seiner Nase schloss, zu warten.
Wilhelm stand einigermaßen aus dem Konzept gebracht vor der schweren Tür. Das war... unhöflich gewesen. Für ein Dienstmädchen eines solchen Anwesens. Normalerweise wurde selbst ein ungebetener Gast zumindest ins Foyer gelotst oder in den Tagesraum, ehe man ihn, bei Bedarf und nach angemessen zermürbender Wartezeit, mit einer fadenscheinigen Ausrede abspeiste. Sein exzellentes Gehör lauschte fast automatisch nach den Dingen, im Inneren des Hauses. Und wirklich konnte er Absätze auf Stein hören und leise Worte, nachklingend in der kahlen Eingangshalle.
"Wieder einer von denen, die behaupten, sie zu kennen. Diesmal sogar mit schick gefälschter Karte, Ma'am. Ziemlich widersprüchlich, sieht nicht nach Wächter aus, auf der Karte steht auch was anderes... hat sich nicht mal die Mühe gemacht, so zu tun als ob. Soll ich ihm was über den Kopf kippen?"
"Tatsächlich? Zeig mal her... oh! Das... es handelt sich bei ihm wirklich um einen Kollegen. Allerdings... hm... Ich kümmere mich selber darum. Danke, Bernadette! Bereite nur ruhig weiter das Abendessen vor."
"Wie du meinst, Ma'am."
Stille. Dann öffnete sich fast unvermittelt mit langsamem Schwung die Tür. Mina von Nachtschatten ließ ihre Hand auf deren Klinke ruhen und betrachtete ihn mit diesem typisch emotionslosen Blick und einem neutralen Nicken.
"Wilhelm..."
Er wusste nicht so recht, womit er gerechnet hatte. Aber nicht damit. Ihre Körpersprache vermittelte Distanz und Ablehnung. Und so war sie ja auch stets innerhalb des Wachhauses ihm gegenüber aufgetreten. Aber... hatte er nicht zur Genüge bewiesen, seinen Anteil beizutragen? Hatte nichts von alldem, was er in den letzten Wochen Ophelia zuliebe auf sich genommen hatte, ihre Haltung zu ihm mildern und ihren Ersteindruck zu ihm revidieren können? Wie er sich um Rogi gekümmert und Senray in Schutz genommen hatte? Wie er sich auch ihren Anweisungen protestlos unterstellt hatte! Sah Mina von Nachtschatten noch immer nur einen egoistischen Schmarotzer in ihm?
Und warum traf ihn der Gedanke so?
Er räusperte sich und versuchte, ihren Blick zu erwidern.
"Ma'am! Ich möchte mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass ich es versäumt habe, meinen Wunsch, Ophelia zu besuchen, anzukündigen. Ich hoffe, das stellt trotzdem kein allzu großes Hindernis dar? Ich versichere auch, dass ich nicht lange bleiben oder sie zusätzlich erschöpfen möchte. Nur ein kurzer Krankenbesuch, um ihr meine Anteilnahme auszusprechen und... naja... ich... falls es möglich wäre..."
Er geriet durch ihren reglosen Blick immer mehr ins Stocken und verhaspelte sich, bis er schlicht verstummte und darauf wartete, dass sie ihr Schweigen brechen würde.
Die schlanke Kollegin legte ihre Hände vor dem Körper flach aneinander, wodurch sie die Tür losließ, und sah kurz auf ihre Schuhe, anscheinend auf der Suche nach den richtigen Worten, ehe sie ihn wieder ansah.
"Vielen Dank! Ich werde ihr deine guten Wünsche ausrichten."
Dann wieder Schweigen und der unverrückbare Blick, ohne Schuldgefühl oder Bedauern.
Er stand wie vom Blitz getroffen auf dem Treppenabsatz und starrte sie an.
"Ich... ich hatte gehofft, sie persönlich..."
"Das kann ich mir vorstellen. Aber nein - zumindest nicht jetzt."
"Ma'am, wenn es daran liegt, dass wir keinen guten Start miteinander hatten und ich deine Bedenken auch bisher nicht zerstreuen konnte, dann möchte ich betonen, dass..."
Sie unterbrach ihn mit einer Geste.
"Wilhelm, nichts für ungut, aber es geht hier nicht in erster Linie um meine Haltung dir gegenüber. Ophelia ist..." Sie suchte für einen Moment nach den richtigen Worten. "Lass es mich so formulieren: Was sie mit unserer Spezies verbindet sind nicht unbedingt die angenehmsten Erinnerungen. Sie stand zu oft im Fokus vampirischen Interesses und das Resultat war jedes Mal traumatisch. Ganz zu Schweigen von den jüngsten Ereignissen. Sie ist noch weit entfernt von einem Zustand, den man in irgendeiner Art und Weise als stabil bezeichnen kann. Weder physisch noch mental. Ich werde ihr in dieser Verfassung keinen ihr unbekannten Vampir vorstellen und riskieren, dass sie in alte Muster zurückfällt, die ihr schaden. Ich hoffe, du hast dafür Verständnis."
Wilhelm fühlte sich, als wenn die Frau vor ihm, ihn mit Eiswasser übergossen hätte. Er durfte nicht zu ihr, weil er ein Vampir war! Der Fakt, dass sie selber Vampirin war, schien plötzlich bedeutungslos. Ebenso wie die seit Tagen anwachsende Gewissheit in ihm, kein "echter" Vertreter seiner Art zu sein, so degeneriert und nutzlos wie er war. Es genügte die schlichte Feststellung, dass er gefährlich war. Unangemessen. Ein unerwünschtes Individuum mit Vorgeschichte. Er würde sich niemals den Kollegen gegenüber beweisen können, niemals wirklich zu ihnen dazu gehören. Er konnte ja nicht einmal unter Einsatz seiner Existenz davon überzeugen, genug wert zu sein, um in ihrer Nähe geduldet zu werden. Der Alte hatte Recht...
Er schluckte schwer und wich mit langsamem Nicken ihrem Blick aus. Er ging einen kleinen Schritt rückwärts. Dann noch einen. Er brachte Distanz zwischen sich und die unbestechlich urteilende, fast schon richterliche Instanz.
Er durfte jetzt nicht erbärmlich werden. Keine Szene machen. Musste der Realität möglichst gelassen ins Auge sehen. Es hatte ja keinen Sinn, sich sonst wie zu gebärden. Von Nachtschatten handelte im besten Interesse ihres Mündels. Daran musste er glauben. Und dann war es ja auch logisch. Sie hatte Recht. Hatte er das nicht längst auch selber erkannt? Er hatte in so vielen Bereichen unter Beweis gestellt, dass er zu Fehltritten neigte. Wollte er Ophelia der Gefahr durch sich aussetzen? Und sei es, versehentlich? Nein, ganz sicher nicht! Zumal ein Besuch durch ihn für Ophelia nur Unsicherheiten und Ängste bedeuten würde, während solch ein Besuch gleichzeitig für ihn selber nichts anderes bewirken könnte, als sein Ego zu streicheln. Wollte er womöglich eigentlich nur die Botschaft übermitteln, was für einen Einsatz er ihr zuliebe gezeigt hatte und dass sie ihm irgendetwas dafür schulden würde? Warum war ihm der Gedanke nicht schon früher gekommen, wie egoistisch es wirken musste, bei ihr vorzusprechen, wo sie doch nichts weiter machen konnte, als mit einem quasi erzwungenen Dank zu reagieren?! Und dann der Hinweis darauf, dass sie noch immer nicht als stabil gelten konnte! Sie litt, heilte. Wie selbstbezogen war er eigentlich, nur zu sehen, was von Nachtschattens Ablehnung für ihn bedeuten mochte, während es ihm doch um Ophelias Wohlergehen gegangen war... noch immer ging? Sie wusste schließlich um seinen Anteil an ihrer Rettung, nicht wahr? Sie hatte ihn gesehen? Wenn sie mit ihm hätte reden wollen, dann hätte sie das längst von sich aus durchblicken lassen. Ein wenig Nachdenken hätte ihm diese Schande hier - und ihr das Bedauern, über ihren vampirischen Vormund deutlicher werden zu müssen - ersparen können. Er hatte es ja quasi herausgefordert. Was blieb ihm jetzt noch zu tun, um ihr zu helfen, ihr Gesicht zu wahren?
Er trat einen weiteren Schritt zurück.
Mina von Nachtschatten spürte wohl trotz ihrer mentalen Unzugänglichkeit seine Unsicherheit. Sie wirkte aufmerksamer als zuvor, ihr Blick war jetzt regelrecht forschend auf ihn gerichtet.
"Wilhelm, das ist nichts Persönliches."
Und gerade diese Formulierung zeigte umso mehr, dass die Vorgesetzte nahe daran sein mochte, auf eben jene Ebene zu wechseln; die dünne Trennlinie zwischen 'Kollegin' und 'persönlich Interessierter' zu überschreiten, sei es nur, um sich nach seinen Gefühlen in diesem Moment zu erkundigen. Nein! Das würde er nicht schadlos überstehen. Er konnte nicht lügen, nicht in all diesem Chaos. Also würde er ehrlich antworten und das war ausgeschlossen. Gerade ihr gegenüber. Wie sollte ausgerechnet die Nachtschatten schon seine neuerlichen Zweifel und Existenzängste verstehen? Ausgerechnet sie, die in einem Erbschloss residierte und eben erst gemäß der alten Traditionen Anspruch auf einen Menschen erhoben - und diesen auch erworben - hatte? Er zog längst viel zu viel Aufmerksamkeit auf sich! Besser wäre es, er würde endlich den Mund halten, alle anderen ihre Arbeit machen lassen und unsichtbar werden. Das würde Peinlichkeiten und Verletzungen auf allen Seiten vermeiden. Was auch immer er sich heimlich erhofft haben mochte von seinen Mitwächtern, von der eingeschworenen Gemeinschaft des Rettungstrupps... er war nicht dafür vorgesehen. Er hatte es früher doch auch geschafft, ganz für sich zu bleiben. Wenn er nur wieder dieserart in den Hintergrund treten und zu seiner sonst üblichen ironischen Distanz zu den Menschen zurückfinden könnte... Er würde es seinen Kollegen dadurch deutlich leichter machen, mit ihm umzugehen.
Er wischte sich unauffällig die leicht zitternden Hände an den Hosenbeinen ab und nickte.
"Ja... es... ich habe nicht daran gedacht... du hast natürlich Recht, Ma'am. Es... bitte richte ihr einfach meine herzlichsten Genesungswünsche aus. Es kommt nicht wieder vor. Einen guten Abend noch."
Und damit drehte er sich schnell um und ging.

~

Racul schien Gefallen daran gefunden zu haben, das beidseitige Schweigen zwischen ihnen zu kultivieren. Während Raistan zu Beginn dieser neuerlichen Nachtschicht den Bann um Wilhelm wob, standen sie einander gegenüber und sahen sich in die Augen. Wilhelm konnte spüren, wie der Zauberer ihm einige nachdenkliche Blicke zuwarf. Doch sowohl Raistan, für dessen Arbeit, als auch er selber, im Angesicht des Gefangenen, sie benötigten ihre Konzentration und Kraft jeweils vollständig. Wilhelm wollte keiner der feindlichen Krallen einen Hebelpunkt zu seinen Gedanken bieten. Er durfte keine seiner Ängste und Zweifel heraussickern lassen. Es fiel ihm so schwer. Und der Alte... dessen immer breiter werdendes Grinsen ließ ihn zittern. Kaum bekam er mit, wie Raistan sich verabschiedete. Stattdessen... dieses Grinsen. Und dieses Schweigen. Warum ließ der Greis sich heute so viel Zeit damit, ihn anzugreifen? Was hatte er vor? Hielten die Gedankenwälle oder... Warum nur grinste der Alte so? Was...
"Guten Abend, Wilhelm! Wie geht es dir heute, mein Junge?"
Wilhelm zuckte leicht zusammen. Die nette Tour? Wieder? Er hatte sich auf Kampf und Trotz eingeschworen gehabt, auf Widerworte. Aber nicht auf Mitgefühl. Selbst, wenn dieses geheuchelt sein musste, für einen so wertlosen Jungvampir wie ihn. Er brachte es nicht über sich, zu antworten.
"Hm. Anscheinend nicht so gut? Die kleine von Nachtschatten hat dich in deine Grenzen verwiesen? Mach dir nichts draus. Sie ist ein überheblicher kranker Fisch! Verträgt kein Blut, verträgt keine Emotionen, kann nicht lesen und mischt sich in alles ein, was sie nichts angeht. Obendrein war dein Wunsch, Ophelia zu besuchen, ohnehin lächerlich. Vergiss sie einfach! Anders steht es da um die mannigfachen übrigen Gründe, die dir Unwohlsein begründen könnten. Da gäbe es einiges, worüber es sich mehr lohnen könnte, sich das Köpfchen zu zerbrechen. Meinst du nicht, dass deine Erschöpfung mit deinem sonderbaren Bemühen um das Wohlergehen der Vampirschlächterin zusammenhängen könnte? Du bist wirklich in ihre Einflusssphäre getappt und hast dich ihr sogar auf geistigem Gebiet ausgeliefert. Denkst du, das war weise? Denkst du das wirklich? Selbst du als Futterfreund wirst nicht leugnen können, wie sehr dir allein die Gegebenheiten dieses Haushaltes zugesetzt haben. Und dann auch... du durftest einen Blick auf meinen einstigen Erwählten und dessen Kunst werfen. Und hast längst eingesehen, dass du ihm nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen könntest. Deine Anstrengungen, allein nur dessen Wirken zu erfassen, geschweige denn, es rückgängig zu machen, sind damit zum Scheitern verurteilt. Lohnt es da überhaupt, dich der aggressiven magischen Strahlung auszusetzen? Dich mit deinen peinlichen Schwächen auseinanderzusetzen? Du lässt dir sogar von ihr vorschreiben, wann du zu trinken hast! Man könnte meinen, dass du ihr die Kontrolle über dich überlässt. Vielleicht bist du einfach zu jung für diese Situation, zu unerfahren? Zu sehr... Waisenkind? Die Hexe spricht etwas tief Verschüttetes in dir an, wenn sie dich scheinbar so bemuttert. Ich verstehe das. Aber denke nicht, es würde so bleiben! Sie braucht kein nutzloses Anhängsel. Sie will deine Dienste, um die Alpträume loszuwerden. Und wenn sie merkt, dass sie sich dafür den Falschen ausgesucht hat, dass du unfähig und wertlos bist für ihre Zwecke... dann wird sie dich loswerden wollen. Erst recht, wenn ihr klar wird, wie instabil du bist - dass du eine Gefahr für ihre eigene Brut bist. Und das bist du, habe ich Recht? Wie lange es wohl dauert, bis du der Verlockung verfällst? Du weißt, dass du zu schwach bist, um ewig standzuhalten."
Wilhelm versuchte, die aufsteigende Verzweiflung zu verbergen. Er hatte alles daran gesetzt, die verstrichenen Stunden aus seinem bewussten Denken herauszuhalten und die oberflächlichen Themen wie in einer mentalen Schaufensterauslage zu drapieren. Er hatte seine Verteidigung aufgebaut in dem Glauben, das Blut habe ihm neuen Elan verliehen, mehr Durchhaltevermögen geschenkt. Aber offensichtlich hatte er sich nur etwas eingeredet. Zu schwach, zu dilettantisch. Warum versuchte er es überhaupt noch?
Ein Zucken in Raculs Mundwinkel verriet diesen und in letzter Sekunde riss Wilhelm sich neuerlich zusammen. Schnell verstärkte er die Gedankenwälle, die er in seiner Verzweiflung hatte sinken lassen. Er wich ängstlich zurück von den beiden Barrieren.
Und der Alte funkelte ihn vergnügt aus kohlschwarzen Augenhöhlen an.
"Keine Angst. Ich tue dir nichts. Wie sollte ich auch, nicht wahr?" Einen Moment betrachtete der Uralte ihn mit fast schon sanftem Lächeln auf den blassen, dünnen Lippen. Er lachte leise und krächzend. "Du stinkst regelrecht vor Angst. Aber vielleicht ist das ja sogar angemessen. Du beginnst zu verstehen. Du entwickelst Respekt. Das ist nie verkehrt. Auch, wenn es etwas spät kommt. Und vermutlich nicht genügt, um mir ernsthaft Tribut zu zollen? Oder hast du dich bereits dazu durchgerungen, nicht nur nutzlosen Hexenweibern und Dämonengezücht beizustehen, sondern deine mangelhaften Möglichkeiten einer höheren Sache zu widmen, sie vielmehr in meine Dienste zu stellen?"
Wilhelm schüttelte den Kopf.
Der Vampir in der Gruft lächelte voller Abscheu auf ihn herab. Dann, plötzlich, eine Irritation. Raculs Blick huschte nach oben, als wenn ihn etwas über der Raumdecke abgelenkt hätte. Sein stechender Blick bekam etwas Intensives, Konzentriertes. Und seine Stimme wurde zu einem leisen Flüstern, leicht gedehnt, wie in Gedanken. "Macht nichts. Zumindest für mich bedeutet das keinen nennenswerten Nachteil. Wie das für dich aussieht, steht dabei zwar auf einem anderen Blatt. Aber du scheinst ja unbelehrbar zu sein."
Wilhelm war verunsichert. Was hatte dieses Verhalten zu bedeuten? Das war neu. So hatte der Gefangene sich bisher noch nicht benommen. War außerhalb der Gruft, womöglich oben im Haus des Anwesens, etwas geschehen, das für sie beide hier unten von Bedeutung wäre? Ein Eindringling? Aber oben gab es eine zusätzliche Wache, um neugierige Passanten vom Grundstück fernzuhalten, so dass sie hier unten nicht von Katastrophentouristen überrascht würden.
Ohne Raculs angriffslustige Monologe wurde es ungewohnt ruhig im Gang und nach anfänglicher Unsicherheit, bei dem Anblick des scheinbar meditierenden Vampirs, begann Wilhelm sich langsam zu entspannen. Vielleicht würde diese Nachtschicht nicht ganz so schrecklich werden, wie befürchtet? Natürlich entband ihn das nicht von dem immerwährenden Ringen um seine mentalen Mauern. Er musste vorsichtig bleiben. Aber vielleicht bliebe ihm Schlimmeres erspart?
Die Augen des Alten öffneten sich langsam und das absolut boshafte Schimmern in ihnen ließ Wilhelm frösteln.
Und dann hörte auch er das Geräusch sich langsam nähernder Schritte aus dem Gang hinter ihm. Er konnte eine Sekunde lang nicht den Blick abwenden, fühlte sich wie ein Insekt, gefangen im klebrigen Netz dieser besonderen Spinne.
"Nur zu, mein Junge! Heiße unseren Gast willkommen, so wie es sich für einen Stadtlakaien gehört."
Er drehte sich langsam um und blickte in den finsteren Gang, der zu dem Wohnbereich und den Folterzellen dieser unterirdischen Einheit führte. Ein blasser Schatten schälte sich allmählich heraus, ein dürrer Knabe, eingehüllt in die Lumpen eines Gossenkindes.
"Halt!" Raculs Stimme füllte den Gang mit einem scharfen Wispern und der Junge blieb wie angewurzelt stehen. Sein Blick ging desinteressiert an Wilhelm vorbei, der keine anderthalb Meter von ihm entfernt stand. Getrennt nur durch diese Seite seiner eigenen Bannspruch-Barriere. Das Kind hatte nur Augen für den Greis. Welcher das Wort übernahm. Leise und flüsternd. "Vor dir befindet sich eine magische Linie, die du nicht berühren darfst. Sonst fällt sie und der böse Vampir vor dir wird befreit. Sei also vorsichtig!"
Wilhelm drehte sich entrüstet um bei den Worten.
"Der böse V... was soll das? Wie kommt das Kind hierher? Oben steht eine Wache!"
Racul grinste nun unverhohlen.
"Ich weiß."
"Was..." Wilhelm schnellte wieder herum, suchte das Kind mit seinen Augen und mit tiefen Atemzügen nach Blutspuren oder sonstigen Hinweisen ab. Aber das einzige, was er roch, war der strenge Verwesungsgeruch des Alten.
Jener unterbrach ihn einfach, indem er den Knaben neuerlich ansprach.
"Hast du deinen Auftrag ausgeführt?"
Und der Gossenjunge nickte folgsam und antwortete mit deutlicher Stimme: "Die kleine Rothaarige bei den Näherinnen ist ausgeschaltet, Meister."
"Das hast du sehr gut gemacht."
Wilhelm starrte das Kind an, dessen Augen unbewegt zu dem Alten hinter ihm blickten. Und er spürte Raculs Lauern nur zu deutlich im Genick. Aber nichts davon war mehr von Bedeutung. Senray. Es gab keinen Zweifel, auf wen diese Beschreibung zuträfe. Wen Racul ausgeschaltet wissen wollen würde. Er hatte es angekündigt, hatte ihnen allen offen gedroht. Niemand aus dem Rettungstrupp wäre vor ihm sicher. Er würde sie umbringen. Einen nach dem anderen. Und hatten sie es nicht geahnt, dass er noch immer über Wege und Möglichkeiten, über Handlanger verfügen könnte? Das war der Grund dafür gewesen, die Nachwachen zusätzlich zu den Wachen oben am Haus aufzubieten. Und nun... nun bestätigte sich diese Befürchtung auf grausamst mögliche Weise? Wilhelm war stets davon ausgegangen, der alte Vampir spräche in seiner Rachsucht davon, selber Hand anzulegen. Auf den Moment seiner Entlassung zu warten, mit seinem Vergeltungsfeldzug. Das hätte zumindest die scheinbare Sicherheit geboten, diesen in der Zukunft liegenden Moment fürchten zu müssen - nicht jeden einzelnen verstreichenden Moment der Gegenwart!
"...Senray..."
Ihr Name hallte leise um ihn herum nach - und wurde garniert, von dem einsetzenden, krächzenden Lachen der Vogelscheuche hinter ihm.
Er drehte sich um, sah Raculs Freude. Und fühlte das volle Gewicht seiner Hilflosigkeit. Der Alte schüttelte mit abartiger Häme langsam den Kopf.
"Du kommst hier nicht raus. Du bleibst bei mir, bis zum Morgen. Ihre menschliche Hülle wird eiskalt und starr sein, bis du es zu ihr geschafft haben wirst, du rührseliges Ungeziefer. Lass es dir eine nachhaltige Lehre sein. Man spielt nicht mit dem Essen! Zumindest nicht nach dessen Bedingungen. Noch etwas, was deine Eltern dir nicht beigebracht haben."
Wilhelm suchte verzweifelt nach einer Lösung. Vielleicht war sie noch nicht tot? So ein schmächtiges Kerlchen... und sie war immerhin Wächterin! Sie hatte immer betont, dass sie selber auf sich aufpassen könne. Vielleicht dachte das Kind nur, es hätte seinen Auftrag vollständig ausgeführt und er könnte noch rechtzeitig zu ihr gelangen, um ihr zu helfen? Er schritt entschlossen auf das Kind zu - und wurde von der magischen Barriere schmerzhaft zurückgeschleudert.
Raculs Lachen wurde herzlicher.
Wilhelm rappelte sich wieder auf und rieb sich die Schulter. Nun gut, wenn nicht so, dann eben... anders? Das war ein Notfall! Er drängte seine Skrupel beiseite. Ein schmerzhafter Prozess. Das dort war immerhin noch ein Kind! Aber es stand ohnehin schon deutlich unter dem Einfluss eines Vampirs. Sein Eingreifen wäre damit eher eine Erlösung, für die kleine geknechtete Seele. So zumindest die Idee. Denn seine Gedanken trafen lediglich auf die Barriere und rutschten an dieser ab, wie eine Seifenblase an einer anderen. Er kam nicht durch. Im Gegensatz zum Bannkreis des Alten, der den Umständen geschuldet kein umlaufender Schutzkreis war, sondern jenen hauptsächlich in der Gruft versiegelte und dessen Gedankenausläufer in direkter Bahn zu seinen Kerkerwachen stark abschwächte, war Wilhelms Bannkreis eben doch vollständig gezogen. Zu seinem eigenen Schutz. Denn wo nichts hinaus konnte, konnte auch nichts hinein. Und sie waren sich so sicher gewesen, dass ein eventuell auftauchender Helfer diesen vorgeschalteten Bannkreis unwissentlich durch eine Berührung zerstören und ihm damit die Möglichkeit zur Verteidigung geben würde! Mit solch einer Situation hatten sie nicht gerechnet gehabt!
Seine Gedanken nahmen Anlauf, warfen sich dem Draußen entgegen. Und rutschten doch wieder ab. Er konnte nicht einmal dieses schmächtige Kind keine Armeslänge von sich entfernt erreichen! Er griff physisch danach, mehr aus einem verzweifelten Reflex heraus. Seine Hand tauchte in die Barriere, ließ sie giftgrün aufleuchten. Und zog sofort darauf ein regelrechtes Blitzlichtgewitter auf sich. Wilhelm schlitterte über den Felsboden und spürte seine Haut im Gesicht und an den Händen reißen. Er kam quasi zu Raculs Füßen zum Liegen, nur Millimeter vor der anderen Seite seines Gefängnisses. Er blinzelte empor und der Blick der ihn traf war hundertprozentiger Spott.
"Auf, auf! Wage einen neuen Versuch! Wir haben die ganze Nacht über Zeit für dieses Spielchen."
Wilhelm kam wieder auf die Füße. Seine linke Hand tat weh und kribbelte, ebenso wie seine rechte Schulter. Der Schmerz in seinen Gedanken jedoch war kein Vergleich dazu. Er hatte Senray beschützt. Hatte sie auch dann weiter vor allem und jedem beschützen wollen, als kein dämonischer Zwang mehr dazu bestand. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sie nicht mehr sein sollte! Das konnte nicht sein, durfte nicht sein! Er musste zu ihr, sie finden. Er würde das nicht glauben, er weigerte sich einfach. Genau, der Alte war ein Lügner! Er war es gewohnt zu manipulieren und zu betrügen, das alles musste eine abartige Verschwörung sein. Das konnte einfach nicht stimmen. Das Kind stand unter dessen geistigem Einfluss, wahrscheinlich war das alles eine große Lüge und Senray ging es gut. Er musste nur zu ihr und sich vergewissern.
Er nahm diesmal bewusst Anlauf und rammte mit seiner linken Schulter voran in den Schutzkreis. Die Welt explodierte in grün.
Einige Augenblicke fehlten ihm, als er das nächste Mal unter brennender Pein blinzelte. Er lag auf dem Bauch, alle viere von sich gestreckt, das Gesicht auf dem harten Stein liegend. Er hob vorsichtig seinen Kopf und hörte sich leise stöhnen, ehe er ihn wieder sinken ließ. Erst einmal warten, bis das Drehen und Schwanken aufhörte. Er testete seine Hände, zog achtsam die Finger zusammen und streckte sie langsam. Das schien noch zu funktionieren.
Raculs Krächzen ließ ihn frustriert die Augen schließen.
"Schon ganz ordentlich, die Arbeit des Zauberers, nicht wahr? Regelrecht solide Handwerkskunst. Ich war nicht so dumm wie du, in der Art und Weise, die Stabilität seiner magischen Siegel auf ihre Belastbarkeit zu testen. Aber sie halten etwas aus, das muss man ihnen zugestehen. Oder hast du noch nicht alles an Kraft hinein gelegt, was dir möglich wäre? Nochmal? Ich schaue dir gerne zu."
Wenigstens mit den Kopfschmerzen machte er kurzen Prozess und leitete ein wenig der Energiereserven um, so dass er wieder klarer denken konnte. Das Schwindelgefühl ließ kurz darauf von selber nach. Er zog seine Arme und Beine langsam an und schaffte es in eine sitzende Position. Alles tat weh. Er blickte zu dem Kind, das noch immer wartend an der Barriere stand. Er würde diese Grenze nicht von sich aus überwinden können, Raistans Arbeit war zu gut dafür. Dem Kind hingegen wäre es ein leichtes, ihn freizulassen. Es müsste nur seine Hand vorstrecken. Wenn er es schaffen würde, an dessen Gedanken zu kommen, an dessen Mitgefühl zu rühren...
"Wie heißt du?"
Der Junge ignorierte ihn. Doch Wilhelm konnte noch nicht aufgeben, unmöglich. Es ging immerhin um sein kleines Vogelherz und jede Sekunde, die er hier tatenlos herum saß könnte...
Er krabbelte den winzigen Abstand hinüber und setzte sich dem Jungen dicht gegenüber auf die Beine. Er suchte dessen Blick.
"Kannst du mich hören? Ich bin kein böser Vampir, weißt du?"
Raculs Stimme hinter ihm lachte abfällig. "Das kommt auf die Definition an, meinst du nicht auch?"
Wilhelm streckte vorsichtig die Hand aus, diesmal die rechte, und stoppte in dem Moment, als er so etwas wie flimmerndes Knistern auf der Haut spürte. So nah! Er konnte den Jungen beinahe berühren.
"Mein Name ist Wilhelm. Und ich bitte dich dringend, mir zu helfen. Bitte! Setze dich zur Wehr. Du kannst das, bestimmt. Reich mir nur deine Hand, damit ich sie schütteln kann, ja?"
"Als wenn dieser winzige Geist auch nur spüren würde, was geschieht. Er spürt ja nicht einmal das eigene Leben, das durch ihn pulsiert. Denkst du nicht, dass du deine Erwartungen da etwas zu hoch schraubst? Du forderst von einem Käfer, dass er sich gegen die Götter erhebt."
Wilhelm sah zu dem Greis zurück und konterte nun seinerseits mit Verachtung. "Du bist keine Gottheit! Selbst ein Vergleich hinkt da. Du bist Abschaum, der sich aus Dreck und Unrat herauswühlen muss, um überhaupt irgendwie mit Rechtschaffenheit in Kontakt zu kommen. Das Kind hier ist selbst in all seinen Lumpen und schlechten Erfahrungen gehüllt reiner, als du es jemals sein kannst."
Der Blick des Alten war konzentriertes Gift und für eine Sekunde empfand Wilhelm darüber Genugtuung, einen Nerv getroffen zu haben. Dann hörte er von der anderen Seite, direkt neben sich, ein verhaltenes Rascheln, der Herzschlag des Kindes bäumte sich auf, begann zu rasen. Er blickte zurück zu dem Gossenjungen, als dessen Kopf mit leerem Blick auf dem Boden aufschlug. Sein Mund stand überrascht offen und ein schmales Blutrinnsal lief daraus hervor. Das stete Pulsieren des kleinen Herzens verstummte.
"Nein! Nein, nein, nein... das... wieso?!"
"Er hatte ohnehin ausgedient."
Wilhelm starrte den kleinen Kinderkörper an, dessen überraschten Gesichtsausdruck. Ein Kind... und es mochte sein, dass er mit seiner unbedachten Äußerung, mit seinem winzigen Triumph, daran Schuld war, dass dieses knospende Leben genommen worden war. Und, der Gedanke war unaufhaltsam, ganz gleich wie pietätlos: Damit war auch die einzige Chance darauf hinfällig, vor Sonnenaufgang aus diesem persönlichen Kerker zu entfliehen! Senray! Er würde es unter keinen Umständen rechtzeitig zu ihr schaffen. Falls das Kind eben doch einen Auftrag an ihr erfüllt hätte. Die Einsicht war unerträglich. Er stützte sich schwer an der Barriere ab. Offenbar war die Berührung sanft genug gewesen, dass der Rückstoß ihn nur an Ort und Stelle nach hinten kippen ließ. Er lag mit Blick zur verschatteten Höhlendecke auf dem Rücken, die Beine seitlich verdreht. Und seine Gedanken kreisten in endloser Trauer um das kleine Vogelherz. Nur bis zum Sonnenaufgang, dann würde er alles stehen und liegen lassen und sich sofort auf die Suche nach ihr machen. Er würde sie finden. Ganz gleich, ob ihr Herzschlag ihn noch locken konnte oder nicht. Er würde jeden Ort aufsuchen, an dem sie zu finden wäre. Am besten machte er sich bereits jetzt im Sinn eine Liste dieser Orte, um effektiv voran zu kommen, sobald er los könnte. Die Zeit nutzen, wenigstens in dieser Weise. Raculs Stimme ausblenden, die immerzu auf ihn einredete. Die schmale Leiche ignorieren. Nein, ganz ignorieren konnte er sie nicht. Er würde einen Bericht schreiben müssen, damit die nachfolgenden Kollegen Bescheid wüssten. Sonst dächten sie noch, er wäre Schuld am Tod des Kindes. Andererseits... irgendwie war er das ja auch, nicht wahr? Die Schlussfolgerung wäre nicht gänzlich verkehrt. Trotzdem! Am besten er formulierte auch den Bericht schon im Voraus, damit er mit dessen Niederschrift so wenig Zeit wie möglich vertun müsste. Höchstens eine Minute, das sollte machbar sein. Schnell schreiben, knapp formulieren. Eine Finte. Ein minderjähriger Handlanger, mental gesteuert. Was mochte mit der Wache geschehen sein? Aber wenn dort oben vor der Tür kein Kollege mehr gestanden hätte, wäre das der regulären Streife aufgefallen, oder? Es war viel wahrscheinlicher, dass der Straßenjunge über den Gartenzaun von hinten in das Haus eingestiegen war und dann von dort aus die Kellertreppe genommen hatte. Die Fallen im Labyrinth waren ja inzwischen alle ausgeschaltet worden, bis auf den Luftabschneider. Aber über den Hauszugang musste dieser nicht passiert werden. Und das würde auch Raculs Meditation erklären. Der Alte hatte den Jungen per Gedanken durch die Gänge hergelenkt...
Die Nacht war endlos. Doch als er ihr Ende nahen spürte, stand Wilhelm bereit. Er tauschte kein weiteres Wort mehr mit dem Alten, war voll auf sein Vorhaben konzentriert, fest entschlossen, optimiert loszustürmen und Senray zu suchen. Und ihr zu helfen. Falls das noch irgendwie möglich wäre.
Der Bann fiel. Er rannte an dem toten Kind vorbei, denn daran, dass diesem nicht mehr zu helfen wäre, bestand kein Zweifel. Er fasste die Nacht in fünf Sätzen zusammen, unterschrieb und rannte in Ophelias altes Zimmer hier unten. Mit einem leisen plop verwandelte er sich und raste durch das Abzugssystem der Kamine hinauf, nutzte jene in die Filtergitter gerissenen Durchgänge, die ein Artgenosse vor ihm bereits bereitet haben musste, um das Gleiche zu tun. Er schoss im Schlafzimmer des Erdgeschosses aus dem Kamin, hielt sich aber nicht damit auf, sich erst wieder zurück zu wandeln. Wie er es sich gedacht hatte, war eines der hinteren Fenster aufgeschoben. Er flog blitzschnell durch den schmalen Spalt und dann auf direktem Wege zu Senrays Dachgeschosswohnung. Die Sonne funkelte rot und golden über dem Horizont und blendete ihn immer wieder. Er versuchte tiefer zu fliegen, im Schatten der dicht beieinander stehenden Häuser. Er nahm die Kurven scharf und rechtwinklig, flog eigentlich zu schnell. Als er bei ihrem Fenster anlangte, krallte er sich mit Schwung an das Holz des Fensterbrettes und versuchte, sich zu beruhigen. Kein Herzschlag! Panik drohte ihn zu überrollen, doch er drängte sie zurück. Nicht überreagieren. Vielleicht war sie nicht einmal hier, dann konnte er sie selbstverständlich nicht spüren, richtig? Er musste einen Blick hinein werfen. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, wie viel Kraft ihn das alles kostete oder dass ihr mordlüsterner Kater hinter der Scheibe lauern mochte. Ihre Einladung an ihn hatte noch immer Bestand, nichts also, was ihn hätte hindern können. Obendrein stand das Fenster einen Spalt breit offen. Er krabbelte mit ausgebreiteten Flügeln hinein. Kurz darauf nahm er menschliche Form an und stand in ihrem kleinen Zimmer, stieß sich prompt den Kopf an der niedrigen Schräge. Der Raum war so klein, dass ein Blick genügte. Sie war nicht hier. Dann zum Boucherie. Er wandelte sich abermals zur Fledermaus. Der Weg zur Dienststelle der D.O.G. fiel ihm schon merklich schwerer. Die Muskeln in seinen Flügeln arbeiteten hart gegen seine Erschöpfung an. Aber er biss die Zähne zusammen. Und die ganze Zeit über gingen ihm schreckliche Bilder durch den Sinn, in denen er die junge Frau in irgendeiner dunklen Gasse liegen sah, kalt und blass, ohne ihr schüchternes Lächeln und ihren tanzenden Puls. Im Boucherie handhabte er es genauso. Ein Hauch ihrer Einladung ließ sich auch hier noch erahnen, wie übertragen. Zudem war das Freudenhaus ein Ort, an dem generell die Türen offen standen. Er wechselte seine Gestalt und floss als Nebel in ihr Büro. Drinnen, direkt vor dem Fenster, rutschte er in humanoider Gestalt keuchend an der Wand zu Boden und durchsuchte von dort aus mit seinen Blicken den Raum. Nichts! Auch hier war sie nicht.
Die Angst um sie nagte an seinen Eingeweiden. Was, wenn sie doch in irgendeiner Seitengasse... wie sollte er sie dann jemals finden? Nein! Noch gab es Alternativen. Die Hexe! Soweit er wusste, trafen Senray und Magane sich regelmäßig, um wegen des Dämoneneinflusses gewisse Abwehrübungen durchzuführen. Irgendwas mit Meditation. Und da sie diese Übungen schlecht mitten am Tag, während der Arbeitszeiten durchführen konnten, ließen sie sie manchmal zu sehr ungewöhnlichen Gelegenheiten stattfinden. Wie zum Beispiel sehr früh morgens. Wo die Hexe wohnte, das wusste er inzwischen. Und auch dort würde er sich nicht mit Türschwellen aufhalten müssen.
Er schloss die Augen - und wandelte sich abermals doppelt. Dann war er wieder auf dem Weg. Inzwischen stand die Sonne schon deutlich höher und er musste noch tiefer fliegen. Was Umwege bedeutete. Dann aber, kurz vor dem Ziel, hörte er plötzlich ihren Herzschlag. Sanft und friedlich. Die Erleichterung holte ihn regelrecht vom Himmel. Er stürzte ab, konnte sich gerade noch so abfangen, ehe er auf dem Kopfsteinpflaster aufgeschlagen wäre. Er wandelte sich endgültig zum Vampir zurück und kam schlitternd zum Stehen, stützte sich kurz an der Hauswand ab. Seine Gedanken überschlugen sich. Zwischen den unzähligen, jubilierenden "Sie lebt!" versicherte er sich dessen, dass er ordentlich aussah. Wenigstens die Schrammen auf Gesicht und Händen ließ er verschwinden, ebenso wie den Dreck und die Falten in seiner Dienstkleidung. Auf den ersten Blick würde er wieder normal wirken, nicht wahr? Nichts, was sie erschrecken oder aufregen könnte? Gut.
Mit fast komischer Verzweiflung blickte er zum Dach hinauf. Nein, nochmal würde er sich heute nicht wandeln können. Die Reserven dazu waren endgültig und bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht. Er würde die Treppe nehmen müssen. Er klingelte.

Maganes kleines Mädchen öffnete ihm und sah ihn schweigend an. Er fühlte sich fast wie durchleuchtet, auf jeden Fall durchschaut. Aber bei den Kräften, die in ihr schlummerten, war das eigentlich nicht überraschend. Es fiel ihm darum nicht ganz leicht, wie mit einem Kleinkind zu ihr zu sprechen. Dennoch.
"Elisa, darf ich eintreten? Ich bin Wilhelm Schneider, der Wächter, der auch auf deine Mutter aufgepasst hatte, damit sie schlafen und sich erholen konnte. Erinnerst du dich noch an mich? Du hast mir gegenüber auf dem Wachetresen gesessen, als wir deine Mutter suchen sollten."
Sie runzelte die Stirn und ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht nicht das Schlaueste gewesen sein mochte, ausgerechnet jene Erinnerungen zu bemühen. Sie schwieg mit fast vorwurfsvoller Qualität, was ihn schnell weiterreden ließ.
"Jedenfalls möchte ich deine Mutter gerne besuchen. Und ich weiß, dass sie ohnehin gerade Besuch hat. Aber das ist kein Problem. Ich kenne auch Senray gut und..."
Sie legte den Kopf schief und wirkte nachdenklich. "Du bist krank."
Er atmete tief durch und straffte bestmöglich seine Gestalt. Mit einer müden Geste strich er sich das Haar zurück. Und merkte dabei, wie zerzaust dieses aussehen musste. Er blickte erschöpft auf sie hinab und nickte. "Ja, ich denke, auf gewisse Weise hast du mit dieser Vermutung wohl Recht."
Elisa sah ihn aufmerksam an. "Meine Mama macht Leute wieder gesund. Komm rein!"
Die unzähligen Treppenstufen waren ein Martyrium. Im Geheimen nahm er sich vor, kommende Besuche bei der Hexe nicht auf diesem Wege erfolgen zu lassen. Die Passage der ersten Etage zwang ihn in seinem aktuellen Zustand fast in die Knie. Er hielt sich krampfhaft am Handlauf der engen Stiege fest und atmete bewusst ein und aus, um sich zu entspannen und weitergehen zu können. Irgendwann fühlte er sich massiv beobachtet und blickte auf. Elisa stand dicht vor ihm und sah ihm zu. Er holte noch einmal Luft, ehe er schief grinste.
"Du... hattest Recht. Es geht mir heute nicht so gut. Aber keine Sorge. Gleich kann ich weiter... die Treppen machen mir nur etwas zu schaffen."
"Nicht nur die Treppen."
Er senkte mit einer ordentlichen Portion Ironie den Blick. "Ja, nicht nur die. Schlaue kleine Hexe."
Als er wieder aufsah, grinste sie fast frech. Und pulte mit ihren zerbrechlichen, kleinen Fingern seine verkrampfte Hand vom Halt. Sie zog sacht an seiner Hand. "Ich helfe dir."
Zwar fühlte er sich noch nicht soweit aber er konnte ihrem Enthusiasmus wenig entgegensetzen. Sie hüpfte fast schon voran und zog ihn beschwingt mit sich. Mit einem schiefen Lächeln sah er auf ihre schmale Hand, die warm und pulsierend um seine Finger griff. Wie kam es nur, dass in diesem Haushalt niemand so etwas wie Berührungsangst zu kennen schien? Er war verflucht noch mal ein Vampir und sie ein lebensprühendes Menschenkind! Und er würde Magane ganz sicher nicht die Kurzsichtigkeit unterstellen, ihre Tochter in einer Stadt wie dieser aufzuziehen, ohne jener beizubringen, eine potentielle Gefahr zu erkennen! Und doch... das schienen Mutter und Tochter gemeinsam zu haben: Vertrauen. So viel, für ihn nicht nachvollziehbares, Zutrauen.
Kurz darauf kamen sie in der Wohnung oben an und anstatt ihn loszulassen, zog das kleine Mädchen ihn einfach weiter und in die Küche. Sie dirigierte ihn regelrecht in die Sitzecke neben dem Fenster und klopfte sich mit einer routinierten Geste die Händchen an einer imaginären Schürze aus, als wenn sie alle Nase lang Gäste empfangen würde.
"Willst du Tee?"
Wilhelm war vollständig von dem Anblick abgelenkt, der sich ihm durch das Fenster bot. Er setzte sich, mehr weil ihn die Beine nicht mehr tragen wollten. Und beobachtete schweigend Senray, wie sie auf dem Dachgarten in eine Meditation versunken saß. Friedlich und in Sicherheit. Ihr Herzschlag sanft und weich, wie Meeresbrandung. Ihr Gesichtsausdruck entspannt. Sie lebte. Er konnte kaum an etwas anderes denken. Sie lebte und es ging ihr gut. Es war wirklich eine Finte gewesen. Alles war gut.
Er schlug sich die Hände vor das Gesicht und murmelte nur: "Und ich dachte, sie wäre tot. Ich dachte..." Er stützte seine Ellenbogen dieserart auf dem Tisch vor sich ab und versuchte, wieder zu sich zu finden. Sich zu beruhigen.
Leises Türenklappen, dann Maganes Stimme dicht vor ihm.
"Wilhelm?"
"Gleich... einen Moment nur... ich... ich dachte, sie sei tot... ich hab's gleich wieder..."
Magane schien sich ihrer Tochter zuzuwenden.
"Ja, das ist eine gute Idee. Es ist immer richtig, einen Tee anzubieten. Wilhelm mag gerne Minze. Kannst du machen."
Und während Elisa sich daran machte, auf eine kleine Tritthilfe zu steigen und diese hin und her zu schieben in der Küche, um an eine Tasse und an getrocknete Kräuter heranzukommen und einen fast gefährlich massiven Teekessel auf der noch heissen Platte des gusseisernen Herdes aufzusetzen, setzte deren Mutter sich ihm gegenüber an den Tisch.
"Warum dachtest du, Senray wäre etwas zugestoßen?"
Wilhelm rieb sich mit einem schweren Seufzer über sein Gesicht, ehe er die Hände auf dem Tisch zwischen ihnen ablegte.
"Ich hatte heute wieder Nachtschicht bei... ihm. Und er hat mich glauben lassen, ein Auftrag sei raus gegangen, während ich in meinem Schutzbann festsaß. Sozusagen ein illegaler Kontrakt. Es kam ein...", sein Blick schnellte zu Elisa und er entschied spontan, diesen Teil seiner Erzählung vage zu belassen, "Es kam jedenfalls jemand an die Gruft hinunter, um diese Version zu bestätigen."
Magane blickte ihn ernst an. "An der oberen Wache vorbei?"
Er nickte.
Sie überlegte kurz, ehe sie nachhakte: "Und du kannst dir sicher sein, dass nicht etwa die Schutzfunktion des Bannkreises versagt hat und es sich um eine Illusion handelte?"
Vor seinem inneren Auge lief die Szenerie neuerlich an, sein Kampf gegen die Barriere, die Gerüche und Geräusche, Raculs spontan heraufbeschworener Ausbruch, den das Kind mit seinem Leben bezahlte. Er wehrte die Eindrücke mit einem Kopfschütteln ab. "Glaube mir, es gibt nicht den kleinsten Anlass, um an Raistans Fähigkeiten zu zweifeln. Sein Untotenbann ist stark und effektiv. Und eine Illusion, die selbst nach ihrer Auflösung noch eine Leiche hinterlässt, wäre mir noch nicht untergekommen."
"Eine... nein. Verstehe."
Er schrak auf.
"Ich muss sofort eine Klackernachricht an das Hauptwachhaus schicken. Sie benachrichtigen, dass es sich um eine Finte gehandelt hat und es Senray zum Glück gut geht. Sonst schicken sie womöglich noch nach meinem Bericht zusätzliche Mannschaften raus, um sie zu suchen."
Magane setzte sich auf und blickte auf den frisch aufgebrühten Tee, den Elisa in diesem Moment mit einem stolzen Strahlen in den Augen beidhändig vor Wilhelm hinschob.
Das Kind strich sich grinsend die hüpfenden Löckchen aus dem Gesicht. "Für dich."
Wilhelm sah zwischen Elisa und der dampfenden Tasse hin und her. Und dann spürte er, wie Senrays Puls unruhig wurde. Er blickte rasch auf und zu ihr. Das nahm ihm gewissermaßen die Entscheidung ab. Er sah entschuldigend zu Elisa.
"Es tut mir leid. Ich muss leider schon ganz schnell wieder weiter. Es ist sehr wichtig. Unter anderen Umständen würde ich gerne den von dir gemachten Tee trinken. Vielleicht können wir das nachholen?"
Die Enttäuschung war ihr deutlich anzusehen. Magane strich ihr sanft über den Schopf, was sie kurz aufblicken und dann nur an ihn gewandt nicken ließ.
Magane atmete tief ein, als ihr Blick dem seinen zur Dachterrasse folgte.
"Bist du dir sicher, dass du sie nicht auch sprechen möchtest?"
Wilhelm nickte.
"Wenn ich jetzt mit ihr rede... dann kann ich mich erst einmal nicht von ihr trennen. Dafür bin ich zu sehr erleichtert, dass sie... na ja." Er grinste schuldbewusst. "Und ich möchte vermeiden, dass sie sich Sorgen macht. Darüber hinaus... diese Übungen, die sie hier mit dir macht, die sind sehr wichtig. Wenn nicht die Situation gerade so ernst gewesen wäre... oder zumindest von mir vermutet so ernst... ich wäre niemals reingeplatzt, um das zu unterbrechen! Ich mach mich wieder auf den Weg, um mit meinen eigenen Dämonen zurande zu kommen. Und sie braucht deinen Beistand, um den ihren die Stirn bieten zu können. Nur weil es derzeit etwas anstrengend ist bei mir mit den Nachtschichten und dem alten Ekel, heißt das schließlich nicht, dass ihr Kampf deswegen aussetzen würde, nicht wahr? Bitte... geh zu ihr zurück, bevor sie auf dumme Gedanken kommt und nur noch mehr abgelenkt wird. Ich brauche einfach etwas Ruhe. Ich werde die Wache noch informieren und dann nach Hause gehen und mich hinlegen."
Magane nickte zögerlich.
"Wilhelm?"
"Ja?"
"Übernimm dich nicht!"
Er musste leise lachen.
Mit dem Versprechen, ihren nächsten angebotenen Tee ganz sicher anzunehmen, verabschiedete er sich auch bei Elisa. Dann eilte er die Treppen hinab. Allein das Wissen darum, dass es ihr gut ging, allein schon sie kurz gesehen zu haben, so friedlich... er fühlte sich merklich besser. Die Erleichterung beflügelte seine Schritte sogar soweit, den ersten Stock in flottem Tempo zu queren und zügig zu einem der nächsten Klacker zu finden.

TAG 32

Die Schritte auf der Holztreppe kamen näher. Hinter seinen geschlossenen Augenliedern segelten seine Gedanken träge wie in einem warmen Aufwind. Hannahs leichte Absätze. Und... schwere Schuhe, Stiefel, von einer Person, die er kannte...
Hannahs Stimme, leise und fast schon resigniert.
"Einen kleinen Moment bitte, ich sage ihm Bescheid."
Sie mochte es bestimmt nicht, dass der unangekündigte Besucher ihr hinterhergelaufen sein musste, anstatt unten zu warten.
Das Klopfen am Türrahmen. So laut und nah, dass er zusammenzuckte, obwohl er mit einem Teil seiner Gedanken natürlich gewusst hatte, dass es gleich erklingen musste. Er öffnete die Augen und sah ihr entgegen. Vermutlich viel zu langsam. Sie stand im Türrahmen und erwiderte seinen Blick und ihre Augen kündeten von Mitgefühl. Dann riss sie sich zusammen, war wieder ganz die routinierte Angestellte.
"Es tut mir leid. Wenn es nach mir ginge, würde ich dich nicht stören. Aber... da ist schon wieder jemand von der Wache. Eine Frau Feinstich, sagt dir das was?"
Er weitete die Augen überrascht und setzte sich mit einiger Anstrengung sofort auf. "Rogi Feinstich? Ich... was... sie ist schon hier oben, in der Wohnung?" Die Frage war verwirrter Unsinn. Natürlich konnte er ihren kräftigen Puls nur zu gut verorten. Ehe Hannah etwas erwidern konnte, winkte er daher bereits ab. Er strich sich das Hemd glatt und fuhr sich mit den Fingern gleich einem grobzinkigen Kamm durchs Haar. "Schon gut. Sie braucht nicht warten." Und mit tiefem Einatmen rief er sie direkt. "Rogi... Ma'am? Die Tür steht offen, komm nur herein." Als Hannah sich zum Gehen wandte und seine Ausbilderin zugleich die Dachkammer betrat, erhob er sich respektvoll von der Bettkante.
Rogi Feinstich wirkte... wenig erfreut. Ihr Blick flog einmal von Kopf bis Fuß über seine Erscheinung und sofort bereute er, sich nicht doch einen Moment Zeit genommen zu haben, sich etwas frisch zu machen. Natürlich, sie suchte ihn unangekündigt auf, obendrein in seiner eigenen Wohnung. Theoretisch hätte er auftreten können, wie ein Barbar in einem der öffentlichen Bäder. Doch die Igorina trug ihre Rolle mit sich, wie einen natürlichen Überwurf aus Dominanz und Autorität. Sie maß ihn mit einem fast vorwurfsvollen Blick, der ihm sämtliche Vergehen und Ungenauigkeiten der letzten Wochen zu Bewusstsein brachte. Und er war tatsächlich versucht, vor ihr strammzustehen wie zum Rekrutenapell auf dem Innenhof des Wachhauses. Einzig seine Erschöpfung verhinderte dies. Unsicher nickte er.
"Ma'am?"
"Waf ist daf für eine Geschichte? Diefer Vorfall mit dem toten Jungen und deinem Alarm für Senray Rattenfänger?"
Er schwankte kurz zwischen einem Seufzen und einem müden Lächeln. Und setzte sich stattdessen einfach wieder auf die Bettkante. Mit einem Wink deutete er etwas neben sich. Ehrlich gesagt war es ihm egal, ob sie das Angebot annehmen und auf Augenhöhe mit ihm reden würde oder ob er aufblicken müsste. Hauptsache, er wäre nicht gezwungen, auf den Beinen zu bleiben.
"Der Bericht wurde gefunden?"
Rogi schnaufte abfällig.
"Mach dich nicht lächerlich! Eine Leiche und eine vermifte Kollegin, für die Bregs einen Fuchtrupp aufstellen ließ - und du denkft, wir würden unf mit lumpigen fünf Sätzen abfpeisen lassen? Ich will wissen, waf da heute Nacht lof war. In deinen Worten, ganz genau!"
Natürlich, das sah er schon ein. Auch wenn der Gedanke, das Geschehen in eine strukturierte Form zu zwingen mit seiner geistigen Verfassung nicht so ganz konform gehen wollte. Wo anfangen?
"Die Nachtschicht begann im Grunde so wie immer. Der Gefangene redete auf mich ein und ich ignorierte ihn so gut es ging. Irgendwann änderte sich etwas in seinem Verhalten. Er wirkte abgelenkt, anders als sonst. Sehr ruhig, wie in sich gekehrt. Ich war zwar etwas besorgt, konnte das aber nicht zuordnen. Dann hörte ich Schritte hinter mir und als ich mich dem Geräusch zuwandte, stand dort ein Straßenjunge. Er wurde vom Alten gelenkt, seine Gedanken waren ganz offensichtlich ferngesteuert und abgeschottet. Er ignorierte mich völlig und reagierte nur auf Raculs Stimme. Der befahl ihm, Bericht zu erstatten. Und dann trug er eben jene Worte vor. Dass er seinen Auftrag ausgeführt und Senray umgebracht habe. Also... er sprach von der 'kleinen Rothaarigen bei den Näherinnen', die er beseitigt habe."
"Und du haft daf sofort geglaubt?"
"Ich... ja, ich... es wirkte alles sehr... überzeugend." Hätte er instinktiv anzweifeln sollen, was ihm vor der Gruft präsentiert wurde? Vielleicht, oder? Aber Raculs Drohungen, der Gedanke, dass dem kleinen Vogelherzen etwas zugefügt worden sein könnte...
Die Vorgesetzte unterbrach ihn brüsk.
"Weiter! Waf geschah dann?"
"Ich habe versucht, hinaus zu greifen. Also zuerst auf gedanklicher Ebene, um das Kind aus der Fremdsteuerung zu befreien. Dann habe ich versucht, den Schutzkreis aufzulösen."
Die Igorina zog beide Brauen in die Höhe und blickte ihn ungläubig an.
"Den Schutzkreis fu lösen? Einen erftklassigen Untotenbann? Lass mich raten: Daf hat wehgetan?"
Wilhelm wollte den Blick fast trotzig erwidern, musste ihn aber sehr schnell mit einem verhaltenen Nicken senken.
"Es war... unangenehm. Und wirkungslos." Er wollte schnell weiterreden. "Nachdem mir klar war, dass das nicht funktionieren wür..."
Rogi hob ihre Hand, wie sie es inmitten eines zu regelnden Straßenchaos getan hätte, wenn auch nicht so hoch. Er hielt inne und sie fragte mit fast gleichgültigem Gesichtsausdruck: "Hast du dir Verletzungen dabei zugezogen, um die ich mich kümmern sollte?"
Er schüttelte hastig den Kopf. Nein, der Preis war hoch gewesen aber darum hatte er sich selber gekümmert gehabt.
"In Ordnung. Weiter! Du bift nicht rausgekommen. Und dann?"
"Er... Racul hat das Kind umgebracht. Einfach so. Dessen Kreislauf per Gedankenkontrolle überfordert. Ich habe ihn angeschrien, warum er das getan hat. Und er hat nur abfällig gelacht und gemeint, der Junge hätte ohnehin seinen Zweck erfüllt gehabt. Er hat in einfach als benutzt und ohne weiteren Verwendungszweck... abgelegt."
Ihre Augen verengten sich etwas und wirkten noch bedrohlicher, doch sie hielt merklich an sich, um ihn zum Weiterreden zu veranlassen. Lediglich eine ungeduldige Geste trieb ihn an.
"Dann... ich habe den Rest der Nacht gewartet. Darauf, dass der Sonnenaufgang mich befreien würde. Habe Pläne gemacht, um möglichst schnell alle Orte abzusuchen, die in Frage kämen, um sie zu finden. Ich dachte... ich hoffte, dass das Kind vielleicht nur selber ernstlich daran geglaubt hatte, seinen Auftrag ausgeführt zu haben, ihm aber in Wirklichkeit vielleicht ein Fehler unterlaufen sei und ich Senray noch... retten könnte." Er sah flüchtig und schüchtern zu der Igorina auf, doch deren Blick wirkte so dunkel umwölkt, dass er den seinen sofort wieder auf die eigenen Hände und zu Boden richtete. "Dann habe ich den Bericht geschrieben und bin losgerannt. Oder vielmehr geflogen. Zu ihr nach Hause. Danach ins Boucherie... Gefunden habe ich sie bei Magane. Sie waren beide in einer Meditationsübung vertieft. Und es ging ihr gut. Ich habe so schnell wie möglich eine Nachricht geschickt, um Entwarnung zu geben." Leiser fügte er hinzu: "Es tut mir leid, Ma'am, wenn ich Anlass zu Aufregung gegeben habe. Ich wusste nicht, dass es eine Finte war. Ich dachte... ich dachte wirklich..."
Rogi Feinstich atmete mehrmals tief durch, wie um sich zu beruhigen.
"Du kannft nichts dafür, dass Racul ein hinterhältiger, miefer... jedenfalls, dafür kannft du nichts. Und ef ist richtig, eine Nachricht fu schreiben, wenn ein Kollege in Gefahr ift. Wenn ef deswegen Stress gibt, dann ift das eben fo. Waf mir aber partout nicht in den Kopf will ift, warum fum Kuckuck der werte Herr mit dem Blutfauger hinter der Barriere reden muss! Kannft du mir daf mal bitte erklären, Rekrut? Hälst du dich für fo unantaftbar, daf es für dich kein Problem darftellt, mit dem Alten zu reden? Muss ich dir ein Schild vor die Nafe hängen, auf dem drauf fteht 'Achtung, Giftspritze! Gefangener ist manipulativ'? Haben dir Ophelias oder meine Erfahrungen in deinem Kopf nicht gereicht?!"
Wilhelm fühlte sich elendig. Nicht auf die Art, die Racul an ihm zu beabsichtigen schien, die Art von elendig, die aus grundlegenden Selbstzweifeln heraufbeschworen worden wäre. Sondern vielmehr in der Art elendig, wie sich ein blutiger Anfänger fühlte, wenn er dem Vorgesetzten gegenüber einen dummen, dummen Fehler einzugestehen hatte. Sie war sich so sicher darin, wie richtiges Verhalten auszusehen hatte. Und er, er hätte es ebenfalls wissen müssen. Nicht wahr?
Er straffte die Schultern und bemühte sich darum, ihren Blick auszuhalten.
"Du hast Recht, Ma'am. Ich hätte es besser wissen müssen. Zu meiner Verteidigung sei angemerkt, dass ich es immer wieder versucht habe. Ihn zu ignorieren. Dass seine ganze Art aber... er... es ist sehr schwer, das konsequent durchzuhalten."
Seine gefügige Antwort besänftigte sie etwas.
"Ich will, dass daf aufhört. Keine Gefpräche mehr mit ihm!" Sie sah seine Zweifel und stemmte ihre Hände in die Hüften, die Daumen hinter den Gürtel gehakt. "Ich meine daf ernst, Wilhelm! Ef würde dir mit ziemlicher Sicherheit helfen, wenn du deinen Ftandort in den Nachtwachen verlegen würdest. Ich denke, am Beginn des Ganges, ftatt direkt vor feiner Gruft, wärest du deutlich besser aufgehoben. Richtig? Du weißt, dass ich ef von Anfang an fo gemacht habe. Und ef hat mir nicht gefadet."
Ihre Vehemenz, diese brutale Direktheit in den Ansichten und Forderungen, hatte tatsächlich etwas Erlösendes an sich. Er verstand mit einem bitteren Nachgeschmack die Spekulation des Alten, er würde sich jedweden Weisungen nur zu gerne fügen, weil das Dienen ihm im Blute läge. Es war einfacher. Und es war sanftes Streicheln eines wund gekämpften Egos. Aber es war auch... ok. Hier und jetzt war es in Ordnung, sich zu fügen, Anweisungen entgegen zu nehmen, den eigenen Stolz zu schlucken und den bisher verfolgten Kurs als Irrtum einzugestehen, ihn zugunsten ihrer Vorgaben abzuändern. Einen Stolz ohnehin, der ihm in keiner Weise zustand. Erst Recht nicht, wenn man bedachte, dass sein bisheriges Verhalten nicht etwa auf strategischen Erwägungen und Logik fußte, sondern auf feiger Angst vor dem Alten! Weil er den Gedanken nicht hatte ertragen können, dass Racul im Dunkeln hinter ihm lauern würde. Nein, es war besser, ihren Vorschlag zu befolgen. Rogi Feinstich war eine Vorgesetzte, die ihn als Verantwortung sah. Sie wollte ihm nicht schaden, im Gegenteil. Er wusste darum, dass ihre ruppige Art nur laut und grell das übertünchte, was man sonst allzu leicht als milde Seiten an ihr hätte benennen können, Mitgefühl und Sorge. Immerhin standen ihm sehr deutlich Ophelias Erinnerungen vor Augen, ihre Erfahrungen mit der Igorina, deren aufmerksamer Loyalität. Rogis manchmal etwas harsches Auftreten ihm gegenüber war daher, seiner Empfindung nach, nur eine Ebene von vielen, die sie auszeichnete. Eine Ebene, die nicht einzeln betrachtet werden konnte, sondern zu einem Gesamtbild gehörte, das so viel positiver war. Racul war offen darauf aus, ihn von seinen Kollegen zu separieren. Um ihn als traurigen Einzelkämpfer zu fassen zu bekommen. Wenige Momente klaren Denkens mussten schon ausreichen, um das zu erkennen! Also warum, sich dieser Erkenntnis verweigern und es dem greisen Vampir damit viel zu leicht machen? Es stand fest: Seine Vermutung, Racul von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen könne ihm das kalte Grauen im Genick wortwörtlich ersparen, hatte sich als Trugschluss herausgestellt. Einen Irrtum einzugestehen, konnte noch Schlimmeres verhindern. Dann jetzt eben auf ihre Art!
Er neigte den Kopf in zustimmender Geste.
"Ich werde Raistan in der nächsten Nachtschicht darauf hinweisen, so dass ich künftig deutlich mehr Abstand zu dem Gefangenen einhalten muss."
Die Igorina atmete hörbar auf.
"Gut. Fehr gut. Daf hättest du zwar auch fon viel früher haben können. Aber immerhin. Und? War daf jetzt so schwer?"
Wilhelm rang sich zu einem müden Lächeln durch und schüttelte den Kopf.
"Nein, Ma'am."

TAG 33

Das Wetter hatte sich die letzten Tage über kaum geändert. Wechselhaft und kühl, mit sonnigen Unterbrechungen. Womit sie auch an diesem Morgen auf der Dachterrasse gut eingewickelt in ihre Decken auf den Sitzkissen Platz nahmen. Magane reichte ihm eine heiße Tasse mit Tee hinunter, ehe auch sie sich setzte. Minze. Er seufzte leise, als sich allein vom Einatmen des Aromas schon seine verspannten Schultern etwas zu lockern schienen. Sie nippte an ihrer Tasse, um ihr Grinsen zu verbergen. Das amüsierte Funkeln ihrer Augen verriet sie aber. Dann senkte sie ihre Hände und setzte den kleinen Pott mit Wärme in ihrem Schoß ab.
"Geht es denn?"
Wilhelm nickte verhalten, senkte seinerseits die Tasse auf seinen Oberschenkel und löste seine Linke von der ausstrahlenden Hitze. Er ballte deren Finger kurz zusammen, streckte sie dann. "Bevor wir anfangen, möchte ich nur etwas ansprechen, das... es ist seltsam und fällt vermutlich in dein Repertoire. Vielleicht kannst du Licht ins Dunkel bringen?" Er öffnete seine linke Hand und hielt sie ihr hin, mit der Innenfläche zu oberst.
Sie blickte darauf hinab. "Worum genau geht es?"
"Oh, stimmt. Du hattest nicht mitbekommen, dass... du warst damals schon nicht mehr bei den Besprechungen dabei. Und seitdem haben wir nicht mehr darüber geredet, so weit ich mich erinnere. Es ist so viel Wichtigeres passiert." Er stellte seine Tasse neben sich ab und streckte ihr beide Hände vor, wobei er diesmal die rechte betonte. "So sah sie vorher aus. Meine linke Hand. Gestern Nacht war sie noch normal. Was in diesem Fall 'gezeichnet von dem Feuerdämon' bedeutet, als Vergeltung für ein angebliches Versäumnis. Nur wenige Stunden zeitversetzt, waren diese Spuren verschwunden! Und das waren Narben, die keineswegs als natürlichen Ursprungs angesehen werden können!"
Die Hexe stellte ihre Tasse ebenfalls bedächtig neben sich ab und ergriff seine Hände. Sie hielt sie nebeneinander, drehte und wendete sie, begutachtete sie sehr genau. Sie taste mit ihren Daumen über seine Haut und er konnte regelrecht spüren, wie das warme Pulsieren ihrer Hände die seinen umfing und mit aufwärmte. Er musste müde blinzeln, so sehr sehnte sein Körper sich inzwischen danach, jede Art von Entspannung willkommen zu heißen. Wenn sie gewollt hätte, er hätte sich ihr dieserart noch viel länger überlassen und wäre einer ganz eigenen Art von Auszeit entgegen gedriftet. Ihre Worte aber holten ihn wieder zurück. Er riss sich zusammen. Immerhin hatte er sie um ihre Meinung gefragt.
"Hast du vielleicht selber eine Ahnung, woran es liegen könnte? Irgendeine Vermutung?"
"Nein, bisher nicht. Aber das waren keine normalen Verletzungen. Beziehungsweise sind. An meiner anderen Hand haben sie ja noch Bestand. Selbst meine eigenen Heilungskräfte kommen dagegen nicht an. Und es hat auch keinen Einfluss auf sie, wenn ich mich verwandele. Ich würde also vermuten, dass etwas auf magischer oder dämonischer Ebene passiert sein muss, was ich nicht mitbekommen habe. Aber... dass der Dämon seine Markierungen selber teilweise wieder von mir genommen haben soll... sehr unwahrscheinlich. Das passt nicht zu ihr. Dafür ist sie zu... geltungsbedürftig, zu aggressiv. Und sonst? Mein einziger Kontakt zu übernatürlichen Kräften in dem fraglichen Zeitraum, an den ich mich erinnern könnte, war mit Raistans magischer Barriere. Ich werde ihn vermutlich auch nochmal danach fragen, was er davon hält. Aber... die Barriere fühlte sich ausgesprochen destruktiv an und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Energiefeld, das so... bissig reagiert, irgend etwas Heilendes an sich haben soll."
Magane sah mit ernsthaftem Interesse auf.
"Mit Raistans Magie kenne ich mich nicht aus, das ist Zauberermagie. Aber ich glaube nicht, dass diese Barriere irgendetwas Gutes an einem Untoten bewirken kann. Wenn du erlaubst, würde ich mir das gerne etwas genauer ansehen - auf anderer Ebene."
Er zuckte mit der Schulter und nickte bereitwillig.
"Das wäre ohnehin unser nächstes Ziel gewesen, dorthin zu gelangen, nicht wahr?"
"Nicht ganz. Ich meine eine andere der Ebenen, die mir zugänglich sind. Nicht die deine."
Wilhelm zögerte leicht. "Was habe ich mir darunter vorzustellen?"
Magane hielt noch immer seine Hände und dieser anhaltende Kontakt zu ihrem langsamen Lebenspuls und ihrer auf ihn ausstrahlenden Wärme, besänftigte ihn ungemein. So etwas wie innere Ruhe breitete sich langsam in ihm aus.
"Kein Gedankenkontakt, etwas elementarer." Sie suchte einen Moment nach den passenden Worten. "Alles ist Energie, in gewisser Weise. Und wenn ich mich auf den Fluss der Energie konzentriere, kann ich vielleicht Veränderungen erkennen."
Sein erster Gedanke war, dass es am Vorhandensein einer Veränderung keinen Zweifel gab. Er brauchte nur seine Finger zu betrachten, um das zu wissen. Der Folgegedanke hingegen war fast von ihm selber genervt. Vermutlich meinte die Hexe etwas anderes, etwas, das sich nicht ohne weiteres in Worte fassen ließ. Und war es denn wirklich so wichtig, dass er verstand? Reichte es nicht auch, wenn er vertraute?
"Muss ich dafür irgendetwas tun?"
"Nein, entspann dich einfach"
Dafür musste er sich nicht anstrengen. Im Gegenteil! Es bedurfte eines wesentlich höheren Kraftaufwands, konzentriert und aufmerksam bei der Sache zu bleiben. Noch während sie ihm die Absolution zum Loslassen erteilte, sanken seine Schultern bereits ein Stück weit herab und wurden seine Lider schwer. Er atmete einmal tief durch und gab sich sodann bewusst in ihre Hände. In dieses warme Umfassen, ihr beinahe mentales Tasten. Er blinzelte erschöpft, als er ihr dabei zusah, wie sie mit den Fingern seine Muskeln und Sehnen an den Händen abfuhr, als wenn sie unter der Haut kleine Knötchen zu ertasten gedächte. Ihr Blick war zu hundert Prozent auf diese Aufgabe fokussiert, sah in eine Dimensionsebene, die nur ihr zugänglich war. Das anfänglich fast sanfte Streichen wurde zu einem festen Massieren. Seine rechte Hand, die jetzt im Fokus stand, begann zu prickeln und wurde heiß. Er kniff leicht dösig die Augen zusammen. Rein äußerlich war nichts Besonderes zu erkennen. Wenn er jedoch genauer hinspürte, konnte er in der Hitze winzige Zentren ausmachen - und diese den einzelnen Schnittwunden, beziehungsweise Narben, zuordnen. Magane zog ihre Brauen zusammen und ihre Hände von jener zurück. Sie nahm seine zweite näher zu sich und wiederholte das Spiel. Dort jedoch erfolgte kein Prickeln. Sie umfasste jeweils seine Unterarme und ließ ihre Hände beidseitig an seinen Schultern empor wandern, um über seinen Brustkorb wieder hinab zu streichen.
Dort hielten sie jedoch inne. Ihre Handflächen lösten sich. Nur noch mit den Fingerspitzen, näherte sie sich sehr zögerlich dem unter seinem Hemd verborgenen Narbengewebe des dämonischen Handabdrucks.
Als sie jenes bewusst berührte, krümmte Wilhelm sich für eine Sekunde keuchend zusammen. Seine Arme hatte er instinktiv an sich gerissen, unkoordiniert und blind, die Fäuste zitternd auf das Brandmal gepresst. Der Geschmack von Asche auf seinen Lippen, das Gefühl von heißem Wüstenwind auf seinem Gesicht. Er musste trocken schlucken und die Erinnerung an brennende Funken und Glut in seinem Körper ließ ihn schwindeln. Sie war so intensiv, dass er wieder das Glühen des sandigen Bodens unter seinen Knien fühlte, ebenso wie ihre Präsenz. Als wenn sie vor ihm stünde, im Begriff, ihn auszulöschen. Im Gegensatz zu dem heißen Kribbeln in seiner Rechten hatte Maganes hexerisches Forschen an dieser sensiblen Stelle so etwas wie eine Stichflamme aus Schmerz und Erinnerung ausgelöst.
Der Moment verflog. Und mit ihm das Brennen seiner Sinne, seines Zentrums.
Er richtete sich wieder auf, mühsam und erschöpft. Dem persönlichen Feuersturm entronnen. Es fiel es ihm schwer, auch nur aufrecht zu sitzen. Alles, was er sich gerade jetzt wünschte, war Distanz zum eigenen Fühlen. Würde er diesen Dingen wirklich jemals entkommen können? Er traute sich kaum, den Vorfall zu kommentieren. Sein Blick traf den ihren. Jetzt war er jedenfalls wieder wach. Und alarmiert.
Magane wirkte betroffen und wich seinem Blick eine Sekunde lang aus, indem sie gekonnt gleichmütig ihre Tasse wieder aufnahm.
"Davon lassen wir mal lieber die Finger, nicht wahr?"
Wilhelm war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Genaueres über seinen aktuellen Zustand zu erfahren, und jenem, sich einfach eine Decke über den Kopf zu ziehen und sich bis zum nächsten Schweihnachtsfest jegliche Störung zu verbitten. Aber es half ja nichts, die Augen vor der Realität zu verschließen.
"Will der Dämon... will sie mir vielleicht doch irgendetwas mitteilen? Was auch immer genau es war, was du getan hast. Konntest irgendeine... Spur verfolgen?"
Magane hob ihre eigenen Hände, um sie ihm zu zeigen. Und sie waren deutlich von sehr alten Brandwunden gezeichnet. Ein Umstand, der schlagartig neue Bedeutung in ihm annahm, und mit ihren nächsten Worten untermauert wurde.
"Eine Rückkopplung. Wir beide haben mit der gleichen boshaften Kreatur Bekanntschaft geschlossen. Tut mir leid! Ich wollte keine Schmerzen auslösen."
Das war eine neue Information. Und eine dermaßen schwerwiegende, dass er sie fassungslos ansah.
"Du hast sie kennen gelernt? Wie...?"
Sie erwiderte seinen Blick gelassen, doch mit einem Kopfschütteln.
"Eine andere Zeit, ein anderes Leben. Es geht hierbei nicht um mich, sondern um dich. Und Spuren? Ich konnte jede Menge Spuren in deinen Energien sehen. Das Wichtigste daran: Du hast es keinesfalls der Feuerkreatur zu verdanken, dass die Verletzungen verschwunden sind. Deren Energieausläufer wurden von einem gänzlich anderen Einfluss verdrängt." Ihr Blick wurde intensiver und fast vorsichtig. "Die neue Energie, die jetzt in deiner linken Hand konzentriert auftritt... die dazu geführt hat, dass sie geheilt wurde... ich bin mir verhältnismäßig sicher zu wissen, woher sie stammt. Es...", sie atmete dezent ein und aus, ehe sie sich dazu durchrang, ihm reinen Wein einzuschenken. "Es könnte sein, dass... es ist möglich, dass Elisa dich behext hat." Magane beeilte sich, mit einem besänftigenden Wink hinzuzufügen, "Das war keine Absicht, kein gezieltes Wirken. Sie ist noch so jung und unerfahren. Die Kräfte beginnen, sich zu entfalten in ihr und sie hat es noch nicht im Griff." Dann hielt sie inne, fast ein wenig ängstlich darauf bedacht, wie er auf diese Eröffnung reagieren mochte.
Wilhelm schlang im Reflex die weiche Strickdecke enger um seinen Körper und starrte die Hexe an.
"Deine Tochter hat mich verzaubert? Ohne, dass ich es gemerkt habe?"
Magane nickte mit deutlicher Zurückhaltung und behielt ihn weiter im Blick.
Er musste spürbar schlucken und der Moment gegenseitigen Schweigens zwischen ihnen zog sich in die Länge. Er senkte seinen Blick auf die geheilte Hand.
"Nicht überreagieren. Die Kleine ist ihre geliebte Tochter und sie selber verfügt über beträchtliche magische Reserven."
Das Bild einer Raubkatze, die alles daran setzen würde, ihren Nachwuchs zu verteidigen, stand ihm plötzlich klar umrissen vor Augen. Er sah zu ihr auf und ihr gleichmäßiger Herzschlag beschleunigte leicht. Sie hatte sich außerordentlich im Griff.
Sein Blick glitt wieder zurück, registrierte die Veränderungen auf seiner Haut in jedem Detail. Er streckte die Finger und zog sie sacht wieder zusammen. Das Spannen der Haut und die stechenden Schmerzen, an die er sich seit dem Angriff gewöhnt hatte, blieben aus. Er erinnerte sich an die strahlenden Augen und die tanzenden Löckchen im schmalen Treppenaufgang. Dann blickte er wieder zu der angespannt auf seine Reaktion wartenden Hexe. Und lächelte.
"Sie hatte mir sogar gesagt, dass sie mir helfen würde. Es war mir nur nicht klar, dass sie... es so gemeint haben könnte. Ich denke, ich darf mich glücklich schätzen."
Magane atmete sichtlich auf. Oder vielmehr weiter. Wann hatte sie damit begonnen gehabt, die Luft anzuhalten?
Sein Lächeln wurde intensiver.
"Sie kann das nicht zufällig an der anderen Hand wiederholen?"
Magane lachte erlöst.
"Vermutlich nicht. Wenn du das möchtest, kann sie es versuchen. Aber es würde mich wundern, wenn sie den unkontrollierten Wunsch in gleicher Weise noch einmal formen könnte."
Wilhelm rang mit sich.
"Wäre solch ein Versuch... verhältnismäßig ungefährlich? Oder könnte dabei viel schief gehen?"
Magane zögerte nur kurz mit der Antwort.
"Magie ist eigentlich nie ungefährlich aber ich glaube nicht, dass da viel schief gehen kann."
Wieder tauchte das Bild der übermütigen Kleinkindaugen vor ihm auf, Elisas vorurteilsfreies Strahlen.
"Es brächte sie aber nicht in Gefahr, richtig? Immerhin geht es ja um ihre eigene Magie?"
"Ich kann da nur vermuten. Aber wir sprachen gestern Abend noch miteinander. Sie hat nicht gemerkt, was sie gemacht hat. Also hatte es auch keine direkten Auswirkungen auf sie. Sollte sie diese Heilkraft kanalisieren können, wäre das eine wahnsinnig große Macht, dann wäre die eigentliche Gefahr für sie, dass sie zu stark würde und den Bezug zur Realität verlöre. Da müsste man vorher eingreifen. Aber allein der Versuch, dich weiter zu heilen, sollte ihr nicht schaden."
Wilhelm versuchte, zu einer Entscheidung zu finden.
Niemand hatte ihn danach gefragt und von sich aus würde er nicht davon erzählen. Es klänge zu sehr nach einem Haschen um Mitleid. Aber die Narben an seinen Händen stellten tatsächlich ein Problem für ihn dar, das über eine reine Empfindlichkeit hinaus ging und die unerwartete Aussicht auf eine Heilung setzte ihm mehr zu, als zu erwarten gewesen wäre. Schließlich hatte er sich mit den Narben abgefunden, sie bewusst als Mahnung und Erinnerungsstütze umgemünzt, sie für sich zu Auszeichnungen deklariert. Und auch mit dem ziehenden Schmerz konnte er zur Not umgehen. Er konnte sich auf Wichtigeres konzentrieren, sich von einem Teil des körperlichen Leidens bewusst distanzieren. Zumindest phasenweise gelang ihm dies. So hatte er seitdem viele der aufgelaufenen Auftragsarbeiten in seiner Schneiderwerkstatt auffangen und gerade noch fristgerecht abliefern können.
Der Dämon verwehrte ihm - willentlich oder unwissentlich - mit der Wahl seiner Vergeltungsmaßnahme einen großen Teil dessen, woraus er seit seiner Jugend Freude zog.
Und... die Gerüchteküche begann bereits zu köcheln. Seine individuelle Note fehlte derzeit in den meisten der prachtvollen Roben. Denn was zumindest als gesicherter Fakt nicht nach außen dringen durfte, tat es in Form von winzigen Details und den sich daraus entwickelnden riesigen Spekulationen eben doch: Der Meisterschneider ließ seine Angestellten fertigen!
Diese Variation des Klatsches stimmte nicht gänzlich. Er nutzte jede wache Minute, die Hände beschäftigt zu halten und an den Aufträgen mitzuwirken. Er empfand es als Versagen, die ganze Arbeit auf Ezra und Hannah abzuwälzen.
Aber genau da lag eben das Problem. Er konnte Stunde um Stunde beispielsweise an einem Futterstoff sitzen, um diesen in ein Kleidungsstück einzupassen - nur um anschließend feststellen zu müssen, dass das Ergebnis nicht seinen hohen Ansprüchen an seine Kunst entsprach. Seine Hände verweigerten ihm irgendwann die sonst so zuverlässige Mitarbeit. Die Schmerzen beeinträchtigten seine Genauigkeit, warfen ihn stets wieder aus dem Fluss der Leidenschaft für die Sache. Stattdessen stocherte er mit zunehmender Hilflosigkeit und stärker werdendem Zittern in den Fingern in den Stoffen herum. Und trennte den größten Teil des Vollbrachten letztlich doch wieder auf. Trotzdem konnte er Arbeit schaffen. Aber es handelte sich eben vor allem um simple Grundlagen, um die Arbeiten, die nicht zu sehen waren, weil sie im Inneren komplexerer Stücke verschwanden. Kaum um das prunkvolle Äußere, dessentwegen er seine Profession liebte und dessentwegen exakt dieses Klientel normalerweise seine Werkstatt auswählte. Und nur Hannah wusste um das volle Ausmaß dieser heimlichen Tragödie. Denn sie war es, die nun sein Pensum kommentarlos mit trug. Auch, wenn sie dabei eben keinesfalls seine charakteristischen Winzstiche imitieren konnte.
Er brauchte seine Hände für diese Arbeit! Ganz abgesehen von den Folgen, die dies auf längere Sicht für ihn haben konnte! Sein Ruf in Kundenkreisen hatte direkten Einfluss auf seine Einnahmen. Er hatte sich der Wache aus Neugier und dem Sehnen nach einem Abenteuer angeschlossen. Niemals hatte er geplant gehabt, seinen eigentlichen Lebensunterhalt über die Arbeit bei der Stadtwache zu bestreiten. Wie absurd das angemutet hätte! Noch musste er sich nicht mit dem Schreckgespenst der Armut auseinandersetzen und hatte auch nicht vor, das zu ändern. Ein Dasein aber als Wächter, ohne Zusatzeinnahmen, würde Verzicht bedeuten. Er hatte Ansprüche. Und diese würden vermutlich nun, da Racul ihm seine eigenen Unzulänglichkeiten in der Nahrungssuche verdeutlicht hatte, noch steigen. Insofern...
"Wenn es nicht zu viele Umstände macht... ja, ich würde sie gerne einen Versuch wagen lassen."
Der Blick der Kollegin ruhte nachdenklich auf ihm. Dann erhob sie sich mit einem Nicken. "Warte kurz! Ich hole sie."
Als Magane durch die Verandatür nach draußen trat und wieder zurückkam, führte sie Elisa an ihrer Hand mit sich. Er hatte ihre Stimmen von drinnen gehört, wusste daher von den kurzen Erklärungen der Mutter an ihre Tochter. Nun wirkte das Mädchen fast schüchtern, was sicherlich nicht ihr übliches Gebaren war. Sie hatten einander noch nicht gesehen, als er heute eingetroffen war. Sie war zu diesem Zeitpunkt in ihrem Zimmer gewesen und er selber war über den Dachgarten eingeflogen. Magane setzte sich wieder dicht ihm gegenüber in den Schneidersitz und nahm Elisa auf ihren Schoß, ehe sie die eigene Wolldecke fest um sich und das Mädchen wickelte.
Das Kind sah ihn aufmerksam an und er suchte nach den passenden Formulierungen. Vielleicht... vielleicht waren einfache Worte am ehrlichsten.
"Danke, Elisa!"
Sie wirkte verunsichert. Aber nicht ängstlich. Vermutlich wären ihre Gedanken momentan am ehesten mit einem Bienenvolk zu vergleichen, zahlreich und scheinbar chaotisch, emsig am Hin- und Hereilen, wie dies in den jungen Köpfen oft so charakteristisch der Fall war.
"Deine Mutter hat mir erklärt, dass ich es vermutlich dir zu verdanken habe, dass eine meiner Hände wieder gesund ist. Du musst keine Angst haben. Es ist in Ordnung. Du hast damit etwas Gutes getan."
Ein scheues Lächeln huschte über ihre Züge.
"Das war aus Versehen. Ich wollte, dass du mitkommst."
Er nickte zustimmend.
"Möchtest du den Unterschied sehen? Denn weißt du, es waren beide meiner Hände krank. An der anderen kann man noch sehen, wie es vorher war."
Sie nickte eifrig und pellte sich teilweise wieder aus der Deckenumarmung, um eine bessere Perspektive einnehmen zu können, als er seine Hände vorstreckte und diese kurz darauf vor ihre wendete. Ihr Blick flog immer wieder verunsichert zwischen seinen Händen und seinem Gesicht hin und her. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und tippte dann mit einem Finger auf die vernarbte Rechte.
"Tut das weh?"
Er blendete Magane möglichst aus, um sich auf Elisa zu konzentrieren. Zu lügen kam nicht in Frage. Das tat er generell nur ungern. Dem aufmerksamen Kind gegenüber jedoch hätte es nahezu absurd angemutet. Etwas flüsterte ihm zu, dass sie ohnehin die Wahrheit kannte. Und dass sie kein Problem mit dieser hätte.
"Ja. Manchmal. Manchmal aber auch weniger. Das kommt ein bisschen darauf an, was ich mit meinen Händen mache. Wenn ich sie nur so wie jetzt halte, dann ist das nicht anstrengend oder schmerzhaft. Siehst du die Haut hier? Wie straff sie aussieht?"
Sie nickte wieder.
"Ja, sieht aus, als ob jemand was Heißes drauf gestellt hat. Wie, wenn Laurentia das Eisen zum Bügeln zu lange auf dem Herd stehen gelassen hat und der Stoff sich dann zusammenkrumpelt."
Er musste bei diesem Vergleich unwillkürlich schmunzeln, denn unbewusst hatte sie damit in zweifacher Hinsicht Recht. Der Einfluss des Dämons konnte durchaus als zu viel Hitze interpretiert werden. Gewissermaßen.
"Meine Haut rund um diese vielen kleinen Stellen ist nur teilweise verheilt, nicht richtig. Als das passiert ist, hat es furchtbar geblutet. Jetzt tut es das nicht mehr. Aber wenn ich beispielsweise so mache," und damit legte er seine Finger zu einer geschlossenen Faust zusammen, "dann tut das weh. Zum einen, weil die Haut zieht. Da fehlt einfach ein wenig Spielraum. Zum anderen aber eben auch wegen der kleinen Narben, die nur darauf warten, dass sie zwicken dürfen."
Elisa strich sich mit einer energischen Geste ihre Löckchen zurück und beeilte sich, einen Gedanken mit ihm zu teilen, indem sie ihn Beifall heischend anstrahlte. "Wie mit Dornen, wenn man zu nahe an den Rosen gespielt hat, stimmts? Wenn man nicht schnell läuft, dann merkt man die gar nicht. Aber wenn man rumtobt, dann pieken die einen in den Strümpfen, weil die sich da verhaken und dann drücken."
Wilhelm lachte leicht. Es war gar nicht so schwer mit ihr zu reden, wie er gedacht hätte. Sie verstand ihn wirklich gut.
Sie überraschte ihn, als sie übergangslos fragte:
"Soll ich die auch gut machen?"
Er wechselte einen schnellen Blick mit Magane. Aber jene schmunzelte nur, wie er noch kurz zuvor. Und nickte.
"Wir... ich hatte darauf gehofft, dass du es vielleicht versuchen möchtest. Ja. Wenn das für dich also in Ordnung wäre, dann würde ich mich darüber freuen. Aber..." Er zögerte, wusste nicht so genau, wie er seine Sorge um ihr Wohlergehen dabei möglichst unaufgeregt in Worte fassen sollte. Magane war ihm keine Hilfe dabei, denn sie sah ihn nur fragend an. Er seufzte und konzentrierte sich wieder auf das Kind. "Elisa, ich möchte aber nicht, dass du dich dabei übernimmst, ja? Wenn du merkst, dass etwas komisch ist oder du dich nicht wohl fühlst... ich weiß nicht. Ich kenne mich mit deiner Magie nicht so gut aus. Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist, in Ordnung?"
Aus dem Augenwinkel sah er Magane sanft lächeln. Doch sein Hauptaugenmerk lag tatsächlich noch immer auf der Kleinen. Deren Augen leuchteten ihm regelrecht aufgeregt entgegen. Sie grinste frech.
"Ist gut. Ich pass auf."
"Weißt du denn überhaupt, wie du am besten beginnen kannst?"
Sie hibbelte sofort herum und stemmte sich aus dem Schneidersitz ihrer Mutter auf, um auf ihren Knien zu ihm zu rutschen und seine dargebotene Hand mit ihren schmalen Händen zu umfassen.
Nun griff Magane doch ein. Sie rückte dicht in Elisas Rücken auf und nahm deren Hände sacht in ihre eigenen, wie eine Umarmung.
"Langsam, Elisa! Bevor du irgendetwas tust, musst du erst sehen. Warte mit deiner Kraft, bis du die Energien erkennen kannst. Sonst bringst du zu viel durcheinander. Weißt du noch, was ich dir über den Rosenstock erzählt habe? Wie seine Energiebahnen verlaufen?"
Elisa wurde ungewöhnlich ernst. Sie rekapitulierte eine Lektion und sah zwischendurch absichernd zu ihrer Mutter auf. "Von unten nach oben, die Wurzeln bringen Wasser und Essen. Von oben nach unten, die Blätter bringen Licht und Luft. Von Außen nach Innen und von Innen nach Außen, die Energien wechseln die Welt. Ein Kreislauf aus Leben und Sterben, wenn das Kommende und das Gehende sich miteinander im Reigen drehen. Hell und Dunkel, Wasser und Licht, Essen und Luft, sie nehmen sich bei den Händen und tanzen in winzig kleinen Zimmern, alle zur gleichen Musik, bis ihnen schwindlig ist und sie einander in die Arme sinken. Dann verändern sie sich, wie wenn sie ihre Kleidung tauschen, und der eine geht mit der Freundschaft des anderen weiter."
Die ältere der beiden Hexen nickte und Wilhelm konnte gut den Stolz in ihren Augen erkennen.
"Das hast du dir sehr gut gemerkt, Elisa. Kannst du es auch übertragen? Schau vorsichtig, ob du in Wilhelm etwas sehen kannst, was so ähnlich funktioniert. Er ist natürlich keine Pflanze und obendrein ist sein Kreislauf auch kein menschlicher. Es wird also anders aussehen. Aber vielleicht findest du die Parallelen? Erzähle mir, was du siehst, ja?"
Er gestand sich eine gewisse Nervosität ein. Zugleich aber auch Aufregung. Es war spannend, die beiden Hexen dabei zu beobachten, wie sie sich anschickten, eine gemeinsame Lehrstunde zu bestreiten - mit ihm selber als Aufgabenstellung. Er spürte Elisas rasenden Puls durch ihre kleinen Finger hindurch über seine Haut gallopieren. Sie fasste nicht mit der gleichen Entschlossenheit zu, wie ihre Mutter es tat, natürlich. Da fehlte die Erfahrung, auch diejenige im Umgang mit fremden Körpern. Es war nicht selbstverständlich für das Kind, an den Armen eines Erwachsenen herumzudrücken, während dieser sie gewähren ließ. Aber wenn er sie beobachtete, dann wurden die Anlagen zu dem, was in ihr heranwuchs, deutlich. Der Blick ihrer Augen veränderte sich, als sie ihn zu untersuchen begann und sie betrachtete seine Haut wie einen krabbelnden Käfer. Ihre Pupillen huschten hin und her, als sie offensichtlich das zu sehen begann, was ihm verwehrt blieb. Offenbar konnte sie sich nicht so recht zwischen dem Anblick seiner Hand und der des daran anschließenden Arms entscheiden.
"Die sind ganz anders."
"Was genau meinst du, mein Schatz? Versuche, das was du siehst, zu beschreiben, damit ich es mir wie ein Bild vorstellen kann. Sonst weiß ich nur, was ich sehe und denke automatisch, es wäre das Gleiche. Aber vielleicht sieht es für dich ja anders aus, nicht wahr?"
"Äh... da sind ganz viele Farben. Aber die sind falsch. Da ist blau und das ist ganz ruhig, obwohl es doch eigentlich mit Bewegung sein müsste. Bei den großen Bahnen. Und da bei den kleinen Schnitten ist orange. Und grau, wie wenn ein Feuer brennt und es fast ausgegangen ist. Mit Rauch. Und... irgendwie ist das komisch... und das grüne Schmierige sieht irgendwie dreckig aus. Die kleinen Zimmer sind dunkel. Aber irgendwie ist da trotzdem Licht drin, wie dunkles Licht, so schwarz. Aber wie nachts am Himmel. Wenn man hinguckt und denkt, es hat geblinkt und dann hat es vielleicht doch nicht geblinkt. Oder ein bisschen. Oder daneben."
Bei der Erwähnung von Schmutz auf seinem Inneren zuckte er leicht zusammen. Die Beschreibung mochte nur zu wahr sein. Es war ein wenig beschämend, es so unverblümt aus dem Kindermund zu hören. Aber er konnte es nicht ändern. Die Beschreibung eines Teilaspekts seiner Energieflüsse als nächtlichen Sternenhimmel hingegen faszinierte ihn. Zu gerne hätte er kurz ihre Perspektive eingenommen, ihre Gedanken wortwörtlich mit ihr geteilt. Und ihr Geist war zum Greifen nahe - auch das wortwörtlich. Aber natürlich war sie tabu, in jeglicher Hinsicht.
Maganes Stimme riss ihn zurück ins Hier und Jetzt.
"Deine Beschreibungen sind sehr gut, mein Schatz. Stimmig und sehr bildlich, so dass ich weiß, wovon du sprichst. Allerdings ist Wilhelm kein Teekessel oder Ähnliches, über den man einfach Dinge sagt, ohne nachzudenken. Wenn du mit Personen arbeitest, die noch Gefühle haben könnten, dann versuche bitte daran zu denken, dass diese Gefühle ebenso verletzt werden können, wie Körper. Ein gutes Beispiel dafür ist das Wort 'dreckig'. Erwachsene denken oft, dass Dreck etwas Schlechtes und durch und durch negativ ist. Wenn du das also als Beschreibung für ein Inneres nutzt, dann könnte es passieren, dass jemand dem du helfen möchtest es als Wertung versteht. Für sich, für seinen Körper oder sogar für seinen Geist. Das kann bedrücken. Und wir möchten ja, dass es den Personen besser geht, oder? Also versuche bitte, mit deinen Worten ein wenig vorsichtiger umzugehen, ja?"
Elisa war noch immer in den sich ihr darbietenden Anblick vertieft. Und sie war schlichtweg trotz allem ein Kind. Weswegen sie zwar eifrig nickte und automatisch "Ja, Mama." sagte, dabei aber ganz klar keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendete, indem sie die Aussage übertragen und sich in irgendeiner Weise schuldig gefühlt hätte. Sie kam nicht einmal auf die Idee, dass ihn irgendetwas an ihren Worten verletzt haben könnte. Was für ihn auch völlig in Ordnung so war. Er war schließlich erwachsen und sie hatte es nicht böse gemeint.
Stattdessen sah Magane mit einem entschuldigenden Lächeln zu ihm.
Er schüttelte seinerseits mit einem beruhigenden Lächeln andeutungsweise den Kopf.
Magane wandte sich wieder ihrer Tochter zu - und griff blitzschnell nach deren aufstrebender Hand. Sie hielt die kleine Hand fest, nur Millimeter vor seiner Brust, und Wilhelm konnte spüren, wie Maganes Atem in dem Versuch zitterte, Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen. Ihr Herzschlag hingegen verriet den Mutterinstinkt nur zu deutlich. Elisa sah mit großen Augen auf. Die Kollegin konterte seinen Blick kurz mit unnachgiebigem Ernst, ehe sie sich bewusst zu entspannen schien, die Hand ihrer Tochter sanft zurückzog und diese anlächelte.
"Das dort, darfst du nicht berühren, mein Liebling."
"Aber das ist die Wurzel."
"Ich weiß. Aber diese Wurzel ist... zu alt und zu stark. Und sie ist wie eine Fallgrube. Von oben betrachtet sieht sie wie welkes Herbstlaub aus und du denkst sicherlich, dass du nur etwas Gießen und Düngen und Pflegen müsstest, um die Blätter wieder aufzurichten. Und normalerweise würde ich dir zustimmen und sagen, ja, man muss einen Organismus als Ganzes betrachten und wenn du dort an seinem Herzen heilst, dann würde auch die Hand davon besser werden. Denn auch da hast du Recht: Es ist wirklich die gleiche Energie hier wie dort, die Wilhelm schadet. Aber das dort, wonach du eben tasten wolltest... das ist nicht nur welkes Laub, nicht nur eine Erinnerung an eine Verletzung. Dort drunter, einige Schichten tiefer, lauert frische Glut." Sie sah ihn mit tiefem Bedauern an, während sie weiter versuchte, ihre Tochter für spätere Zeiten zu schulen. "Es gibt Energien, an die darfst du nicht rühren. Denn sie sind zu stark. Das ist eine davon. Das ist die Spur, die ein Dämon in Wilhelm gelegt hat. Der Grund für Wilhelms Verletzungen. Wir können zwar unter Umständen vielleicht etwas gegen die Verletzungen der erinnerten Energie tun, dort wo sie abgeschnitten ist von der Quelle. Aber wir können nicht die frische Glut angehen. Denn dann würden wir das Schlafende wecken und es würde sich regen und uns entgegenströmen, mit viel mehr neuer Glut. Verstehst du das, Elisa?"
Das Kind blickte aufmerksam zwischen ihm und ihr hin und her.
"Ich weiß nicht?"
Magane sah wieder liebevoll auf sie hinab.
"Kannst du es trotzdem akzeptieren, dass ich nicht möchte, dass du dort dran rührst? Auch wenn du den Grund nicht ganz verstehst und niemand da ist, um auf dich aufzupassen und es dir zu verbieten?"
Elisa nickte langsam.
"Ich mach da nichts."
Das hatte sie also in ihm gesehen, als sie selber daran gerührt hatte? Eine Spur zu dem Dämon. Alles andere als inaktiv, nur schlafend, lauernd. Zu gefährlich, um sie anzugehen. In tieferen Schichten. Unter dem Mal also, das auf der Oberfläche seiner Haut thronte. Die Ironie daran war auf gewisse Weise schockierend und nur zu passend für den rachsüchtigen Humor des Dämons: Brennende Lebensenergie, kanalisiert durch sein untotes Herz! Kein Wunder, dass alles daran sich falsch anfühlte und wehtat.
Wilhelm senkte den Blick auf sein Hemd und schwieg, während die Kollegin weiter leise mit ihrer Tochter sprach. Seine Gedanken kreisten um die Feuerkreatur. Wieder hatte er deren Gesicht vor Augen, als sie ihm mit unendlicher Befriedigung die Hand auflegte und ihm damit ihr Andenken ins Fleisch einbrannte.
"Wilhelm?"
Er blinzelte und sah auf.
"Hm?"
"Ist alles... gut?"
Er beeilte sich zu lächeln.
"Ja. Ja, natürlich. Ich war nur kurz in Gedanken, entschuldige bitte. Was hast du gesagt?"
Sie zögerte, dann: "Sie möchte es versuchen. Wenn du auch soweit bist?"
Er blickte freundlich zu Elisa und reichte ihr die fragliche Hand. Und Elisa nahm sie zwischen die ihren und strahlte ihn an.
"Mach die Augen zu und sei ganz ruhig. Du musst langsam atmen und stillsitzen. Und du musst mir vertrauen, ja?"
Er lachte leise.
"Ist es auch ok, wenn ich einfach weiter nicht atme?"
Das Mädchen war nur kurz irritiert, ehe sie vergnügt kicherte.
"Hab ich ganz vergessen. Du brauchst nicht atmen. Kannst du auch weglassen. Aber nicht mehr reden oder lachen!"
Er lächelte bei ihrem eifrigen Anblick und schloss die Augen. Vermutlich war das nicht wirklich nötig aber bot ihr einen vertrauten Rahmen. Und warum auch nicht? Es vermittelte gewiss ein Gefühl der Selbstsicherheit, wenn der Patient sich ihren Wünschen fügte und sie ganz klar das Sagen hatte. Er tat ihr den Gefallen gerne.
Die Geräusche der Straße drangen vermehrt zu ihm durch. Der Wind strich über sein Gesicht. Er fühlte den schnellen Herzschlag des Kindes über seine Haut tanzen und sich außerdem von dem tieferen und langsameren Rhythmus des Herzens ihrer Mutter gehalten. Der Duft von Küchenkräutern und Erde vermengte sich mit dem trockenen Hauch der Hexenmagie, der in leichten Böen immer wieder um ihn herum geweht wurde.
Die Erschöpfung, die sich tief in ihm eingenistet hatte, kroch empor und zog wie mit Bleigewichten an ihm. Er kämpfte dagegen an. Konzentrierte sich stattdessen auf Elisas Berührung.
Sie hielt seine rechte Hand, so wie sie die linke ergriffen hatte, um ihn die Treppe hinauf zu ziehen. Und er konnte erahnen, das irgendwas geschah, dass Teile ihrer Kräfte am Wirken waren. Seine Hand wurde wärmer, ebenso wie der Arm. Gleichzeitig spürte er einen Hauch Enttäuschung. Es würde misslingen. Aus irgendeinem Grund war er sich plötzlich sicher darin. Ihre versehentliche Heilung hatte keine besonderen Empfindungen ausgelöst gehabt. Er hatte deren Auswirkungen nicht einmal gemerkt gehabt, ehe er daheim war!
Er öffnete die Augen und beobachtete sie mit Bedauern und Sorge darum, wie sie den Fehlschlag aufnehmen würde. Immerhin gab sie sich so viel Mühe!
Und wirklich. Nach einigen Anläufen mit immer konzentrierterem Gesichtsausdruck, ließ sie sich an die Brust ihrer Mutter zurückfallen und kreuzte mit genervtem Schnaufen die Arme.
"Ich kann das nicht! Es klappt nicht!"
Wilhelm legte die Hände locker im Schneidersitz ineinander und lächelte schief.
"Sei nicht traurig, Elisa! Es ist keine einfache Sache und wir haben doch gewusst, dass es vielleicht nicht funktionieren würde. Es war sehr, sehr freundlich von dir, es trotzdem zu versuchen. Vielen Dank!"
Sie sah ihn in einer Mischung aus Frustration, Trotz, Unsicherheit und Bedauern an, die ihm unweigerlich nahe ging. Magane unterbrach den Moment, indem sie Elisa durchs Haar wuschelte.
"Ich bin sehr stolz auf dich, mein Schatz. Wir reden heute Abend darüber, wenn du das möchtest, ja? Jetzt müssen Wilhelm und ich aber noch über etwas ganz anderes sprechen. Und du musst hinein und dich dringend wieder etwas aufwärmen. Ab mit dir! Mach dir eine Trinkschokolade!"
Elisa schien auf einen Schlag den gescheiterten Versuch vergessen zu haben. Sie hüpfte regelrecht auf die Beine und jubilierte. "Wirklich? Ich darf mir eine Schokolade warm machen?"
Und kaum hatte sie Maganes Bestätigung, war sie auch schon weg.
Die Terrassentür fiel mit einem sanften Klicken ins Schloss.
Die Hexe sah ihn an. Es war unnötig, die Gedanken zwischen ihnen auszusprechen. Schließlich senkte er leicht den Blick.
"Sie ist etwas Besonderes."
Magane nickte.
"Manchmal auch besonders herausfordernd."
Sie lachten beide verhalten. Dann:
"Wilhelm, wenn du lieber nach Hause möchtest... das alles... ich könnte das verstehen."
"Nein, schon gut. Es ändert nichts. Nicht grundlegend. Und ich bin nicht wegen meiner eigenen Interessen hier hergekommen." Er straffte die Schultern und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende ganz eigene Herausforderung. "Lass uns beginnen!"
Die Skepsis in ihren Augen war unübersehbar. Aber kurz darauf öffnete sich ihm ihr Geist auf inzwischen vertraute Weise. Die Eindrücke der Dachterrasse, der Garten und der Himmel, das alles verschwand und wich der Dunkelheit ihrer Gedankenwelt. Sie begrüßte ihn mit einem schnellen Blick auf sein hiesiges Aussehen und seufzte.
Er blickte resigniert an sich hinab.
War er zuletzt wenigstens noch in Hemd und Hose aufgetreten, kleidete ihn heute nur noch ein schlichtes Büßergewand. Ein knielanges Hemd aus grober Jute, ärmellos und mit offenem Ausschnitt über dem Brandmal. Sein Haar fiel ihm ins Gesicht, als er müde auf seine nackten Füße hinab sah. Er versuchte mit einer bewussten Anstrengung, die Aufmachung zu korrigieren, musste aber Elisas Erkenntnis von eben teilen.
"Tut mir leid. Ich... es muss heute wohl so gehen. Versuche bitte einfach, es zu ignorieren." Er sah mit einem bemühten schiefen Grinsen wieder auf und ignorierte seinerseits ihren Blick. "Was für 'Traumkandidaten' stehen heute an?"
"Wenn wir wieder drei ansehen wollen, dann vermutlich die verfälschten Erinnerungen mit Mina, Romulus und Rogi."
Er deutete ihr an, ihr den Vortritt zu lassen. Eine imaginäre Bürotür wurde geöffnet und er fand sich in Ophelias ehemaligem Büro wieder. Oder vielmehr in Mina von Nachtschattens aktuellem Büro. Kurz erinnerte er sich daran, wie er selber hier gesessen und der Stellvertretenden eingestanden hatte, mehr als ein übliches Interesse an der Verschwundenen zu hegen. Da stürmte bereits Maganes Abbild mehr oder minder unangekündigt herein. Es entspann sich ein Sachgespräch zwischen jener und der vampirischen Kollegin, anscheinend unter Zeitdruck, bei dem es um Verdeckte Ermittlung und die Notwendigkeit einer kontrollierten Körpersprache ging. Wilhelm konzentrierte sich auf die beiden Frauen. Die Hexe hingegen hatte das Szenario offensichtlich schon zu oft dafür gesehen. Sie hatte sich auf der Suche nach verräterischen Hinweisen auf den unsichtbar anwesenden 'Geist' ihres Peinigers umgesehen - und war fündig geworden.
"Wilhelm, hinter dir!"
Er drehte sich sofort um und noch während er das tat, schwebten nicht bloß Aktenordner aus dem Regal dort zu Boden, schön säuberlich nebeneinander abgestellt, sondern es materialisierte sich auch Sebastians Abbild jener Angriffsnacht, in der er diesen Traum geformt hatte. Wie in jedem der vorangegangenen Träume auch, trug er seinen charakteristischen nachtblauen Anzug. Und er wusste, was er tat. Das Augenmerk des bösartigen Vampirs richtete sich auf den bisher verborgenen schmalen Bereich hinter den Ordnern. Er hob mit amüsierter Überraschung die Augenbrauen und griff nach einem länglichen Gegenstand.
Wilhelm erkannte den Pflock sofort wieder. Dessen Anblick hatte sich in Ophelias Gedanken gebrannt, zusammen mit einem fast unerträglichen Gefühl der Schuld. Es war jene Waffe, mit der Ophelia damals, kurz vor ihrer Entführung, in blinder Selbstverteidigung gegen Mina zugestoßen und diese ernsthaft verletzt hatte. Der Pflock war hier, in diesem Büro, zur verachteten Tatwaffe geworden und weder hatte sie den Wunsch danach verspürt gehabt, ihn zurück zu fordern, noch hatte sie jemals die Gelegenheit dazu bekommen. Ophelia hatte nie erfahren, was aus dem hölzernen Unikat geworden war. Es hier, in diesem Traum, an dieser Stelle vorzufinden... Sebastian musste entweder ganz eigenen Ideen dazu nachgegangen sein und seine psychologischen Kenntnisse in Bilder umgemünzt haben. Oder er hatte Ophelias Kenntnisse der Freundin frei interpretiert, deren eigene Vermutungen weiter gesponnen. Und Wilhelm gestand sich ein, dass dieses Fazit vielleicht tatsächlich der Realität entsprechen mochte. Fast wäre er versucht, Mina von Nachtschatten darauf anzusprechen und sie zu fragen, ob die Waffe, die jene damals für Raistans Kristallkugelversuch mitgebracht hatte, ansonst hinter den Aktenordnern in ihrem Büro zu finden sei.
Sie verfolgten gemeinsam, wie der Vampir im Anzug mit dem Pflock in der Hand lässig zum Schreibtisch schlenderte, um das Holzstück darauf abzulegen und es sodann mit dem einem Schubs in Richtung der von Nachtschatten zu kullern.
"Ich kenne Mina zwar seit sie in der Wache ist, habe aber kaum Berührungspunkte mit ihr gehabt. Das fing eigentlich erst mit Ophelias Problem an, als wir nach Lösungen gesucht haben. Und auch da war Mina immer an einem anderen Ansatz dran. Das Gespräch ist jedenfalls ziemlich genau so abgelaufen, nur ging das noch ewig so weiter. Ohne den Pflock. Ich weiß noch nicht einmal wieso dort ein Pflock in Minas Büro sein sollte..."
"Vielleicht hat er sich das nur so zurechtgelegt, damit es für seine Zwecke passt?"
Mina sprach davon, dass in einer Verdeckten Ermittlung die Zielsetzung von Bedeutung sei und der Ermittler aufpassen müsse, dass seine Körpersprache ihn nicht verriete, gerade wenn es um lästige Situationen ginge. Dass er sich Gereiztheit aufgrund eines nervigen Kollegens beispielsweise nicht anmerken lassen dürfe. Sebastian von und zu Perez schnipste neben ihnen grinsend mit den Fingern. Mina von Nachtschatten griff plaudernd nach dem Pflock und rammte diesen, innerhalb eines Wimpernschlags und ohne jegliche Mühe, tief in Maganes Oberkörper. Sie seufzte leise, wie genervt, und wandte sich wieder dem Papierkram zu, um den sie sich auch vor dem Auftauchen der Kollegin bereits gekümmert hatte.
Wilhelm starrte einen Moment auf den Pflock, der aus dem toten Körper heraus ragte. Das Bild der jungen Vampirin, ihr emotionsloser Gebrauch ausgerechnet dieser Waffe, hatte sich eben unauslöschlich in seinen Sinn gebrannt. Nicht, dass er nun Angst vor Alpträumen gehabt hätte! Aber er fand es bezeichnend, dass er spätestens jetzt nicht das geringste Problem damit haben würde, in seinen Kollegen auch kaltblütige Mörder zu sehen. Bedenklich. Einerseits. Aber andererseits... er hatte nie Ophelias Standpunkt geteilt, die davon überzeugt gewesen war, jedes Wesen sei von Grund auf gut geboren und nur unter widrigsten Bedingungen zu dem Schlimmsten zu verlocken, zu dem Allerschlimmsten fähig. Er wusste, dass das so genannt zivilisierte Benehmen oftmals nur ein dünner Firnis über drängenden Bedürfnissen und gierigen Wünschen darstellte. Nur hinderte ihn dieses Wissen nicht daran, auf das Beste zu hoffen! Und gerade bei jenen, denen er aufgrund von Erfahrung vertraute, zählte er auch darauf, dass diese feine Schicht von Haltung, Ehrlichkeit, Mitgefühl und Würde es vollbringen würde, selbst unter anspruchsvollen Umständen die Sinne beieinander zu halten. Sich vorbildlich und rücksichtsvoll zu verhalten, anstatt rein triebgesteuert zu reagieren. Er hatte Vertrauen in seine Kollegen. Auch wenn dieses nicht blind war.
Mit einem letzten Blick auf die Akten bearbeitende RUM-Kollegin verließen sie schweigend das geträumte Büro. Für eine Analyse des Beobachteten, bliebe ihm später noch Gelegenheit. Aber er spürte, wie seine Konzentration nachließ. Er musste zügig vorankommen.
Die nächste Tür - das nächste Büro. Tageszeiten und Möbel erschienen ihm allmählich austauschbar. Das Wachhaus wurde zum Grusellabyrinth, hinter jeder Tür ein potentieller Alptraum. Ob Magane ähnliche Gedanken hegte, wenn sie nun in der Realität dort durch die Gänge lief und einen der Räume betrat?
Sie gesellten sich zu einer Szene hinzu, bei der Maganes Abbild vor Romulus an dessen Schreibtisch saß. Sie unterhielten sich und Magane standen Verzweiflungstränen in den Augen. Sie versuchte den Vorgesetzten davon zu überzeugen, in einem bereits abgeschlossenen Fall wieder tätig werden zu dürfen, woraufhin jener ihr müde vorhielt, dass das nicht in Frage käme und sie wohl kaum als objektiv gelten dürfe. "Nur weil du sagst, dass das nicht stimmen kann, werden wir keinen Selbstmord zu einem Mord erklären!" Es kam, wie es kommen musste. Die Situation eskalierte wie von Zauberhand. Allerdings blieb der intrigante Magier hinter all dem diesmal verborgen, so genau Wilhelm auch Ausschau hielt, er konnte keinen Fingerzeig des Anderen wahrnehmen. Überraschend war allerdings, dass die auslösende Tatwaffe dieses Traums im ersten Moment von der Hexe selber geschwungen wurde. Ein silberner Dolch. Den sie dabei gehabt hatte!
"Bei Rom sind zwei echte Erinnerungen zu einer neuen Verbindung verschmolzen. Die eigentliche Szene hatte sich kurz nach Ktrasks Tod abgespielt, also mit Rom als Stellvertretendem und ausbildendem Ermittler. Der Angriff mit dem versilberten Dolch war noch während der Grundausbildung, sozusagen die erste Begegnung mit Rom, der uns einen falschen Tatverdächtigen bei der Verhörausbildung vorspielte. Damals hat er sich einfach nur verwandelt und ist abgehauen. Ich habe normalerweise keine Angst vor Werwölfen. Und vor Rom erst recht nicht. Die beiden Erinnerungen... sie sind sehr negativ und spiegeln absolut nicht das gute kollegiale Verhältnis wider, das uns verbindet."
Maganes Erklärungen verwoben sich als fast bedeutungsloses Hintergrundgeräusch mit dem, was er sah, als Romulus von Grauhaar seinem Instinkt folgte und sich, in Anbetracht des für ihn extrem gefährlichen Gegenstandes, zum Werwolf wandelte.
Das Zimmer war augenblicklich klaustrophobisch eng, viel zu klein für die aggressive Macht, die durch die Luft vibrierte. Das Messer schlitterte über den Boden. Die beiden ungleichen Körper prallten mit Wucht aufeinander. Der Stuhl flog zur Seite und Magane schrie, als sie unter dem riesigen Wolf zu Boden ging. Der gewandelte Vorgesetzte packte ihren Arm brutal zwischen seine Reißzähne und brach ihn ihr mit einem Ruck seines Kiefers. Maganes Schreie wurden zu abgehakten Schluchzern und atemlosen Wimmern.
Wilhelm wurde schlecht. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, konnte nicht zurückweichen, begann am ganzen Körper zu zittern. Maganes Schreie und ihr Wimmern, ihr Schluchzen und ihr Ringen nach Luft, gruben sich zusammen mit dem Knurren des angriffswütigen Wolfes in seine Gehörgänge. Die Luft um ihn herum begann zu flimmern und das Bild des Wolfes wurde scheinbar immer größer, bedrohlicher. Dessen Präsenz füllte jeden Winkel in seinen Gedanken. Er meinte, selbst winzigste Details der Szene zu registrieren. Die übernatürlich großen Tatzen mit den Fellzotteln zwischen den stahlharten Krallen. Wie jene Krallen allein vom Aufsetzen tiefe Scharten in den Boden rissen. Die sehnigen Muskeln der Läufe, wie diese sich gleich Schiffstauen unter der trügerisch weichen Haut spannten. Die geifernden Lefzen, mit ihrer dehnbaren Haut rund um die spitzen Reißzähne, wie sie bei jedem Keifen und Schnappen zurückschnellten. Das borstige Fell im Nacken der mächtigen Kreatur, das sich aufstellte und sträubte wie Metallspäne im Bann eines Magneten. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn und er rang wankend nach Luft.
Der Werwolf schnappte nach der Hexe und machte kurzen Prozess mit ihr. Der Kehlbiss saß. Doch jener Romulus ließ trotzdem noch lange nicht von ihr ab. Selbst als sie sich längst nicht mehr regte, hielt er sie noch ruckend im Griff seiner Kiefer, knurrte tief und grollend wie ein Erdbeben. Auch in diesem Traum floss ihr Blut. Doch hier nur sparsam. Es tropfte an ihrem Hals hinab, bis der Nachschub aufgrund des gestoppten Herzschlags ausblieb.
Wilhelm ignorierte das Blut völlig.
Sein Blick haftete stattdessen an der Wolfsform seines Arbeitskollegens. An dessen Klauen und Zähnen, dessen Muskeln. Und an dessen bösartig schauenden, gelben Raubtieraugen.
"...kann ich dich nicht einfach raus bringen, du musst schon mitmachen, Wilhelm..."
Magane schien auf ihn einzureden, schüttelte ihn wohl an der Schulter. Doch er hatte nur Augen für den Werwolf.
"...ist nicht wirklich so, war es nie, verstehst du?"
Er gab dem Schwindelgefühl nach und ließ sich vorgebeugt auf die Hände fallen - wodurch er erst merkte, dass er bereits auf den Knien hockte. Endlich schloss er die Augen, löste sich von dem grausamen Bild. Er rang um Atem.
"...gewarnt. Aber ich habe ja nicht einmal geahnt, dass dich ausgerechnet dieses Szenario dermaßen..."
Sie hatte Recht. Warum ausgerechnet dieser Alptraum? Warum schlug der ihm so die Beine fort? Wo er doch sogar fast ohne Blutvergießen ausgekommen war?
"Vielleicht sollten wir aufhören damit? Also, gänzlich aufhören?"
Er versuchte, das Bild des Wolfes vor seinem inneren Auge zu verdrängen und schüttelte so energisch, wie dies mit nachlassendem Schwindelgefühl möglich war, den Kopf. Mühsam blickte er auf zu ihr.
"Nein! Nicht... ich möchte nicht aufhören. Es tut mir leid! Ich weiß nicht, warum mir so etwas passiert. Und es ist mir unsagbar peinlich. Du erlebst diese Träume viel unmittelbarer. Ich hingegen bin nur unbeteiligter Zuschauer und führe mich in dieser völlig inakzeptablen Weise auf. Tut mir leid! Bitte... nicht aufgeben! Ich reiße mich wieder zusammen. Ich kann das. Gib mir die Chance, dir zu helfen!"
Sie war dicht vor ihm in die Hocke gegangen und hielt ihn an den Schultern. Ihr Blick kündete von Unsicherheit. Aber vor allem von Mitgefühl. Was ein fast noch schmerzhafteres Ziehen in ihm auslöste. Er verdrängte auch das sofort.
"Wilhelm, ich weiß nicht. Es ist das zweite Mal, dass meine Träume dir so sehr zusetzen, dass du kaum noch handlungsfähig bist. Und woran genau auch immer das liegen mag... es ist nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest oder solltest! Du versuchst mir zu helfen, freiwillig, obwohl du mich gewarnt hattest, dass du dafür keine Erfahrungen mitbringst. Du setzt dich dem aus und man kann schlecht leugnen, dass es eine Wirkung auf einen hat. Nicht nur auf mich, auch auf dich. Gerade jetzt, wo es dir selber wegen der Nachtschichten auch nicht so besonders gut geht. Ich mache mir Sorgen, wo das noch hinführen soll, wenn ich dich weiter machen lasse. Ich... ich bin dir sehr dankbar für deine Bemühungen. Und ich wüsste auf noch immer kaum einen anderen Weg. Aber wenn du dich an meiner Stelle dabei quälst, wo ist dann die Verbesserung? Ich will nicht davon profitieren, dass du an meiner statt zu leiden beginnst."
Ihre Sorge war so beschämend und er kam mit Mühe wieder auf die Beine.
"Ich habe dir mein Wort gegeben und ich werde es halten. Ich will wissen, inwieweit ich dir helfen kann. Diese Grenze ist längst noch nicht erreicht. Es muss doch möglich sein, alle veränderten Träume einfach nur anzusehen! Ich muss mich nur zusammenreißen. Es ist nur Unwohlsein. Nicht mehr. Es hat mich überrascht, so stark, wie es war. Aber jetzt geht es wieder. Ich... ich würde nur vielleicht gerne eine kurze Pause machen. Aber nicht aufgeben, bitte nicht! Das wäre wirklich ein Versagen, mit dem ich nicht gut umgehen könnte. Ich möchte dir doch helfen! Verstehst du das?"
Sie atmete tief durch, ehe sie langsam nickte.
"Eine Pause."
Fast augenblicklich öffneten sie synchron ihre Augen inmitten der unzähligen Töpfe und Tröge des Dachgartens. Magane sprang regelrecht auf und klopfte ihm kurz auf die Schulter, als sie an ihm vorüber eilte.
"Ich hole dir was zu Trinken. Ganz ruhig! Komm erst mal wieder zu dir!"
Wilhelm ließ es zu, dass sein Körper nach Atem rang, als wenn er, gleich einem Menschen, unter Schock hyperventilieren würde. Ihm war immer noch schwindlig und dieses ständige, ärgerliche Atmen machte es gewiss nicht besser! Am liebsten hätte er auf irgendwas eingeschlagen. Irgendwas oder irgendwen, egal. Er war so frustriert, so wütend, ohne einen triftigen Grund dafür benennen zu können. Da war Etwas, das bei den Bildern des ungleichen Kampfes inwendig an ihm gerissen hatte. Etwas, das nichts mit seiner eigenen Triebhaftigkeit zu tun hatte - wenigstens das konnte er ausschließen, den Göttern sei Dank! Aber dieses Wissen war verschwindend wenig und nicht sehr hilfreich. Er konnte noch so sehr gegen die Schreie und das Knurren in seinen Ohren ankämpfen, gegen die furchtbaren gelben Augen, die speicheltriefenden Reißzähne... alle diese Eindrücke sprangen ihn mit der Heftigkeit einer immer wieder auflaufenden Flutwelle an! Als wenn sie ihn anschreien wollten, ihn herausfordern und provozieren wollten. Sie forderten Taten, brutale Taten, Gegenwehr, Rache! Und das war kein Verlangen, dem er sich normalerweise verbunden fühlte. Selbst in Anbetracht der wachsenden Vertrautheit mit der Hexe und deren Familie, war diese mordlüsterne Gier für ihn nicht nachvollziehbar. Normalerweise hätte er sich von ihren Träumen distanziert und eher den unbeteiligten Beobachter gegeben. Was war es, das ihn an dem Bild des angreifenden Werwolfes so dermaßen aufwühlte, dass er sich darin verlor?
Magane erschien neben ihm und reichte ihm ein volles Glas mit Blut. Die angebrochene Flasche stellte sie neben seine Teetasse auf den Boden, ehe sie sich wieder ihm gegenüber setzte.
Er verbot sich zu denken und trank das Dargebotene einfach in einem Zug leer. Dann schenkte er sich nach, ihren Blick meidend.
"Wilhelm, es ist ok, wirklich!"
Er trank langsamer. Schüttelte genervt den Kopf.
"Ist es nicht. Ich trinke dir deine Vorräte leer, als wenn ich ein Schmarotzer wäre, der zu faul ist, sich selbst zu versorgen. Und das hier, das ist nicht die preiswerteste Sorte. Ich... bitte sag Bescheid, wenn ich dir dafür etwas geben soll. Wie viel das macht. Ich möchte nicht... es... nächstes Mal muss ich mir selber etwas mitbringen."
"Blödsinn!" Sie wirkte fast schon leicht genervt. "Ich werde unter gar keinen Umständen Geld dafür von dir annehmen, Wilhelm. Du hilfst mir! Wenn wir in dieser Sache irgendwelche Verbindlichkeiten und Ausgleichsgaben diskutieren wollten, wären wir noch ewig damit beschäftigt. Einige Flaschen Blut zur Bewirtung eines Gastes werden mich nicht in den wirtschaftlichen Ruin treiben. Also denk nicht weiter darüber nach!"
Sie sagte das so! Als wenn es einfach wäre, die eigenen Gedanken und Gefühle zu kontrollieren. Dabei wussten sie es doch beide besser!
Magane nahm ihren inzwischen erkalteten Tee auf und betrachtete ihn aufmerksam.
"Die Szene eben... du hast noch nicht viele Werwölfe in ihrer Zweitgestalt gesehen, oder?"
Wilhelm lachte spöttisch über sich selber.
"Nein, noch gar keinen. Und dass in einer Stadt wie Ankh Morpork, ich weiß. Ich hatte bisher das Glück, noch keiner Wandlung eines Werwolfes beiwohnen zu müssen. Das... war mein erstes Erlebnis dieser Art."
Sie wirkte fast schuldbewusst.
"Normalerweise ist es nicht... so. Normalerweise wechseln sie die Gestalt und sind danach eher müde. Sie trotten davon oder legen sich in eine gemütliche Ecke. So etwas wie eben gibt es vor allem in Gruselgeschichten, die kaum etwas mit der Realität zu tun haben." Magane dachte eine Weile schweigend nach, dann atmete sie tief durch. "Weißt du was? Du musst nicht noch mal mit mir in diesen Traum. Um mehr herauszufinden als Ansatzpunkt. Die zugrunde liegenden Erinnerungen entsprechen nicht einmal dem echten Bild des Kollegen! Wenn du in ein paar Tagen soweit erholt sein solltest, dann könntest du meinetwegen versuchen, diesen Alptraum einfach nur zu löschen. Weg damit. Es wäre nicht schade darum. In Ordnung?"
Sie wirkte aufrichtig, als wenn diese Behauptung auch wirklich ihren Empfindungen entspräche. Er gestand sich ein, dass ihr Vorschlag ihn erleichterte. Er nickte langsam, mit einem schiefen Lächeln in den Mundwinkeln.
Wilhelm schenkte sich wortlos ein drittes Glas nach und trank dieses sehr bewusst leer. Große Schlucke, doch mit fast rituellen Pausen, in denen er sich zu sammeln bemühte. Er behielt die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf den Wind. Das sanfte Atemholen der Natur, den allgegenwärtigen Puls des Lebens in dieser großen Stadt um ihn her. Er verdrängte das Zittern aus seinen Gedanken, alles das, was es inzwischen gewohnt war, regelmäßig unter den morschen Dielen seines Bewusstseins zu rumoren und zu kratzen... ihr böses Lächeln und ihre zarten Hände, ihre Hitze unter seiner Haut. Raculs Häme, die sich wie mit eisigen Klauen in ihn hieb. Raistans verfluchtes Dahinsiechen, Ophelias Einsamkeit und Rogis Schmerz. Senrays Kummer... als auch der Schrecken des Wolfes abgeklungen war, öffnete er wieder die Augen und nickte der Kollegin müde zu. "Es geht wieder. Der nächste Traum handelte von Rogi Feinstich?"
Ihr Blick kündete zwar noch immer vom Zweifel aber als er sie stumm, fast bittend ansah, ließ sie sich ein letztes Mal für diesen Morgen darauf ein. Ihr Geist öffnete sich ihm wieder und sobald er dort vollständig eingetroffen war, öffnete sie eine Wachhaustür, die sie beide direkt auf eine Wiese im frühen Morgennebel führte. Ein Mann lag dort im Tau und war offensichtlich kritisch verwundet. Die Hexe hockte ganz aufgelöst an seiner Seite und wusste sich offenbar nicht zu helfen. Sie musste in der ursprünglichen Erinnerung sehr jung gewesen sein, denn weder verstand sie es, dem Verletzten irgendwie zu helfen, noch konnte er sie sich heutzutage in einem so emotional mitgenommenen Zustand vorstellen. Sie hatte wesentlich Schlimmeres durchgestanden und dabei diese typisch gelassene Haltung bewahrt. Die geträumte Magane sah unter Tränen auf, jemandem entgegen. Er ließ seinen Blick dem ihren folgen. Die Igorina kam herbeigeeilt, im Schlepptau einen Leichtverletzten. Sie wirkte unnahbar und streng, machte sich aber sofort daran, die Wunde des Mannes im Gras zu schließen. Während dieser relativ langen Zeit geschah erstaunlicherweise nichts noch Bedrohlicheres. Rogi empfahl Magane, sich krankzumelden. Als seine Ausbilderin aber fertig war und eigentlich gerade ihr Handwerkszeug wieder verstauen wollte, zuckte Wilhelm regelrecht zusammen, als er eben jenes leise aber nichtsdestotrotz scharf einschneidende Geräusch vernahm, auf dass er bang gewartet hatte. Ein Fingerschnipsen aus dem Nirgendwo. Sein Blick ruckte in die ungefähre Richtung und schon manifestierte sich dort, mit zufriedenem Grinsen auf die beiden Frauen hinab, Sebastian. Die Sanitäterin änderte ihr Verhalten. Sie griff nach ihren Utensilien und nahm ein Skalpell zur Hand. "Weift du, wenn ich ef mir recht überlege, melde ich dich doch lieber alf verftorben." Ein Kehlschnitt, sprudelndes Blut. Magane sackte in sich zusammen.
Für die Träumende musste es schwer erträglich sein, das dann Folgende zu Beobachten. Auch wenn sie es wohl kaum aus der Perspektive ihrer Leiche erleben mochte. Aber dabei zusehen zu müssen, wie der eigene Körper blutig filettiert wurde...
Wilhelm wandte sich ab. Diesmal eher aus Gründen des Respekts den beiden Kolleginnen gegenüber, die in dieser Szene verunglimpft wurden.
Magane überraschte ihn. Ihre Stimme klang sehr trocken und gefasst, so dass er zu ihr hinsah. Und wirklich, in diesem bewussten Wachzustand ihrer beider Nachforschungen, nahm sie der Traum offenbar nicht so sehr mit, wie er es befürchtet hatte.
"Da hätte es mich wirklich schlimmer treffen können. Immerhin hat er gewartet, bis Rogi Mathie wieder zusammengeflickt hatte. Wenn er gewusst hätte, wie viel mir an den beiden Männern gelegen hat, hätte er Rogi erst sie auseinander nehmen lassen. Damals waren wir noch keine Freundinnen, nur Kolleginnen. Wussten nicht viel voneinander und hatten auch noch nicht viel miteinander erlebt. Was gut ist. So konnte meine Erinnerung wenigstens nichts über sie verraten. Schnell und schmerzlos. Da hat er sich keine große Mühe gegeben."
Wilhelms Blick huschte zu der Igorina inmitten ihres Metzgerhandwerks zurück und verweilte in seltsamer Emotionslosigkeit auf dem Bild. So viel Hass und Verachtung sprachen aus dem Werk dieses ungekannten Assistenten, aus dessen grausamem Nachlass. Die gleiche Art von verzehrender, übergriffiger Energie, die auch sein noch immer existenter Meister mit sich herum trug. Es war für Wilhelm schlichtweg nicht nachvollziehbar, wie man sich so bösartig auf die Gefühle anderer Wesen stürzen und deren Lebenswillen angreifen konnte. Für nichts! Was brachte die Grausamkeit schließlich letzten Endes ein? Weder Racul, noch Sebastian hatten irgendeinen messbaren Vorteil daraus ziehen können, ihre jeweiligen Opfer mit ihrer charakteristischen Willkür zu malträtieren. Die Alpträume funktionierten zwar jetzt als postmortem aktive Rache. Aber als Sebastian sie seiner Gefangenen einpflanzte, konnte jener keinen Moment erahnt haben, dass sein letztes Stündchen bevorstand! Aus der damaligen Situation heraus, hätte der Folterknecht davon ausgehen müssen, seine Trophäe auf lange Sicht dadurch sogar einzubüßen, denn Magane hätte dann unter dessen Obhut keinen Schlaf mehr gefunden und ihren gesunden Menschenverstand eingebüßt - mit absehbaren, fatalen Konsequenzen. Sie wäre gefährlich und kaum kontrollierbar geworden, für jeden in ihrer Umgebung, auch sich selbst. Oder war ihm das wirklich gleichgültig gewesen? Wäre er offenen Auges das Risiko eingegangen, in diesem Kellerlabyrinth, direkt neben der Gruft des Meisters, eine amoklaufende, wahnsinnige Hexe festzuhalten?
Magane sah ihn an und er nahm sie erst mit leichter Verzögerung wahr. Ihre Augen fragten stumm 'Zurück?' Er nickte langsam. Und als er blinzelte, saß er auf dem Kissen im kalten Wind. Er fror. Magane nahm ungefragt seine Hand und zog ihn auf die Beine. Langsam und unendlich müde folgte er ihr, ließ sich ins Warme der Wohnung ziehen und in die Sitznische der Küche schieben.
Er war so erschöpft.
Sie ging zurück und räumte ihrer beider Sitzkissen und das Geschirr im Dachgarten zusammen.
Er beobachtete sie mit immer kleiner werdendem Sichtfeld durch das Küchenfenster zu seiner Linken. So anstrengend, auch nur zu sitzen! Er blinzelte ein weiteres Mal - und fiel regelrecht aus der Luft, fing sich instinktiv mit hastigen Flügelschlägen ab, landete mit ausgebreiteten Lederschwingen auf dem Tisch. Er sah sich verwirrt um.
Während er noch nachzudenken versuchte, kam Magane in die Küche. Sie sah ihn und stellte das Geschirr und die halb geleerte Blutflasche bedächtig auf der Arbeitsfläche ab. Dann kam sie zu ihm und betrachtete ihn von weit oben.
Er blinzelte und mochte ihrem Blick nicht mehr standhalten. Er ließ seinen Kopf sinken und legte ihn ebenfalls auf den Tisch. Er wollte ausruhen, irgendwie. Er wünschte sich so sehr, schlafen zu können, so wie die Menschen es taten.
"Wilhelm, du brauchst dringend Ruhe. Das weißt du, nicht wahr?"
Er wollte ihr resigniert zustimmen und ein kurzes hohes Fiepen erklang leise.
Sie seufzte und trat dicht an den Tisch. Dann nahm sie ihn sehr, sehr vorsichtig zwischen ihren Händen auf und hielt ihn auf Augenhöhe.
"Du übernimmst dich, Wilhelm. Ich weiß... das hoffen wir alle, dass es nicht mehr lange so weitergeht, dass er endlich vom Patrizier verurteilt wird und diese ganze Sache einen guten Abschluss findet. Aber man weiß es eben nicht. Vielleicht solltest du dir irgendeinen Ausgleich zu den Nachtschichten suchen? Was auch immer dir gut tut? Denke bitte mal wirklich darüber nach. Aber derweil... du erlaubst?"
Und damit hob sie ihn empor, zwischen die zum Trocknen aufgehangenen Kräuter, dicht an einen herrlich rustikalen Fachwerkbalken. Seine Krallen gruben sich fast instinktiv in die groben Poren und Rillen. Und seine Muskeln verfielen automatisch in den kraftsparenden Ruhezustand, in welchem er nichts mehr tun musste, als sich nur über Kopf in den Dämmerzustand fallen zu lassen. Rosmarin und Minze. Und leichte Magie. Kaffee, Tee und frisches Backwerk. Und ein leichtes, unterschwelliges Summen und Pulsieren der beiden Hexen in dieser Wohnung.
"Ich lasse dir das Fenster etwas offen stehen. Ruh dich aus, solange du das brauchst. Mach dir um nichts weiter Gedanken. Es kann zwar später etwas unruhiger werden, wenn die Familie wieder nach und nach eintrudelt. Aber du bist die ganze Zeit willkommen. Jederzeit. Und wenn es dir besser geht, brauchst du auch nicht großartig reden. Wenn es dir lieber ist, dann fliege ein und aus. Ich sage nur den Kindern Bescheid, dass du jetzt ab und an zwischen den Kräutern zu Gast bist, damit sie nicht allzu sehr in der Küche herumlärmen."
Kurz ging ihm durch den Sinn, ob die Hexe seine Gedanken lesen konnte? Dieser Ort war so friedlich. Woher wusste sie, dass er dieses Angebot kaum ausschlagen wollen würde? Dass es ihm genau in diesem Moment nicht einmal möglich schien, es auszuschlagen?
Ein wenig Ruhe nur, damit er wieder weitermachen konnte.
Der schwere Duft des Rosmarins trug seine Gedanken fort und hüllte ihn ein, wie eine warme Decke. Die Minze umwehte ihn, wie eine frische Brise, die ihn zum Lächeln verleiten wollte. Und die Herzschläge der beiden Hexen tanzten wie fröhliche Sonnenstrahlen durch schattige Baumwipfel an einem Sommertag.
Sie hatte ihre Gastfreundschaft bekräftigt. Er würde diese Freundlichkeit nicht ausschlagen.

~

Er hatte mit sich ringen müssen, um den Platz am Balken aufzugeben. Um zu seiner humanoiden Form zurückzukehren - und mit dieser auch zu den komplexeren Gedankenkonstrukten mit all ihren Zweifeln und Ängsten. Es war so viel leichter, als Fledermaus zu... sein. Dass es, vor allem auf Dauer und in übertriebenem Maße, auch riskant war, spielte in Anbetracht der Umstände fast nur noch eine untergeordnete Rolle. Letztlich aber war ihm nichts anderes übrig geblieben. Der Dienstplan war festgeschrieben. Und es gab schlichtweg niemanden, der für ihn einspringen konnte.
Wilhelm lief mit müden Schritten die Tunnel des Anwesens ab. Dann bog er um die Ecke, passierte die offen stehende Metalltür zum unterirdischen Wohnbereich, ließ die einstigen Gefangenenkammern von Ophelia und Magane rechterhand von sich liegen. Die wuchtige Tür zum Arbeitszimmer des alten Vampirs stand halb offen und dämpfte den süßen Herzschlag des Magiers nur wenig. Wilhelm klopfte sacht an und schaute hinein.
Raistan blickte auf.
"Ah! Du bist da. Ich habe einen neuen Kreidevorrat hinterlegt. Fangen wir gleich an?"
Wilhelm nickte. "Ich soll ab heute, ebenso wie Rogi Feinstich, am Zugang des Grufttunnels postiert werden, im Gegensatz zum Ende. Das wäre ihr lieber. Sie war sehr nachdrücklich mit ihrem Vorschlag."
"Und Recht hat sie!"
Wilhelm senkte den Blick und nickte nur, ehe er sich umdrehte, dem Tunnel mit dem unheilvoll düsteren Schummerlicht der Kommunikationsdämonen zugewandt.
Raculs Stimme traf ihn direkt im Sinn.
"Du verweichlichst zusehends, wirst immer menschlicher. Jetzt suchst du schon Schutz bei der Hexe und kriechst bei ihr unter? Das ist ekelhaft."
Er schloss ergeben die Augen. Und dachte an Rogis Vorwürfe. Kein Wort sollte er mit dem Gefangenen wechseln. Zu seinem eigenen Besten. Und er hatte ihr zugesichert, dass er diese Anweisung ernst nehmen würde. Er öffnete sie wieder und setzte so gut wie möglich ein zugegebenermaßen etwas mattes Lächeln für seinen kleinen Zauberer auf.
"Hier etwa, nicht wahr? In Ordnung. Ich bin soweit. Auf eine weitere Nacht zartfühlender Freundlichkeiten!"
"Ignorieren möchtest du mich also? Als wenn dir das möglich wäre! Selbst wenn ich auf den direkten Weg verzichten würde, wir wissen beide, dass dein Gehör gut genug ist, um auch dort noch meine Stimme zu vernehmen, wenn es mir die Mühe wert wäre. Was willst du machen? Dir die Finger in die Ohren stecken und flüstern, wie ein kleines Mädchen mit Angst vor der Dunkelheit?"
Raistan dirigierte ihn mit knappen Hinweisen neben die zwei Stühle, welche die Igorina und der Zauberer für deren Schichten wohl üblicherweise nutzten. Wilhelm blickte auf die Sitzmöbel, für einen Moment in fast wehmütiger Stimmung, bei dem Gedanken, Raistan könne vielleicht beschließen, auch ihm Gesellschaft zu leisten. Dann aber wuchs die Angst in ihm, seine Erschöpfung würde ihn in solch verfänglicher Situation zu hungrigem Leichtsinn verleiten.
Raculs Gedankenstimme lachte in seinem Sinn.
"Du machst Fortschritte darin, deine prinzipienlose Schwäche realistisch einzuschätzen. Aber ziehst du auch Schlüsse daraus? Oder wirst du nur herumjammern? Stehst du zu deinen Bedürfnissen? Oder wartest du so lange, bis du wortwörtlich einknickst?"
Es war keine bewusst formulierte Antwort, lediglich eine innere Beschwörung seiner selbst, als er dachte: Ich werde nicht nachgeben! Nicht 'einknicken'! Menschen sind keine Ware!
Ein regelrechter Schlag traf seine Kniekehlen, so fühlte es sich an, und er griff hastig nach der ihm am nächsten stehenden Stuhllehne. Das Holzgestell rutschte mit einem Ruck beiseite. Aber er hielt sich daran aufrecht. Sofort hatte er sich wieder im Griff. Er ließ den Stuhl los, strich in einer nervösen kleinen Geste seine Hose glatt und räusperte sich.
Raculs Stimme lachte hämisch wispernd um seine Gedanken herum.
"Tust du also nicht, hm?"
Wilhelm presste die Lippen zusammen und verdrängte den Einfluss des Alten aus seinem Sinn, so gut das ging. Er musste wahrlich eine Jammergestalt abgeben, wenn seine geistige Abwehr bereits so etwas zuließ! Das sollte dem Alten nicht möglich sein, durch dessen eigene Barriere hindurch! Andererseits arbeitete jener eher um die Grenzen seiner Barriere herum. Und Wilhelms geistiger Selbstschutz ließ ihn immer häufiger im Stich. Die Gefahr, die von Racul ausging, stieg zumindest für ihn persönlich an. Rogi hatte einen eisernen Stirnreif zum Schutz geschmiedet bekommen, einen magischen Prototypen, den sie als Untotenbann flexibel auf- und absetzen konnte, daueraktiv und tragbar. Sie trug diesen Reif zusätzlich zu dem Zauberbann, den Raistan in ihren Schichten aufbaute. Eine Vorkehrung, die für Wilhelm sogar gefährlich hätte sein können. Und Raistan selber schien nach Raculs erster Attacke auf ihn sehr viel besser gefeit zu sein. Es schien, als wenn sich dem Zauberer, nach dem einmal erlebten Schub negativer Energien, ein Reservoir genau dafür nutzbarer Gegenkräfte aufgetan hätte. Raistans Magie schützte ihn, auch wenn jener sich dafür der Gefahr weiter bewusst sein und seine Ängste und Bedürfnisse gut im Blick behalten musste. Dennoch! Der Zauberer schien durch seine arkanen Kräfte eine leichte natürliche Abwehr gegen den Alten zu besitzen und diese auch noch aufzubauen, je häufiger er die Gruft zum Erneuern des Zaubers aufsuchte. Wilhelm hingegen... weder verfügte er über eigene Magie, noch konnte man ihm mobile Untotenzauber anhexen, um seine natürlichen Barrieren zu unterstützen. Er musste alleine zurechtkommen. Und er musste sich in Acht nehmen, so sehr auf der Hut sein!
Raistan hatte mit dem Bannspruch soeben begonnen gehabt, als ihn die gedankliche Ohrfeige des Greises traf. Der Magier ließ sich bei seiner Aufgabe nicht beirren und sprach mit gleich bleibend klarer und betonter Stimme weiter, führte die inzwischen schon so vertraut wirkenden Gesten dabei aus, die seine schlanken Hände wie tanzende Vogelschwingen im Aufwind wirken ließen. Doch Wilhelms Ringen entging ihm nicht. Die stahlgrauen Augen ruhten auf ihm, während die giftgrünen Schleier sich mit einem kurzen Aufleuchten rund um den jungen Vampir schlossen, um dann zu verblassen.
"Wilhelm? Was genau war das?"
Der Ältere schüttelte nur mit gesenktem Blick den Kopf.
"Schon gut. Mit deinem Bannschutz ist es schon sehr viel besser. Danke!"
"Hat er dich angegriffen?"
Wilhelm nickte müde, ehe er sich schwer auf den Stuhl fallen ließ und sich dort, vornüber gebeugt, auf seine Oberschenkel abstützte.
"Ja. Aber es war nichts Ernstes. Nur eine kleine Spitze gegen mein Ego. Er kommt nicht sonderlich gut damit zurecht, nicht mehr das Sagen zu haben. Wie wir ja beide gleichermaßen wissen." Er sah nur kurz zu Raistan auf, ehe er dessen Blick nicht länger kontern konnte. "Mach dir keine Sorgen! Jetzt kann er sich ja erst mal wieder austoben, ohne irgendwem hier draußen zu schaden."
Kurz sahen sie einander an und es schien Wilhelm, als wenn Raistan um Worte ringen würde. Der Anblick erinnerte ihn fatalerweise an Mina von Nachtschatten, wie diese zögernd im Türrahmen gestanden hatte. Er machte ihnen allen nur Ärger, stahl ihre Zeit. Zwang sie allein schon durch seine bloße Anwesenheit dazu, für ihn zu verlangsamen und innezuhalten, wo sie ohne diese Rücksichtnahme ihm gegenüber viel schneller ihre Ziele erreicht hätten!
Es blieb ihm nicht viel anderes übrig, als dieses Bild, automatisch, in irgendeiner Weise zu interpretieren. Und er tat dies mit der anwachsenden Unsicherheit der letzten Tage. Raistan wollte höflich sein. Vielleicht sogar freundlich, wer wusste das schon so genau. Aber zugleich mochte er die Vorstellung nicht, auf das sich abzeichnende Gefühlschaos seines Gegenübers einzugehen.
Wilhelm entschloss sich mit fast fatalistischem Gleichmut dazu, Raistan das Gewicht dieser Entscheidung abzunehmen.
"Nun geh schon. Ich halte dich nur von deinen sonstigen Plänen ab, dabei komme ich alleine zurecht."
"Bist du dir sicher?"
Sie hörten es beide. Das krächzende Lachen, welches den schummrigen Gang entlang hallte.
Wilhelm nickte leicht in Raculs Richtung.
"Es wäre jedenfalls keine gute Idee, ausgerechnet hier mit längeren Gesprächen zu sensiblen Themen zu beginnen. Lass es uns einfach dabei bewenden."
Der Zauberer blickte grimmig an Wilhelm vorbei in den Gang, der zur Gruft führte, nickte dann aber.
"Das stimmt!"
Und dann war er wieder alleine. Oder zumindest fast alleine. Die echte Stimme des Alten, gebunden an das Wohlwollen seines Körpers, flüsterte rau durch den Tunnel. Kratzig und unleidlich, leise. Aber präzise.
"Sensible Themen? Soso!"
Wilhelm lehnte sich schwer auf dem Stuhl zurück. Nicht mit ihm kommunizieren! Ignorieren.

TAG 34

Die Situation war unmöglich auszublenden. An irgendeine Art von Nachtruhe war nicht zu denken. Denn: Senray füllte gerade seinen gesamten Kosmos aus!
Ihr Duft, ihr Herzschlag, ihre Wärme und, ja, als hauchzarter Nebelschleier auch ihre unverständlich wispernden Gedanken und Gefühle, all das auf einmal drängte sich vertrauensvoll an ihn. Denn sie war an seiner Seite eingeschlafen. Er blickte lächelnd auf sie hinab. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter und ihre Hand hatte sich im Schlaf in seine Armbeuge geschmiegt, so selbstverständlich, als wenn es so sein sollte. Unbeabsichtigt, doch sehr willkommen. Er würde sie auf gar keinen Fall von sich stoßen. Allerdings würde er sich auch unter keinen Umständen noch mehr herausnehmen, als dieses passive Genießen ihrer Nähe. Er würde nicht dem Impuls folgen, ihr den Arm um die Schultern zu legen und sie dieserart gänzlich in seine Umarmung zu ziehen. Nein. Das stünde ihm nicht zu. Ohne eine bewusste Zustimmung ihrerseits, wäre das ein Übergriff auf ihre Persönlichkeitsrechte, der ihm verwerflich vorkäme. Aber ihr zutrauliches Wegdämmern, dieses An-Ihn-Heransinken, während sie gemeinsam auf dem Sofa gesessen hatten, das musste sie gewissermaßen einkalkuliert haben. Erst recht nach diesem Abend. Das durfte er gewiss einfach nur geschehen lassen, es war gleichermaßen schön und harmlos, oder?
Ja... dieser Abend. Dieser Abend war ein Wendepunkt in ihrer beider Beziehung gewesen. Auf jeden Fall von seiner Seite aus. Auch, wenn nichts davon bisher in Worte gefasst worden war.
Stunden waren vergangen, seit er zum Morgengrauen die Gruft des Alten verlassen hatte und einem sehnsüchtigen Impuls folgend, zum Boucherie gelaufen war. Er musste immerzu an Senray denken. An ihren verständnisvollen Blick. An ihren so ungewohnt ruhigen Puls, wenn sie ihm zuhörte. Wenn sie ihm gegenüber saß, dann war da mehr, als nur ein kleiner Mensch mit großen Augen, mehr als nur eine unsichere Kollegin. Ihre Aufmerksamkeit vermittelte den Eindruck von... Zeitlosigkeit? Als wenn alles andere warten könnte. Sie hob mit diesem Blick die Schranken auf, die sie beide als Mensch und Vampir trennten. Ohne die rein geistige Ebene zu berühren. Und sie gab einer seltsamen Art von Ewigkeit damit zwischen ihnen Raum, die sich richtig anfühlte. Richtig und wichtig. Und vollkommen in der Schwebe. Das, was da zwischen ihnen war, war gleichzeitig vorsichtig, geheimnisvoll, ehrlich, zerbrechlich und unzerstörbar. Und er hatte dieses Etwas seit vier Tagen nicht mehr spüren dürfen. Vier Tage, seit diesem gemeinsamen Frühstück mit Magane. Tage und Nächte, in denen er ihre Sanftmut vermisst hatte. Viel zu lange. Ob sie ihn mied? Eigentlich konnte das nicht sein. Das traute er ihr nicht zu. Sie war ihm zugetan, das machte ihr gesamtes Verhalten ihm wortlos deutlich. Und sie wusste doch, dass auch er gerne Zeit mit ihr verbrachte. Oder sollte er ihr das noch mal deutlicher sagen? Manchmal war sie so unsagbar schüchtern. Hatte er etwas getan, um sie zu verschrecken? Irgendeine Unachtsamkeit, die ihr wieder seine wahre Natur vor Augen geführt hatte, welche sie so gerne verdrängte? Andererseits... mit diesen Überlegungen stellte er sich nur wieder selber in den Mittelpunkt. Es war wahrscheinlicher, dass sie einfach zu viel zu tun hatte, um auch noch Treffen mit ihm in ihrem Tagesablauf unterzubringen. Immerhin konnte man auch ihm im Gegenzug vorwerfen, sie links liegen gelassen zu haben, so, wie er sich aus Erschöpfung eingekapselt hatte.
Die Nacht in Raculs Reichweite hatte sich mit bitterer Kälte in ihn eingegraben und ließ ihn innerlich frieren. Der Alte hatte sich scheckig gelacht, als ihm klar geworden war, dass sein Lieblingsopfer schon kurz nach Beginn der Schicht diesmal wirklich darin Zuflucht gesucht hatte, sich die Ohren zuzuhalten. Dieses Lachen zumindest war durchdringend und hämisch genug gewesen, um es noch zu hören. Und zu deuten. Wilhelm weigerte sich inzwischen, eingehender über seine Situation nachzudenken. Was ihm dadurch erleichtert wurde, dass er ohnehin viel zu erschöpft war zum Nachdenken. Wozu darüber Bedauern empfinden, dass er sich immer mehr wie ein alleine gelassenes Kind verhielt? Sollte der Uralte doch lachen. Im Vergleich zu diesem war er schließlich wirklich nicht viel mehr, als eine verwahrloste Waise. Sich selbst überlassen und ohne Anleitung. Sie wussten das beide. Racul war es ja gleich zu Beginn ihres Aufeinandertreffens aufgefallen und man konnte diesem keine Zurückhaltung vorwerfen, was seine Offenheit zu diesem Punkt anbetraf. Andere würden es nur dann erfahren, wenn Wilhelm ihnen davon erzählte. Und warum sollte er das tun? Eben! Es lief also darauf hinaus, dass er sich getrost in diese neu entdeckte Möglichkeit flüchten konnte. Er musste nur aufpassen, dabei weiter den Gang im Auge zu behalten, um mögliche Eindringliche wenigstens zu sehen, wenn schon nicht zu hören. Und eine Möglichkeit war es! Racul verlor so schnell die Lust daran, die Stimme zu erheben, dass er ihn stattdessen sogar eher in Ruhe ließ. Laut sprechen zu müssen, das war nichts, was dieser gewohnt war. Oder was ihm lag. So lächerlich Wilhelms Benehmen also wirken mochte (hätte ihn irgendeiner seiner Kollegen dabei beobachten können), es verschaffte ihm Erleichterung vor den verbalen Hieben des Greises, welche jenem als einzige Möglichkeit geblieben waren!
Die Nacht war erträglich gewesen. Zum ersten Mal. Er war natürlich trotzdem erschöpft. Immerhin verflog der eklatante Mangel an Erholung seit dem Beginn der Rettungszirkelaktivitäten nicht, nur weil er jetzt eine kurze, unerwartete Atempause erleben durfte. Aber das erste Mal, seit Beginn der Sonderschichten, fühlte er sich nicht wesentlich schlechter im Anschluss. Lediglich Raculs Anwesenheit schien die Tunnel unsichtbar, wie mit Trockeneis, einzunebeln. Aber das war harmlos.
Vielleicht war das auch der Grund dafür gewesen, dass er sich nicht direkt auf den Heimweg gemacht hatte? Er hatte sich nicht völlig verausgabt in dieser Wacheschicht. Es gab eine minimale Reserve, die die Unruhe in ihm schürte. Und allenthalben tauchte der Gedanke an das kleine Vogelherz wieder auf. Zu lange. Er hatte sie viel zu lange nicht mehr gesehen. Er musste wissen, wie es ihr ging. Ob sie etwas brauchte.
Deswegen war er zu ihrer Dienststelle gegangen. Wenn die Wahrscheinlichkeit hoch sein sollte, sie irgendwo spontan anzutreffen, dann war das dort der Fall. Mit all seinen Sinnen hatte er nach Senray Ausschau gehalten. Und natürlich hatte er ihren schnellen Herzschlag sofort gehört und zu ihr aufgeblickt, als sie, wie lautlos von ihm gerufen, an der Dachkante des Gebäudes erschien. Sie hatte ihn zutiefst besorgt angesehen und es bedurfte nur einer winzigen Geste, um unzweifelhaft zu wissen, dass sie nicht einfach verschwand, als sie von der Kante zurücktrat, sondern dass er an Ort und Stelle warten solle, weil sie auf dem Weg hinab zu ihm war.
Sie hatte ihn überrascht. Wo sie ihm sonst unsicher entgegentrat, war sie diesmal fast verärgert gewesen. Und er hatte einen Moment benötigt um zu verstehen, warum.
Raistan hatte die Zeit genutzt, sie aufzusuchen und ihr das Eine oder Andere über die Nachtschichten zu erzählen, anscheinend, um sie dazu zu ermuntern, sich mehr um ihn zu kümmern. Der Gedanke, bemuttert zu werden, indem andere für ihn Fürbitte hielten, war ihm peinlich. Erst recht wo er doch ahnte, wie viel es ausgerechnet dem kleinen Vogelherzen zu bedeuten schien, um seine Gesundheit und sein Gleichgewicht zu wissen! Er selber hätte ihr aus gutem Grund gewisse Dinge nicht unbedingt auf dem Silbertablett serviert. Beispielsweise den ermordeten Jungen in der Gruft. Was würde es schon Positives bewirken können, ihr davon zu erzählen? Es ließ sich, im Nachhinein, schließlich nicht ändern. Raistan hingegen schien sich über die Wirkung seiner Worte auf Senray kaum Gedanken gemacht zu haben. Oder, falls doch, dann zu spät. Das Unheil war angerichtet gewesen und das kleine Vogelherz aufgewühlt.
Wilhelm betrachtete Senray dabei, wie sie schlief. Er konnte ihr nicht richtig ins Gesicht sehen. Es war mehr ein Auf-Sie-Herab-Schauen, im reinen Wortsinn. Er konnte ihr Haar betrachten, wie es sachte im Widerschein der herunter gebrannten Kaminglut schimmerte. Und er konnte das kaum wahrnehmbare Beben ihrer feinen Augenwimpern sehen, wenn die Traumbilder sie scheinbar schreckten. Etwas, das sich in den emotionalen Streiflichtern und dem unterschwelligen Zittern ihrer Muskeln spiegelte. So wie auch jetzt wieder.
Er runzelte besorgt die Stirn. Es war nichts Neues, dass sie mit Alpträumen rang. Doch irgendwie hatte er gehofft gehabt, es hätte sich etwas gelegt, seit den traumlosen Stunden der Nachtruhe, die er ihr vor dem Rettungseinsatz geschenkt hatte. Wie es aussah, war dem nicht der Fall. Sie hatte nur nicht mehr darüber gesprochen. Er seufzte leise. Hätte er es nicht besser wissen müssen? Es gab so vieles, worüber sie nicht sprechen konnte, nicht sprechen durfte, dass ihr dieses Verhalten zur Gewohnheit geworden war. Auf sich allein gestellt. Stiller werdend, wenn etwas sie belastete. Am liebsten hätte er sie doch richtig in den Arm genommen und ihr übers Haar gestrichen. Sie wirkte so zerbrechlich!
Doch er wollte sie nicht ungebührlich, mit zu großer Vertraulichkeit berühren.
Wecken wollte er sie aber auch nicht. Sie brauchte den Schlaf dringend. Was blieb da noch?
Ihre Hand zuckte leicht an seiner Armbeuge zusammen und im Reflex legte er ihr seine Hand auf die verkrampften Finger, strich vorsichtig darüber und drückte sie dann sacht.
Senray atmete etwas kräftiger ein und aus und ihre kleine Hand unter der seinen entspannte sich langsam. Aus ihrer Angst, die ihn umschmeichelte, wurde Verwirrung. Ihr Herzschlag beruhigte sich minimal.
Zögerlich nahm er seine Hand wieder zurück. Ihr Atem blieb ruhig und gleichmäßig, selbst, wenn ihre Wimpern immer wieder flatterten.
Es war seltsam, sie in dieser Art bei sich zu haben. In dem Wissen, sie zu lieben.
Ja, er liebte sie. Etwas, dass er sich im Laufe dieses abends endlich eingestanden hatte. Senray war außer sich gewesen vor Sorge und hatte darauf bestanden, dass sie miteinander reden müssten. Bei ihm, nicht im Boucherie. Sie hatten sich also in seiner Wohnung getroffen, lange nachdem seine Angestellten schon den Laden im Erdgeschoss abgeschlossen hatten und gegangen waren. Und dann hatte sie so lange betont, dass er mit ihr reden könne, war so enttäuscht gewesen über seine Zurückhaltung, dass er letztlich nachgegeben hatte. Er erzählte ihr von Raculs verbalen Angriffen und von dessen Arroganz. Und sie las nur zu schnell zwischen den Zeilen des Gesagten heraus, wie weit Raculs Einfluss wirklich ging. Dass der Alte in seine Gedanken gelangt war und ihn dort verhöhnte. Er war sich im Nachhinein nicht sicher, wie es ihr gelungen war, ihn dieserart zum Sprechen zu bringen, doch irgendwann waren sie an einen Punkt gelangt, an dem ihm eben jene Information entschlüpft war, die er ihr niemals hatte eingestehen wollen: dass ihr Dämon ihm gezielt Schmerzen zugefügt hatte, damals, um an seinen Namen zu gelangen und den Pakt zwischen ihnen besiegeln zu können. Und dass der alte Vampir ihn dafür regelmäßig in den Nächten verspottete. Für seine Niederlage. Für sein halb besinnungsloses Kriechen vor der Kreatur.
Die Worte hatten Senray wehgetan. Und sie taten ihm leid. Aber er war so unsäglich erschöpft gewesen in dem Moment. Und sie, wie hatte sie darauf reagiert?
Sie hatte seine Hand gehalten und ihm zugesichert, dass der alte Vampir keine Ahnung davon hatte, wie allumfassend einen jene Schmerzen einnehmen konnten, die vom Dämon herrührten. Ein Ankämpfen dagegen war nahezu hoffnungslos. Und selbst die kleinen Siege... sie waren stets teuer erkauft! Wenn Racul Wilhelm für dessen angebliche Schwäche verspottete, dann nur aus dem Grund, um ihm zusätzlich wehzutun, weit entfernt von jeglichem eigenen Nachvollziehen. Sie hingegen wusste sehr wohl, wovon er sprach. Sie hatte ihn mit unvergleichlicher Intensität angesehen und voller Überzeugung seine Hand zwischen die ihren genommen, hatte sein Denken und Fühlen und seine Aufmerksamkeit an sich gebunden, als sie sagte:
"Dann hat er keine Ahnung, Wilhelm..."
Ihr Blick dabei berührte ihn so sehr! Sie konnte mit ihm mitfühlen. Nur sie. Und sie tat das auch! Sie war keinen Millimeter davor zurück geschreckt, seine dunklen Erinnerungen mit ihm zu teilen. Auf dieser absolut menschlichen Ebene. Und da hatte er die Augen nicht mehr davor verschließen können.
Er liebte sie. So einfach war es. Ganz gleich, wie kompliziert der Rest daran war.
Senray zuckte wieder im Schlaf zusammen und ihr Herz nahm neuerlich Anlauf.
"Schschschhhh! Schon gut, kleines Vogelherz. Ich bin da..."
Er legte seine Hand neuerlich auf die ihre in seiner Armbeuge. Und beließ sie diesmal dort.
Sie atmete mehrmals ruckartig ein, ehe sie sich fester an seine Seite schmiegte und wieder etwas ruhiger wurde.
"Alles wird gut." Trost. Aber auch ein hoffnungsvolles Versprechen. Er war gewillt, selber daran zu glauben. So fest, dass es wahr werden musste.
Er ließ seine Stimme leiser werden, bis er ihr nunmehr flüsternd gut zuredete. Ein unendlicher Strom sacht gemurmelter Worte voller Zuneigung und Zuversicht.
So verstrichen die Stunden. Und es stimmte, was er ihr gesagt hatte. Er benötigte nicht im gleichen Sinne Schlaf, wie die Menschen es taten. Wenn man so wollte, glichen seine Bedürfnisse eher einer Art Meditation. Und wie gut das war! Denn sonst hätte er nicht jede dieser kostbaren Minuten mit ihr genießen können! Und gleichzeitig hatte ihre Präsenz eben auch etwas absolut Meditatives, gab ihm ein Wenig von dem zurück, was ihm fehlte. Sie tat ihm gut.
Erst zum Morgengrauen stand er vom Sofa auf und bettete stattdessen sie dort, indem er ihr eines der Kissen unter den Kopf legte und die leichte Strickdecke über ihr ausbreitete.
Es wurde Zeit, den Frühstückstisch für sie zu decken.

Tag 35

Maganes Dachgarten kam in Sicht und Wilhelm ging in einen pfeilschnellen Landeanflug. Noch vor der Dachkante leitete er die Rückverwandlung ein, fiel präzise über deren hohe Umrandung und kam knapp hinter dem Rosenbusch schlitternd zum Halt. Er straffte die Schultern, schüttelte leicht seine Arme aus und atmete bewusst den zarten Duft ihrer Kräuterbeete ein. Die Tür zum Wohnraum öffnete sich nach draußen und er wandte sich mit einem freundlichen Lächeln der Hexe zu. Und hielt mit einem kurzen Husten den Atem an. Seine Haltung verkrampfte instinktiv, noch ehe sie ganz bei ihm war. Feuer! Der Gedanke kam zeitgleich in seinem Gehirn an, wie die verwirrende Information, dass ihr nicht nur intensives Brandaroma anhaftete, sondern auch der Übelkeit erregende Gestank nach schwelenden Wunden. Es war der gleiche Geruch, der von ihm selber ausgegangen war, nach den Angriffen des Feuerdämons, als das Paktmal auf seiner Brust noch frisch aufgebrochen und die Fleischränder mit seinem Hemd verkokelt waren. Zu vertraut!
Er war minimal vor ihr zurückgewichen, noch ehe es ihm selber überhaupt bewusst war.
Sie hielt mitten in der Bewegung inne und runzelte die Stirn.
"Wilhelm?"
Er zwang sich dazu, neuerlich einzuatmen, in dem Versuch, die aufsteigende Panik bewusst niederzuringen. Diese Reaktion war irrational. Der Dämon konnte nicht hier sein. Oder? Nein! Senray war schließlich auch nicht hier! Das wusste er. Immerhin hatte sie vor wenigen Minuten erst sein Heim verlassen, und dies ganz sicher nicht in Richtung des Hexenhaushaltes! Das hier musste etwas anderes bedeuten. Atmen und trotzdem klar denken, sich nicht von der aufsteigenden Furcht mitreißen lassen! Die eingebrannten Erinnerungen durften nicht seinen eigentlich harmlosen Alltag zu überfluten beginnen. Er musste das kribbelnde Gefühl ihrer Hand auf seiner Haut verdrängen. Atmen! Er nahm weitere Gerüche wahr. Hinter den aggressiven Geruchsnoten von Rauch und verbranntem Fleisch gab es Kräuter und Salben, gestärktes Leinen. Er befeuchtete sich nervös die Lippen.
"Was ist hier passiert?"
"Was genau meinst du? Worauf beziehst du deine Frage?"
Er räusperte sich dezent.
"Du... riechst nach Feuersbrunst und starken Verletzungen."
"Ah... das..." Sie atmete tief durch, ihre Schultern sackten minimal ab. "Da du quasi ein gern gesehener Dauergast in unserem Hause bist, solltet ihr euch vielleicht bei dieser Gelegenheit gleich kennen lernen. Komm, ich stelle euch einander vor. Seit gestern wohnt mein Mann ebenfalls bei uns. Er wurde bei einem... Unfall schwer verwundet. Daher der Geruch. Wundere dich nicht. Auch wenn er noch eine Weile brauchen wird, um wieder auf die Beine zu kommen, er ist trotzdem ziemlich neugierig."
Wilhelm folgte ihr unter großer Anspannung in die Wohnung. Sie durchquerten den Wohnraum und Elisas Kinderzimmer, hinter welchem noch ein Raum lag. Es musste sich um Maganes Schlafzimmer handeln, einen winzigen Raum, in den fast nur ein Bettgestell hineinpasste, sowie ein Nachttischchen. Am Fußende stand eine Truhe. Auf der Bettkante saß, halb verschattet, ein Mann und las. Der Fremde hörte sie näher kommen und hob den Kopf. Braune Augen unter leicht gelocktem, dunklem Haar.
Nicht "Fremder". Maganes Ehemann! Und anscheinend ein Omnier?
Der Mann war geschwächt. Sein Puls ging langsam, fast schleppend. Sein Organismus musste hart darum ringen, ihm die relativ gelassene Haltung zu ermöglichen. Alles an ihm stank nach Flammeninferno und abheilenden Verbrennungen, was die Unbehaglichkeit in Wilhelm verstärkte. Ihm war nicht gut.
Der Mann wirkte wie eine unfertige Mumie, mit all den frischen Bandagen, die die Hälfte seines Körpers bedeckten. Er legte ein Stoffstück als Lesebändchen in das aufgeschlagene Buch und jenes neben sich auf dem Kissen ab. Eine FROG-Trainingshose war scheinbar alles, was er trug. Dennoch musste er sich durchaus nicht verstecken. Sein Körper kündete davon, dass er regelmäßig in Bewegung blieb. Wache Augen, ein wacher Verstand. Selbst wenn er eine seltsame, unterschwellige Verzögerung ausstrahlte. Ein emotionales Hinterherhinken, zwischen Sehen und Reagieren. Schmerzmittel? Denn das kam irritierenderweise dazu: Die Schwere der Wunden, die von den Verbänden verdeckt wurden, musste enorm sein, wenn der Geruch ein Indiz sein sollte. Und doch lächelte der Omnier ihnen fast unbeschwert entgegen. Aber die Hexe sorgte sich offensichtlich um ihn und sie verstand ihr Handwerk.
"Wilhelm, das ist mein Mann David, nach langer Abwesenheit kaputt zurück. David, das ist mein Kollege Wilhelm, er hilft mir mit einem Problem."
Sie nickten einander zu.
Wilhelm räusperte sich den Geschmack nach Asche von den Stimmbändern und deutete mit einer zurückhaltenden Geste in die Richtung des Mannes.
"Mein Mitgefühl. Wegen des Unfalls. Was ist denn passiert?"
Der so überraschend aufgetauchte Ehemann wechselte einen schnellen Blick mit Magane, ehe er unverbindlich lächelte.
"Ein brennender Balken ist passiert."
Seine Stimme klang rau und heiser, ließ aber trotzdem erahnen, dass dem nicht immer so war. Es bereitete ihm Unannehmlichkeiten, zu sprechen. Vermutlich hatten zu dem Balken noch einige Dinge mehr gehört, unter anderem sehr viel Rauch. Vielleicht sogar Flammenwände, eine regelrechte Passage durch schwarzen Rauch, der einem die Sicht nahm und sich durch die Lungen ätzte...
Wilhelm versuchte, seine zusammen gekrampften Hände zu lösen.
Der Omnier sprach auf jeden Fall klar verständliches Morporkianisch. Aus irgendeinem Grund war Wilhelm sich da nach dem ersten Eindruck nicht so sicher gewesen. Dessen gebräunte Haut verwies auf sonnigere Regionen, als jene der Stadt, welche derzeit erst aus dem nasskalten Winterschlaf erwachte.
"Ein... oh... achso."
Sein Gegenüber grinste fröhlich. Da aber weder von diesem, noch von Magane eine weiterführende Erklärung erfolgte, nahm Wilhelm die Information einfach nur hin. Der Verletzte nickte in seine Richtung.
"Und bei was für einem Problem stehst du meiner Frau bei?"
Die Frage öffnete eine Tür zu den unendlichen Weiten einer Erzählung mit richtig vielen Fettnäpfchen. Wilhelm blickte leicht hilflos zu Magane hinüber. Welche für ihn einzuspringen gedachte.
"Es gab hier einige eher ungewöhnliche Ereignisse. Ziemlich verzwickt. Ich wollte sie dir zu einem günstigeren Zeitpunkt erzählen. Wenn zumindest dein Fieber gesunken wäre. Das Ganze führte jedenfalls dazu, dass ich nicht besonders gut schlafe. Und Wilhelm hilft mir dankenswerterweise mit seinen Möglichkeiten dabei, zu entspannten. Ausgeschlafener und durchdachter zu sein, als es mir sonst möglich wäre."
Wilhelm konnte regelrecht dabei zusehen, wie dem Menschen verschiedene Szenarien in Windeseile durch den Sinn schossen. Und bei dem plötzlich sehr viel wachsameren Blick, der ihn von Kopf bis Fuß taxierte, war er froh, nicht erröten zu können. Die Peinlichkeit der ablesbaren Schlussfolgerung mochte sich jedoch durchaus auch anderweitig an ihm abzeichnen. Er stotterte fast ein wenig, als er schnell einwarf:
"Nicht so! Also... es ist wegen ihrer Alpträume. Ich... das... ich hypnotisiere sie. Weil sie das möchte. Nichts weiter!"
Um der Ahnen Willen! Ihr Ehemann überlegte ernsthaft gerade, ob Magane in der Zeit seiner Abwesenheit anderweitige Kurzweil in ihrem Schlafgemach gesucht hatte! Ob Wilhelm ihr 'Typ' sein konnte. Die Gedanken des Omniers - und ja, er war einer und wirklich erst vor wenigen Tagen per Schiff eingetroffen - waren sehr zugänglich. Sie waren lebendig und wild, ganz anders, als dessen momentaner körperlicher Status. Einmal über die Teppichkante dieses tanzenden Geistes gestolpert, fiel Wilhelm regelrecht in eine warme Umarmung aus weichem Tuch und Gewürzen, Gastfreundschaft und Sand, Lebenslust und Lachen.
Magane weiß, was sie will. Sie nimmt sich, was sie will. Und sie lässt Nichts zu, was sie nicht will. Die Wüstenblume passt auf sich selbst auf. Die Frage stellt sich eher, was sie in diesem schüchternen Vampir wohl gesehen hat, das ihr gefiel?
Wilhelm versuchte, sich aus den bunten Gedankentüchern zu befreien, die sich mit leisem Lachen und dem Klingen von Zimbeln um ihn wickelten.
"Wirklich, so ist es nicht!"
Als er den amüsierten Blick der Hexe streifte, trat er einen Schritt zurück.
Wenn sie jetzt dachte, dass er mit Vorsatz in die Gedanken ihres Mannes getreten sei... Niemals hatte er es sich mit ihr verscherzen oder ihre Macht herausfordern wollen!
"Tut mir leid! Das war keine Absicht. Ich... vielleicht ist es besser, wenn ich gehe? Dann könnt ihr euch in Ruhe aussprechen? Vielleicht ist heute kein guter Zeitpunkt für unsere Sitzungen..."
Magane und David tauschten einen wissenden Blick und reichten sich, voller Vertrauen, zärtlich die Hände. Der Omnier lachte rau und ein Nachhall von dessen Gedankenschleiern folgte Wilhelm.
Keine Affäre... eine hilfsbereite Seele zu ihrer Rechten, auf den dunklen Pfaden dieser Seite der Scheibe...
"Beruhige dich, Freund! Du bist willkommen in diesem Haus, welches das ihre ist. Und so möchte ich dich ebenfalls kennen lernen. Kein böses Blut zwischen uns. Vertraue ihrer Wahl."
David reichte ihm die rechte Hand, um einzuschlagen. So ziemlich das Einzige an dem Mann, das einigermaßen unverletzt wirkte. Und Wilhelm nahm das Angebot vorsichtig an. Kaum jedoch berührten seine Fingerkuppen die Handfläche des Omniers, explodierten Erinnerungsbilder aus dessen jüngster Vergangenheit in Wilhelms Gedanken. Seine Hand verkrampfte und seine Augen weiteten sich.
Der Donnerschlag einer Explosion, Qualm und Rauch, ein Ruck der durch die Luft ging, wieder. Nicht die erste Detonation und nicht die letzte. Schnell! Eine weitere Treppe, die er hektisch hinauf rannte. Hitze, über das übliche Maß hinaus. Brennende Möbel, brennende Gardinen. Überall das unstete Flackern der Flammen! Das Krachen nachgebenden Holzes in der Zimmerdecke über seinem Kopf, fallendes Feuer, stiebende Glutfunken.
"...ihn los, David. Irgendwas stimmt nicht."
Er blinzelte, Maganes Stimme noch wie von Ferne im Ohr. Die Wärme des Händedrucks wie eine verstohlene Sommerböe an der Haut seiner zitternden Finger, die er verschämt zurückzog.
Der Mann betrachtete ihn mit aufmerksamer Neugier.
Wilhelm verbarg das Zittern so gut es ging. Er lächelte schief.
"Dein Geist ist... sehr freimütig. Ich vermute, dass es gut wäre, wenn wir einander künftig nicht zur Begrüßung die Hände schütteln würden."
"Nicht? Lieber umarmen?" Noch ehe er mit unübersehbarer Hast ablehnend auf diesen Vorschlag hätte reagieren können, breitete sich ein regelrecht unanständiges Grinsen auf dem sonnengebräunten Gesicht aus und die braunen Augen unter den dichten Wimpern funkelten übermütig. "Ist vielleicht wirklich besser so. Darauf zu verzichten. Nicht alle Gedanken und Emotionen sind gesellschaftsfähig."
Er fühlte sich überfordert von der Schlagfertigkeit seines Gegenübers. Seine Antwort konnte eindeutig weder gegenhalten, noch übertrumpfen. Die letzten Wochen und ihre Auswirkungen hinderten ihn daran, elaboriert zu kontern. So klang seine Antwort wie gewollt und nicht gekonnt, einfach nur lahm.
"Sind sie nicht? Na dann..." Er blickte Hilfe suchend zu Magane, die Mitleid mit ihm zu haben schien. Sie wandte sich an ihren Mann.
"David, er ist derzeit nicht ganz auf der Höhe..."
"Macht das was? Ich doch auch nicht. Damit hätten wir Gleichstand."
"Nicht unbedingt. Belass es für heute vielleicht einfach dabei, hm?"
"Wenn du wünschst..."
Sie nickte und schloss das Buch vorsichtig mit dem Lesebändchen darin, legte es auf den kleinen Beistelltisch und schüttelte sein Kissen aus. Er folgte ihrer wortlosen Aufforderung mit einem grinsenden Augenrollen in Wilhelms Richtung, ehe er sich brav hinlegte. Magane strich ihrem Mann liebevoll übers Haar.
"Ja, ich wünsche. Hast du alles, was du brauchst? Wir gehen dann jetzt auf die Veranda. Wilhelm wird zuerst an der Stelle weiter mit seinen Gedanken in den meinen forschen, an der wir zuletzt bei der Problemsuche aufhörten. Danach wechsel ich auf das Sofa im Wohnraum, wo er mich schlafen schicken wird. Das könnte eine Weile dauern, bis ich von selbst aus der Vampirhypnose erwache, weil mein Körper das von sich aus entscheidet, wann ich genug Schlaf nachgeholt habe. Die Kinder wissen schon Bescheid. Wenn du dann etwas benötigst, sag Tom oder Elisa Bescheid, ja?"
Kurz sah David sie ernst an.
"Ja. Alles klar. Und morgen reden wir."
Sie nickte.
Als Wilhelm sich zum Gehen wandte, hatte der Omnier bereits seine Augen geschlossen. Die Konzentration fiel von ihm ab und offenbarte anderes. Ein schwerer Husten rasselte einmal durch seinen Körper und ließ ihn vor Schmerz zusammenzucken. Dann drehte er sich erschöpft auf die Seite.
Magane drehte die kleine Öllampe auf dem Nachttisch runter und folgte Wilhelm auf die Dachterrasse. Kalter Wind verwehte den Gestank des Krankenlagers und er atmete gierig den Duft der Kräuter ein. Hinter sich hörte er die beiden Sitzkissen auf die Steinplatten plumpsen, kurz darauf das Klirren von Glas.
"Oh verd...", er drehte sich schuldbewusst um. Und wirklich hielt sie ihm bereits ein gut gefülltes Glas mit Blut hin. Er seufzte leise. "Ich wollte doch eigenes mitbringen. Es ist seitdem so viel geschehen. Ich habe es einfach vergessen."
Sie lächelte und reichte das Glas nur näher.
"Macht nichts. Ich habe ja vorgesorgt. Und besser, du nimmst es an. Glaube mir! Das wird heute wenig erfreulich."
Wilhelm war sich ehrlich gesagt nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Er sah sie verhalten an. Doch anscheinend war es ihr ein Bedürfnis, ihn vorzuwarnen.
"Es sind noch drei Träume über. Eigentlich sogar nur zwei. Der dritte ist... na, egal. Später. Der erste ist auf jeden Fall ganz eindeutig manipuliert worden. Rascaal Ohnedurst, der vorige Kommandeur der Wache, und Bregs, die sich gemeinsam dazu entschließen, mich zu ihrer Hauptmahlzeit zu erklären. Eine kleine Blutorgie also, die es niemals gegeben hat und auch niemals gegeben hätte."
Er musste spürbar schlucken und griff bereitwillig nach dem Glas. Er leerte es in einem Zug und dann setzten sie sich auch schon einander gegenüber auf die Kissen. Sie sah ihn kritisch an, doch er nickte.
"Bringen wir es hinter uns!"
Er nahm ihre Hände und wechselte in ihren geistigen Vorraum, schon als er nur die Augen schloss. Der Übergang lief inzwischen so reibungslos von statten, dass es ihn etwas fröstelte. Kurz dachte er daran, dass dies immerhin ihr Territorium war und dass es unter diesen Voraussetzungen vermutlich kein Problem mehr für sie darstellen würde, ihn hier festzuhalten. Sie war mächtig und er hatte keine Ahnung, wo ihre Kräfte begannen. Wo sie endeten, dazu benötigte er kein Vorstellungsvermögen. Das Bild Sebastians, wie jener in schmerzhafter Schockstarre gefangen zwischen ihren Händen innehielt, war ihm nur zu deutlich vor Augen. Er verdrängte diese Erinnerung.
Sie empfing ihn wortlos, doch mit ernst taxierendem Blick auf seine heutige Aufmachung an diesem "Ort".
Er sah an sich hinab.
Sein leinenes Büßergewand hatte sich wiederum gewandelt. Er trug kaum mehr als einen zerfetzten Jutesack, der ihm gerade so bis zu den dreckigen Knien reichte. Seine Arme waren ebenfalls bis zu den Schultern nackt und mit Erdschlieren bedeckt. Er tastete mit den verschmutzten Händen nach seinem Gesicht und seinem Haar, doch seine Haut schien mit Asche verklebt und seine Frisur verklettet und strohig. Er presste seine Lippen zusammen und sah wieder auf. Er konnte ihren Blick nicht deuten. Zaghaft wandte er ein:
"Ich hatte gedacht, dass es mir wenigstens nach gestern etwas besser ginge. Eigentlich war es gestern nicht so schlimm wie sonst... anscheinend habe ich mich geirrt."
Magane betrachtete ihn ungerührt. Dann trat sie näher und streckte ihm auch auf dieser geistigen Ebene die Hände entgegen.
"Ich versuch mal was, wenn du erlaubst?"
Wilhelm ließ sie gewähren.
Als ihre Geister sich unmittelbar berührten, spürte er so etwas wie einen Windstoß, als wenn jemand eine Tür geöffnet und damit für den Bruchteil einer Sekunde so etwas wie einen Durchzug geschaffen hätte, einen minimalen Ruck, frisch und scharf wie Minzöl. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich. Irgendetwas passierte aber er wusste absolut nicht, was. Das Gefühl war angenehm. Irgendwie. Aber absolut irritierend. Heiße Wellen, die ihn erschauern ließen. Eine völlig absurde Mischung aus Fieber und Frösteln. Er keuchte auf, als wenn er fremdgesteuert zum Atmen gezwungen würde. Sein Brustkorb hob sich, zittrig, immer wieder, und er fühlte sich gleichzeitig leicht und schwindlig, als wenn er hyperventilieren würde. Er wollte sie aufhalten und das abbrechen, was auch immer sie tat. Doch er konnte nicht. Die aufsteigende Verwirrung wurde überschwemmt von Sorglosigkeit. Es war egal, was sie mit ihm machte, es würde schon gut werden. Sie kümmerte sich um ihn. Er konnte ihr vertrauen, ganz bestimmt. Ein Lachen perlte in ihm empor. Es drang nicht bis nach außen, doch er begann zu lächeln, auch wenn dieses Lächeln irgendwo tief in ihm drinnen, mit leiser Trauer nachzuhallen schien. War das echt? Oder verhexte sie ihn? Was passierte mit ihm? Es war nicht wichtig, das zu verstehen. Sie wollte ihm helfen. Das war es, was zählte. Annehmen. Er sollte ihre Hilfe einfach nur annehmen. Die Schmerzen in seinem Inneren verblassten etwas und erst dadurch nahm er überhaupt wahr, wie viel ihm bis hierher wehgetan hatte. Das krampfhafte Zucken seiner Lunge wurde zu tiefen Bewegungen. Geschmeidiger. Fast menschlich. Annehmen... Loslassen... Annehmen... Loslassen... der stete Wechsel der Heilung. Berührung.
Sie öffnete ihre Augen und ließ sanft los.
Er suchte nach Worten, konnte aber keine passenden finden. Er fühlte sich... schwebend. In Balance.
Ihr Blick huschte wieder an ihm auf und ab und dann lächelte sie.
"Besser. Zumindest hat es den Anschein."
Er nickte stumm, mit schüchternem Lächeln, doch nachdrücklich, ehe er ebenfalls einen Blick an sich hinab wagte.
Der Schmutz war fort. Und auf seinem groben Überwurf waren die ärgsten Löcher im Gewebe mit fadenscheinigen Stoffstücken geflickt worden.
"Was..."
"Positive Emotionen. Da sie von außen eingespeist wurden und nicht von dir selbst kommen, können sie nur einige Symptome verdecken. Wie Wundauflagen. Lindernd wirken. Der Effekt wird nicht ewig halten. Ein Provisorium, wenn du so willst. Aber vorübergehend könnte es vielleicht etwas helfen."
Annehmen... Loslassen...

Er folgte ihr tiefer ins Innere ihrer Gedanken, entlang der altvertrauten Wachhausgänge dort.
Das Kommandeursbüro. Die Tür klemmte. Der Raum war surreal doppelt belegt, sowohl was den Posten des ranghöchsten Wächters anbetraf, als auch die Möblierung. Als sie Seite an Seite eintraten, blickte er gleich zwei Vampiren entgegen. Magane war zur Klärung eines Sachverhaltes einberufen worden und beide Kommandeure schickten sich an, sie zu verspotten. Er konnte erahnen, dass diese Situation für die Hexe einen ganz eigenen Schrecken barg. Autoritäres Auftreten seitens Vorgesetzter schien sie mehr zu belasten, als er gedacht hätte. Sie barg doch so viel stärkere Kräfte in sich, als sie diesen beiden Männern innewohnen konnten, warum war ihr Abbild hier dann regelrecht kleinlaut in sich zusammengesunken und wagte es kaum, den Blick zu heben, geschweige denn Kontra zu geben, bei den gehässigen Aufzählungen ihrer angeblichen Fehltritte? Aber je nun... dafür waren es schließlich Träume. Man ertrug in ihnen oft befremdlich unfaire Zumutungen, ohne sich zu wehren.
Wilhelm versuchte dem - für ihn - bedeutungslosen Geplänkel auch inhaltlich zu folgen, doch was ihn wirklich an dieser Szene beschäftigte, waren die beiden Artgenossen. Den vorigen Kommandeur hatte er nicht mehr persönlich kennen gelernt. Aus Gerüchten und Erzählungen über jenen, die im Wachhaus kursierten, wusste er jedoch, dass der Mann als exzentrisch, wenn nicht sogar gefährlich gegolten hatte. Selbst Ophelias früheste Erinnerungen an ihn waren mit Unsicherheit durchtränkt gewesen. Und damals hatte sie noch keinerlei Erfahrungen mit Vampiren vorzuweisen gehabt. Ihr Selbst war unberührt und vorurteilsfrei gewesen. Trotzdem war da offenbar etwas an dem Vorgesetzten gewesen, was an Wahnsinn denken ließ. Es gab Geschichten, die von Angriffen und Überfällen gegen die eigenen Mitarbeiter handelten. Und Araghast Breguyar? Nun ja. Wilhelm schuldete ihm gewissermaßen was dafür, dass dieser dem kleinen Vogelherzen nicht die emotionale Existenzgrundlage genommen, sondern sie weiterhin im Dienst der Wache belassen hatte, nachdem die Sache mit dem Dämonenpakt herausgekommen war. Aber ganz koscher war der Kerl auch nicht. Es war ein offenes Geheimnis, dass Araghast in vielen Situationen wenige Skrupel gekannt hatte. Aus Ophelias Gedankenbildern wusste Wilhelm um gewisse Vorfälle, die das belegten. Wie dem Zusammenschlagen des unschuldigen Igors. Oder seiner Vehemenz als es darum ging, Ophelia zum Einnehmen gefährlicher Drogen oder der Zustimmung zu den magischen Tests zu bringen. Und er nannte die Erfahrung im Zusammenhang mit den heimlichen Übungen des Rettungszirkels sein Eigen. Araghast hatte das gemeinsame Ziel ihrer Aktivitäten damals höher gewichtet, als das Wohl eines einzelnen Untergebenen. Genauer gesagt, als Wilhelms Wohl. Irgendwie konnte man ihm das nicht einmal vorwerfen, rein von einem strikt logischen Standpunkt her. Und doch! Steckte mehr dahinter? Man sah Araghast niemals Blut trinken, wie es normal hätte sein können, selbst wenn dessen Abstammung nicht reinrassig sein mochte. Aber man wusste sehr wohl darum, dass er anderen Flüssigkeiten umso mehr zusprach. Unterdrückte er seine vampirische Seite lediglich damit, um das öffentliche Auftreten ohne schwere Fehltritte überstehen zu können? Die Gefahr außerdienstlicher Entgleisungen wäre dadurch vermutlich nur umso größer. Unterdrückte Aggressionen, der Hang zu Übergriffigkeiten... war es das, was anscheinend wirklich alle anderen Vampire um ihn herum vor allen anderen Dingen auszeichnete? Gepaart mit der Überzeugung, bis zu einem gewissen Grad ein Anrecht darauf zu haben? Machte es sie "echter"?
Breguyar bewegte sich schnell, schwang ein Entermesser, und kurz darauf begann Maganes Traumabbild aus einem gekonnten Kehlenschnitt heraus auszubluten - in einen Eimer hinein, den die beiden Kommandeure ihr vorsorglich festzuhalten aufgetragen hatten. Um mit kleinen Tassen das Blut zu schöpfen. Diese barbarische Teezeremonie stimmte ihn traurig. Doch er hörte brav ihren Erläuterungen zu.
"Das ist eine äußerst merkwürdige Szene, scheinbar hat mein Unterbewusstsein die Schrecken des Kommandeursbüros zu einem gemeinsamen Wust verschmolzen. Da kann ich froh sein, dass wenigstens nur Bregs und Ras vorkommen und nicht auch noch Rince im Hintergrund sitzt und ein Käsebrot mampft. Ras war als Kommandeur und IA-Agent alles andere als nett und immer etwas gruselig, weil man stets den Eindruck hatte, er würde einen beobachten. Wahrscheinlich zu Recht. Wenn er etwas Rotes zu sich nahm, war das der Saft von Rote Beete. Widerlich aber vollkommen ungefährlich für alles Nichtpflanzliche. Was Bregs angeht bin ich mir nie sicher gewesen, ob er nicht gelegentlich auch mal seiner vampirischen Hälfte nachgegeben hat. Wenn das der Fall gewesen sein sollte, war er dabei sehr diskret. Wir hatten einen schweren Start aber er hat sich immer für mich eingesetzt. Soweit ich das beurteilen kann. Ich zögere immer bevor ich sein Büro betrete aber das hat nichts zu bedeuten. Ich fürchte ihn nicht mehr, auch wenn wir wohl nie Freunde werden. Total albern ist, dass dieses Gespräch so nie stattgefunden hat. Ich bin mir inzwischen sicher, dass es keine Bewerbung auf den AL-Posten von mir gegeben hat, so betrunken kann ich nicht gewesen sein. Kurz und gut, dieser Traum ist Blödsinn, da gibt es nichts, was gerettet werden sollte."
Er nickte erleichtert und sah sich nach dem verborgenen Fremdeinfluss um, doch in dieser Kulisse hatte der Assistent des Uralten sich zurückgehalten. Er war nicht auszumachen. Die Information, dass Magane diesen Traum nicht in irgendeiner Art "rekonstruiert" benötigte, sondern er ihn "einfach" löschen könne, war eine gute Information. Wilhelm wusste zwar noch nicht, ob seine Fähigkeiten dazu genügen würden. Aber zumindest klang es machbarer, als die Alternativen. Wenn er erst einmal soweit wäre. Aber sie hatte gesagt, die Träume heute seien die letzten, die es zu sichten gälte. Er würde es also bald herausfinden.
Maganes Traum-Ich klappte besinnungslos zusammen und der Traum endete. Ihr wahres Selbst betrachtete ihn fragend.
"Geht es noch?"
"Alles gut. Ich denke, dieser war für dich schlimmer, als für mich. Das Bluttrinken an sich belastete mich jetzt nicht. Immerhin war ich, dank dir, gut vorbereitet. Und die Vorwürfe der beiden... da fühlte ich mich natürlich bei weitem nicht so betroffen, wo sie nicht mal an mich gerichtet waren." Er lächelte ihr aufmunternd zu. "Dass du an diesem nichts bewahrt haben möchtest, macht es deutlich einfacher. Dann muss ich auch nicht extra nach seinem konkreten Eingreifen Ausschau halten. Zum nächsten?"
Nun war es an ihr, zu nicken.

Dieser Traum war anders. Das wurde schon beim Betreten des Ganges deutlich. Sie befanden sich mitnichten in einer Wachhaus-Variante, sondern vielmehr in den unterirdischen Gängen des Anwesens des Alten. Es war dunkel, zumindest für einen Menschen, und Sebastian war von Anbeginn an sichtbar. Maganes Projektion war auf der Flucht vor ihrem Peiniger. Dabei aber ihres Augenlichtes beraubt, durch eine Augenbinde. Sebastian umschwärmte sie und stachelte sie an in dem immer verzweifelter werdenden Bemühen, seinem Zugriff zu entkommen oder sich seiner Zudringlichkeiten zu erwehren. Dafür gab er ihr sogar einen Pflock in die Hände! Mit dieser Waffe begann sie daraufhin wild um sich zu stechen, mehr hastig und voller Angst, als in irgendeiner Form durchdacht. Was sie dabei jedoch nicht sehen konnte, war Ophelia. Der Vampir hielt sich diese wie einen lebenden Schutzschild vor seine Brust, schleifte sie bei jedem Schritt mit sich. Und Ophelia waren nicht nur die Hände auf den Rücken gebunden worden, sondern auch ein Knebel verpasst worden, der sie daran hinderte, die Freundin zu warnen. Sebastian hatte sichtlich enormen Spaß daran, diesen Traum auf seinen unweigerlichen Höhepunkt zuzutreiben. Seine Provokationen wurden spitzer, sein Ausweichen auf strategische Weise langsamer. Und dann traf Magane. Er ließ ihre Augenbinde verschwinden und verhöhnte sie, als sie mit schreckensweitem Blick ansehen musste, wie Ophelia tödlich verwundet zu Boden ging, als er sie fallen ließ. Es war Magane anzusehen, dass sie alles Mögliche dafür gegeben hätte, diesen Fehler wieder rückgängig zu machen. Und Sebastian griff diesen Wunsch auf. Er bot ihr an, sie in einem Rettungsversuch gewähren zu lassen - wenn sie ihm gleichzeitig ihren Arm überlassen würde, so dass er von ihr trinken könne während dieses Schauspiels. Der Versuch, mit nur einer freien Hand und ohne irgendein Hilfsmittel eine schwere Wunde zu heilen, zumal am Herzen, war zum Scheitern verurteilt. Und sie wusste das auch. Trotzdem musste sie es versuchen. Sebastian trank derweil von ihr, bis sie nicht mehr klar denken konnte und neben Ophelia zu Boden sank. Der Vampir krönte das Schauspiel damit, dass er Maganes letzte wache Sekunden dazu ausnutzte, ihr Gesicht zwischen seine Hände zu nehmen und sie mit blutigen Lippen zu küssen.
"Dieser Traum ist komplett sein Werk, keine zugrunde liegenden Erinnerungen, nur seine Jagdfantasien. Manchmal denke ich, diesen Alptraum sollte ich behalten. Ich werde so schnell unvorsichtig, da kann es bestimmt nicht schaden, zwischendurch einen Dämpfer verpasst zu bekommen."
Wilhelm ließ seinen Blick noch etwas auf den beiden imaginären Frauenleichen ruhen.
"Das ist völlig dir überlassen. Wenn du das wirklich möchtest..."
Ihr Schweigen währte nur kurz, ehe sie leise antwortete.
"Nein. Nicht wirklich." Mit einem Räuspern und einem gezielten Wink ließ sie das tragische Standbild sich in Rauch auflösen und verwehen.
Wilhelm sah sie abwartend an. Drei letzte Träume, hatte sie gesagt gehabt. Dies war erst Nummer zwei gewesen.
Sie legte ihre flachen Hände aneinander und deren Fingerspitzen an ihre Lippen. Ihr Blick zeigte fast so etwas wie Unsicherheit, als sie ihn nachdenklich betrachtete. Und zögerte.
"Magane? Was ist es? Warum schaust du mich in dieser Weise an?"
Sie wich seinem Blick seltsamerweise aus und fixierte den Boden zu ihren Füßen, bei ihrer Antwort.
"Bist du dir wirklich ganz sicher, dass du den letzten Traum auch sehen musst? Da war Sebastian zwar auch drin, sonst hätte ich davon in jener Nacht nicht geträumt. Aber er hat nichts verändert. Das ist mein ganz eigener Alptraum."
"Aber Sebastian war darin?"
Sie nickte langsam.
"Dann möchte ich ihn ebenfalls betrachten. Wenn das für dich in Ordnung geht? Wer weiß, wofür das wichtig werden könnte. Aber... warum fragst du das? Die vorangegangenen Träume waren auch nicht einfach für dich. Was ist an diesem anders, dass du ihn mir nicht zumuten möchtest? Denn es wirkt fast so, als wenn du mich mit dieser Frage schützen wolltest."
Sie befeuchtete nervös ihre Lippen, hob dann jedoch wieder leicht ihr Kinn.
"Der Traum handelt von Senray. Deswegen. Er ist unschön. Und, ja, ich vermute einfach, dass es ausreichend sein könnte, wenn ich ihn kenne. Dass du nicht auch noch damit belastet werden musst."
Ihre Worte waren noch nicht zu Ende ausgesprochen, als er seinen Standpunkt zu ihren Zweifeln bereits gefunden hatte. Senray! Allein ihren Namen im Zusammenhang mit dem Zugriff des sadistischen Scheusals zu hören, ließ ihn zusammenzucken. Unzweifelsfrei zu wissen, dass Magane schlimme Bilder mit seinem Vogelherzen mit sich herumtrug, die sie in den Nächten belasteten, war einfach falsch. Und dann auch die quälende Frage, was an diesen Bildern den anderen Vampir dazu bewegt haben mochte, diesen Traum unverrichteter Dinge wieder zu verlassen? Was mit Senray, das Magane zu sehen gezwungen war, konnte von sich aus so schrecklich sein, dass es einem passionierten Foltermeister genügte?
"Lass mich das selbst entscheiden!"
Magane seufzte schwer und sah ihn bedrückt an.
"Du lässt dich nicht gerne beschützen. Deine Entscheidung, natürlich. Aber... ich bin nicht glücklich darüber. Versuche wenigstens daran zu denken, dass es ein Traum ist. Nicht die Realität. Lass dich nicht völlig von dem Gesehenen überrumpeln, in Ordnung?"
"Ein Traum, ich weiß."
Die Tür des 'kahrmesinrothen Ritherzimmers' entstand vor ihnen. Senrays Büro in der oberen Etage des Näherinnen-Etablissements. Die Tür öffnete sich wie von Geisterhand und er trat automatisch näher. Dort saß sie. Senray. Sein kleines Vogelherz. Ihr gegenüber saß Magane. Beide wirkten sie relativ entspannt, in ihren Schneidersitzen, vor einer kleinen Feuerschale mit ruhig brennendem Öl darin. Magane fragte, ob Senray bereit sei. Wie es aussah, ging es um eine dieser Übungen, mit denen die beiden Frauen bewirken wollten, dass Senray ihre Emotionen besser im Griff hatte und somit eben auch einen wichtigen Bestandteil ihrer Zugänglichkeit zum Feuer. Letztlich ging es natürlich darum, sie zu stärken, in ihrem Kampf um Kontrolle - gegenüber dem Feuerdämon in ihr. Ein schwieriges Unterfangen. Zumal sie letztendlich alleine dastand, wenn es darum ging, diesen inneren Kampf zu bestreiten. Er war unsichtbar, tobte im Verborgenen. Und richtete sich gegen eine feindliche Macht, die stärker war, als sie. Einzig die hauchdünne Trennlinie formaler Regeln und ihre Vorsicht im Umgang damit, mochten sie vor einem fatalen Übergriff bewahren. Wilhelm vermied es normalerweise, länger darüber nachzudenken. Die Vorstellung setzte ihm viel zu sehr zu. Aber er war unsagbar beeindruckt von ihrem Durchhaltevermögen und wild dazu entschlossen, ihr in jeder erdenklichen Weise beizustehen.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Hexe im Türrahmen stehen geblieben war und betrübt mit einer Hand über dessen Holz herab strich, während ihr Blick auf der jungen Frau ruhte.
"Ich hatte seit Ophelias Verschwinden versucht, Senray mit ihrem Feuerproblem zu helfen. Ich bin dabei aber schnell an meine Grenzen gestoßen, als mir bewusst wurde, dass ich genau diesem Dämon früher schon begegnet bin und er mir keine zweite Chance zum Überleben geben würde..."
Die beiden Frauen im Zentrum der Szenerie reichten einander eine Hand, dann hielt die jüngere ihre andere Hand in die Flamme.
Wilhelm zuckte zusammen bei diesem Anblick und Furcht kroch in seinem Inneren empor.
Erst geschah nichts. Oder nicht viel. Senrays Mimik drückte Konzentration aus, ein Lauschen nach innen. Ihre Lippen wurden schmaler, als sie sie zusammenpresste. Die Hand in den Flammen jedoch blieb unberührt und unversehrt. Dann flackerte der gesamte Raum, wie Feuerschein im Wind und plötzlich schmolz die Umgebung dahin und verging knisternd und knackend zur verbrannten Ebene des Dämons.
Wilhelm keuchte auf vor Schreck. Damit hatte er nicht gerechnet, trotz allem nicht. Sein Blick zuckte ängstlich umher auf der instinktiven Suche nach dem Dämon und er musste schwer schlucken. Er meinte, wieder die Asche in seinem Mund zu schmecken, als eigene Erinnerungsbilder gegen ihn anrannten.
Senrays Stimme ließ ihn panisch zu ihr blicken.
"Er will dich nicht hier haben."
Wilhelm war drauf und dran, sich hastig zu entschuldigen und zurückzuweichen, alles zu tun, um einer neuerlichen Begegnung auszuweichen und keinen weiteren Zorn oder Racheakt des Dämons heraufzubeschwören. Ehe er verstand, dass er gar nicht gemeint war. Maganes Traumabbild antwortete an seiner Statt gelassen.
"Dann soll er mir das selber sagen."
Wilhelm spürte das Grauen, wie es ihn packte, als im selben Moment, in dem die Worte ausgesprochen waren, eine Veränderung mit Senray vor sich ging. Ihr Haar flammte in feurigem rot auf, wunderschön, doch bedrohlich. Zwei elegant geschwungene Hörner brachen aus der glühenden Masse ihrer Frisur heraus und wanden sich energisch in die Höhe. Die Hörner schienen Feuer zu fangen, aus dem Nichts. Ausgreifende Fanale einer Macht, die nicht zu bändigen war. Ihre Haltung straffte sich, ihre schlanken Schultern streckten sich etwas in die Breite, als wenn sie plötzlich mehr Raum einnehmen müsse. Ihre Stimme wurde voller.
"Ich sagte, ich will dich nicht hier haben!"
Wilhelm blinzelte heftig und lief stolpernd auf sie zu. Er schüttelte den Kopf und spürte einen Kloß im Hals. "Nein...", wisperte er hilflos. "Nein, nicht! Bitte nicht!"
Die Traumgestalten jedoch ignorierten seine Verzweiflung völlig und folgten weiterhin der vorgegebenen Choreographie. Die Hexe blickte Senray an und ließ augenblicklich ihre bis dahin gehaltene Hand los. Rot glühende Augen. Der gleiche Anblick, der auch Wilhelm stets von neuem erstarren ließ, wenn die Erinnerungen an sie ihn einholten. Ihr unverrückbar schadenfrohes Grinsen, als sie ihn in die Knie zwang, um den Pakt zwischen ihnen besiegeln zu können.
Er wollte Senray zu fassen bekommen, sie schütteln oder umarmen, irgendetwas tun, um das zu verhindern, was hier geschah.
"Wilhelm! Es ist nur ein Traum! Hörst du mich? Du wolltest es nicht vergessen, in Ordnung? Nur ein Traum!"
Seine Hand blieb in der Bewegung gefangen, seine Finger krampften sich in der Luft zusammen. Sie hatte Recht. Dies war eine Traumvision! Er musste sich zusammenreißen.
Sebastian? Weit und breit nicht zu sehen. Aber sie hatte ja gesagt, dass der Vampir hier nichts geändert, sondern nur den Zuschauer gespielt hatte.
Senrays Abbild erhob sich aus der Meditationshaltung und streckte sich. Sie lächelte boshaft.
"Endlich... endlich gehört ihr Körper mir!"
Ihre Kleidung ging mit einem Schaudern in Flammen auf und das Feuer hüllte sie schmeichelnd ein, gleich einem neuen Gewand. Es tastete sich um ihre Arme und Beine, liebkoste ihren Rücken, wie verspielt. Und sie genoss dies. Das war nicht mehr Senray. Sein kleines Vogelherz war dem Dämon zum Opfer gefallen, hatte ihren Körper an den Aggressor verloren. Er wollte dieses Szenario verleugnen, ebenso wie er allein die Gefahr, dass es eines Tages dazu kommen könnte, mit absoluter Vehemenz zurückwies. Aber bisher hatte er das Bild des Dämons in ihrer Gestalt immer als eine Erinnerung der geistigen Ebene angesehen. Dort hatte es der Kreatur beliebt, sich den Anschein ihres Äußeren zu geben. Aus strategischem Kalkül heraus. Eine im Grunde willkürliche Tat, angepasst auf Wilhelms Schwachstellen. Dies hier jedoch war mehr. Dies war die realistische Gefahr, die sich aus der logischen Abfolge bestimmter Ereignisse ableiten ließe! Sollte es der Kreatur jemals gelingen, die gegebenen Grenzen zu überwinden und Senrays Widerstand zu unterwandern, dann wäre die Übernahme ihres Körpers keine Option unter vielen. Dann wäre es die einzige. Und dementsprechend genau das, was der Dämon tun würde, wenn er keine Chance verfallen lassen wollte.
Der geträumte Dämon im Körper des verlorenen Vogelherzens schritt in Vorfreude auf die Hexe zu, die nun hastig vor ihm zurückwich, rückwärts, stolpernd, mit deutlich sichtbarer Angst. Feuerzungen leckten tanzend um Senrays schlanke Gestalt und ließen sie leuchten im Aufwind. Sie streckte ihre Hände nach der Flüchtenden aus, ergriff Magane an den Schultern und hielt sie gepackt. Unnachgiebig. Sie kostete die Sekunde aus. Dann befahl sie ihr mit herrischer Stimme: "Brenne!"
Und Magane ging unter qualvollen Schmerzensschreien in Flammen auf.
Wilhelm knickten die Beine weg und er landete auf den Knien. Er konnte nur vor Entsetzen gelähmt dabei zuschauen, wie die Frau, die er liebte, verschwunden war und deren Hülle sich mit grausamem Lachen am Todeskampf der Hexe labte. Senray! Sein Lebenslicht... erloschen. Von einer Sekunde auf die andere. Ausgelöscht von dem Feuerdämon, der selbst ihr Andenken auf diese Weise beschmutzte. Wie hatte das passieren können? Das durfte nicht sein. Das...
Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter.
"Es ist nur ein Traum. Du denkst daran, ja?"
Er nickte betäubt.
"Normalerweise träume ich von ihm in seiner freien Gestalt. Oder nur von dem Feuer. Aber die Gefahr, dass Sen einen weitergehenden Pakt eingeht oder ihren inneren Kampf verliert, ist mir nur zu bewusst. Es wundert mich überhaupt nicht, dass mein Unterbewusstsein da einen Alptraum draus gemacht hat."
Das Bild verblasste. Und doch leuchtete es noch immer in seinem Sinn. Senray... verloren!
Magane fing seinen Blick ein und reichte ihm mit einem tiefen Seufzer ihre Hand, um ihm aufzuhelfen.
"Das waren sie, Sebastians Geschenke an mich. Sein wahrer Nachlass."
Sein Blick huschte immer wieder unstet zu dem Punkt im Raum zurück, an dem der Dämon gestanden hatte, als er ihm Senray genommen hatte. Nur ein Traum. Aber... es hatte alles so echt gewirkt! Der Verlust fühlte sich so wirklich an!
Wilhelm versuchte, sich von dem letzten Traum zu lösen und einen klaren Gedanken zu fassen.
"Gut... gut, gut... ich... wir können beim nächsten Mal mit der eigentlichen Arbeit daran beginnen. Bis dahin muss ich etwas... ich muss darüber nachdenken. Es wird sicherlich genügen, wenn ich dich heute noch einmal schlafen schicke... erst einmal."
Sie nickte. Und hob den geteilten Gedankenzustand auf. Kalter Wind fuhr ihm in die Kleidung und schüttelte an den Grünpflanzen um ihn herum, verfing sich in den Ecken und Nischen des Dachgartens. Es hatte unmerklich aufgefrischt, während sie in ihre Arbeit versunken gewesen waren.
"Ich lass dir einen Moment."
Magane stand auf und nahm ihr Sitzkissen, ebenso wie die unweigerlich dazu gestellten Getränke mit hinein. Das Geschirr klapperte leise auf dem Tablett. Die Tür schloss sich mit einem fast lautlosen Klicken hinter ihm.
Wilhelm sackte in sich zusammen. Er legte sich die Hände vors Gesicht und stützte sich dieserart mit den Ellenbogen auf seinen Beinen ab.
Der letzte Traum war zu heftig gewesen. Magane hatte Recht behalten mit ihrer Vermutung und er Unrecht gehabt, auch wenn es ihm wenig nützte, diesen Fehler jetzt einzugestehen. Er hätte ihn sich nicht ansehen sollen. Er konnte noch so sehr versuchen, sich einzureden, dass das Beobachtete nicht echt gewesen sei. Der Gesamteindruck lastete zu schwer auf ihm. Es fühlte sich eben sehr real an! Und der Gedanke, es könnte wirklich eines fernen Tages dazu kommen, dass sie...
Nein! Ausgeschlossen! Das wird nicht passieren! Er fiel noch weiter in sich zusammen. Ich kann nicht mehr. Ich will nur noch Ruhe. Allein sein. Nicht reden müssen. Ich möchte, dass das alles verschwindet und ich nicht mehr denken muss. Einfach nur Frieden. Warum ist das alles so kompliziert geworden? Wenn Magane zurück kommt... was soll ich ihr sagen? Ich weiß es nicht...
Er stützte sich seitlich auf, um sich hochzustemmen ebenfalls nach drinnen zu wechseln. Seine Bewegungen waren schwerfällig und langsam.
Reiß dich zusammen! Lächel! Alles andere würde nur zu Nachfragen führen und du willst ja schließlich nicht mehr reden, nicht wahr?
Er trat ins Wohnzimmer und setzte sich kurzerhand zum Warten auf das Sofa, das gleich zur Ruhestätte für Magane werden würde. Als sie aus der Küche dazu kam und ihn mit einem fragenden Blick bedachte, lächelte er vorsorglich und rückte beiseite.
"Tut mir leid, Magane! Ich bin etwas erschöpft. Ich weiß, du möchtest vermutlich noch über die heutigen Träume mit mir reden. Aber könnten wir das vielleicht einfach verschieben?"
Er wartete fast ängstlich auf ihre Reaktion. Doch sie machte es ihm leichter, als er es verdiente. Sie nickte schweigend, mit einem verstehenden kleinen Lächeln. Schnell deutete er zur Ablenkung mit einladender Geste neben sich.
"Wenn du möchtest?"
Sie legte sich auf das Sofa, ihre Füße hinter seinen Rücken drapierend, als er von der Lehne abrückte. Die Blicke einander zugewandt. Er saß damit dicht an ihrer Seite, auf der Vorderkante der Sitzfläche, und stützte sich mit dem Arm über ihren Körper hinweg leicht an der Rückenlehne ab.
Wilhelm blickte nahezu müde auf sie hinab und wünschte sich sehnlichst, ebenfalls schlafen zu können. Die Menschen hatten es so gut, was das anging. Den Geist vollständig vom bewussten Denken abschotten und sich dem Vergessen hingeben zu können.
"Wilhelm?"
Er blinzelte.
"Ja?"
"Bleibe noch! Ich wollte nicht auf diese Weise Recht behalten. Es tut mir leid, dass meine Träume dir in dieser ohnehin schweren Phase noch zusätzlich so viel abverlangen. Das Mindeste, was ich dir bieten kann, ist die Erholung zwischen den Kräutern. Es tut dir doch gut, dort auszuruhen, oder? Dann nimm dir bitte die Zeit und bleibe noch etwas, bis es wieder besser geht, ja?"
Er erwiderte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit nahezu emotionslos, nickte dann aber langsam.
Sie lächelte, auch dann noch, als sie sich bereits in seinem Blick verlor und ihre Augenlider herabsanken.
Der Vampir betrachtete sie lange. Dann jedoch fiel er flatternd in seine Fledermausgestalt, fing sich in der Luft ab und suchte zielgerichtet, durch die offen stehende Tür, 'seinen' Stammplatz in der Küche. Seine Krallen versenkten sich in das Holz des rustikalen Fachwerkgebälks. Die herabhängenden Büschel von Rosmarin und Minze umnebelten ihn mit ätherischen Ölen, ließen ihn angenehm schwindeln.
Dennoch... ihm war sehr bewusst, dass ihn nur wenige Stunden von der Abenddämmerung und seiner siebenten Nachtschicht trennten und die verstreichenden Minuten bis dahin fühlten sich schwer und dunkel an, wie ein Herunterzählen zum Gang zum Schafott.

Die blasse Sonne war dem Horizont entgegen gesunken und er hatte folgsam seinen Weg hinab angetreten. Wind und der erste Frühlingsduft waren verblichen, je tiefer er den Treppen in das Gängesystem hinunter folgte. Seitdem Igor und Igorina durch die Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses beim Tausendjährigen entbunden worden waren, war im Grunde noch nicht viel Zeit vergangen. Einige wenige Tage nur. Aber es begann bereits, sich bemerkbar zu machen. Die ersten Ratten quartierten sich in der unterirdischen Wohnanlage ein. Vermutlich begünstigt durch den tiefen Brunnenschacht in der Käfigkammer, der mit dem Abwassersystem verbunden war, sowie den Lüftungsschächten der Gefangenenräume, welche den Feuerstellen der Kamine, durch alle Ebenen hindurch, als Abzug zur Oberfläche dienten. Staub sammelte sich an den Seiten der Laufwege an, jedoch nicht der feine weiße Staub traditioneller Pflege innerhalb eines klassischen Vampiranwesens, sondern der klumpende Dreck von feuchten Mörtelresten und Kalkstein, von Straßenschuhen, Kleidungsflusen und Mäusekot.
Wilhelm richtete seinen Blick auf die Unratansammlungen und vermied es, diese mit seinen Schuhen zu streifen. Seinen dreckigen Schuhen. Er war eine Schande auf zwei Beinen. Normalerweise hatte er sich immer um sein Aussehen gesorgt. Blank gescheuerte Schuhe waren solide Basis jeder Kombination gewesen, mit der er sich auf die Straße traute! Jetzt war er schon froh, wenn er auch nur vollständig gekleidet war! Eigentlich müsste er seine Wacheuniform mal wieder plätten.
Doch inwendig zuckte er bei dem Gedanken nur die Schultern. Nebensächlich. Das alles überhaupt ohne größere geistige Schäden zu überstehen, das war viel wichtiger. Und wer wusste schon, wie lange diese Zuteilung noch andauern würde?
Er spürte es körperlich und geistig, als seine Füße jenen Punkt übertraten, ab dem er sich in die mentale Reichweite des Uralten begab. Die Kälte wurde erst schleichend intensiver. Dann schneller. Unbarmherziger. Sie drang in seine Knochen. Er wappnete seine Gedanken so gut es ging vor dem fremden Zugriff und lief die letzten Meter zum Gruftzugang schneller. Geistige Tentakel umfingen ihn, strichen über seine Erinnerungen des Tages, über sein Bedauern und seine Ängste. Er stolperte fast in seiner Hast. Vielleicht könnte Raistan die Schaffung des Banns beschleunigen, wenn er sich eilte, zu dem Zauberer zu kommen?
Wilhelm gelangte zu der Gangbiegung, die zur Gruft führte, und nickte dem bereits wartenden Zauberer mit einem Lächeln knapp zu. Raistan war gerade im Begriff, seinen wortlosen Gruß zu erwidern, als sie beide gleichermaßen erstarrten. Aus dem finsteren Gangabzweig erklang plötzlich schallendes Gelächter. Doch nur Wilhelm konnte die Worte hören, als Racul direkt inmitten seiner Gedanken zu ihm sprach.
"Liebe? Du bist den Reizen einer Mahlzeit erlegen? Einer Mahlzeit zudem, die den Spieß umdrehen und dich rösten könnte? Ach, was sag ich... wird! Nicht nur kann. Du warst von Anfang an dermaßen verloren!"
Wilhelm ließ sich frustriert auf den Stuhl an der Weggabelung fallen. Er schloss die Augen und seufzte abgrundtief, als er sich erschöpft und ausgezehrt zurücklehnte.
Raistans Stimme. Unsicher.
"Ist alles in Ordnung mit dir, Wilhelm?"
Fast hätte er sarkastisch gelacht. Aber nur fast. Stattdessen öffnete er die Augen wieder und antwortete in einem unfreundlich knappen Tonfall.
"Nein."
Raistan stand daraufhin wie verloren inmitten des Ganges und wusste deutlich nicht, wie er diese Erwiderung auffassen, wie er damit umgehen sollte.
Etwas in Wilhelm hatte Mitleid mit ihm und sein Gesichtsausdruck wurde milder.
"Lass es gut sein, Raistan! Ich kann es nicht ändern. Und du kannst es nur graduell ändern. Das allerdings wäre sehr nützlich. Sperr mich einfach ein, damit ich es hinter mich bringen kann, in Ordnung? Ich möchte ihn nicht mehr hören."
Der Zauberer runzelte die Stirn, nickte dann aber und machte sich wie gewohnt an die Arbeit.
Diesmal ließ Wilhelm den Alten einfach in seinen Gedanken reden. Ausblenden konnte er dessen Stimme nicht. Es blieb ihm nur zu hoffen, dass er wenigstens keinen Zugriff für direkte Manipulationen bot. Er versuchte, sich mit der Anmut des Zauberers abzulenken. Er beobachtete dessen Hände, wie sie die Kreide mit elegant gestreckten Fingern führten, sah den Schwung der langen, schweren Stoffbahnen, das trauernde Schwarz seiner Roben, welches in Wilhelms Inneren einen Nachhall anzustoßen schien.
"Unfassbar! Liebe! Zu einem Menschen! Nein, noch besser... zu einem Dämon! Warum wirfst du dich der Pandämoniumsbrut nicht gleich ehrerbietig zu Füßen und bittest sie, dich von deiner kümmerlichen Existenz zu erlösen? Das ist doch sowieso nur noch eine Frage der Zeit bei dir und deinen Tendenzen..."
Raistans Stimme folgte den verschlungenen Melodien der Magie, dem Auf und Ab seines Webens. Sie verriet ihn, ließ die unterschwellige Atemlosigkeit durchschimmern, die ihn schon nach den ersten Minuten einer Bannkonstruktion jeweils erfasste. Diese Zerbrechlichkeit, die den Körper zeichnete und die dessen Geist anwiderte. Eine Fragilität im Gleichgewicht, die den jungen Magier nur noch kostbarer in Wilhelms Augen leuchten ließ, wo er sich doch trotzdem nicht unterkriegen ließ.
"Dir ist bewusst, dass dieses 'Juwel' dein anderes Hobby umbringen wird? Der talentierte kleine Theoretiker mag keine Dämonen. Er wird ihn austreiben und dein Lieblingsherz zum Schweigen bringen. Irgendwann. Garantiert. Es gibt kein Versprechen, das ihn an einen Verlierer wie dich binden könnte. Wenn es ihm beliebt, verspräche er dir, sie zu schonen. Natürlich. Wer will schon diskutieren? Aber wenn es soweit ist, dass er seiner Profession und seiner wahren Bestimmung nachgehen kann... wenn du nicht in der Nähe bist und die Gelegenheit günstig ist... er wird es tun! Er wird dich einfach vergessen und dieses verunreinigte Gefäß ausknipsen. Und was dann, hm? Wie willst du dieses Gefühl, das du jetzt in dir verschließt, wie willst du diese Emotion dann überstehen? Liebe! Schon bei einem Menschen zu seinesgleichen in den meisten Fällen tragische Triebfeder für Unheil und Verlust. Aber zwischen Jäger und Beute? Absolut widernatürlich! Ein Geschwür, das sich durch dein Wessen fressen wird. Es wird dich vereinnahmen und dann in den Würgegriff nehmen. Dich brechen. Du könntest dir viel ersparen, wenn du gleich ins Licht gingest, meinst du nicht au..."
Da war sie wieder gewesen. Jene zarte Bewegung mit der Hand, das leichte Aufwinken, die abschließende Geste der tanzenden Finger, mit der Raistan den Bann jeweils vollendete. Ein lautloses Aufleuchten der grünlichen Magie. Stille!
Wilhelm verdrängte die bedrohlichen Visionen eines Raistans, der Senray willentlich tötete - im festen Glauben, sie damit zu erlösen und etwas Gutes zu tun. Er versuchte, die keimenden Eindrücke zurückzudrängen und an seinem Bild des freundlichen Magiers festzuhalten. An dem Bild des hilfsbereiten Kämpfers mit angeschlagener Gesundheit, aber auch mit unverbrüchlicher Loyalität. Raistan hatte ihm bereits versprochen, Senray nichts zu tun, richtig?
Wilhelm wollte seine Gedanken nicht vergiften lassen mit Ablehnung, Gefühlskälte und Misstrauen. Das hätte Raistan nicht verdient! Es war wichtig, zu vertrauen. Im Widerstand gegen den Alten blieb ihm ohnehin nicht mehr Vieles übrig, an dem er sich festhalten durfte. Das Wenige durfte er nicht aufgeben.
"Danke!"
Raistan nickte mit reservierter Zurückhaltung. Wie üblich. Oder nicht wie üblich? Hatte er den Zauberer - den Freund - brüskiert? Der Kopf schwirrte Wilhelm und es schwindelte ihn vor Erschöpfung. Wenn es so wäre, dass er ihn verletzt hätte, dann müsste er sich entschuldigen, nicht wahr? Doch da war der Moment bereits vorüber und Raistans Schritte entfernten sich von ihm. Wilhelms Schultern sackten etwas herab.
Der alte Vampir machte sich die Mühe, seine Stimme zu erheben, damit Wilhelm ihn selbst hier noch hören konnte.
"Er wird die Menschenfrau töten. Da kannst du noch so sehr die Augen davor verschließen!"
Die Szenerie wollte sich passend dazu von selbst vor seinem inneren Blick ausformen. Er drängte sie panisch zurück.
"Elendiger Alter! Lass mich in Ruhe!", flüsterte er. Und dann griff er in seiner Hilflosigkeit auf das bereits zuvor erfolgreich getestete Konzept zurück - und steckte sich die Finger in die Ohren.
Er sank neuerlich gegen die Stuhllehne und starrte brütend auf den vor ihm liegenden Gang, von dem linkerhand die offenen Türen abgingen.
Senray... Wenn er nur bei ihr sein könnte! Ihre Nähe war so tröstlich. Wenn sie bei ihm war, dann wurden alle Sorgen leichter zu ertragen. Wenn er gekonnt hätte... der Wunsch, sie zu umarmen, war irgendwann heimlich in ihm erwacht. Sie umarmen und nie mehr loslassen. Ihren Herzschlag an seiner eigenen Brust spüren, ihre Wärme, ihren Duft. Den Moment mit ihr teilen. Die Zukunft!
Er musste schlucken und alles tat ihm dabei weh.
Natürlich geht das nicht. Hoffnungslos. Irrational. Selbstsüchtig! Wie könnte ich ihr diesen Wunsch eingestehen, wo ich ganz genau weiß, dass meine Gefühle besser unerwidert bleiben sollten? Ihre Angst vor Vampiren ist ihr natürlicher Schutz. Wenn sie es geahnt hätte damals, dass ich ihren Geist betrat, wenn sie es hätte verhindern können... wie viel wäre ihr erspart geblieben? Ich darf sie nicht berühren. Ihr Ich. Umso näher ich ihr bin, je länger diese unwahrscheinliche Freundschaft andauert, desto größer wird die Gefahr, einen Fehler zu machen und den Pakt zu brechen. Es ist nur logisch. Der Schatten von Ankh hat Recht, wenn er das sagt. Ich muss sie loslassen. Das Vögelchen muss sich lossagen können, um zu überleben. Was soll sie mit einem kaputten Vampir? Sei ehrlich zu dir selbst! Du machst es ihr nur unnötig schwer. Bringst sie in Gefahr! Doch die Alternative wäre unerträglich. Sie ist mein Lebensfunke, mein Licht in dunkelster Nacht. Bevor sie an meiner Seite auftauchte, wusste ich nicht einmal, wie einsam ich wirklich bin. Und dann war ich es plötzlich nicht mehr. Wie sollte ich mich da von ihr lossagen können? Wie zurück, zum Alleinsein? Dieses Eingeständnis tat weh. Er rutschte noch tiefer in den unbequemen Stuhl. Der Widerstreit seiner Gefühle verhinderte klares Denken und sein Blick verfiel in stumpfes Starren.

Wilhelm fühlte sich abgrundtief erschöpft, wie zerschlagen, als die Stimme des Alten plötzlich wie ein Windhauch in seinem Sinn kicherte.
Er zuckte zusammen, riss sich die Finger von den Ohren und sah sich blinzelnd um. Seine Wahrnehmung hatte sich in den letzten Stunden seltsam verengt, sich wortwörtlich zum Tunnelblick entwickelt. Seine Pupillen weiteten sich durch den neuen Impuls und drängten die schleichende Dunkelheit an den Rändern wieder zurück. Er sprang auf und tastete vorsichtig nach der Barriere. Nichts. Der Untotenbann um ihn war gefallen. Er musste sich in seinen Grübeleien verfangen und sogar die Morgendämmerung verpasst haben. Er war länger hier, als nötig. Die Kollegen der Tagschicht mussten oben bereits übernommen haben.
Aber Racul hinter seiner eigenen Barriere hatte seine Unaufmerksamkeit bemerkt und die Gelegenheit genutzt, länger als üblich aufzubleiben, um ihn noch einmal so schutzlos wie zu Beginn der Schichten zu erwischen.
Schnell riss er seine mentalen Mauern höher, verstärkte seine Gedankenwälle. Zu spät, natürlich. Er war leichtsinnig geworden, unachtsam. Aber es nützte nichts, jetzt darüber zu jammern. Er musste bleiben, bis der Alte sich verkroch. Die Kollegen würden dem nichts entgegen zu setzen haben, sollte jener hinauf zu greifen versuchen. Falls es ihm gelingen würde. Aber inzwischen hatte Wilhelm keine Ahnung mehr, wie weit die Macht des Tausendjährigen wirklich noch reichen mochte. Es war kein weiterer Lakai aufgetaucht, immerhin. Und man durfte gewiss davon ausgehen, dass das geschehen wäre, wenn der Alte noch jemanden anlocken hätte können. Nicht wahr? Aber die Übergriffe hier vor Ort hatten Bestand. Er war sich darüber im Klaren, dass all die Bedrängnisse und Einschränkungen, in die die Wache den greisen Vampir seit Ophelias Befreiung gebracht hatte, Auswirkungen auf diesen hatten. Dass der Alte deutlich geschwächt sein musste. Aber wie viel Reserven waren ihm verblieben?
"Du bist auch dann einsam, wenn sie bei dir ist. Rede dir nichts Illusorisches ein, mein Sohn!" Die Stimme schmeichelte sanft um seine geistige Wahrnehmungsebene, strich wie mit glatten Fingerkuppen an seiner Umzäunung entlang. Sie wirkte boshaft und hämisch, aber auch seidenglatt... und träge. Der Alte würde es nicht lange aushalten, bei Tageslicht dem Sarkophag fernzubleiben. Dafür war sein gesamter Organismus zu sehr auf die Nachtstunden und die Finsternis geeicht. "Sie ist schließlich nur ein Mensch, Wilhelm Schneider. Nahrung. Sie würde niemals verstehen, was es bedeutet, ein Beherrscher des Lebens zu sein. Sie könnte es hingeben, ihr Leben. Aber es in sich aufnehmen oder gar es zu beenden... da fehlt einfach ein grundlegendes Begreifen bei diesen Kleingeistern. Und damit auch mögliche echte Verbundenheit.... Wobei das bei ihr ja sowieso fehlen muss, zwangsläufig. Wieder so etwas, was du lieber verleugnest! Sie ist wie ein kleiner Hund, der befohlen sein will... Mal abgesehen davon, dass sie diesen Umgang durch die Dämonenkreatur gewohnt ist und es ohnehin das einzige sein dürfte, was sie versteht... Du könntest sie dir zur Bespaßung halten... Auch wenn dieser klitzekleine Risikofunke im Zusammenhang mit ihr, vielleicht etwas leichtsinnig wäre... Aber da war Sebastian ja genauso... Womit ihr keinesfalls auf einer Stufe stehen würdet! Vielleicht taugt sie, um mit ihr zu spielen, ihr Kunststückchen beibringen? Aber denke nicht, dass sie als Gefährtin taugt, um echte Nähe zu empfinden und Gedanken miteinander zu teilen..."
Wilhelm presste seine Lippen aufeinander, in dem Bemühen, nicht auf das Gesagte einzugehen. Nicht zu kontern, woher solch eine vertrocknete Mumie das wissen wolle, die sich seiner Kenntnis nach niemals auf andere Gefühle als Hunger und Hass eingelassen hatte.
Er eilte von seinem Posten zu dem edlen Arbeitszimmer, um seinen Bericht zu verfassen.
Wenigstens wurde Raculs Gedankenstimme schleppender. Dessen Konzentration ließ spürbar nach und zerfaserte, wie Morgennebel. Und es schien sogar ein Hauch von Schmerz auf der Verbindung mitzuschwingen, welchen Racul sich zu ignorieren zwang. Wie konnte man nur so verbohrt sein, so missgünstig?
"Ich werde dir helfen, netter kleiner Verlierer... sobald ich hier wieder heraus kann, werde ich dir helfen... ich werde die Dämonendirne von der Scheibe tilgen... dann musst du nicht mehr länger darüber nachdenken..."
Wilhelms Hand ballte sich auf dem Berichtsblatt zur Faust und zerknitterte es zwischen seinen bebenden Fingern. Er legte kurz den Kopf auf die Schreibtischplatte und atmete bewusst durch. Mehrmals.
Schritte näherten sich von Ferne, leichtfüßig und flott, ein Herzschlag, den er kannte. Nyria? Ach ja, die neue Regelung musste wohl greifen. Nach dem Vorfall mit dem Straßenjungen war beschlossen worden, trotz der außergewöhnlichen Umstände wieder vermehrt dem Protokoll zu folgen. Er war nun dazu angehalten, sich regelkonform bei den Kollegen der Wachablösung oben abzumelden, wenn er seine Schichten beendete. Nicht mehr auf schnellstmöglichem Wege heim, sondern erst durch das Labyrinth und die Wachablöse sozusagen persönlich übergeben. Sie mussten sein Fehlen bemerkt und jemanden losgeschickt haben, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war.
Er setzte sich schnell wieder aufrecht, warf das zerknüllte Blatt in den Papiereimer und nahm ein neues Vorlagenblatt zur Hand. Er setzte zum Schreiben an, glättete seine Mimik zu neutraler Konzentration und begann, einen weiteren dieser nichts sagenden Berichte aufzusetzen. Raculs Stimme dämmerte flüsternd davon, als jener sich offenbar endgültig der Dunkelheit anheim fallen ließ und dabei Wilhelm mit süffisantem Unterton die Worte in die Feder diktierte.
"Keine besonderen Vorkommnisse."

TAG 36

Der Tag verstrich gleichzeitig schnell - und langsam, wie stockender Sirup. Hannah hatte ihn beim Heimkommen abgefangen und begrüßt. Er war sich ziemlich sicher, dass sie auf ihn gewartet und es zielsicher so eingerichtet hatte, dass sie es mitbekäme, wenn er die Hintertür in der Werkstatt öffnete. Sie war ihm schweigend nach oben gefolgt und hatte dabei zugesehen, wie er Schuhe und Strümpfe abstreifte und sich dann einfach wie tot auf sein Bett fallen ließ. Lange stand sie im Türrahmen, ehe sie mit einem tonlosen Seufzer kapitulierte und wieder hinunter ging. Er hatte ihr Angebot schon verstanden gehabt, natürlich. Und eigentlich wäre es wohl sinnvoll gewesen, dieses anzunehmen. Aber andererseits... er konnte kaum klar denken. Und er hatte auch nicht die innere Ruhe dafür, es sie genießen zu lassen. Er wusste genau, dass er von ihr trinken und sie dann fortschicken würde, so wie es ihm derzeit ging. Unpersönlich und distanziert. Was seine lächerlichen Schuldgefühle nur verschlimmern würde. Wie anders könnte sie sich danach fühlen, als ausgenutzt? Dann schickte er sie lieber vorher weg und ersparte ihnen beiden das Bedauern. Auch wenn er ihr das nicht erklären konnte. Wenigstens bestand sie nicht darauf, dass er ihr irgendwas erklärte. Dass er mit ihr spräche.
Ganz im Gegensatz zum kleinen Vogelherzen. Senray wollte immerzu, dass er ihr seine Gedanken anvertraute.
Senray... seine Gedanken schwenkten auf die Umlaufbahn ihres Namens ein. Und drehten ihre Runden um dieses Gravitationszentrum.

Es klopfte.
Wilhelm schrak auf.
Dann ein doppeltes Klopfen. Er blickte zum Fenster und stellte verwirrt fest, dass das Sonnenlicht bereits geschwunden war. Aber... er hatte sich doch eben erst hingelegt gehabt? Egal! Das Geräusch ließ ihn zum hinteren Ladenzugang eilen, durch die Werkstatt, zu der metallverstärkten Tür auf der Rückseite des Gebäudes. Während die konventionelle Anfrage auf Einlass noch verstummte, verstärkte sich Klang des vertrauten Herzschlags und intensivierte die gleiche Bitte sekündlich.
Wilhelm öffnete und fand seine Erwartungen bestätigt. Mit roten Wangen und dieser typischen Mischung aus Unsicherheit und sehnsüchtigem Hoffen im Blick, stand sie vor ihm, in den Händen eine alte Pappschachtel – aus der es verführerisch duftete.
"Senray!"
"Wilhelm!"
Für eine Sekunde grinsten sie einander offen an, ehrlich erfreut über den Anblick des Anderen. Dann schlich sich neckender Spott in seine Stimme.
"Möchtest du Hannah besuchen?" Die Versuchung war einfach zu groß, trotz seiner Erschöpfung. Er freute sich so sehr, sie zu sehen!
Ihre Augen verengten sich leicht, durch das bewusst unterdrückte Lachen, während sie betont ernst antwortete.
"Natürlich! Wen denn sonst?"
Er antwortete ebenso 'ernst'.
"Sie hat leider Feierabend gemacht. Möchtest du trotzdem reinkommen?"
"Wie ärgerlich. Aber wenn du so fragst..."
"Wenn du schon mal den ganzen Weg auf dich genommen hast…"
"Außerdem habe ich ja Kuchen dabei. Wäre doch schade, den einfach wieder mitzunehmen, nicht wahr?"
"Wer könnte einen Kuchen vor der Tür stehen lassen, allerdings."
Wilhelm trat beiseite und bat sie mit einem Wink herein.
Sie trat mit einem Lachen ein. "Das könnte von Glum sein!"
Er folgte ihr. "Du weißt ja, wo es lang geht."
Ihr Lächeln war beinahe spürbar, als sie glücklich den Weg zur Treppe in die oberen Etagen fand und diese erklomm. Im ersten Stock wandte sie sich sofort der kleinen, gut beheizten Küche zu. Die innere Kälte, die in den letzten Nächten begonnen hatte, ihn zu füllen, hatte ihn dazu veranlasst, den kleinen Bollerofen höher zu heizen, als das bei ihm sonst üblich war. Eine gute Entscheidung, wie sich nun herausstellte, denn auch Senray würde die Wärme nach dem derzeitigen Wetter draußen mögen.
Sie stellte den Karton auf dem schmalen Tisch ab. Der Duft frischen Backwerks begann sofort die Räume zu fluten.
"Hmmm... Apfelkuchen?"
"Oh, du hast eine gute Nase! Richtig!"
Er war es der Tradition ihrer scherzhaften Neckereien beinahe schuldig, auf diese Vorlage einzugehen. Betont trocken kommentierte er die Aussage mit einem "Nicht nur die.", und grinste flüchtig, ehe er seinen Gesichtsausdruck zu 'betont unschuldig' wechseln ließ.
Ein Hauch Röte huschte über ihre Wangen und sie war hin und her gerissen zwischen diesem zauberhaften Lächeln und diesem rührend scheuen Ausweichen im Blick. Sie entschied, dass der Kuchen ein sichereres Thema sei und ließ ihn die weiteren Zutaten erraten.
"Mit...?"
Er trat an den Küchenschrank heran und begann den Tisch für sie beide einzudecken. Über die Schulter hinweg antwortete er.
"Zimt?"
"Und...?"
Einen kurzen Augenblick ließ er den Duft auf sich wirken und spürte den dezenteren Noten nach, die von den stärkeren fast überdeckt wurden.
"Nüsse vielleicht?"
Sie war ehrlich überrascht.
"Du hast Recht!" Mit einem theatralischen Seufzer fügte sie an: "Wie soll ich dich denn so bitte überraschen?"
Wilhelm musste grinsen. Ihr freundlicher Enthusiasmus war so unsagbar wohltuend. Er deutete zu den Tassen.
"Was darf ich dir dazu anbieten?"
"Hmmm... Kakao, wenn du noch da hast. Der würde sehr gut passen. Ansonsten bleibe ich bei Tee."
"Gerne. Kakao also."
"Ja, bitte!"
"Ich selber mache mir eben noch einen Kaffee, wenn das in Ordnung ist."
Sie lachte unbeschwert, während sie sich daran begab, vorsichtig den Karton zu öffnen. "Natürlich!"
Er reichte ihr die große Platte. "Kannst ja schon mal auftun, wenn du so nett wärst."
Während er sich den Getränken zuwandte, umwehte ihre freundliche Präsenz ihn, wie das sanfte Flattern von Nachtfaltern. Sie war beschäftigt damit, den Kuchen zu arrangieren und konzentrierte sich offenbar gänzlich darauf. Ein Umstand, der es ihm erlaubte, für einen Moment in seiner Konzentration nachzulassen. Sein Blick richtete sich auf die Tassen vor ihm. Doch während seine Hände fast automatisch das taten, was er von ihnen erwartete, verschwamm seine Sicht allmählich und versank in konturlose Bedeutungslosigkeit. Die Müdigkeit hatte ihn inzwischen so fest im Griff.
"Ha! Es hat geklappt! Er ist nicht zerbrochen."
Ihre ehrliche Freude über diesen kleinen kostbaren Moment war so liebenswert. Sie wandte sich ihm zu, das konnte er hören, auch ohne sich umzudrehen.
"Soll ich ihn auch schon mal schneiden oder willst du ihn noch zur Gänze bewundern?"
Er mochte ihre Nähe, ihren Herzschlag, ihre Stimme... aber gerade jetzt waren ihre Fragen so... anstrengend? Was für einen Wert hätte es, wenn er einen Blick auf einen Kuchen werfen würde?
"Mach nur... ich bin auch gleich so weit."
Ihr Herzschlag näherte sich ihm und ihre Stimme klang besorgt.
"Alles ok, Wilhelm? Soll ich... kann ich dir zur Hand gehen?"
Das hast du fein hinbekommen. Nun macht sie sich unnötige Gedanken.
Seine Hand zitterte leicht, als er fahrig ihr Getränk umrührte und ihr dann schnell die Tasse reichte.
"Schon gut. Hier."
"Danke!"
Er konnte ihren unsicheren Blick nahezu spüren und konzentrierte sich umso mehr darauf, mit der Zubereitung des eigenen Getränks fertig zu werden. Aber das Kaffeewasser brauchte einfach noch diesen letzten Moment, um durch den Filter zu tropfen. Wie gerne hätte er sich schon zurück an den Tisch gesetzt, an dem er bereits den größten Teil der letzten Stunden verbracht hatte. Gehen und Stehen war mühsam, so dass er diesen zentralen Punkt seiner Räume noch mehr bevorzugte, als ohnehin schon. Zur Not ließ es sich trefflich mit dem Kopf auf der Tischplatte aushalten, die Augen geschlossen und möglichst jeden bewussten Gedanken vermeidend. Eine inzwischen erprobte Strategie. Wenn auch leider keine, die gänzlich half.
Er schreckte leicht zusammen, als ihre Stimme dicht neben ihm erklang. Diesmal hatte er nicht mitbekommen, wie sie sich ihm näherte.
"Wie... wie geht es dir, Wilhelm?"
Er sah kurz zu ihr auf und lächelte müde, als er sie dort stehen sah, keine Armlänge neben ihm, beide Hände um die warme Kakaotasse geklammert. Der Inbegriff von Freundlichkeit und Nähe. Er würde sie niemals anlügen. Sie war so kostbar.
"Den Umständen entsprechend?"
Ihre Augen sahen ihn betrübt an. Es half nichts. All diese Emotionen, die sie verströmte, die viel zu gut für ihn waren... er wich ihrem Blick schnell aus, erklärte seinen Kaffee innerlich für fertig vorbereitet, nahm die Tasse und ging zum Tisch hinüber.
"Du... musstest gestern wieder, nicht wahr?"
Sie war erfüllt von Mitleid mit ihm. Das Wissen um seine regelmäßigen Sonderschichten als Nachtwache des bösartigen Vampirs, ging ihr viel zu nahe. Ihre klar wahrnehmbaren Gefühle straften den bemüht neutral gehaltenen Tonfall, in dem sie nachgefragt hatte, Lügen. Sie folgte ihm an den Tisch und dann saßen sie einander gegenüber.
Wilhelm sah in seinen Kaffee und nickte wortlos. Er gab sich einen Ruck und betrachtete den Kuchen.
"Er ist dir sehr gut gelungen. Ich bin gespannt, wie er schmeckt."
Es gab einen kurzen Moment der Irritation, als sie feststellte, diesen noch immer nicht aufgeschnitten zu haben, doch als dem Abhilfe geschaffen war und sie vor ihren jeweiligen Stücken saßen, entspannte sie sich deutlich sichtbar unter seinem Lob.
Raculs Worte echoten wie leises Wispern durch seine Gedanken, untermalten diese und ergänzten sie, so wie sie es seit dem Beginn der Sonderschichten fast ununterbrochen taten. Und dabei half es nichts, zu wissen, dass diese Worte sich verselbständigende Erinnerungen sein mussten, dass er eigentlich imstande hätte sein müssen, sie zu unterdrücken.
"So leicht zu lenken! So leicht zu führen! Du könntest sie mit nur wenigen Worten und Gesten, einem Blick hier, einer sachten Berührung dort, zu einem willfährigen Spielzeug machen. Damit würde sie wenigstens einen gewissen, minimalen Nutzen erfüllen. Sie lechzt nach deiner Aufmerksamkeit! Und was machst du? Dich selbst zu ihrem frei verfügbaren Wohlfühlschmuck! Folgst ihr und bedienst ihren Geltungsdrang, lässt sie strahlen, redest ihr zum Munde, nur damit sie sich besser fühlt!"
Er verdrängte die leise, raue, krächzende Stimme.
Sie hat genug durchgemacht. Sie hat jedes Recht darauf, gut behandelt zu werden. Vielleicht bin eher ich erbärmlicher Nichtsnutz es, der ihre Aufmerksamkeit benötigt, nicht wahr? Und dann sollte ich auch entsprechende Dankbarkeit zeigen.
Sein Blick verweilte auf dem Backwerk, als er sich zusammenzureißen versuchte. Und wirklich, schon der erste Bissen entführte seine Geschmacksnerven in kulinarische Höhen. Er schloss genussvoll die Augen. "Sehr gut. Sehr, sehr lecker!" Er nickte langsam und sah ihr lächelnd mit einem Nicken entgegen - und endlich schien sie sich wieder etwas zu entspannen, ihre Besorgnis um ihn etwas nachzulassen. Erleichterung machte sich in ihren Zügen bemerkbar.
"Oh, zum Glück. Er ist gut geworden." Sie lächelte ihn an.
"...nur wenige Worte... sie lechzt nach deiner Aufmerksamkeit... damit sie sich besser fühlt..." Das boshafte Sticheln des Alten geisterte wie Nebelschwaden immer wieder durch seinen Sinn und es wäre verlockend einfach gewesen, die Fallstricke schlichtweg durch vollständige Ignoranz zu umschiffen. Aber das hätte bedeutet, den Beeinflussungen zu gestatten, sein Verhalten eben doch zu lenken, ganz gleich in welche Richtung. Das hätte vermutlich dazu geführt, sie mit Distanz zu sanktionieren, sie durch ängstliche Zurückhaltung zu strafen für etwas, wofür sie nichts konnte. Senray hätte das nicht verstanden. Und es sich schmerzhaft zu Herzen genommen. Nein, er musste sich so normal wie möglich ihr gegenüber verhalten, was auch bedeutete, sie weiterhin "strahlen" zu lassen, wie er es stets gerne getan hatte. Sie hatte ein verwundetes Ego aber das hatte seine Gründe. Es war nichts, was man ihr in irgendeiner Weise vorwerfen durfte. Wer hätte sich schließlich zu Recht anmaßen dürfen, aus so vielen Jahren im qualvollen Zugriff eines Dämons, noch unangetastet hervorzugehen? Gewiss niemand. Er selber brachte ja nicht einmal einige wenige Nächte seiner ganz eigenen Nemesis gegenüber zustande, obgleich durch den magischen Schutzkreis vor dem Gruftzugang abgeschirmt!
Wilhelm bemühte sich bewusst darum, ein unverfängliches Gespräch im Gang zu halten. Um ihr das Geschenk ihres Besuches mit angenehmen Empfindungen zu danken, anstelle einer stockenden Konversation. Das war das Wenigste, was er für sie tun könnte. Auch, wenn seine trägen Überlegungen ihn darin im Stich ließen, ein raffiniertes Thema ausfindig zu machen.
"Du hast mit dem Backen ein Talent. Mindestens dieses eine."
"Ah, so weit würde ich nicht gehen." Ihre tief verwurzelte Bescheidenheit wieder. "Ich bin lange nicht so gut im Kuchenbacken, wie du im Kochen."
Er musste ihr instinktiv widersprechen, wenn nicht in der Sache, so doch in den dahinter stehenden Tendenzen ihrer Worte.
"Stelle dein Licht nicht unter den Scheffel, kleines Vogelherz!"
Sie errötete ganz zauberhaft und konterte doch seinen Blick.
"Ich meine es ernst, Wilhelm! Du bist ein extrem guter Koch!"
Sie sah verlegen auf ihren Kuchen und nahm einen Bissen. Er wollte sie nicht dieserart... zweitklassig im direkten Vergleich zu sich selber eingeschätzt wissen. "Ich hatte viel Zeit zum Lernen. Aber trotzdem... solch einen Kuchen... das ist mir nicht gegeben. Das mit dem Backen habe ich noch nie sonderlich gut hinbekommen." Nicht weniger, als die pure Wahrheit.
Sie lächelte ihn fast frech an.
"Deswegen haben wir uns doch darauf geeinigt, dass du Unterricht bekommst."
Er schaute einen Moment lachend von seinem Teller auf.
"Interessant, was wir alles so vereinbaren, wenn ich schlafe."
Sie hatte fast gleichzeitig zu Sprechen begonnen, so dass sie sich nahezu ins Wort fielen.
"Zugegeben. Ich weiß nicht wirklich, ob ich wirklich gut genug dafür bin. Aber es kann ja nicht sein, dass du den Ofen meidest und dir die ganzen köstlichen Optionen in dieser Richtung entgehen lässt!" Sie hielt verwirrt inne. "Wenn du schläfst?"
Er nahm sich mit einem Zwinkern ein Stück nach.
"Na ja, wer weiß, was dir noch so einfällt. Nicht, dass ich etwas gegen solch eine Vereinbarung hätte."
"So, so. Der Herr schlafwandelt also, hm? Ich frage mich, wie oft ich mit dir hier saß und du gar nicht wach warst!"
Er musste mit leichtem Spott antworten.
"Also ich war nicht derjenige, der viel geschlafen hat, als du hier warst."
Sie schien von irgendetwas leicht irritiert, verdrängte aber offenbar den Gedanken, denn das Stirnrunzeln verschwand fast in derselben Sekunde wieder, in dem es aufgetaucht war. Scherzhaft neckend führte sie den Faden weiter.
"Ich sehe schon. Erst sagst du mir, du bräuchtest keinen Schlaf. Und dann nutzt du die Zeit dafür, wenn ich wach bin?"
Ohne es zu ahnen, legte sie spielerisch den Finger auf einen wunden Punkt. Er hatte in den letzten Tagen vermehrt Schwierigkeiten damit gehabt, sich zu konzentrieren. Und ein unbestimmbares Gefühl hatte sich anhänglich an ihn geheftet, das ihm verdeutlichte, wie ungenau und unzuverlässig seine Merkfähigkeit dadurch schien. War er gedanklich abgedriftet, während sie ihm etwas Entscheidendes erzählt hatte? Das wäre nicht fair gewesen, ihr gegenüber.
Schnell lenkte er sie ab, indem er ihr damit drohte, den Kuchen ganz für sich zu vereinnahmen. Sie widersprach lachend und warme Heiterkeit hüllte ihn ein, zusätzlich zu den unruhigen Emotionen, die ziehend und sehnend über ihn hinweg spülten, als sie ihn neckend aufzog.
"Unmöglicher Rekrut! Wie konnte ich nur zusammen mit dir am selben Küchentisch enden, hm?"
Er nahm die dampfende Tasse mit beiden Händen auf, ließ den Duft auf sich wirken. Seine Augen schlossen sich dabei und er spürte nur beiläufig, wie die bleierne Müdigkeit ihn augenblicklich wieder in ihre Klauen bekam. Die letzten Minuten scheinbar unbeschwerter Kommunikation waren teuer erkauft. Seine Schultern sackten unter einer imaginären Last herab, er stützte sich schwer auf die aufgestellten Ellenbeugen und sein Kopf neigte sich vor, die warme Tasse an seine Stirn gelehnt.
Ihre Stimme riss ihn wie aus tiefer Trance zurück, genügte aber nicht, um ihn zum Aufblicken zu bewegen. Nur einen Moment noch!
"Wilhelm... ich weiß, du hast gesagt, Vampire müssen nicht schlafen. Aber... ich weiß nicht, vielleicht solltest du dich hinlegen? Ausruhen? Oder... uhm... also, ich meine... brauchst du etwas... zu trinken? Ich meine... nicht Etwas."
Er ahnte ihren aufmerksamen Blick, brachte aber dennoch nur ein ansatzweises Schütteln mit dem Kopf zustande. Es war so anstrengend, zu reden. Gedanken zu formen. Worte zu sprechen. Seine Stimme klang selbst in den eigenen Ohren leise.
"Es geht gleich wieder. Bestimmt. Ich bin nur... gleich... das mit dem Schlafen... hat noch nie so funktioniert, wie du es kennst... aber derzeit... na ja... die Gedanken kreisen in endlosen Schleifen... nicht mehr lange..."
Ihre Stimme wurde ebenfalls leiser.
"Keine Eile. Wilhelm, es ist... ok. Ich mache mir Sorgen, ja. Aber du hattest ja gesagt, dass du Ruhe brauchst und nicht so gesprächig sein würdest. Ich war also vorgewarnt, keine Angst. Ich erwarte nichts von dir." Sie wurde noch etwas leiser. "Ich wünschte nur, ich könnte dir helfen."
Er flüsterte fast, die Augen noch immer geschlossen.
"Du hast Kuchen gebracht."
"Ich dachte, das könnte dich freuen. Und vielleicht würde dich das inspirieren und wir fangen gleich heute an zu backen und es lenkt dich ab. Naja, ein bisschen albern, irgendwie, jetzt wo ich es ausspreche."
Ihr leises Lachen perlte verlegen durch die kleine Küche.
Das Bild, welches sich in seinem Sinn dazu formte, wie er sich anstellen würde, wenn er sich dieserart entkräftet um Teig und Ofen bemühen würde, hatte etwas Absurdes. Er riss sich zusammen und sah mit einem schiefen Grinsen hinter seiner Tasse auf. "Du meinst es richtig ernst, oder? Du bist mit einem Kuchen und dem festen Vorsatz hergekommen, mich mit einem Backschlachtplan zu überrumpeln? Das ist irgendwie sehr... angriffslustig." Der Gedanke, dass sie ausgerechnet seinetwegen so ungewohnt zielstrebig und fast intrigant planvoll vorgehen mochte, gefiel ihm irgendwie. Selbst wenn die Umsetzung ihrer Pläne derzeit unerreichbar schien.
Ein deutlicher Hauch von Farbe überzog ihre Wangen und ihr kleines Herz schlug kräftiger.
"Also... es ist ja nicht so, als wäre das nur auf meinem Mist gewachsen!"
"Nicht?"
Er lachte leise.
Sie tat es ihm gleich, schüttelte dabei zugleich erheitert, wie empört, den Kopf.
"Spiel nur unschuldig."
"Ich kann mich nicht daran erinnern, dich irgendwie dazu ermuntert zu haben."
"Ja, der Vorschlag war von mir. Aber du bist voll darauf eing..." Sie brach mitten im Wort ab und schaute ihn misstrauisch an. "Wirklich, nicht schlecht. Du solltest Verdeckter Ermittler werden."
Er musste lachen.
"Ich weiß ja nicht..."
"Nein, wirklich." Sie lehnte sich demonstrativ auf ihrem Stuhl zurück. "Ich wäre fast darauf reingefallen."
Er konnte sich das Grinsen kaum noch verkneifen. Sie war heute wirklich außergewöhnlich hartnäckig. Ob sie ihn auf die Art ablenken wollte, von seinen trüben Gedanken? Er war sich nicht sicher, ob es wirklich funktionierte.
"Sie raubt dir zusätzliche Kraft, schwächliches Geschöpf, das du bist, nicht wahr? Du bist so unsäglich müde in letzter Zeit. Und sie will die ganze Zeit reden, reden, reden, immerzu reden! Es gäbe eine so einfache Lösung. Wenn man genug Schneid dafür hätte, genug Rückrat. Sie ist nicht einmal dein Zögern wert. Eine Kleinigkeit, wertlose, Aufmerksamkeit heischende Biomasse. Du willst ein Vampir sein? Dazu fehlt es dir an Durchsetzungsvermögen, kleiner Fadenbeisser... wir sind Herrscher, natürliche Schnitter der Lebenden, das auserkorene Werkzeug ihrer Auslese... Bringe sie zum Schweigen! Eine Sache von Sekunden - und du hättest deine Ruhe. Herrliche, wohltuende Stille... um dich wieder in eine Höhle zu verkriechen und winselnd deine Wunden zu lecken!"
Wilhelm konzentrierte sich mit allergrößter Mühe auf das, was sie sagte. Sie bescheinigte ihm ein gewisses schauspielerisches Können und wäre fast auf irgendeine Täuschungsabsicht... Intention... hereingefallen? Er mühte sich um ein prinzipiell unverfängliches Lächeln. Wenn möglich wollte er vermeiden, ihr zu deutlich zu zeigen, dass er anscheinend den Roten Faden in ihrer beider Konversation verloren hatte.
"Worauf? Worauf wärest du fast reingefallen?"
Sie lachte auf.
"Jetzt hör schon auf!"
Er grinste. Vorsichtshalber.
Sie sah ihn mit deutlich gespieltem Ernst im Blick an und schüttelte bedauernd den Kopf.
"Aber ich verstehe schon. Jetzt wo es ernst wird, wird dir die Sache zu heiß."
Etwas stimmte nicht. Es fühlte sich an, als wenn er seine Umgebung mit einer oder zwei Sekunden Verzögerung wahrnahm und ihm dadurch irgendetwas Wichtiges entging. Ihr Verhalten, ihre Worte... sie schien wirklich davon überzeugt zu sein, etwas mit ihm vereinbart zu haben, sich auf eine konkrete Absprache zu beziehen. Aber...
Sie lächelte ihn mit einer Mischung aus Mitgefühl und Verzeihen an.
"Es war ja sowieso mehr scherzhaft. Na ja... ich schätze, du hattest nicht erwartet, dass ich es irgendwann wirklich anbiete, oder?"
Sein Zögern trieb ihr wieder die Röte ins Gesicht, doch diesmal verfehlte dieser Vorgang seine übliche Wirkung auf ihn. Zu sehr lenkte ihn ein unbestimmbares Gefühl ab, welches sich tiefschwarz in seinen Eingeweiden zusammenzuballen schien und mit eisigen Klauen nach seinem Herzen griff. Eine Ahnung umnebelte seine Gedanken, wortlos und grabesstill, wenn auch noch seltsam gesichtslos. Deutlich bedächtig stellte er seine Tasse vor sich ab.
"Nur um sicher zu gehen, dass wir nicht aneinander vorbeireden... du hast irgendeine meiner Aussagen als... was interpretiert?"
Sie blinzelte verwirrt.
"Wilhelm, da war nicht sonderlich viel zu interpretieren."
Er hob entschuldigend die Hände.
"Wie gesagt... Ich habe eigentlich nichts dagegen! Mit dir gemeinsam zu backen. Aber... wann sollen wir das besprochen haben?"
Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutliche Verwirrung und es tat ihm leid, sie mit seiner Unzulänglichkeit zu verstören. Aber ein unbezwingbarer Drang hatte sich seiner bemächtigt, jetzt nicht davon abzulassen. Es ging um mehr, als nur eine vergessene Absprache. Es ging um...
Seine Gedanken liefen schmerzhaft ins Leere, wie die Schienen einer nicht ausgebauten Eisenbahnstrecke.
Senrays Stimme riss ihn von einem Abgrund zurück, den er nicht erkennen konnte, der aber so tief reichte, dass ihm schwindlig wurde.
"Ich hatte es dir an dem einen Morgen angeboten. Und nicht damit gerechnet, dass du annimmst. Aber du bist voll darauf eingegangen. Und, na ja, ich... habe mich ehrlich gesagt darauf gefreut." Sie sah ihn inzwischen besorgt an. "Als ich bei dir übernachtet habe. Vor Ophelias und Maggies Rettung. Ich denke es war... uhm, der zweite? Oder der dritte Morgen?"
Ihre Worte trafen auf seine Erinnerungen - und versandeten dort. Sie verliefen sich wie auslaufende Wellen am Meeresstrand, suchten nach Halt und rutschten doch ab, fielen zurück, versickerten hilflos im durstigen Boden, ohne die geringste Spur des Widererkennens zu hinterlassen. Er spürte, wie sich ihm aus irgendeinem Grunde die Kehle zuschnürte und beeilte sich, sie zu beruhigen.
"Dann... wenn du dich darauf sogar freust... dann... dann machen wir das auf jeden Fall, nicht wahr?"
Ihr Blick und die sich darin spiegelnde Besorgnis intensivierten sich sekündlich.
"Du erinnerst dich wirklich nicht, oder?"
Er versuchte es mit fast brutalem Nachdruck. Wären seine Gedanken lange Regalreihen gewesen, gefüllt mit einzelnen Anliegen, man hätte ihn dabei beobachten können, wie er an diesen Regalen entlang hastete und mit undefinierbarer Unruhe die Beschriftungen zu entziffern versuchte. So viele Momente mit ihr huschten an seinem inneren Auge vorbei und wäre nicht diese düstere Unsicherheit dabei gewesen, aus allen Ecken und Winkeln seines Bewusstseins hervor zu kriechen, es hätte eine angenehme Beschäftigung sein können, sich an die Tage ihres Beisammenseins vor Ophelias Rettung zu erinnern. Der Moment, als er sie das erste Mal mit frisch zubereitetem Frühstückstablett weckte. Der tunikaartige Morgenmantel aus cremefarbener Seide, den er ihr innerhalb von Minuten improvisiert auf den Leib schneiderte, als sie nach dem ersten Übernachten feststellte, gar keine passende Morgenkleidung dabei zu haben. Und der ihrem rötlichen Haar und ihren feinen Gesichtszügen so sehr schmeichelte. Ihr warmes Lachen, so ungewohnt. Und gleichzeitig plötzlich so selbstverständlich in seinem Leben, seiner Wohnung. Die stundenlangen Diskussionen mit ihr über vergängliche Belanglosigkeiten, bei denen unmerklich das Stottern und Verhaspeln aus ihrem Reden verschwand. Ihr glücksselig strahlendes Gesicht, als er ihr den Standort der Dose mit den teuren Kundenkeksen verriet und ihr davon anbot... doch selbst bei diesem Bild, das doch thematisch so nahe an ihrer Behauptung lag, wollte sich keine entsprechende Erinnerung einstellen! Stattdessen... Kälte.
Ihre Stimme umspülte ihn, wie die Brandung einer sturmgepeitschten See.
"Ich hatte dich gefragt, warum du so gut kochen kannst. Und du hast mir von deiner Mutter erzählt. Und... irgendwie kamen wir aufs Backen, dass du das nie so richtig rausbekommen hast. Dass du dem Ofen hier nicht traust. Weil er dir dauernd alles anbrennt."
Sein Blick schnellte zu dem gusseisernen, schwarzen Ungetüm, welches seiner Meinung nach gerade mal zum Erwärmen des Raumes gut sein mochte. Sie hatte auf jeden Fall Recht. Solch eine Aussage konnte, ja, musste von ihm stammen. Es war das, was er gesagt hätte! Wenn er denn über den Ofen reden würde. Aber wie konnte das sein, dass er ein solches Gespräch vergessen hatte?
Senray wirkte kurz etwas verlegen.
"Ich... ok, ich habe etwas angegeben, ich gebe es zu. Von wegen, dass das sicher nicht am Ofen liegt. Und wir kamen aufs Backen und..." Sie sah ihn direkt an und brach alarmiert mitten im Satz ab. "Wilhelm? Wilhelm, was ist mit dir?"
Er fühlte sich, als wenn er ersticken könnte. Etwas presste sich wie Stahlringe um seinen Brustkorb und schien ihm die Lungen langsam zu zerquetschen. Er atmete instinktiv dagegen an, unsinnig in der Sache, viel zu schnell, viel zu hastig... aber unaufhaltsam.
"Ich... ich kann mich nicht erinnern." Sein Blick suchte hilflos den ihren und er konnte regelrecht beobachten, wie sich ihre Pupillen weiteten. "Das...", er ahnte bereits, als die Worte seinen Mund verließen, dass sie ihn verrieten, dass sie nur zu deutlich zeigten, welch ein Aufruhr gerade in seinem Inneren herrschte. Das was hier zu Tage trat... es war unnormal. Auf eine gefährliche Art unnormal. Es fehlte etwas in ihm drinnen. Und stattdessen war da eine Anomalie, über die sie nur zufällig gestolpert waren und die niemals ans Tageslicht hätte kommen sollen. Darin war er sich instinktiv sicher, auch wenn noch immer Details fehlten, um wirklich und wahrhaftig zu verstehen. "Das ist nicht schlimm... oder?" Wie lächerlich er klingen musste! Was erwartete er von ihr? Dass sie für ihn die Welt zum Stillstand brachte? Dass sie ihm versicherte, alles würde gut werden? Und dass sich sein Schicksal daraufhin ebenso ihren Worten beugte, wie sein Ego dies vor ihrer Freundlichkeit tat?
Sie schüttelte leicht den Kopf und bemühte sich darum, ihn zu beschwichtigen.
"Das... ist doch normal. Ich meine, jeder vergisst Dinge. Und du hattest in der Zeit viel Stress... nein, ich denke nicht, dass es schlimm ist. Keine Sorge."
"Oh, seeliges Vergessen! Du würdest nur zu gerne verdrängen, dass du ein Parasit bist, nicht wahr? Gib es zu! Dieser dämonische Begleiter, den du dir da angelacht hast... er hat nicht ganz Unrecht, was dich angeht. Auch wenn er zu sehr verallgemeinert. Schließlich lässt sich dein Unvermögen nicht auf unsere ganze stolze Rasse übertragen. Man muss unterscheiden zwischen dem angeborenen Recht zu herrschen, mitsamt dessen konsequent ausgelebten Fortsetzungen. Und einem unangemessenen Nutznießertum - wie in deinem Fall. Aber Vergessen, um dem gerechten Urteil zu entgehen... das steht den Wenigsten zu. Und dir schon gar nicht, Schneider, der du dich als Verräter verdingst. Darum lass mich dir auf die Sprünge helfen und jene Erinnerungen aus deinen geistigen Schubladen hervorholen, die du lange nicht mehr bei Lichte betrachtet hast. Die Erinnerungen, die du noch nie richtig besehen hast! Den Tod deiner Eltern, so tragisch... so unsagbar praktisch..."
Die Worte taten ihm fast körperlich im Hals weh, als er sie möglichst neutral herauszubringen versuchte:
"Was...", er musste sich räuspern. "Was habe ich gesagt?"
Sie sah ihn irritiert an.
"Wie meinst du das?"
Natürlich, seine Fragen mussten sie ja geradezu verwirren. Wer fragte schon so etwas? Dennoch! Er musste es wissen. Er musste diese Lücke schließen.
"Was habe ich dir von... von meiner Mutter... erzählt?"
Sie knabberte kurz an ihrer Unterlippe, wie sie es in den Zeiten großer Unsicherheit gerne tat, dann konzentrierte sie sich jedoch mit geschlossenen Augen.
"Hm... du hattest gesagt, dass das Haus immer von den Düften erfüllt war, wenn sie gekocht hat. Dass sie es geliebt hat zu kochen. Und dass du wiederum eben dies alles sehr mochtest. Die gute Stimmung, das Essen, den Duft der Kräuter, mit denen sie gerne experimentierte. Du hast davon erzählt, dass sie euch - deinem Vater, deinem Bruder und dir - die Liebe zum Exotischen nahe gebracht hat. Dass es in eurer Familie niemals nur um reine Nahrungsaufnahme ging, sondern dass deine Mutter die gemeinsamen Mahlzeiten dazu nutzte, die Familie zusammenzubringen und euch obendrein mit Aromen zum Ausprobieren von Neuem zu locken. Und... und dass sie viel zu früh von dir genommen wurde. Deine Mutter. Ebenso wie auch die anderen beiden." Wilhelm hing regelrecht an Senrays Lippen. Sie öffnete die Augen und sah ihn mitfühlend an, während ihre Stimme leiser wurde. "Du hast dann auch erzählt, dass du daraufhin versucht hast, in der leeren Wohnung die Gerüche zu erzeugen... dass du deswegen mit dem Kochen angefangen hast."
Sie lächelte ihn scheu an.
Da war er, der Abgrund. Bodenlos und dunkel. Ihre Ausführungen hatten immer wieder in seinem Inneren angeeckt, versucht, etwas anzustoßen, Gefühle auszulösen. Freude. Leichtigkeit. Zuneigung... ein Hauch von Zufriedenheit. Wehmut. Trauer... Doch keines davon wollte sich entfalten! Er spürte, dass dort, hinter der Tür in seinem Kopf, hinter der Barrikade, ein Berg von Erinnerungen nur darauf hätte warten sollen, hervorzubrechen. Dass die schiere Masse an Bildern und Gefühlen die Trennbretter nach außen biegen hätte sollen. Doch da war... Nichts! Fast schien sogar das Gegenteil auf ihn zu lauern, nur darauf zu warten, dass er sein feiges Zittern überwinden und die Pforte öffnen würde - um ihn hineinzusaugen, in den emotionalen Sog, in die Tiefe, die ihn verschlingen würde, wenn er es nur zuließe! Ein allumfassender Schmerz breitete sich in ihm aus, beginnend in seinem Brustkorb. Und für eine Sekunde dachte er, dass sich das Paktmal erwärmen und wieder aufbrechen würde, dass der Dämon einen Weg gefunden hätte, ihn doch zu strafen... und sei es nur, für seine bloße Existenz.
Senrays Augen weiteten sich erschrocken.
"Habe ich... habe ich etwas Falsches gesagt? Wilhelm? Es... es tut mir so leid, wenn ich unangenehme Erinnerungen geweckt habe, ich habe nur... Ich wollte nicht..."
Er schüttelte schnell den Kopf.
"Nein! Keine unangenehmen Erinnerungen..."
Sie sah ihn sehr besorgt an und kaute unsicher auf ihrer Lippe herum.
Wilhelm legte die Hände flach aneinander und presste sie sich gegen die Stirn. Sie zitterten leicht.
"Gar keine... Erinnerungen... ich... ich kann mich nicht mehr... erinnern..."
Ihre Stimme versagte ihr leicht den Dienst, als sie vorsichtig nachfragte. "An nichts?"
Ein letztes Mal zögerte er, ehe er sich die unfassbare Wahrheit eingestand.
"Ich kann mich nicht mehr an sie... nicht mehr an... meine Mutter... erinnern..."
Senray hielt sich die Hand vor den Mund. Und vage spürte er ihren entsetzten Blick im Genick, als er von seinem Stuhl aufsprang und aus der Küche rannte.
Einen Wimpernschlag darauf saß er auf dem Boden seiner Dachkammer, am Fußende des Bettes, der niedrigen Kommode zugewandt. Er blickte auf den Bilderrahmen in seinen zittrigen Händen, auf die Ikonographie einer fröhlich grinsenden Familie.
"Wilhelm?"
Ihre leise Stimme wetteiferte mit ihrem viel deutlicher vernehmbaren Herzschlag, der schnell und holprig über seine Haut tanzte. Er sah auf. Sie stand unsicher im Türrahmen. Mit nur einer Hand hielt er den Bilderrahmen etwas in die Höhe, ihr entgegen, wie, um ihr das im Rahmen eingefangene kleine Glück zu zeigen. In seinem Innern jedoch fühlte er sich dünn wie Papier und ein Flattern schlich durch seine Glieder, als wenn er ein Fahnentuch im Sturm wäre, kurz vor dem Zerreißen.
"Ich... ich erkenne sie. Alle. Aber... die Erinnerungen... sie sind weg! Ich kann dir sagen, wer wer ist. Mutter, Vater, Andrej... mein kleiner Bruder... Ich weiß es! Aber... es sind nur Sekunden übrig."
Es war, als wenn er sein eigenes Leid in ihr gespiegelt sähe, gleichzeitig so nahe und doch weit weg. Sie kam zögerlich näher, als wenn sie Angst davor hätte, ihn versehentlich zu berühren und damit vielleicht daran mitschuldig zu werden, dass er zerbräche wie eine Vase, die man zu nahe an eine Kante gestellt hatte. Dann aber setzte sie sich vorsichtig neben ihn auf den Boden. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch in der unbewegten Luft.
"Wilhelm... es tut mir so leid!"
Er sah sie verzweifelt an.
"Wie kann das sein? Wie können Erinnerungen einfach so spurlos verschwinden?!"
Sie zog unmerklich ihre Schultern etwas in die Höhe, wie, um sich vor einer unsichtbaren Gefahr zu schützen.
"Ich... ich weiß es nicht. Ich verstehe es nicht."
Er sah sie weiter an, unverrückbar... flehentlich. "Ich... vor einigen Tagen hatte ich an sie gedacht...", er deutete auf die schlanke, große Frau mit dem Lachen im Blick, die auf der Aufnahme in der Mitte stand. Deren schalkhaftes Grinsen so sehr seinem eigenen glich. "Und ich hatte das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Aber ich dachte... ich dachte, es wäre nur etwas gewesen, was sie gesagt hätte! So wie auch Menschen vergessen... so Vieles vergessen... aber wenn ich genauer darüber nachdenke, dann fehlte schon damals etwas Entscheidendes. Da war das gleiche Gefühl der Leere!" Sein Blick wanderte zu den Gesichtern zurück und er starrte auf den Bilderrahmen zwischen seinen Händen, als wenn allein seine aufgebrachte Willenskraft entscheidend dafür wäre, ob die verlorenen Erinnerungen wieder auftauchen, sich nicht länger seinem Zugriff entziehen würden.
Aus dem Augenwinkel nahm er verschwommen wahr, wie Senray dicht an seiner Seite eine ihrer Haarsträhnen in einer fast verlegenen Geste hinter ihr Ohr strich. Sie tat sich offenbar schwer damit, ihre nächste Frage zu formulieren.
"Hast du... gibt es... gibt es Vampirkrankheiten, die... die das Gedächtnis betreffen?" Ihre Stimme klang so vage, dass sie kaum zu hören war.
Konnte es das sein? War er krank? Geisteskrank gar?
Wilhelm schüttelte heftig den Kopf.
Nein, der Verlust der Erinnerungen wirkte dafür zu massiv, zu selektiv! Wie könnte von einer Krankheit nur eine Sorte von Erinnerungen betroffen sein? Zumal solche, die nicht nur in der Vergangenheit, weit zurückliegend verankert wären, sondern auch solche, aus der nicht so fernen Vergangenheit, die mit jenen in irgendeiner Art verknüpft gewesen schienen?
Die sich abzeichnende Schlussfolgerung war so ungeheuerlich, dass er es nicht über sich brachte, weiter in diese Richtung zu denken. Sein Kopfschütteln wurde langsamer.
Senray an seiner Seite musste schwer schlucken. Er konnte spüren, wie sie zu einem ähnlichen Fazit fand.
"Wilhelm? Wann...", sie setzte neuerlich zum Sprechen an, "Kannst du einschätzen... ich meine... denkst du... könnte es mit ihm zusammenhängen? Er... er hatte dich schwer verletzt, nicht wahr?"
Er schloss die Augen und alles in ihm verkrampfte sich. Er konnte gerade eben so verhindern, dass der zarte Rahmen mit dem Familienbild hinter Glas, in seinen Händen zerbarst.
Eine nur zu frische, deutliche Erinnerung rann eisig an seiner Wirbelsäule hinab, Schmerz, der sich in seinen Körper ergossen hatte wie Eiswasser, Verachtung, die in seinen Sinn floss, wie bitterkalte Flüssigkeit in einer sternenlosen Nacht, unsichtbar, beißend. Das Gefühl von Verlust, so umfassend, dass es in seiner Intensität beinahe mit dem körperlichen Wahnsinn zu konkurrieren vermochte, der von seinem Nacken und seinem Arm aus zu expandieren schien. Das Gefühl von tiefen Wunden, die mit einem scharfen Beil in seine Persönlichkeit geschlagen wurden, wie das Abspalten von...
Verzweiflung wusch die frischen Erinnerungsbilder beiseite und er sackte mit bitterem Lachen in sich zusammen. Sein Körper klappte gegen das Fußende des Bettes hinter ihm und sein Kopf fiel kraftlos zurück, auf die Tagesdecke. Er presste den Bilderrahmen fest an sich und zog seine Beine näher, der Länge nach zusammengefaltet, wie um imaginären Schlägen möglichst wenig Angriffsfläche zu geben. Seine Stimme hatte einen fatalistischen Klang angenommen.
"Ja... das könnte hinkommen."
In seinem Inneren begann der überhängende Fels, auf dem er quasi über der Finsternis zum Stehen gekommen war, unter seinen Füßen zu bröckeln.
Aber... wenn ich dort die Erinnerungen an... sie alle... wenn ich sie zu diesem Zeitpunkt... verloren habe... Der Gedanke war unaufhaltsam, so er erst begonnen. Und er tat weh, so unsagbar weh. Nein. Nicht "verloren". Dann wurden die Erinnerungen an meine Familie mir von ihm "geraubt". Gewaltsam entrissen. Und... vernichtet... denn seiner Persönlichkeit, seinem Hass entsprechend... er wird die Erinnerungen nicht versiegelt oder verwahrt haben, so dass ich sie wieder finden könnte. Dann sind sie... für immer fort. Unerreichbar.
Sein Blick verschwamm. Er realisierte kaum, wie er seine Lippen fest zusammenpresste. Aber er spürte, wie er schwer atmete, überhaupt atmete, krampfhaft und zittrig, wie er schlucken musste und sein Gesicht nur zu deutlich von Emotionen kündete, mit denen er nicht wirklich umzugehen vermochte. Schnell legte er seinen Unterarm über sein Gesicht. Sie sollte ihn nicht so sehen.
Ihr Herzschlag näherte sich ihm und er verkrampfte unmerklich etwas mehr. Keine Kraft mehr. Er hatte einfach keine Kraft mehr dafür übrig, die Fassade aufrecht zu erhalten. Er konnte ihr in genau diesem Moment nicht das Bild innerer Gelassenheit und gleichmütiger Ruhe bieten, das sie von ihm gewohnt war und das ihr - ihres Seelenfriedens wegen - zustand. Er konnte sich nicht genug zusammenreißen, um sie zu beruhigen und...
Ihre Arme legten sich behutsam um seine Schultern. Ihre Wärme strahlte auf ihn ab und ohne auch nur einen einzigen bewussten Gedanken, reagierte er wie in Trance. Er rollte sich zur Seite, ihr entgegen, und ließ es zu, dass sie ihn sacht an sich zog, seinen Kopf an ihrer Schulter barg und ihn in ihren Armen hielt. Er stieß seine Verzweiflung in einem einzigen, zittrigen Atemzug aus und es klang nicht so, als wenn er ihr etwas sagen, sondern es in höchster Not vielmehr schluchzen würde.
"Es waren doch ohnehin nur noch die Erinnerungen! Außer den Erinnerungen ist mir doch nichts mehr von ihnen geblieben! Warum? Warum ausgerechnet..."
Sie versenkte ihr Gesicht in seinem Haar und wisperte.
"Es tut mir so leid... es tut mir so leid, Wilhelm..."
Er lehnte sich schwer gegen sie und für einen Moment, ließ er ihren Trost auf sich wirken, ihre Wärme und ihren Duft ihn einhüllen. Er lauschte fast abwesend dem allgegenwärtigen Pochen dieser mitfühlenden Welt und das war alles, was ihn vom Fallen zurückhielt. Es gab nichts Anderes, was er dem Seelenschmerz entgegensetzen hätte können, dieser Wunde in der Wunde, dem inneren Ausbluten, dicht unter dem Paktmal.
Sie waren verloren, für immer.
Er würde ihre Bilder ansehen und nichts mehr wissen von dem, was ihre Bedeutung einst ausgemacht hatte. Er würde niemals wissen, wie es gewesen war, einen liebenden Vater zu haben. Oder war dieser vielleicht keiner gewesen? Andererseits... beschmutzte er allein mit diesem Zweifel etwa dessen Andenken? Und die Mutter. Deren Lachen... er schien sie einst gemocht zu haben, wenn Senray seine eigenen Worte richtig interpretiert hatte. Es kam wohl keine reine Zweckmäßigkeit dafür in Frage, sich voller Eifer dem Kochen zu widmen, ausgerechnet als Vampir, wenn dem nicht eine starke Emotion zu Grunde gelegen hätte? Nicht wahr? Und sein jüngerer Bruder... hatten sie einander verstanden gehabt? Hatten sie Geheimnisse geteilt und vor den Eltern verwahrt, Dinge erlebt, die nur ihnen etwas bedeutet hatten? Was für Dinge waren das gewesen? Fort! Auf ewig verloren...
Wilhelm konnte nicht verhindern, dass er in Senrays Armen zitterte. Er fühlte sich seltsam hilflos. Unvollständig und verwundet. Seine Stirn lehnte an ihr an und sie hielt ihn wortlos fest. Noch immer atmete er krampfhaft und abgehakt.
Eine ihrer Hände löste sich aus der Haltung. Sehr, sehr zart strich sie ihm übers Haar.
Seine Gedanken hörten auf, ihn aus den Tiefen heraus, wie zahnbewährte, ausschlagende Tentakel, zu zerfleischen. Stattdessen breitete sich erholsame Stille in ihm aus, wie die konzentrischen Kreise auf ruhendem Gewässer. Jeder ihrer Herzschläge war taktgebend, bedeutungsvoll, Ausrufezeichen eines ganz persönlichen Metronoms. Zuverlässig und gleichmäßig. Ein Kosmos aus Zuneigung, stummem Verständnis und heilsamer Struktur. Sie war da. Er war nicht allein in diesem morastigen Elend. Sie akzeptierte einfach seine erbärmliche Hilflosigkeit, ohne ihn dafür zu verurteilen. Ihr Atem ging so ungewohnt ruhig. Ein Fels in der Brandung, so viel stärker als er es war. Feuererprobt. Sie blieb an seiner Seite, selbst jetzt, wo sein Verhalten als erwachsener Mann, als Älterer von ihnen beiden, so beschämend schwach war. Wo er ihr Nichts mehr bieten konnte! Sie mochte ihn trotz all seiner Fehler und Unzulänglichkeiten, trotz ihrer Panik vor seinesgleichen. Obwohl er sie so oft aufgezogen und mit leichtem Spott bedacht hatte, obwohl er ständig dabei war, sie zu schrecken, um ihren Puls in die Höhe zu treiben, ihre Ängste zu berühren und ihr Erröten auszureizen, nur weil er selber daraus Erheiterung für sich zog. Und sie... sie verzieh ihm all das immer wieder derart großmütig.
Raculs Stimme wisperte voller Verachtung durch seinen Sinn.
"Erbärmlich! Dein Selbstmitleid ist unerträglich, du nichtsnutziges Abziehbild eines Vampirs..."
Er zuckte zusammen, kaum merklich. Es gab keine stehende Verbindung zwischen ihnen. Er wusste, dass es seine eigenen Gedanken sein mussten, die ihn inzwischen mit den Vorurteilen und dem Gedankenklang des Alten quälten. Dass er damit begonnen hatte, sich selbst auf diese rücksichtslose Art zu kommentieren. Eine ebenso unbewusst herbeigeführte, wie gefährliche Gewohnheit. Zumal es unmöglich schien, diese hellsichtigen Selbstverurteilungen vom Duktus des Alten zu unterscheiden!
Er entschloss sich in derselben Sekunde, dem Problem die Stirn zu bieten.
Raculs Häme war zumindest in dieser Hinsicht Augen öffnend. Es hatte keinen Sinn, über geronnenes Blut zu trauern. Er hatte doch eben erst wieder mit strahlender Deutlichkeit erkannt, dass er nicht allein war! Ja, er hatte Erinnerungen... verloren. Aber der echte, wirkliche Verlust, der hatte viel früher stattgefunden. Der Tod seiner Familie war die wahrhaftige Tragödie gewesen - und diese lag länger zurück, war nicht aktuell zu betrauern. Somit hatte ihn in neuerer Zeit nicht etwa das Schlimme ereilt, sondern eigentlich das Gute - in Form dieser kostbaren, seltsamen Freundschaft.
Er bedeckte sein Gesicht mit der Hand und atmete bewusst tief durch.
Senray nutzte seine veränderte Haltung, um sich leicht von ihm zu lösen. Ihre Umarmung öffnete sich und ließ ihm die Möglichkeit, sich daraus zurückzuziehen. Was er auch tat, zögerlich, mit gesenktem Blick. Er lehnte sich gegen das Bett, ehe er ihr einen verlegenen Blick zuwarf und sich leise bei ihr bedankte.
Sie wich diesem traurig aus und sah auf ihre Hände.
"Ich... gerne wäre das falsche Wort. Ich wünschte, es wäre nicht..."
Sein Blick wanderte wie magisch angezogen zurück zu der Ikonografie zwischen seinen Händen.
"Ich hätte es nicht einmal bemerkt... dass ich meine eigenen... dass ich sie... vergessen habe."
"Das... das ist wahrscheinlich das Problem mit dem Vergessen, nicht wahr? Man... man weiß eben nicht, dass etwas fehlt."
Er nickte und strich sanft mit den Fingerspitzen über das Bild. Seine Stimme wurde kurzzeitig bitter, ohne dass er es verhindern konnte, als er sagte:
"Das passt so gut zu ihm. Die wertvollen und guten Erinnerungen nehmen... während er mich gleichzeitig Abend für Abend daran erinnert, dass ich aus ihrem Tod Nutzen gezogen habe. Warum ist es mir nicht da schon aufgefallen?"
Sie flüsterte betroffen.
"Weil das genau sein Vorsatz sein muss: diese schmerzhafte Erinnerung hervorzurufen. Er wird es vermutlich gezielt darauf absehen."
Wilhelm setzte sich wieder auf und rutschte auf den Knien an die niedrige Kommode heran. Er stellte den Bilderrahmen vorsichtig darauf zurück. In seiner Stimme schwangen keimende Hoffnung und Trotz mit, als er wisperte:
"Nicht mehr lange!"
Einen Moment noch verweilte sein Blick auf den Gesichtern seiner Familie. Dem Grinsen seines kleinen Bruders...
Senrays Stimme stockte leicht. "Denkst du... denkst du, er macht das Abend für Abend? Oder... ist das eine Folge seines Angriffs auf dich, bei der Rettung?"
"Eine gute Frage."
Eine beängstigende Frage sogar, gestand er sich ein. Konnte Racul trotz Raistans Schutzmagie zwischen ihnen des Nachts direkt auf seine Gedanken zugreifen? Oder vermittelte er nur einfach zu gerne den durchaus überzeugenden Eindruck dessen, dass er es konnte? Gänzlichen Schutz vor dem Uralten gab es nicht. Das zu glauben, wäre selbstmörderischer Leichtsinn gewesen, da war Wilhelm sich sicher. Und er wusste nur zu gut, dass der Griff der mentalen Krallen zumindest im Ansatz sehr wohl um die Barriere herumreichte. Er konnte die geistigen Ausläufer fühlen, wie sie nach ihm griffen, wie sie sein Bewusstsein abtasteten, nach Schwachstellen und Unaufmerksamkeiten Ausschau hielten. Aber so mickrig und fehlbar er im direkten Vergleich zu dem Können des Meisters auf diesem Gebiet auch sein mochte, bisher war er der Überzeugung gewesen, ihn aufgrund der Umstände noch aus seinen tieferen Ebenen herausgehalten zu haben. Doch was, wenn dieser ihn genau das glauben ließ? Wenn seine Exzellenz, der Dritte von Ankh, sein Denken längst in ähnlicher Weise unterwandert hatte, wie einst dasjenige Rogi Feinstichs? Was, wenn Racul freien Zugriff auf seine Gedanken hatte, ebenso spielerisch mit diesen verfahren konnte, wie er es durch Raten und Reden mit seinen Gefühlen handhabte? Oder war es gar kein bloßes Raten? Konnte der Alte tatsächlich in ihm Lesen, wie in einem Buche?
Er wurde sich Senrays ängstlichen Wartens gewahr. Gerade erst hatte er doch erkannt, wie unsagbar kostbar die Freundschaft zu ihr war. Er musste solche Ängste mildern, um ihr zumindest diese Last auf ihren zerbrechlichen Schultern zu ersparen. Es genügte, wenn er sich ihnen stellen musste. Er atmete tief durch und straffte die Schultern. Dann fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, um es zu ordnen. Er stand auf und bot ihr seine Hand, als Hilfe dabei, dies ebenfalls zu tun.
"Aber auch eine Frage, die ich nicht in ihrer Gegenwart besprechen möchte.", wie er mit einem betonten Seitenblick auf das Familienbild hinter Glas anmerkte. "Lass uns zurückgehen in die Küche. Schwierige Themen... sind erträglicher mit Kuchen. Und wir haben einen ganz vorzüglichen auf dem Küchentisch stehen."
Sie ließ sich mit einem traurigen Lächeln aufhelfen und folgte ihm aus dem Raum, ehe er dessen Tür leise hinter ihnen schloss. In der Küche setzten sie sich wieder an den Tisch. Die inzwischen kalten Getränke blieben unbeachtet, ihre Gedanken kreisten um Wichtigeres. Wilhelm legte seine Hände, mit den Unterarmen auf dem Tisch gestützt, ineinander.
Ehrlichkeit. Wenn auch nicht, ohne die notwendige Schonung.
"ich denke... die Nächte sind nicht ohne Grund so anstrengend. Ich dachte bisher, dass ich es geschafft hätte, ihn aus dem Bereich möglicher Manipulation herauszuhalten. Raistans Barriere ist sehr hilfreich. Ich bin ihm dankbar dafür. Sie macht Raculs Angriffe zwar nicht unmöglich... aber es schwächt sie enorm ab. Soweit, dass sogar ich sie abwehren kann."
Ihre Körpersprache war noch leichter lesbar für ihn, als sonst. Ihr Ausdruck wechselte innerhalb von Sekunden von Anspannung zu Erleichterung, dann stutzte sie und widersprach ihm.
"Nicht 'sogar du'. Sondern du. Wilhelm, ich würde nicht mal merken, wenn ein Vampir einen geistigen Angriff auf mich startet!"
Für einen Sekundenbruchteil traf ihn Schuldgefühl mit der Wucht eines Eselskarrens in voller Fahrt. Sie hatte seine dreiste Infiltration ihres Geistes damals wirklich nicht bemerkt gehabt. Aber das war ja auch keinesfalls ungewöhnlich für einen Menschen. In all den Jahren vor seinem Eintritt in die Stadtwache hatte er viele mentale Welten erkundet, ohne jemals auf nennenswerten Widerstand zu treffen. Von daher erwartete sie nicht nur von sich selbst zu viel, sondern ahnte noch nicht einmal, wozu er eigentlich fähig sein sollte. Und es ganz offensichtlich nicht mehr war! Er verdankte es einzig und allein ihrem unvergleichlichen Großmut, dass sie ihm diesen Fehler so umfassend verziehen zu haben schien, dass sie ihn sogar in solch einer Diskussion ausblendete. Er lächelte vage.
"Du hast eine zu hohe Meinung von mir."
Sie schüttelte vehement den Kopf.
"Habe ich nicht. Du hast Ahnung von diesen Sachen."
Er betrachtete sie mit Zuneigung.
"Dass dir das Wandeln auf gedanklichen Ebenen anderer Personen nicht gegeben ist, dass du dementsprechend auch fremde Besucher in den deinen nicht erkennen könntest, ist mit ein guter Grund dafür, warum du nicht zu solchen Sonderschichten eingeteilt wirst, nicht wahr? Das ist nur logisch."
Sie wich seinem Blick überraschenderweise aus und sah in ihren Kakao.
"Zumindest in den Überlegungen der anderen Menschen ist das wohl der Grund dafür, ja."
In seinem Inneren schlug etwas den tiefen Ton einer großen, gusseisernen Alarmglocke an.
"Und das ist mir auch deutlich lieber so. Ich würde den Gedanken nicht ertragen, dich in seiner Nähe zu wissen."
Sie schüttelte schwach den Kopf und murmelte:
"Es wäre viel zu gefährlich... für Ophelia..."
"Auch das. Aber es wäre genauso gefährlich für dich!"
Senray sprach stockend und jedes einzelne Wort befeuerte eine ungeahnte Furcht in ihm.
"Wie du leider weißt, bin ich nie allein. Bis er... bei mir wäre..."
Sie schluckte schwer und verkniff es sich sichtlich, weiter zu sprechen.
Wilhelm flüsterte fast entsetzt: "Senray... Niemals! Denk nicht mal daran!" Sein Flüstern wurde flehentlich. "Bitte! Denke nicht diesermaßen... gering von deinem eigenen Wert! Das wäre er wiederum in keinem Multiversum wert!"
Sie wich noch immer seinem Blick aus, schien nicht wirklich von seinen Worten überzeugt.
"Jetzt denkst du zu gut von mir." Sie sah auf, schien allerdings nur zum Teil anwesend. "Ich... der Gedanke..." Sie sah wieder weg und er führte ihre Aussage mit Nachdruck zu Ende.
"...ist gefährlich. Und das weißt du."
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde strenger. Und auch wenn sie auf seine Worte hin mit einem fast mechanischem Nicken Folgsamkeit andeutete... ihre driftenden Gedanken verrieten sie, als sie leise hinzufügte:
"Wenn Ophelia nicht wäre..."
Ihr Verhalten machte ihm Angst. Spielte sie wirklich und wahrhaftig mit dem Gedanken, den Dämon als Werkzeug einer ungewissen Rache auf den Uralten zu hetzen, sei es auch nur als gefährliche Wunschvorstellung? Sie musste doch wissen, dass so etwas sogar ihren Tod bedeuten könnte - wer konnte schon mit Bestimmtheit sagen, ob die Feuerkreatur sie vor dem Zugriff des Alten schützen würde, ob sie es schnell genug vermöchte? Und dann auch, wofür? Für ihn? Als wenn er auch nur daran denken würde, sie für sich in die vorderste Linie zu schicken! Alles in ihm schrie schließlich danach, sie zu schützen! Und das längst nicht mehr aufgrund eines oktruierten Befehls. Wie konnte er ihr das nur deutlich machen? Und zwar klar genug, dass sie solche fatalen Gedankenspiele ein für alle mal unterließ?
"Senray! Ich will dich nicht verlieren!"
Sie erstarrte regelrecht, drehte den Kopf zu ihm und sah ihn an.
Er legte so viel Nachdruck in seine Worte, wie möglich.
"Weder an den Dämon... noch an den Greis."
Sie lächelte schwach, was ihn inwendig etwas aufatmen ließ und zu einer humorvollen Ergänzung des Gesagten verlockte.
"Wobei sie vermutlich beide Greise sind..."
Sie musste lachen und er grinste schief, erleichtert darüber, sie aus den düsteren Überlegungen heraus zu ziehen. Sie strahlte ihn mit neuerlicher Heiterkeit an, nur zu bereit, auf einen leichtherzigeren Pfad umzuschwenken. Ihre Augen verloren die Schwermut und begannen amüsiert zu funkeln, als sie erwiderte:
"Ich bin mir relativ sicher, das er ä..."
Sie brach ihre Aussage mitten im Wort ab, indem sie scharf Luft einsog. Was das bedeutete, zusammen mit dem überraschten Ausdruck von Schmerz, der über ihre Züge huschte, war ihm sofort klar. Im Reflex griff er quer über den Tisch nach ihrer Hand und unterbrach sie brüsk.
"Sen! Nicht! Sag es nicht! Was auch immer es war."
Sie hielt noch eine Sekunde mit geschlossenen Augen inne, ehe sie sich räusperte und wieder zaghaft entspannte. Sie versuchte zu überspielen, was eben geschehen war, auch wenn sie ganz genau wusste, dass das - gerade ihm gegenüber - wenig Sinn hatte. Sie schüttelte schließlich bedauernd den Kopf.
"Nicht nachgedacht, tut mir leid." Sie blickte auf seine Hand und hielt sich merklich daran fest. "Tut mir leid."
Er lächelte sie warmherzig an.
"Es ist nicht deine Schuld, dass der Dämon gerne mitmischen möchte, in unseren Gesprächen. An ihrer Stelle wäre ich ebenfalls eifersüchtig."
Ein Grinsen stahl sich wieder auf ihre Lippen und er war so froh darüber, dass sie seine diletantischen Hilfsleinen in ihren Gesprächen immer wieder aufs Neue aufgriff, dass sie es ihm so leicht machte, sie aufzumuntern.
"Stimmt! Bei meinem Gesprächspartner."
Er strahlte sie an. Was sie ihm wiederum mit beschleunigendem Herzschlag und diesem bezaubernden Erröten lohnte. Er war nicht gewillt, sie wieder in die tragische Grundstimmung des bisherigen Abends zurückfallen zu lassen. Dementsprechend drängte er die bleierne Müdigkeit neuerlich zurück und lehnte sich betont selbstbewusst in die Stuhllehne.
"Womit wir wieder bei den Adjektiven wären..." Ein Verweis auf ihrer beider heimlichen Zeitvertreib, das Spiel der Wörter, ein Kokketieren um die Gunst des Gegenübers, das sich irgendwann versehentlich in ihre Gespräche geschlichen hatte.
Sie hatte gerade erst nach der Tasse gegriffen. Bei seinen Worten verschluckte sie sich und nahm diese schnell wieder runter.
Er grinste sie breit an und ließ sich den ausgewählten Begriff süffisant auf der Zunge zergehen, auch wenn jener weit weg von dem war, wie er sich derzeit wirklich fühlte.
"Unvergleichlich!"
Sie überraschte ihn dadurch, dass sie es tatsächlich schaffte, diesmal nahezu ernsthaft zu bleiben, während sie seine im Raum stehende Behauptung abwägte. Dann nickte sie.
"Das stimmt wohl. Du bist unvergleichlich unmöglich! Ich kenne tatsächlich niemanden, der so unmöglich ist wie du."
Wilhelm spürte, wie die Anspannung des Abends sich mit einem Schlag löste. Seine vor Stolz geschwollene Brust sackte prompt in sich zusammen und sein Haar fiel ihm strähnchenweise ins Gesicht, als er sich kichernd vorbeugte. Er war so froh, dass sie da war! Und er war dankbar für ihre Geduld und ihren verzeihenden Humor.
Sie lachte ebenfalls. Er musste aber auch einen selten komischen Anblick bieten, so losgelöst von seinem üblichen Verhalten. Er atmete tief durch und stützte sein Kinn auf der Hand ab. Er betrachtete sie versonnen. Der Farbhauch auf ihren Wangen vertiefte sich.
"Ja. Ich würde gerne mit dir backen. Lass es uns einfach heute neu vereinbaren. Dann erinnere ich mich auch daran."
Sie blinzelte überrascht. Dann aber atmete auch sie tief durch und nickte. "Ja. Das klingt gut."
Schweigend saßen sie in der warmen Küche und lächelten einander an.
"Oh, Sen! Du bist..."
"Ja?"
Er räusperte sich. In ihren Augen leuchtete es von unterdrücktem Lachen und Neugier.
"Hm, Adjektive..."
Sie lachte ihn offen an.
"Sag bloß, du bist um Worte verlegen!"
Er schüttelte leicht den Kopf.
"Niemals!"
Nun lachte sie wirklich ungezwungen und von Herzen, erst Recht, als er betont ernsthaft mit den Augen rollte und fast schicksalergeben einwarf:
"Möchte mal wissen, wer hier in Wirklichkeit unmöglich ist!"

Sie schlief wieder bei ihm ein. Auf dem Sofa. An seiner Seite. Er hatte es nicht über sich gebracht, die gelöste Stimmung mit einem Hinweis auf ihre Träume und die Möglichkeit der Hypnose zu unterbrechen. Und sie hatte alles gemieden, was dazu geführt hätte, ausgerechnet die vorliegende Situation zu kommentieren. Aber sonst... Sie wollte reden. Und er wollte ihr zuhören. Er war glücklich darüber, als sie eingeschlafen war, ihre Hand zu halten und sanft auf sie einzureden, um ihr die dunklen Stunden auf diese Weise erträglicher zu machen. Und ihr Herzschlag, langsam und leicht, streichelte seine Sinne, pochte in seinem Inneren nach. Er atmete ihren Geruch ein, diesen schwer fassbaren Duft von Unschuld und Leben. Seine Wange legte sich sacht auf ihren Schopf und er trank ihr betörendes aufsteigendes Bouquet mit tiefen Zügen, immer und immer wieder inhalierend, gleich den Atembewegungen eines Geschöpfes mit Puls. War dies Geborgenheit?

TAG 37

Als Wilhelm diesmal den Frühstückstisch für Senray deckte, lastete das Wissen bereits zu dieser frühen Stunde auf ihm, dass mit diesem Tag ein weiterer freier Zwischentag verstrichen wäre. Er versuchte zwar, den Frieden zu bewahren, den das Gefühl von Senray an seiner Seite in ihn gegossen hatte, aber es war nicht leicht, dieses Empfinden zu halten. Solange sie ihm munter plaudernd gegenüber saß und er sie einfach nur ansehen und ihr zuhören durfte, solange ging es noch. Aber sobald sie gegangen war, spürte er wieder die schweren Gewichte auf seinen Schultern. Zumal er nicht einmal bis zum Abend hier bleiben konnte, um sich zu verkriechen. Er dachte ernsthaft darüber nach, das Treffen bei der Hexe kurzfristig abzusagen. Und vermutlich würde diese ihm nicht einmal einen Vorwurf daraus machen. Aber er hatte ein Versprechen abgelegt. Und sie brauchte seinen Beistand ebenso, wie er denjenigen Senrays. Das Vogelherz hatte ihm angekündigt, dafür am morgigen Tag den Abend wieder mit ihm verbringen zu wollen. Und schon jetzt wünschte er, es möge jener Abend sein. Wie schrecklich für ihn der Gedanke wäre, sie würde ihn vergessen oder wie einen x-beliebigen Termin verschieben! Natürlich maßte er sich nicht an, sich in Maganes Fall einen ebenso großen Wert beizumessen. Aber sie verließ sich auf ihn. Es wäre sicher eine Enttäuschung für sie, wenn er ihr absagen täte. Nein, das kam nicht in Frage. Und so schleppte er sich zu der Hexe. Bevor er sich bereit erklären konnte, mit einem ersten Versuch zu beginnen, einen der Träume aufzulösen, bestand sie zuerst darauf, ihm nochmals stärkend mit positiven Emotionen unter die Arme zu greifen.
Die Erfahrung war heftig. Noch intensiver, als beim ersten Mal. Instinktiv hielt er in den ersten Sekunden ihrer emotionalen Sturmflut dagegen an. Alles in ihm begehrte auf. Sie umarmte ihn auf emotionaler Ebene derart erbarmungslos, dass er fast schluchzen musste. Eine heisse Woge aus Zuneigung brach über ihn herein und hielt ihn fest, so fest, hüllte ihn wie in stählerne Seidenbänder. Sein Geist wollte um sich greifen, aufbrechen, atmen. Als wenn Luft mit Gewalt in seine Lungen gepumpt würde und ein Lachen wie ein Krampf in seinen Organen wütete. Ihm war übelkeiterregend schwindlig und Sterne glänzten und funkelten vor seinen Augen. Dann erinnerte er sich daran, dass es beim letzten Mal leichter zu ertragen gewesen war, als er sich dem Zwang fügte und losließ. Und wirklich! Plötzlich fühlte es sich an, als wenn ihm kühler Trank eingeflößt würde, wo er am Verdursten gewesen war, ohne dies zu bemerken! Der allgegenwärtige Schmerz und die Erschöpfung, die sich eingeschlichen hatten, ließen etwas nach. Ihre Magie ließ wieder von ihm ab, fast zärtlich, so vorsichtig war sie nun, und er fühlte sich gleichzeitig beschämt, ja, bezwungen, und wie in unerträglicher Sommerhitze gepackt und in den rettenden Schatten eines dichten Laubbaumes geworfen. Seine Gestalt in dieser Ebene zitterte leicht. Aber ein verschämter Blick an sich hinab zeigte ihm, dass sie seinem Selbst mit dieser Aktion etwas Gutes getan hatte. Sie hatte etwas in ihm... repariert. Ohne es in Worte fassen zu können, war er sich darüber im Klaren, dass dieser künstlich herbeigeführte Zustand nicht lange anhalten würde. Und doch... Er konnte sie nur wortlos anschauen. Er hatte eine hohe Meinung von ihr. Obgleich sich unterschwellige Furcht vor ihr in ihm regte. Sie war verflucht mächtig. Beängstigend! Er hatte nichts gegen ihre Magie tun können! Sie hatte ihn vollkommen in ihrer Hand gehabt und das weckte Bilder in ihm, die er nicht an die Oberfläche seiner Gedanken lassen würde. Verdrängen. Akzeptieren. Sich fügen. Weitermachen.
Bevor er wieder richtig zu Sinnen gekommen war, lenkte sie ihn jedoch schon wieder ab.
Sie präsentierte ihm doch noch zwei weitere Träume. Damit hatte er nicht gerechnet. Und während der Traum mit der Wüstenlandschaft und Magane, die sich dort als Kind auf einer Reise befand, noch als überraschend angenehm und positiv herausstellte und nur ihren persönlichen Hintergrund mehr beleuchtete, stellte der andere Traum wieder Wilhelms Selbstdisziplin auf die Probe. Magane zeigte ihm darin ihre in Form eines Traums erinnerte Begegnung mit ihrem Feuerdämon. Dem Feuerdämon! Jener Kreatur, die nun Senray beherrschte. Sie hatte ihm, als sie mit ihren besonderen Sinnen nach den dämonengeschlagenen Wunden an ihm forschte, mit nüchternem Randkommentar davon berichtet, selbst bereits einmal in ihrem Leben diesem Dämon begegnet zu sein. Damals hatte sie nicht näher darauf eingehen wollen. Doch nun... Wilhelm hatte gewusst, dass der Dämon seine Gestalt wandeln konnte und dies auch nach Belieben tat. Senray trat er anscheinend als gut aussehender Mann entgegen, ihm selber war er als Senray in deren Übergangszeit erschienen, vom Kind zur Frau. Der Hexe hingegen hatte er anscheinend keine Verkleidung vorgegaukelt. Sie war zu der Zeit selber noch ein Kind gewesen und die Erinnerung floss über von ihrer Angst vor dem brennenden Fremden, der inmitten des in Flammen stehenden Hauses ihre Mutter bedrohte. Und dann hatte sie sich vor der Feuergestalt versteckt. Und diese war ihr gefolgt.
Er war noch immer verunsichert, was er von dieser Erinnerung inmitten ihrer Träume halten sollte. Feuersbrunst und Sebastians unmittelbare Nähe als Traumpersonal in dem sehr beengten Versteck eines brennenden Schrankes hatten ein Aufnehmen von eventuell bestehenden akustischen Informationen unmöglich gemacht. Und da sogar Magane als erwachsene Frau nicht wirklich erklären konnte, was damals geschehen war, außer dass sie sich sicher war, die damalige Begegnung nur mit viel Glück überlebt zu haben... immerhin blendete der Traum an eben jener Stelle aus, an der sie damals in der Realität schlichtweg aufgrund der Hitze und der Rauchentwicklung ohnmächtig geworden sein musste...
Wilhelm seufzte bedauernd.
Was für eine Chance es gewesen wäre, mehr zu erfahren! Immerhin war sie selber unbescholten geblieben! Gab es doch Wege, den Dämon auszumanövrieren und ihm Dinge zu nehmen, die er wollte, ohne selber dabei zu Schaden zu kommen?
Danach hatte er seinen ersten Versuch gewagt, eine der vergifteten Erinnerungen zu entfernen. Magane war nervös gewesen, natürlich. Aber da ging es ihr nicht anders, als ihm. Nichts, was er je auf geistiger Ebene getan hatte, würde auch nur annähernd an das heranreichen, was er nun im Begriff stand, zu versuchen. Nein, nicht nur versuchen. Sie breitete ihre intimsten Erinnerungen an ihre Gefangenschaft damit vor ihm aus, das war ihm bewusst, und er würde ihr Vertrauen nicht enttäuschen. Keine Zurückhaltung in dem Bemühen, sie von der gefälschten Erinnerung zu befreien! Er würde alles geben, denn ansonsten könnte er nicht sicher sein, dass es gelänge. Begonnen hatten sie dementsprechend mit der Reinigung der Erinnerung, die ihr besonders kostbar schien. Der Tanz mit ihrem Mann und das, was diesem Tanz damals gefolgt war. Und was der Vampir in seiner eigenen Variante daraus geformt hatte. Magane zierte sich, auch wenn sie das nicht offen zugegeben hätte. Aber darauf kam es nicht an. Er hatte genug mit sich selber zu tun, mit dem Ringen um seine Konzentration. Er konnte sich nicht in ihre Emotionen hineinversetzen oder ihr Mitgefühl signalisieren. Sein ausschließliches Augenmerk lag auf dem gedanklichen Kunstgebilde ihres Gefängniswärters.
Magane war deutlich gewesen darin, dass sie den neuen Traum nicht benötigte. Nur die originalen Erinnerungen sollten unversehrt bewahrt bleiben. Also hatte er sich darin versenkt und nach den Überlappungen und den Fehlern gesucht, nach den Rändern. Wo die Kopie begann und wo sie endete, mitsamt all ihren verfälschten Eindrücken. Das hatte lange gedauert. Sehr lange. Und erst, als er sich sicher war, alles voneinander getrennt zu haben, die beiden Bereiche weit voneinander gelöst und auseinander geschoben zu haben, begann er damit, anhand von bildlich vorgestellten Tüchern alles das einzuwickeln, was nicht zu ihr gehörte. Er zog das Nesseltuch fester und fester um die Fälschungen und schüttete Eimer mit Wasser darüber. Dann legte er dieses stinkende Bündel in einen großen Topf über ein Feuer und stakte es mit einer Stange zu immer konzentrierterem Brei. Er ließ den Tuch-Sud einkochen, bis er nur noch eine braune Lache am Boden des Topfes war. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er die Reste in ein Glas umfüllte und dieses mit einem Metalldeckel verschraubte. Er reichte es Magane. "Anders weiß ich mir nicht zu helfen. Genügt dir das erst einmal so? Oder sollen wir nach einer anderen Lösung suchen?" Sie hatte es dankbar angenommen und soweit er es beurteilen konnte, war die Erinnerung bewahrt geblieben. Gereinigt von dem Schmutz ihres Entführers.
Als sie die Sitzung aufhob und sie beide von der geistigen Ebene in die körperliche zurücktraten, überrollte ihn die Erschöpfung innerhalb des Bruchteils einer Sekunde mit voller Wucht. Er bemerkte gerade noch ihren Mann, wie dieser in eine Decke gewickelt vor ihm gestanden und besorgt geschaut hatte, sowie den Stand der Sonne hinter diesem, verdeckt von blassen Wolken, der alarmierend fortgeschritten war. Sie waren etwa acht Stunden fort gewesen?!
Dann riss ihn der Schwindel zu Boden und er kippte einfach rückwärts auf die Steinplatten des Dachgartens.

Als er wieder zu sich kam, lag diesmal er auf dem Sofa. David und Magane sprachen leise miteinander. Als sie seinen verwirrten Blick auf sich spürte, beugte sie sich näher und legte ihre Hand auf seine Stirn. Der Wärmehauch ließ ihn sofort wieder wegdriften. Doch es beruhigte ihn noch zu hören, dass sie sagte: "Er hat sich übernommen. Diesmal wirklich. Aber er braucht vor allem Ruhe. Sicherheit. Es ist nichts Fatales..." Womit er etwas die verkrampften Muskeln entspannte und ihren Worten vertraute, auch wenn diese eigentlich nicht an ihn gerichtet schienen. Irgendwann umschmiegten ihn Rosmarin und Minze, hüllten seine Sinne ein und ließen ihn tiefer in die Raumschwingungen sinken. Stimmen kamen und gingen. Die Magie schmiegte sich an ihn, sowohl die starke, würzige, als auch die wilde, aufregende und die verspielte, süß duftende.
"Wilhelm?"
Es war nicht das erste Mal, dass jemand ihn bei seinem Namen nannte. Er würde antworten müssen.
Er öffnete schwerfällig die Augen. Es war der Junge, Tom. Der zauberhafte Knabe mit der wildromantischen Aura. Toms Magie knisterte regelrecht über Wilhelms Haut, ohne dass der Knabe es bemerkt hätte. Winzige Entladungen und ein schwerer Duft wie von Rosen, atemberaubend, betäubend, berauschend. Und da war er wieder, der Hunger! Wie eine Faust, die sich unvermittelt in den Magen bohrte. Er stellte augenblicklich das Atmen ein und starrte den Jungen reglos an.
"Ah! Mutter sagt, ich soll dich vorsichtig wecken. Ich hoffe das war vorsichtig genug? Jedenfalls... sie sagt, du musst vermutlich bald los. Zu deiner Sonderschicht."
Wilhelm schloss die Augen und verdrängte alle unpassenden Regungen. Dann nickte er langsam. Und als er seiner Stimme wieder traute, sah er ihn neuerlich an.
"Danke, für das Bescheidsagen! Sie hat Recht." Er setzte sich auf und schob die leichte Decke von sich. Schuhe und Socken hatte ihm irgendwer ausgezogen gehabt, wie es aussah. Sie standen neben dem Sofa. Er strich über die Kräutersträußchen auf dem Kopfkissen.
Tom grinste.
"Für gute Träume. Oder auch einfach zum Erholen. Mutter sagt, dass Kräuter dir gut tun."
"Das ist... sehr nett. Nochmals vielen Dank!"
"Elisa hat darauf bestanden, dir einen Tee zu machen. Und sie betont, dass du ihr wohl irgendwann versprochen hast, den auch zu trinken? Mutter meinte, wenn ich dich jetzt wecke, müsste die Zeit dafür noch reichen. Ich würde dir auf jeden Fall empfehlen, Elisa nicht zu enttäuschen. Zu deinem eigenen Besten. Sie kann ein richtiges kleines Scheusal werden, wenn sie nicht ihren Willen bekommt. Und der Tee, den sie macht, ist auch ok."
Dankbarkeit, weit über das Maß, das Worte ausdrücken konnten, stieg in ihm auf. Er lächelte und nickte.
"Gut. Dann komme einfach zu uns in die Küche, wenn du soweit bist."
Womit Tom sich umwandte und in die Küche ging, wo gleich mehrere Stimmen munter durcheinander redeten.
Wilhelm beugte sich schwerfällig vor und zog bedächtig Strümpfe und Schuhe an, ehe er ihm folgte, leicht gebeugt, wie ein alter Mann. Kurz vor der Küche besann er sich und streckte willentlich das Rückrat durch, straffte die Schultern. Das Lächeln hingegen fiel ihm vergleichsweise leicht, als er in die Küche trat.
"Ich habe gehört, hier soll es ganz besonderen Tee geben?"

~

Diesmal war Raculs Empfang, als Wilhelm dessen Wirkradius betrat, schon nach wenigen Sekunden eisig. Das Hochgefühl, Magane tatsächlich geholfen zu haben, es entgegen seiner Befürchtungen, trotz mittelmäßiger Fähigkeiten, in direkter Konfrontation mit den Manipulationen des wahren Könners vermocht zu haben, verflüchtigte sich augenblicklich. Stattdessen spürte er die inzwischen allzu vertraute Unsicherheit in sich erwachen, die Angst davor, dem Alten im Grunde ausgeliefert zu sein, dessen schleichenden Einfluss stellenweise zu übersehen.
Abscheu spülte über seine Gedanken, wie brackiges Eiswasser, stinkend und kalt.
"So so... du hast es also wahr gemacht und dich an Sebastians Kunst versucht..."
Wilhelm konnte sich in letzter Sekunde stoppen, so dass er nicht antwortete.
Der Greis ließ seine volle Verachtung in der Gedankenstimme mitschwingen.
"Du lernst es einfach nicht! Das alles wird dir nur schaden! Die Hexe benutzt dich, wie eines ihrer Kräuterbündel! Sie lullt dich ein, indem sie auf nett tut und hängt dich in ihre Trockensammlung am Balken dazwischen, bis du selber wie Unkraut stinkst. Alles nur, um dich stets parat zu haben. Und dann greift sie nach dir, als erstbestem Vampir mit dienstbarem Ego, wenn es ihr im Schuh drückt. Du bist ein Werkzeug ihrer Willkür, mehr nicht. Erst verausgabst du dich, bis dass du versagst und zusammenbrichst. Und dann werden sie dich fallenlassen. So dumm!"
Die Sorge, mit der Maggie und ihre ganze Familie ihn nach der letzten Sitzung behandelten, die deutlich spürbare Zuneigung von ihr und ihren Kindern, vielleicht sogar seitens ihres Mannes, hatten ihm gut getan und er dachte gerne an diese Momente. Aufgenommen von den Menschen, als wenn er einer der ihren wäre. Als Freund. Vielleicht sogar mehr? Ein Onkel der Kinder? Zumindest hatte es sich so angefühlt. Und die Art der Kinder, ihn anzureden und in ihre Gespräche mit einzubeziehen, hatte diesen Eindruck noch verstärkt.
Der greise Vampir lachte bösartig, seine Stimme geschliffener Stahl.
"Ein Teil der Familie, ja? Weißt du denn überhaupt, wie sich so etwas anfühlen würde? Hm?"
Wilhelm blieb mit einem Ruck stehen. Seine innere Stimme der Vernunft wimmerte regelrecht auf und wollte ihn im Gegensatz zur Eile antreiben, schrie ihn an, weiterzugehen und bloß nicht stehen zu bleiben. Er sandte dem Alten damit die falschen Signale! Er musste zu Raistan, musste den Schutz des Bannzaubers erlangen! Hier innezuhalten war selbstmörderisch! So wäre er den geistigen Attacken länger als nötig ausgesetzt.
Aber eine andere, leisere Stimme wisperte dicht hinter dieser laut kommandierenden und war seltsamerweise viel deutlicher zu hören. Die Ereignisse des Vorabends flammten in ihm auf und präsentierten ihm in schmerzhafter Klarheit die Gewissheit, eines wichtigen Teils seiner Identität beraubt worden zu sein, als jemand oder etwas ihm die Erinnerungen an seine Familie genommen hatte. Wusste Racul darum? Vielleicht sogar, weil es wirklich er gewesen war, damals, als Wilhelm ihn in der Käfigkammer attackiert hatte? Und... gab es vielleicht doch eine winzige Hoffnung darauf, dass diese Erinnerungen nicht etwa herausgerissen und zerstört worden waren, sondern eventuell nur verschüttet und er einen Weg finden könnte, wieder an sie heran zu kommen?
Seine Hände zitterten und er stand, am ganzen Körper bebend, auf dem Fleck, nicht bereit, den letzten Teil des Weges zu bestreiten und Raistan zum Zuge kommen zu lassen, um jenen die offene Flanke seines Geistes schützen zu lassen. Er brauchte Gewissheit. Er wollte Gewissheit!
Die Präsenz des Alten legte sich wie Raureif um ihn, näher als es gut sein konnte. Schweigend. Lauernd.
"Jaaa?", fragte dieser gedehnt. Schadenfreude schwang in seiner Gedankenstimme mit, diebische Vorfreude auf Kommendes. "Was ist es, das du mich fragen möchtest, Wilhelm Schneider?"
Wilhelm rang mit sich. Und jeder Gedanke dabei lag vermutlich ungeschützt und nackt vor dem Alten bloß, wo das Thema ihm doch bereits den Boden unter den Füßen fortgezogen hatte. Keine Sicherheiten mehr, keinen Schonraum.
Ich darf nicht! Nicht mit ihm reden! Rogi war unmissverständlich. Sie ist nicht nur Vorgesetzte, sie hat auch Recht. Es kann nichts Gutes dabei rauskommen. Er will mir nicht helfen, er will mir nur schaden. Er wird nichts Hilfreiches antworten, selbst wenn ich ihn fragen würde...
Trotzdem konnte er nicht weitergehen. Er konnte diese Chance nicht fortwerfen. Was auch immer der Patrizier wann auch immer entscheiden würde, den Tausendjährigen betreffend, eine solche Gelegenheit käme nicht wieder. Racul war bereit, ihm zu antworten. Er gestand ihm eine Frage zu, auch wenn das nur dazu dienen mochte, mit ihm zu spielen. Trotzdem! Er könnte ihn jetzt fragen. Danach... nie wieder.
Er wird lügen. Oder vielleicht auch nicht. Aber ich würde nie wissen, ob er wirklich die Wahrheit gesagt hat. Er ist nicht vertrauenswürdig. Macht es dann überhaupt Sinn, sich ihm in dieser Weise auszuliefern?
Die Antwort darauf war einfach. Und doch...
"Du bist mir so oder so ausgeliefert. Ob du dir das ehrlich eingestehst oder nicht, macht dabei keinen Unterschied. Und... ich habe es nicht nötig, zu lügen. Wozu? Wenn die Wahrheit so viel unterhaltsamer ist..."
Wilhelms Hände zitterten inzwischen so stark, dass er sie kurzerhand an seine Hosenbeine presste. Er musste schwer schlucken.
"Warst du es?"
Er konnte das bösartige Grinsen regelrecht fühlen, das sich einige Meter weiter in der Dunkelheit der Gruft auf den blassen Lippen weitete und es jagte ihm Schauer über die Arme und den Rücken. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Zu spät!
"Was genau meinst du, das ich gewesen sein soll, mein Sohn?"
Er leckte sich nervös über die Lippen. Die Worte lösten sich wie von selbst in seinem Inneren, kaum mehr als ein Flüstern an die Ewige Nacht gerichtet.
"Meine Erinnerungen, an meine Familie... hast du sie mir genommen?"
Einen Moment lang war da nur Stille. Als wenn der Alte in sich gehen und darüber nachdenken musste, ob er ihm die gewünschten Informationen geben wolle. Dann seufzte der Greis mitfühlend.
"Du armes, armes Weisenkind! So viel verloren. Unwiederbringlich. Und niemals irgendwo dazugehörig. Für immer dazu verdammt, haltlos dazwischen zu hängen und keinen Anschluss zu finden. Denn wie sollte jemand ohne Wurzeln ebensolche schlagen können, nicht wahr?"
Ein Riss ging durch seine Gefühle, schlug ein wie ein Blitzschlag, und etwas in ihm begann in übertragenem Sinne zu bluten. Seine Kraft sickerte aus ihm heraus. Er flehte den alten Vampir regelrecht um eine klare Antwort an.
"Bitte... bitte sage mir, ob du damit zu tun hattest... ob mir wenigstens die Hoffnung bleibt, mich irgendwann wieder an sie zu erinnern... bitte!"
Raculs Stimme säuselte fast mitfühlend, gänzlich unpassend zu den Worten, mit denen er konterte.
"Was gibst du mir dafür, Schneider? Du machst doch so gerne Tauschgeschäfte. Eine Information gegen einen Gefallen, den diese wert ist. Das sollte dir doch entgegenkommen? Das ist etwas, das du verstehst! Also? Wie viel ist diese Information dir wert? Und sei ehrlich! Wir wissen schließlich beide, als wie kostbar du sie für dich einstufen würdest."
Die Schwärze des Tunnels stürzte auf ihn ein und er musste sich an einer der Wände abstützen. Er schlug sich die Hand vor den Mund, um sich mit keinem Geräusch dem in der Ferne wartenden Zauberer gegenüber zu verraten.
Ich werde es niemals erfahren. Nie! Dieses Wissen wäre unbezahlbar für mich und das weiß er. Es gäbe also nur eine angemessene Vergütung als Gefälligkeit, die ihn interessieren könnte und... nein! Ausgeschlossen.
Raculs Gedanken lachten überheblich in den seinen auf und Wilhelm kratzte seine ausblutenden Kraftreserven in sich zusammen, um den Gedankenwall wieder zu verstärken. Er kämpfte um Haltung. Einen Fuß vor den anderen. Die stützende Wand loslassen. Einen ausdruckslosen Blick aufsetzen. Die Hoffnung begraben. Sich damit abfinden. Weitermachen.
Als er bei Raistan eintraf blickte jener ihn mit offener Besorgnis an.
"Du bist spät dran. Wurdest du aufgehalten?"
"Tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor."
Der Zauberer runzelte leicht die Stirn.
"Das war jetzt keine wirkliche Antwort auf meine Frage..."
Er blickte an Raistan vorbei in den dunklen Tunnel zur Gruft. "Können wir anfangen?" Als Raistan nicht sofort antwortete, begegnete er doch dessen Blick. "Jetzt bin ich ja hier. Ich bin dienstfähig. Lass uns beginnen."
Der junge Magier spielte unentschlossen mit einem Kreidestück zwischen seinen schlanken Fingern.
"Wilhelm, ich werde dir heute Nacht Gesellschaft leisten. Innerhalb des Bannkreises."
Er musste blinzeln.
"Ähm...wenn du meinst. Aus welchem Grund?"
"Aus dem Grund, dass ich denke, dass das besser für dich wäre. Es scheint, als wenn du... Gesellschaft an deiner Seite gebrauchen könntest. Ich kann natürlich nicht jede Nachtschicht auch noch aufbleiben. Aber ich kann es diesmal. Und dann sollte ich es auch tun. Man könnte es als einen Versuchsaufbau ansehen. Um eine neue Variable einzubringen und zu beobachten, ob diese zu einer Verbesserung der Gesamtsituation für dich führt. Ich habe darüber nachgedacht, was dir helfen könnte und mir scheint, dass es vermutlich nicht verkehrt wäre, deine Gedanken von seinem Einfluss abzulenken. Und sei es nur dadurch, dass deine auditive Wahrnehmung anderweitig belegt ist."
Wilhelm war sich nicht sicher, was genau Raistan ihm sagen wollte. Der Gedanke, mit diesem gemeinsam eingesperrt zu sein, war beunruhigend. Konnte Raistan sich wirklich vorstellen, wie verlockend er auf engstem Raum auf Wilhelms vampirische Sinne wirken mochte? Und dann auch die Herausforderung, mit dem jungen Mann zu kommunizieren! Worüber sollte er mit dem Magier reden, in all den Stunden der erzwungenen Zweisamkeit? Ausgerechnet jetzt, wo ihm Herz und Sinn so gefährlich verletzt worden waren und noch ganz betäubt waren, von dem eben hingenommenen Tiefschlag!
Sein Gegenüber fasste sein Schweigen als wortlose Aufforderung auf, sich etwas genauer zu erklären. Und hielt ein Buch zwischen ihnen etwas in die Höhe.
"Ich dachte mir, wenn ich dir einfach irgendetwas völlig Belangloses vorlese, könnte das vielleicht schon etwas bringen."
Wilhelm sah auf das Buch, wobei seine Augen nicht einmal den Versuch machten, auf den Titel zu fokussieren. Dieser war bedeutungslos, wie Raistan richtig erkannt hatte.
Warum nicht? Alles war besser, als zu reden. Er würde scheinbar zuhören und schweigen. Es war gut so.
Er nickte.

TAG 38

Wilhelm hatte ihr Eintreffen nicht mitbekommen. Er fühlte sich innerlich wie betäubt, nahm viele Dinge einfach nicht wahr. Das Wandern des Tageslichtes. Zum Beispiel. Oder wie Hannah oder Ezra leise um ihn herum arbeiteten, während er wie ein Schlafwandler in Trance versuchte, an einem Werkstück zu arbeiten, um ihnen zu helfen. Wie seine noch immer gezeichnete Hand vor unterschwelligen Schmerzen verkrampfte und er statt zu nähen, lediglich in die Luft starrte, gleich einer blassen Statue. Ohne zu blinzeln. Unbeweglich, wie es nur den Untoten möglich war. Und dann stand sie plötzlich vor ihm und er kam mit einem Ruck in die Gegenwart zurück, gerade als er sich am Türrahmen der Küche in der Wohnetage befand. Er hatte vergessen, was er hier gewollt hatte. Gleichgültig. Sie war da! Endlich!
Ehe sie etwas sagen oder er selber über sein Verhalten nachdenken konnte, trat er bereits auf sie zu und umarmte sie. Schweigend, ohne um Erlaubnis zu bitten oder darüber Reue zu empfinden. Er wollte sie einfach nur im Arm halten, festhalten, ihr ganz nah sein.
Senray hielt überrascht in ihrer Bewegung inne. Und dann erwiderte sie vorsichtig seine Umarmung. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust und versuchte offensichtlich, ihre eigene Erschöpfung abzuschütteln.
Was für ein Paar sie doch waren, dachte er mit trauriger Ironie!
Wilhelm legte seine Wange auf ihrem Kopf ab und lauschte ihrem Herzen. So lange hatte er sich danach gesehnt, ihr auf diese Weise nahe zu sein! Und es sich verboten. Um sie zu schonen, aus Sorge vor ihrer vampirbezogenen Panik. Doch nun... natürlich hatte sie einen leicht beschleunigten Puls. Aber ihr Atem ging ruhig! Fühlte sie sich wirklich einfach so geborgen bei ihm, wie er dies in ihrer Nähe tat?
Er murmelte leise in ihr Haar. "Wie geht es dir?"
Sie drehte ganz vorsichtig den Kopf, so dass sie nicht gegen sein Hemd sprach. "Hm, erschöpft. Aber das ist schon ok. Und dir?"
Statt einer Antwort strich er ihr übers Haar. Keine Lügen zwischen ihnen.
Senray wartete nur kurz auf eine Antwort, dann murmelte sie leise: "Nicht mehr lange."
Und Wilhelm wisperte zurück: "Ja, nicht mehr lange... und du bist da... das ist gut."
Ihre Stimme lächelte. "Immer. Wenn du mich brauchst... oder ich helfen kann... immer!" Senray wurde leiser, bis sie verstummte.
Er löste sich zögerlich von ihr und sie ließ ihn nur widerwillig gehen, befürchtete, dass sie ihn irritiert haben mochte. Etwas falsch gemacht habe. Kurz tauschten sie Entschuldigungen.
"Ich... du verwirrst mich," sagte er. "Ich weiß nicht, wofür du dich entschuldigen willst. Ich denke die ganze Zeit, dass ich etwas nicht mitbekommen habe. Aber es kann nichts Wichtiges gewesen sein. Oder?"
Sie schüttelte beschwichtigend den Kopf. "Nein, wirklich nicht, keine Sorge, Wilhelm."
"Ich meine... es gäbe nichts, was ich mir vorstellen könnte, was ein wirklicher Grund sein könnte, dich bei mir zu entschuldigen..."
Er blinzelte müde und starrte den Boden an, unfähig, eine Antwort zu finden.
"Wilhelm? Soll ich uns einen Kaffee machen? Oder willst du lieber Ruhe haben und... ich weiß nicht... aufs Sofa wechseln, wo es bequemer ist?"
Er nickte. Was keine eindeutig zuzuordnende Antwort darzustellen schien.
"Hm... also Kaffee oder Sofa? Oder beides?"
Selbst die wenigen Silben erschöpften ihn: "Sofa..."
"Wenn ich zuviel rede, dann sagst du es, oder?" Sie schaute unsicher zu ihm auf und bot ihm ihre Hand an. Wilhelm ergriff diese Hand ohne zu zögern. Senray umschloss sie und zog ihn sanft hinter sich her. Er ließ es widerstandslos zu, folgte ihr, als wenn das sein natürlicher Platz auf der Scheibe wäre. Als sie gemeinsam im Wohnraum vor dem Sofa ankamen, setzte er sich plump. Die Schwerkraft musste wohl einen Sprung getan haben. Seine Hand ruhte noch immer in der ihren, sanft umfasst. Ein zaghafter Impuls ging von ihm aus und verstärkte den Halt seiner Finger. Senray schaute ihn überrascht an, ihre Wangen röteten sich sichtlich. Sein Blick verriet ihn gewiss, das spürte er, und er konnte erkennen, dass das Flehentliche, das in seinen Augen an die Oberfläche trat, sie erschrak. Er fühlte sich so verlegen, so kleinlaut, als er hastig zu dem freien Platz an seiner Seite blickte.
"Wenn... könntest du..."
"Ja? Was? Alles was du brauchst, Wilhelm!" Sie flüsterte beinahe, so besorgt war sie.
Wilhelm musste etwas schlucken, ehe er es aussprechen konnte. "Bitte, lass mich nicht allein!" Einen Moment noch hielt er ihren Blick und konnte sehen, wie sich dieser veränderte. Ein Starren. Dann ein Nicken, das sich mit einem traurigen Lächeln verband.
"Das hatte ich nicht vor."
Mit der freien Hand verbarg er beschämt sein Gesicht vor ihr.
Senray setzte sich vorsichtig neben ihn, näher als sie es normalerweise tat. Ihrer beider Hände waren immer noch ineinander verschränkt. Sie sah zu ihm auf. "Wilhelm... ist schon ok."
"Nein. Ist es nicht. Ich bin ein erbärmlicher Anblick... und es tut mir so leid, dass ich dir das zumute! Aber... ich kann nicht mehr anders..."
Senray strich sehr vorsichtig mit dem Daumen über seine verkrampften Finger.
"Wilhelm... ich... nein! Es ist vollkommen verständlich, dass dir die ganze Situation zusetzt und du bist schon die ganze Zeit stark! Du bist alles, nur nicht erbärmlich! Und wenn..." Sie schluckte und schaute dann verlegen auf ihrer beider Hände. "Erinnerst du dich an... unser erstes richtiges Gespräch?"
Er hatte Mühe sich zu konzentrieren, fast schon Angst, diese Frage nicht zu bestehen.
Senray sah wieder auf. "Das war ein erbärmlicher Anblick. Ich habe eine entsetzliche Szene gemacht wegen... wegen effektiv Nichts! Eigentlich ein Wunder, dass du überhaupt mit mir geredet hast... ich..."
Er blickte mit zusammengezogenen Brauen auf. "Aber... da hatte ich dich die ganze Nacht über verwirrt. Du warst durcheinander."
"Trotzdem. Du hast mich schon schlimmer wegen Weniger gesehen, Wilhelm."
"Du hast mir von deiner Vergangenheit erzählt... von... ihr. Das war nicht Nichts!"
"Das war Nichts im Vergleich zu dem, was... er aktuell mit dir Schicht für Schicht macht."
Senray zuckte merklich zusammen. "Tut mir leid! Ich habe es schon wieder getan..." Sie begann sanft über seine Hand zu streichen, sanft doch auch... besänftigend?
Wilhelm blickte auf die ineinander verkrampften Hände - und verstand mit plötzlicher Bestürzung. Mit nahezu panischer Hast ließ er sie los und begann stotternd, sich zu entschuldigen.
"Es tut mir leid! Ich hätte dir fast die Finger gebrochen! Meine Kraft... nicht im Auge behalten! Und du... du... bei den Ahnen! Es tut mir so leid!"
Sie blickte ihn groß an und ließ dann die Schultern seufzend sinken. "Du musst dich nicht entschuldigen, Wilhelm. Ich hätte etwas sagen können, richtig?"
"Ich habe nicht aufgepasst. Das wollte ich nicht! Entschuldige bitte!"
Senray hielt ihm die Hand wieder hin, mit stummer Hoffnung im Blick, während er sie völlig verunsichert ansah.
"Das war so ungeschickt... ich... es..."
Sie lächelte traurig. "Nichts weiter passiert. Alles noch heil."
Er schluckte schwer.
Senray bot ihm ihre Hand noch immer an. Und endlich, zaghaft, nahm er das wortlose Angebot an. Sie wirkte erleichtert.
"Ich hätte etwas sagen können."
"Ich habe nicht aufgepasst... es hätte sonst was passieren können..." Er haderte mit der Situation. "Du bist zu leichtsinnig... in meiner Nähe zu bleiben... ich hätte nicht darum betteln sollen, dass du bei mir bleibst..."
Senray erstarrte beinahe bei seinen Worten, suchte seinen Blick. "Wilhelm..."
Er hörte sie kaum, war viel zu bestürzt über seine Unachtsamkeit und das düstere Zukunftsszenario, das dadurch bedingt schien. "Ich werde dir wehtun... Irgendwann werde ich dir fürchterlich wehtun... bestimmt... und dann nützt es nichts mehr, sich zu entschuldigen... ich sollte... ich müsste..."
Senray hob vorsichtig ihre freie Hand zu seinem Gesicht und legte diese an seine Wange, ganz sanft. Sie versuchte seinen Blick einzufangen.
"Wilhelm, bitte, hör mir zu."
Er verstummte schaudernd und sah sie mit flackerndem Blick an.
"Wilhelm, ich will hier bei dir bleiben. Ich bin froh, dass du mich bei dir haben willst, ja. Aber ich will es von mir aus. Und... das obwohl ich eine Gefahr für dich bin. Eigentlich solltest du... solltest du nichts mit mir zu tun haben wollen, nach allem, was er...", sie schluckte schwer, hielt aber den Blick aufrecht, "was er dir angetan hat."
Sein Blick verlor sich quasi hilflos in ihrem. Alles Freundliche und Warme seines Wesens drohte in einen Abgrund zu fallen und das, was dieses Schicksal aufschob, waren ihre vertrauensvollen Augen. Es war, als wenn sie dieses mal ihn hypnotisieren würde und er nicht dagegen ankäme.
Senray wisperte: "Wilhelm... ich wünschte so sehr, ich könnte dir Stärke bieten oder Sicherheit oder... Irgendetwas. Aber... ich habe, ich bin... nur ich. Und das schließt eine so große Gefahr für dich mit ein. Aber ich... solange du mich bei dir haben willst..." Ihre Stimme wurde leicht kratzig. "Ich kann einfach nicht gehen. Wilhelm, ich... ich... mag dich sehr und ich..."
Er schüttelte sacht den Kopf. "Du machst dir Sorgen um mich. Aber... ich bin das nicht wert."
Sie legte die Stirn in Falten. "Unfug! Du bist so viel mehr wert! Lass dir nicht von diesem alten, garstigen... lass dir nicht von ihm etwas anderes einreden!"
Er senkte seinen Blick, als er fast schüchtern erwiderte: "Und was das 'solange ich dich bei mir haben Wollen' angeht... ich habe nicht das leiseste Anrecht darauf, von dir Irgendwas zu erbitten... und erst recht nicht zu 'wollen'..."
Senray seufzte traurig und ließ die Hand von seiner Wange sinken, streichelte stattdessen vorsichtig seine Finger.
Er sah wieder auf. "Einzig dem unendlich kostbaren Wert dieser Freundschaft zwischen uns, dieser überreichen Zuwendung, schulde ich die Ehrlichkeit, meinen innigsten Wunsch ausdrücken zu müssen - wider besseres Wissen! Denn ich weiß, dass ich deine Freundlichkeit damit ausnutze, wenn ich frei heraus sage, dass deine Nähe eine Gnade ist. Unverdient, unverhofft."
Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. "Wilhelm, du nutzt meine Freundlichkeit nicht aus! Hast du es denn immer noch nicht begriffen?"
Er senkte schuldbewusst den Kopf.
Sie legte Nachdruck in ihre Worte. "Ich will in deiner Nähe sein! Ich will bei dir sein! Von mir aus! Ich bin..." Sie hielt abrupt inne und wurde sehr rot, räusperte sich und schaute auf ihre Hände.
Er schloss ergeben die Augen und lauschte sehnsüchtig ihrem verräterischen Herzschlag.
Sie seufzte leise und flüsterte, fast an ihre Hände gewandt: "Wilhelm, ich... ich bin... ich bin verliebt in dich. Es ist nicht meine Gnade... es... für mich ist es die ganze Zeit ein Geschenk, in deiner Nähe sein zu dürfen."
Wilhelm erstarrte regelrecht und rührte sich nicht.
Sie jedoch legte ihm ihr Herz zu Füßen. "Eine Gnade, dass du so viel deiner kostbaren Zeit mit mir teilst. Mich immer wieder zum Lachen bringst." Sie holte tief Luft, versuchte, sich zu fassen. "Und auch... und auch... ich denke, es war eigentlich offensichtlich, nicht? Ich... kann meinen Herzschlag schlecht überspielen, dir gegenüber... aber... ich... wenn du doch... Abstand...", ihre Stimme brach beinahe bei diesen Worten, "willst, jetzt wo ich es gesagt habe... ich verstehe das. Aber ich will nur... ich will, dass du weißt, dass ich nichts erwarte! Bitte, glaube mir! Ich... für mich... für mich ist unsere Freundschaft so kostbar! So verwirrend. Aber so unglaublich kostbar! Und ich... ich hatte eigentlich nicht vor, es jemals zu sagen. Aber ich... es... ich will nicht, dass du denkst, dass du mich ausnutzt oder zu mehr Nähe zwingst, als mir lieb wäre oder irgendwas!" Sie schaute ihn nun doch wieder an, mit flammenden Wangen und Augen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie tränen würden oder nicht. Voll von Emotionen. "Wenn überhaupt..." Sie sackte leicht in sich zusammen. "Wenn überhaupt, dann habe ich die Situation wohl die ganze Zeit über ausgenutzt." Sie versuchte, tief durchzuatmen.
Wilhelm hatte sie wortlos angesehen. Seine Stimme klang zerbrechlich, als er flüsterte.
"Ich... ich habe schreckliche Angst, jetzt etwas falsch zu machen... und... ganz gleich, wie ich reagiere... kann es richtig sein?" Er versuchte ebenfalls, durchzuatmen, die richtigen Worte zu finden. "Danke! Für deine Ehrlichkeit. Deine Gefühle. Deine Zuneigung. Natürlich habe ich es... geahnt. Aber..."
Senray lächelte beinahe wehmütig, als wenn sie ahnen würde, dass er ihr Herz ausschlagen musste, dass nun der erste einer Reihe kleiner Abschiede stattfinden würde, ein erstes 'Aber...', mit dem er sie freundlich zurückwiese. Und als wenn sie sich innerlich dafür wappnete, weil ihr von Anfang an kein Glück zu zweit zugestanden hätte und sie nichts anderes erwartet hätte. Sie hörte ihm einfach zu und versuchte, nicht in dem Strudel ihrer eigenen Gefühle verloren zu gehen.
Wilhelm umfasste ihre Hand neuerlich, zärtlich. "Ich... ich werde uns beide zu künftigem Unglück verurteilen, wenn ich zugebe, dich ebenso... zu lieben... nicht mehr auf dich verzichten zu können... oder?"
Ihr Herz beschleunigte bereits bei seiner kleinen Geste merklich. Doch dann erreichten sie offensichtlich zeitverzögert auch seine Worte. Ihr Herz machte einen gewaltigen Satz, um dann davon zu galoppieren. Ihr Leben pulsierte wie von der Leine gelassen unter seinen Händen. Er sah sie fast verzweifelt an, als er ihr erklärte: "Und wie könnte ich dir Unglück aufbürden, aus meinem Egoismus heraus?"
Sie schaute ihn vollkommen ungläubig an und krächzte leicht.
"Du...?"
"Senray... ich habe unsägliche Furcht davor, dir irgendwann wehzutun. Und die Gefahr steigt, mit jeder Minute, die ich deine Nähe suche!"
Senray sackte in sich zusammen und fing an zu lachen. Sie verbarg mit der freien Hand ihr Gesicht, ihre Augen, die Tränen darin und schüttelte den Kopf. Sie lachte und schniefte gleichzeitig. "Wir sind schrecklich. Entsetzlich."
Er ergänzte mit einem traurigen Lächeln: "Unmöglich?"
"Geradezu... unmöglich. Ja!"
Wilhelm lächelte schief.
Senray schüttelte den Kopf und setzt neu an, ernster. "Ich... ich weiß wie du dich fühlst, Wilhelm. Ich habe ebenfalls unglaubliche Angst. Davor, das er dir etwas antut, dass er doch... irgendeine Handhabe findet, am Ende noch wegen etwas, das ich tue. Und ich will dich der Gefahr nicht aussetzen. Und..." Sie schluckte schwer, lächelte entschuldigend. "Und doch will ich nicht auf deine Nähe verzichten. Dabei hast du wirklich schon genug durch ihn leiden müssen." Sie betrachtete mit vielsagendem Blick seine Finger, die weißen Narben.
Wilhelm schüttelte nachsichtig den Kopf. "Deine Freundlichkeit, dein Humor, deine Geduld... das alles überstrahlt diese kurzen Erinnerungen. Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich bin Unkraut - so schnell bekommt man mich nicht klein." Er lächelte mühsam. "Er... sie... was auch immer... diese 'Aufmerksamkeiten' sind schmerzhaft. Ja. Aber nicht von langer Dauer." Er zuckte sacht mit den Schultern. "Deine Zuneigung hingegen..."
Senray atmete tief durch und ihre Wangen erröteten noch etwas mehr. Sie sah ihn leicht verlegen aber auch sehr, sehr liebevoll an.
Er legte seine Hand an ihre Wange und strich mit dem Daumen darüber.
Bei seiner Berührung stockte ihr merklich der Atem. Sie genoss sie unzweifelhaft, was ihm einen Glücksfunken verpasste. Er wisperte sehr sanft. "Senray... ich liebe dich ebenfalls. Ohne Wenn und Aber. Allen Gefahren zum Trotz."
Sie lächelte ihn warm an. "Ohne Wenn und Aber."
Er sah ihr inniglich entgegen, versprach sich ihr, weil es das einzig Richtig war.
"Ohne Umkehr. Solange du es mir gestattest, möchte ich an deiner Seite bleiben."
Senray lachte leicht. "Komisch, der Satz könnte von mir sein."
Sein Blick wurde ernst. "Bitte versprich mir nur eines..."
Sie erwiderte seinen Blick ruhig, mit dem gleichen Ernst.
"Senray, bitte... bleibe so ehrlich zu mir, wie bisher! Bitte zögere nicht, mir meine Grenzen zu zeigen! Vielleicht liegt es an dem Einfluss Raculs, mag sein. Aber ich habe wirklich Angst, mein Erbe irgendwann dir gegenüber nicht unter Kontrolle zu haben."
Senray zögerte nur einen kurzen Augenblick und nickte dann. "Es tut mir leid, ich hätte vorhin früher etwas sagen sollen. Ich hatte ehrlich gesagt Angst, dass du deine Hand dann zurückziehen würdest. Und... ich habe deine Nähe dafür zu sehr genossen." Sie wirkte etwas verlegen, beschämt. Aber sie nickte nochmals.
"Ich bin nicht nur Vampir... irgendwie... du hast auch Angst vor unsereinem. Und ich möchte diese Angst nicht verschlimmern. Panikreaktionen auslösen. Selbst, wenn nur versehentlich. Bisher hatte ich mich immer unter Kontrolle. Aber wer weiß..."
Er war total nervös.
Senray bekräftigte ihre Zusage. "Ich werde dir sagen, wenn mir irgendwas zu viel ist. Aber im Gegenzug dafür..."
"Ja?"
"Bitte versprich du mir, mich nicht wie ein rohes Ei zu behandeln! Ich verstehe, dass - und vor allem warum - du dir Sorgen machst. Nur gib dir bitte nicht an allem die Schuld! Und wenn ich sage, dass etwas ok ist, dann bitte glaube mir das!" Sie schaute ihn irgendwie gleichzeitig entschuldigend und ernst an.
Und er nickte zögerlich.
"Ja, ich... habe Angst vor Vampiren. Auch wenn du es – wie auch immer – geschafft hast, eine riesengroße Ausnahme zu werden." Sie musste leicht lachen und schüttelte den Kopf. Und auch er lächelte, müde aber glücklich. "Und ja, es könnte passieren, dass ich etwas sehe oder erlebe, was... dieser Angst nicht zuträglich wäre. Aber... wie soll ich es sagen? Ich... als du... als du so schattenhaft damals auf meinem Bett im Boucherie saßt, als du so unglaublich verletzt und besorgt ausgesehen hast... ich... es kam mir nicht einmal in den Sinn, dass du gerade wahrscheinlich mehr Vampirsein gezeigt hattest, als je zuvor. Verstehst du, was ich meine? Es... ich... du bist nicht... gruselig für mich, irgendwie. Auch wenn du eindeutig ein Vampir bist. Aber... nicht... du bist einfach etwas Besonderes."
Wilhelm lächelte erschöpft. "Du bist unglaublich. Vermutlich hätte ich damals sogar selber vor mir Angst gehabt! Wenn ich es bewusst bemerkt hätte. Und du... nimmst es einfach so hin."
Senray schaute verlegen und hob leicht die Schultern. "Bei jedem Anderen wäre ich wahrscheinlich weggerannt, ehrlich gesagt. Frag mich nicht."
"Kleines Vogelherz..."
Ihre Augen zeugten deutlich von ihrer Zuneigung für ihn. Bei seinem Kosenamen für sie breitete sich Wärme in ihr aus und sie strahlte regelrecht.
Wilhelm hingegen spürte, wie die lauernde Erschöpfung in seinem Inneren mit doppelter Wucht ihren Tribut einzufordern gedachte, nun, da in diesem Gespräch die heftigeren Gefühle, wie Bedauern und Zukunftsangst, den sanfteren zu weichen begannen. Er neigte leicht seinen Kopf und wirkte etwas bedrückt.
"Das war eine Liebeserklärung. Eigentlich sollte das etwas rundum Glückliches sein. Stattdessen biete ich dir nicht mal ansatzweise... Irgendwas. Darf..."
Senray räusperte sich mit rotgehauchten Wangen. "Sagte ich es nicht? Dass wir schrecklich sind? Suchen beide nach Gründen, warum der Andere nicht damit einverstanden sein sollte!" Sie hielt inne, sah ihn aufmerksam an. "Ja? Was ist es, Wilhelm?"
Er wirkte etwas verlegen. "Darf ich dir wenigstens etwas Kleines anbieten? Ich... ich würde dich gerne... küssen." Er fragte zaghaft. "Wenn du möchtest?"
Senray starrte ihn mit glühenden Wangen an, nickte, räusperte sich und nickte dann wieder.
"Ja, ich...", sie räusperte sich noch mal. "Ja!"
Wilhelm lächelte und beugte sich etwas vor.
Ihr Blick flackerte von seinen Augen zu seinen Lippen. Aber so verwegen zu sein, das traute er sich gar nicht; ausgerechnet ihr gegenüber! Stattdessen nahm er ihr Gesicht mit so zartem Griff zwischen seine beiden Hände, dass fast nur seine Fingerspitzen ihre Haut berührten. Und beugt sich zu ihr. Seine Lippen berührten ihre Stirn, so zärtlich wie Schmetterlingsflügel. Dann ließ er sie auch schon wieder los.
Senray schmolz quasi dahin, saß vollkommen benommen da und schaute ihn verliebt an.
Und er setzte sich langsam wieder zurück.
Sie betrachtete ihn immer noch mit leuchtenden Augen. "Ich habe ein Problem, Wilhelm. Ich habe gerade realisiert, dass ich das hier ganz sicher träume. Aber ich schätze, wenn ich dich darum bitte, wirst du mich eher nicht kneifen, oder?" Sie musste lachen.
Und auch er lachte leise. "Richtig. Das würde ich nicht."
"Ah, vergiss es. Ich will gar nicht aufwachen!" Sie strahlte glücklich.
Er gab dem Reflex nach, ihr das Haar sanft zurückzustreichen. "Oh, Sen! Du bist wunderschön..."
Senray schaute verlegen und boxte ihn neckisch. "Hatten wir uns nicht auf Ehrlichkeit geeinigt, du Charmeur?"
Er nickte. "Ich bin ehrlich."
Senray wurde noch röter und räusperte sich. "Oh. Du... bist eindeutig voreingenommen. Schätze ich." Sie schaute kurz verlegen zur Seite und dann wieder auf. "Aber zumindest kann ich das ehrlich zurückgeben." Sie überlegte kurz. "Auch, wenn 'wunderschön' irgendwie das falsche Wort ist. Eher... sehr attraktiv. Nur sind das wieder so gefährliche Adjektive, nicht wahr? Die wollte ich eigentlich dir überlassen." Sie zwinkerte ihm leicht zu, während sie verlegen und geschmeichelt zugleich wirkte.
Sein typisches Grinsen breitete sich trotz seiner Erschöpfung und all der anderen Umstände auf seinem Gesicht aus. "Oho! Sehr attraktiv."
Senray versuchte ernst zu nicken. "Das waren meine Worte. Ja. Durchaus."
"Oh, Sen... das ist einer dieser Momente, oder? Die man ewig halten möchte. Was sollte die Zukunft schon bereithalten können, um das hier zu überbieten?"
"Dürfte schwierig werden, ja. Andererseits..." Dieses Mal grinste sie ihn beinahe ein bisschen herausfordernd an. "Weißt du, wie oft ich das jetzt schon in deiner Nähe dachte?"
Ihr Lächeln wärmte ihn. Und doch konterte er leicht verunsichert.
"Ich hoffe nur, dass deine Gefühle nicht ausschließlich auf Mitgefühl für mich kleines Häufchen Elend fußen..."
Ihr Ausruf kündete von Unwillen. "Wilhelm!" Sie schaute ihn streng an.
Er wog seine Argumente ab und meinte diese ernst. "Wenn man bedenkt, dass ich in deiner Nähe kaum mal wirklich in Top-Form war, seit wir uns zum ersten Mal begegneten."
Senray öffnete den Mund, um zu widersprechen, wurde allerdings von ihren eigenen Gedanken sofort zum Verstummen gebracht. Sie rang sich zu einer zögerlichen Erwiderung durch. "Dann kann es doch nur besser werden, nicht wahr?"
Er nickte lächelnd. "Da ist was Wahres dran."
Sie lächelte leicht entschuldigend. "Und dann werden wir ja sehen... auch, ob du so einen schwachen, ängstlichen, weinerlichen kleinen Menschen überhaupt länger erträgst."
Er sah sie aufmunternd an. "Du bist so viel mehr, als dieses Bild von dir selbst, Senray. Alles andere als schwach."
"Ah, ich würde gerne sagen, ich habe mich auch nicht gerade von meiner besten Seite gezeigt. Aber... ich fürchte..." Sie biss sich auf ihre Lippe. "Ich fürchte, das wird nicht wirklich besser werden."
Er strich über ihre Hand und hielt diese sacht.
"Ich zumindest, bewundere deine Stärke, Senray. Wir wissen beide, wie sie ist. Und du... du... stehst jeden Tag von neuem auf!"
Senray schluckte. "Das... du überschätzt mich wieder, Wilhelm. Ich... stehe ihm nicht dauernd gegenüber. Das ist etwas vollkommen anderes als deine Begegnung. Oder dein Mut und deine Stärke, wenn du immer wieder aufs Neue zu diesen elendigen Nachtschichten gehst. Wirklich! Ich würde das nicht schaffen. Du bist so viel mutiger und stärker, Wilhelm! Wahrscheinlich sogar als du selbst ahnst!"
Er drückte sacht ihre Hand und wich ihrem Blick leicht aus. "Dauernd ist auch in meinem Fall nicht nötig, um Stärke zu beweisen. Also... ihr gegenüber. Du behauptest dich dafür schon so viele Jahre lang gegen ihren Einfluss... und anders als zerstörerisch kann man den kaum nennen..." Er senkte verlegen den Blick bei ihren Worten. "Ich bin nicht mutig. Wirklich nicht."
"Wie würdest du es denn dann nennen? Für mich bist du unglaublich mutig, Wilhelm. Du weißt, was dich erwartet, wenn du zu ihm gehst und..." Sie stockte kurz. "Und auch, dass es nicht besser werden wird, sondern eher schlimmer, von mal zu mal. Und doch gehst du! Du wirfst nicht einfach hin, wie es andere tun würden. Du... rennst nicht einfach weg. Wie es ich schon getan habe..."
Wilhelm spürte, wie ihn die Konzentration verließ. Das bisherige Gespräch war zwar wunderschön und wichtig gewesen. Aber auch unglaublich kräftezehrend. Seine Gedanken zerfaserten. "Das... es muss gemacht werden... für Ophelia..."
Senray streichelte ihm sanft über die Hand. "Ja. Und doch kostet es Mut und Stärke und Durchhaltevermögen."
Wilhelm atmete schwer ein. "Sie hat das viel länger ertragen. Und durchgehalten. Ohne Raistans Schutz. Ich hingegen..."
Senray zögerte einen Moment, ehe sie sprach. "Ich glaube... Es ist bei ihr wie bei mir und ihm. Er... hat mich noch n..." Sie brach ab und schloss die Augen.
Wilhelm blinzelte irritiert.
Senray schluckte trocken und holte einmal tief Luft, versuchte die unnatürliche Pause zu überspielen.
"Senray? Verdammt!" Er war auf einen Schlag alarmiert, aufmerksam.
"Jedenfalls denke ich, dass Racul Ophelia... nicht so extrem angreifen kann. Versteh mich nicht falsch!" Sie schaute ihn etwas gequält an und versuchte, es weiter zu überspielen. Worauf er natürlich nicht hereinfiel. Seine Haltung straffte sich etwas und seine Wangenmuskeln waren angespannt. Er wollte sie aufhalten. "Tu das nicht!"
Senray jedoch ignorierte seine Bitte. Der Gedanke war ihr so wichtig, dass sie ihn unbedingt noch zu Ende in Worte fassen wollte, gegen jeden Widerstand des Dämons in ihrem Inneren an. "Es war garantiert mehr als die Hölle für sie und ich wünschte, man könnte die beiden trennen und ihn... aber... aber, ich glaube, wenn Racul Ophelia zu extrem angreifen würde... dann würde er doch auch sich selbst schaden... oder?" Sie schluckte schwer und versuchte wieder tief einzuatmen.
Wilhelm drückte ihre Hand.
Sie lächelte ihn schwach an.
Das Spiel der Muskeln in seinem Hals zeugte deutlich von seiner Meinung dazu. "Sie 'verschont' dich also deiner Meinung nach..."
Senray nickte. "Während er bei dir... keine Rücksicht nimmt. So wie er." Sie sagte das ziemlich leise und traurig, lächelte wieder etwas bitter. "Er hat nie..." Sie hielt inne und konnte diesmal nicht verhindern, dass sie das Gesicht verzog.
Wilhelms Stimme wurde frustrierter, flehentlicher. "Senray! Hör auf damit! Tu dir das nicht an! Ich bitte dich."
Sie öffnete die Augen wieder und schaute ihn entschuldigend an.
Wilhelm blickte fast vorwurfsvoll zurück. "Ich kann deine Einstellung dazu beim besten Willen nicht teilen. Ich sehe... ja, ich fühle, wie sehr sie dich straft, dich quält!"
"Tut mir Leid. Ich... bleibe trotzdem dabei. Im Vergleich zu dem was dir angetan wurde..."
"Nein! Das ist kein Schonen."
Senray lächelte etwas gequält. "Ich fürchte doch."
Wilhelm schüttelte den Kopf, ehe er seiner frustrierten Hilflosigkeit Ausdruck verlieh. "Es unterstreicht nur umso mehr den Egoismus der Kreatur, wenn sie dich glauben lassen will, es gut mit dir zu meinen. Und es tut mir zutiefst weh, dich dem so ausgeliefert zu wissen. Und nichts dagegen tun zu können..."
Senray schaute auf ihre Hände und seufzte leise, flüsterte dann. "Mein Preis für etwas, das mir nicht mehr zustand." Sie schaute wieder auf zu ihm. "Und es stimmt nicht, Wilhelm. Dass du nichts tun kannst. Du bist da! Und du hast vieles erkannt und...", sie suchte wieder die richtigen Worte und fühlte vorsichtig nach, "zugehört... und gesehen... du bist nicht weggelaufen, obwohl es wirklich allen Grund dafür gegeben hat. Du hast mich nicht mal weggeschickt oder bist gegangen, als deine Verpflichtungen durch Ophelias Rettung gelöst waren."
Er strich sich mit einer Hand müde über die Augen. "Korrigiere mich, wenn ich mich falsch erinnern sollte. Aber aus dem, was du mir erzählt hast, meine ich verstanden zu haben, dass dein Ableben kein... natürliches gewesen wäre? Dann hätte dir in jeglicher Hinsicht mehr zugestanden! Und... Zuhören ist nicht, etwas an den Umständen ändern zu können... leider."
"Insofern ein arrangierter... 'Unfall'... nicht natürlich ist?" Sie schluckte schwer. Er sah sie voller Mitgefühl an und sie erwiderte diesen Blick sehr aufmerksam. "Doch, Wilhelm. Zuhören ändert sehr, sehr viel für mich!"
Wilhelm hatte immer mehr Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, zu verstehen, was sie ihm zwischen den Worten, ungesagt, mitteilen möchte. Dabei wusste er doch, dass sie das machte, es machen musste, um wirklich mit ihm reden zu können. Er musste zuhören, um alles mitzubekommen... aber es gelingt ihm kaum noch.
Senray betrachtete ihn mitfühlend. Und er rang unter dieser Aufmerksamkeit sichtlich mit sich, um Haltung zu bewahren. "Dann... ich höre dir auf jeden Fall zu. So viel du möchtest."
"Ich weiß, Wilhelm. Danke! Das bedeutet mir extrem viel."
"Gerne."
Er gab der Schwäche nach und schloss die Augen. Nur kurz. Er murmelte: "Du wolltest mir heute deinen Lieblingsort zeigen, nicht wahr?"
"Ich glaube, der rennt nicht weg. Falls du es lieber verschieben willst... wir können auch erst noch ein Wenig sitzen bleiben."
Er murmelte leise: "...bestimmt ein Dach, oder?"
Senray lachte leise. "Ja, du hast Recht! Woher wusstest du das?"
Er lächelte mit geschlossenen Augen und es fühlte sich so an, als würde er eventuell leicht schwanken, im Sitzen.
"Du magst Dächer."
"Stimmt." Ihre Stimme nahm einen besorgten Unterton an. "Möchtest du dich hinlegen, Wilhelm? Es ist sowieso schon recht spät..." Sie klang nachdenklich.
Er nickte. "Vielleicht... einen Moment noch... bevor wir..." Er blinzelte träge.
Senray lächelte schwach. "Das klingt gut. Allerdings solltest du vielleicht ins Bett und nicht hier auf dem Sofa schlafen." Sie sagte das mit leicht neckischer Stimme.
"Was hast du gegen das Sofa?" Er hatte ebenso neckend antworten wollen, doch es klang irgendwie nur verwirrt.
Senray lachte wieder betörend leise. "Oh, an sich nichts! Aber ich dachte mir, du wirst dich vielleicht ausstrecken wollen?"
"Das... ja... aber... ginge schon..."
Senray betrachtete ihn liebevoll, selber ebenfalls müde, wie es schien. Und er schaute sich irritiert um. Sie stand vorsichtig auf, ließ seine Hand aber nicht los. "Na gut. Dann leg dich hin. Ich bleibe hier."
Sein Blick verfing sich versehentlich für einen Moment in ihrem. Ehe er nickte und sich umständlich hinlegte. Seine Lider wurden unsäglich schwer und er konnte sie nur mit Mühe für einige Sekunden halb geöffnet halten. Dann jedoch fielen sie ihm unbemerkt zu.
Senray hielt weiter seine Hand. Sie blieb an seiner Seite. Neben dem Sofa, auf dem Boden? Ganz nahe jedenfalls... sie war der Pulsschlag seines Universums. So zuverlässig und wundervoll.
Sein Geist driftete den Pfaden entgegen, auf denen ihn Fragen und Ängste erwarteten und die Stimmen, die um sein Innerstes stritten - doch Senrays Herzensrhythmus hielt ihn auf halbem Wege auf, hielt ihn an der Hand, in der Schwebe. Ein freundlicher Sonnenstrahl in der Dunkelheit, der ihm in den Weg fiel und die finstere Bahn zu seinen Füßen unterbrach. Er lauschte auf sie. Und lächelte in der kalten Dunkelheit.

TAG 39

Wenn er es richtig in Erinnerung hatte, und dieser Tage war er sich mit solchen Fragen nie ganz sicher, dann war er zum fünften Mal bei der Hexe, um ihr auf geistiger Ebene beizustehen. Doch anders, als zu den vorangegangenen Erfahrungen, bat sie ihn erst einmal von der Dachterrasse herein, nachdem er den Landeanflug mit einem ledernen Schlag und der Rückverwandlung hinter sich gebracht hatte. Mehr ein nervöser Fall, denn ein eleganter Gleitflug. Was sie glücklicherweise nicht bemerkt zu haben schien. Kurz wunderte er sich, was wichtiger sein könnte, als die anstehende Sitzung. Dann kamen ihm bereits deftige Frühstücksgerüche entgegen, ebenso wie eine quietschvergnügte Kleinkindstimme.
"Onkel Wilhelm! Ich hab dir deinen Tee gemacht! Den musst du trinken! Bevor der kalt wird, sonst schmeckt er nicht mehr so gut!"
Elisa grinste übers ganze Gesicht und rutschte in der eindeutigen Aufforderung etwas beiseite, ihn zu sich auf die Sitzbank an der Wand zu kommandieren. Er konnte gar nicht anders, als ihre Freude mit einem Lächeln zu erwidern und dieser Bitte zu folgen. Erst, als er seine Aufmerksamkeit von ihr löste und seine Sinne das hektische Trommeln der verschiedenen Herzen in dem kleinen Küchenbereich auseinander zu sortieren begannen, wurde ihm richtig bewusst, dass Maganes Mann am Herd stand, während sie selber sich mit an den Tisch setzte, ihm gegenüber. Schnell nickte er dem Genesenden zu.
"David..."
Jener füllte ein frisch gekochtes Püree löffelnd vom Topf in eine Schüssel, wobei er ihm ein leicht ironisches Zwinkern als Antwort zuwarf.
"Onkel Wilhelm..."
Ein Blick in Maganes Gesicht zeigte ihm zwar, dass sie ihr Augenmerk schnell gesenkt hatte, um nach einer Speise zu greifen und sich aufzutun. Auf ihren Lippen jedoch lag ein höchst amüsiertes Lächeln. Als sie wieder aufblickte und ihn direkt ansah, meinte er, Zufriedenheit in ihr zu lesen, über den Umstand, dass David und Elisa ihn mochten - und er sich nicht dagegen wehrte. Wilhelm hielt ihrem Ausdruck stand, bis auch seine Lippen sich verzogen. Zu einem schiefen Grinsen. Er sah zu ihrem Mann hinüber und zuckte leicht mit den Schultern.
"Ist das sinnvoll? Bereits auf den Beinen zu sein und zu kochen, nach so schweren Verletzungen, anstatt noch etwas zu ruhen?"
Der Mann am Herd lachte.
"Jetzt klingst du schon wie sie! Aber sei beruhigt! Besser Sitzen, als Liegen. Ich muss verhindern, völlig einzurosten. Das hier ist keine Schwerstarbeit. Dafür fördert es die Dehnbarkeit der Muskeln, die schon viel zu lange zugunsten der Haut ruhiggestellt waren. Vom Kreislauf mag ich dabei gar nicht erst anfangen!"
Elisa starrte Wilhelm unverhohlen von der Seite an und er sah leicht irritiert zu ihr hinab.
"Ja? Möchtest du etwas?"
"Du musst deinen Tee trinken! Sonst wird er kalt!"
"Oh... ja, natürlich."
Bedächtig nahm er die Tasse auf und atmete das aufsteigende Aroma tief ein, ehe er zu trinken begann.
"Elisa! Bedränge ihn nicht so. Lass ihn in Ruhe ankommen. Alles andere ist unhöflich."
David trat mit der Schüssel an den Tisch und setzte sich neben Magane. Er bot Wilhelm gleich daraus an.
"Erbsenpaste, mit Öl und Gewürzen."
Wilhelm war sich ziemlich sicher, dass der Tag im Bewusstsein der städtischen Bevölkerung im Allgemeinen noch nicht als derart fortgeschritten galt. Und dass die Wenigsten eine so gehaltvolle Mahlzeit zum Frühstück zu sich zu nehmen gewohnt waren. Aber für ihn waren zeitliche Beschränkungen im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme ohnehin sinnlos. Sein Körper würde generell nichts hiervon verwerten können. Einzig seine Geschmacksnerven konnten eine gewisse Abwechslung vermitteln und so etwas wie Zufriedenheit bewirken. Was hatte Senray ihm von dem erzählt, was er ihr damals weitergegeben hatte. Bevor ihm seine Erinnerungen genommen wurden? Richtig... seine Mutter! Sie hatte ihm die Liebe zum Kosten und Genießen weitergereicht. Sie hatte gekocht gehabt und die Wohnung mit exotischen Gerüchen gefüllt. Er kannte diese Paste.
Ein Löffel davon wanderte auf seinen Teller, zusammen mit einem Gewürzküchlein und einigen kleinen Blättern Wintersalat. Es wurde der Mahlzeit zugesprochen und Gewürze, Kräuter, Magie und Tee vermengten sich zu einem besänftigenden Aroma.
David beobachtete ihn mindestens ebenso konsequent, wie Elisa und allmählich verunsicherte ihn das etwas.
"Ähm... ist irgendwas?"
"Hmmm... bin mir nicht sicher. Letztes Mal bist du völlig weggeklappt nach dieser Sitzung. Mag meinte, du hättest dich ihretwegen übernommen gehabt. Stimmt das? Kannst du das im Nachhinein bestätigen?"
Er spürte ihren ernsten Blick, sah aber lieber auf den Teller hinab, als er zögerlich antwortete.
"Nun... ich wusste schon vorher, dass es schwierig werden würde. So gesehen war es zumindest nicht überraschend, dass mich eine gewisse Erschöpfung einholte, als wir fertig waren." Er schob etwas von der Paste auf seine Gabel. Um ihn herum herrschte Schweigen. Als er aufsah, beobachteten ihn gleich drei Paar aufmerksamer Augen. Wilhelm räusperte sich leicht. "Wird das ein Verhör?" Er versuchte, ein schiefes Grinsen. Als das nichts änderte, legte er das Besteck mit einem leisen Seufzer ab und seine Hände im Schoß zusammen. Kurz sah er Elisa etwas länger an, dann antwortete er an David gerichtet. "Ja. Ich habe mich beim letzten Mal übernommen. Ich habe so etwas noch nie gemacht und konnte... im Grunde konnte ich gar nichts daran, realistisch einschätzen. Ich habe mich ausschließlich auf die Aufgabe konzentriert und dabei alles andere ausgeblendet. Und es ist mir bewusst, dass ich es tunlichst vermeiden sollte, diese Erfahrung zu wiederholen. Aber ich denke, dass ich daraus gelernt habe. Ich werde den nächsten Versuch zurückhaltender angehen. Die Aufgabe splitten. Meine Kräfte besser einteilen. In Ordnung?"
Magane nickte zufrieden, konnte es sich aber nicht verkneifen, ihm mit gutmütigem Spott zu antworten.
"Du hast eine gewisse Historie, Wilhelm. Das mit dem 'Aus einer unangenehmen Erfahrung Lernen' glaube ich dir erst, wenn ich es sehe. Aber ein guter Vorsatz ist natürlich auch schon viel wert. Sicherheitshalber werde ich mich darum bemühen, ebenfalls aufzupassen. Auf dich. Damit du dich nicht übernimmst. Leider habe ich in den Sitzungen mit dir kein Gespür für die verstreichende Zeit. Schwierig also, in jeder Hinsicht. Gemeinsam sollten wir das aber hinbekommen."
Wilhelm war eine Sekunde unschlüssig, wie er darauf reagieren sollte. Sein Augenmerk flackerte zu der Kleinen. Und blieb bei ihr hängen. Er rollte theatralisch mit den Augen.
"Ist sie bei dir auch so streng?"
Elisa kicherte und nickte heftig.
Magane lachte und warf ihm einen gespielt empörten Blick zu.
"Esst einfach, ihr beiden Verschwörer!"

Als sie zu zweit auf die Terrasse traten und ihre Sitzkissen auf den Boden fallen ließen, fühlte Wilhelm sich zwar immer noch ausgezehrt wie ein fadenscheiniges Putztuch, aber eben auch wie ein Putztuch, das in warmem, duftendem Seifenwasser eingeweicht worden war. Er trank den letzten Schluck Blut aus dem Glas, ehe er es sachte auf den Steinplatten abstellte. Und nahm Maganes Hände in die seinen, die Augen schließend.
Die Hexe seufzte schwer.
Er sah an sich hinab - und musste ebenfalls seufzen.
"Tut mir leid! Ignorier es bitte einfach."
Der Vergleich mit einem Wischlappen, der schon einiges hinter sich hatte, war wohl näher liegender gewesen, als er gedacht hatte.
Sie trat zielstrebig näher.
"Darf ich...?"
Er unterbrach sie fast erschrocken und wich im Reflex zurück.
"Nein! Ich... es geht schon. Danke! Aber... ich möchte nicht... also, wenn es sich vermeiden ließe..."
Sie fing seinen Blick ein.
"Du möchtest keine positiven Energien von mir annehmen?"
"Nimm es mir bitte nicht übel. Aber dieser Vorgang ist nicht... ausschließlich angenehm. Insofern das möglich wäre, würde ich lieber noch etwas darauf verzichten?"
Magane runzelte die Stirn, trat aber wieder zurück.
Wilhelm wollte seine Ablehnung nicht unkommentiert im Raum stehen lassen, er fühlte sich unwohl damit, wie sie ihn ansah.
"Mag... das hat nichts mit dir zu tun. Dass ich dir etwa nicht vertrauen würde. Das weißt du oder? Ich... es fühlt sich einfach nicht... nur gut an und... ich möchte auch nicht vollständig den Boden unter den Füßen verlieren, weil ich mich aufputschen lasse und meinen echten Zustand damit... abtarne? Mich stärker fühle, als ich bin und daraufhin vielleicht Fehler begehe, weil ich eine Situation falsch einschätze? Diese... Energie... sie ist wie Zuckerguss auf einem verdorbenen Kuchen. Auf den ersten Blick ganz hübsch aber an dem Darunter ändert es nicht wirklich etwas. Verstehst du das? Ich meine, auch der Zuckerguss hilft erstmal. Aber... der Schein trügt. Ich möchte mich nicht zu sehr daran gewöhnen... in Ordnung?"
"Ja natürlich. Entschuldige! Ich wollte dir nur helfen."
Ihre Mimik sagte etwas anderes. Sie schien seine Haltung nicht nachvollziehen zu können, vielleicht war sie sogar anderer Meinung, sah Veränderungen zum Guten, die er nicht erkennen konnte? Aber immerhin ließ sie es dabei bewenden. Keine Vorwürfe von ihrer Seite. Das genügte ihm bereits. Mit allem Anderen hätte er heute nicht umgehen können und sich stattdessen vermutlich zu Dingen überreden lassen, die ihm nicht behagten, nur um Frieden zu finden. "Nun... dann wollen wir mal!" Er wandte sich der mitten im Raum stehenden Tür zu, die auftauchte, sobald sie sich für einen Direktzugang zu einer Sequenz entschlossen.
"Wilhelm..."
Er wandte sich ihr zu. "Ja?"
"Vielleicht gibt es etwas anderes, mit dem ich dich aufmuntern kann..."
Er wartete darauf, dass sie weiter sprach.
Sie lächelte vorsichtig.
"Ich war im Wachhaus. Die Information macht unter der Hand die Runde: Bregs war gestern mit dem Abschlussbericht beim Patrizier. Es kann jetzt jeden Moment soweit sein, dass ein Urteil gefällt wird! Dann haben wir die Warterei hinter uns. Dann hast du diese Plackerei mit den Sonderschichten hinter dir!"
Alles in ihm zog sich zusammen, als wenn er einen Faustschlag in den Magen bekommen hätte. Er meinte Senrays Stimme flüstern zu hören: 'Nicht mehr lange!" Da war Erleichterung und Freude, denen er gestattete, sich unwillkürlich auf seinem Gesicht zu zeigen. Aber da war auch Angst. Faulige, stinkende Angst. Er verdrängte sie sofort.
"Endlich! Das ist... gut. Danke!"
Wilhelm wandte sich schnell ab und trat in die Traumszene, in dem sicheren Wissen, dass Magane ihm folgte.
Die Wiese im Morgentau. Rogi mit dem Skalpell. Kampfwunden und eine blitzende Klinge, letztlich viel Blut. Er ignorierte all das und setzte sich in den Schneidersitz, um mit dem Auseinandersortieren der Erinnerungen und der verfälschten Einflüsse zu beginnen. Seine Stirn legte sich in Falten, vor lauter Konzentration.

Zwei Stunden später öffneten Magane und Wilhelm im lauen Morgenwind der Dachterrasse wieder die Augen. Der Blickkontakt hielt nur eine Sekunde, ehe er ihr auswich und die Lippen dünn aufeinander presste vor Enttäuschung.
Magane lächelte müde.
"Du weißt, dass es an deiner Erschöpfung liegt, nicht wahr, Wilhelm? Dein Erfolg mit dem letzten Traum zeigte das sehr deutlich. Deine Fähigkeiten sind gut. Du hast nur gerade nicht ausreichend Kraft, das muss logischerweise die Erklärung sein. Und das sollte uns beide nicht überraschen."
"Vielleicht, wenn ich einfach noch mal mit..."
"Nein. Lass es gut sein für heute. Ich will nicht riskieren, dass du dich noch mehr als absolut nötig erschöpfst und es womöglich in der nächsten Nachtschicht bereuen musst. Ich habe gesagt, dass ich mit auf dich aufpasse und das tue ich auch. Wir verschieben den Versuch. Beim nächsten Mal wieder. Vielleicht könntest du stattdessen noch einmal... ich würde gerne schlafen. Eine Hypnose würde es auch tun."
Er nickte erleichtert, viel zu bereitwillig. Und fühlte sich entgegen jeder Logik einfach nur feige.
Als sie friedlich auf dem Sofa lag und David sich schweigend mit einem freundlichen Schlag auf seine Schulter bei ihm verabschiedete, trat er frustriert auf den Dachgarten hinaus und fiel in seine Fledermausgestalt, wie in eine Erlösung. Den Wind schneidend kalt und launisch um sich schreien lassen, so laut, dass er jeden Gedanken übertönte! Gebäude und andere Hindernisse wie verspielte Bauklötze links und rechts vor seinen Sinnen wegkippen lassen. Geschwindigkeit. Leichtigkeit. Hauptsache nicht denken. Nur die Freiheit jener Seite seines Wesens spüren, die weder Vorgesetzte, noch Verpflichtungen oder Sorgen kannte. Fliegen. Am liebsten für immer, nie mehr zurückverwandeln.

Es war bereits stark am Dämmern, als er sich wandelte und nur wenige Meter vor dem Kollegen der Tagschicht an der Eingangstür des Grüngansweges auf das Gehwegspflaster fiel, das Auftreffen seiner Absätze ein doppeltes Knallen. Das Flattern des Umhangs verstummte zu einem leisen Wispern des Seidenfutters, als jener sich langsam um ihn schmiegte und wieder aushängte. Moment! Er trug den Umhang?
Resigniert schloss er kurz die Augen und konzentrierte sich darauf, das peinlich dramatische Kleidungsstück verschwinden zu lassen. Darunter trug er die Uniform.
Der Wächter ihm gegenüber war bei dem unerwarteten Auftauchen, trotz der relativen Entfernung, zusammengezuckt. Aber vielleicht lag es auch an dem Lärm der Schuhe? Wilhelm trat entschuldigend zu ihm.
"Tut mir leid, Jargon. Ich hätte mich auch dezenter zeigen können. Das war keine Absicht."
Der Werwolf schüttelte in leichter Abwehr den Kopf.
"Schon gut. Erinnert einen zumindest daran, wofür man hier eigentlich steht."
Wilhelm neigte kurz den Kopf.
"War bisher alles ruhig? Oder...?"
Der Rechtsexperte lächelte auf seine gewohnt friedliche Art.
"Er hat keinen Ärger gemacht. Vielleicht wird es ja auch für dich mal eine ruhige Nacht."
"Schön wär's! Ich würde mich jedenfalls nicht beschweren."
Sie machten die Wachübergabe und wenige Minuten später ließ Wilhelm sich zwei Ebenen tiefer, unterirdisch, in den üblichen Bannzauber einweben. Raculs Präsenz hatte sich bis dahin wie ein nasskaltes Leichentuch um ihn gewickelt, umschlang ihn regelrecht. Er gestand es sich nicht gerne ein, aber etwas war heute anders. Noch bedrohlicher als sonst. Er fühlte sich belauert, ohne, dass er einen Finger darauf hätte legen können.
Nicht mehr lange! Wenn es stimmt, dass der Patrizier in diesen Stunden ein Urteil fällt... so oder so... dann hat es mit ihm ein Ende... zumindest hier... für mich... mit ihm und diesen Schichten. Ich hoffe zwar für Ophelia, um einen guten Ausgang... und ich wüsste nicht, wie ich an des Patriziers Stelle das Problem lösen würde, ohne sie zu gefährden. Aber... es muss ja irgendwann enden. Irgendwann, jetzt bald. Dann werde ich endlich von ihm befreit sein...
Wilhelm spürte unruhige Schwingungen, Energien, Emotionen, ein Meer davon, wild und reißerisch wie hungrige Wölfe. Ein einziges Gefühl des Alten jedoch stach heraus: Zorn. Das Gefühl lastete auf Wilhelm, wie eine Drohung. Und fast hätte er sich aus reiner Verunsicherung heraus dazu durchgerungen, den Kontakt zu suchen und den gefangenen Greis zu besänftigen versucht, egal womit. Dass Racul nicht einmal mental sprach, ihn nur zu umkreisen schien auf geistiger Ebene, kein Spott und Hohn, keine Herabwürdigungen... das verhieß bestimmt nichts Gutes.
Raistan wob seinen Zauber sorgfältig. Er schien diesmal kein Buch mitgebracht zu haben, ausgerechnet, wo Wilhelm sich in der heutigen Nacht Gesellschaft gewünscht, ja, erhofft hätte. Und wirklich verabschiedete sich der Zauberer, kaum dass der Bannspruch sich um den ihm anbefohlenen Vampir geschlossen hatte.
"Es tut mir leid, Wilhelm. Aber ich kann heute nicht bleiben."
Wilhelm nickte nur und verbarg seine Enttäuschung hinter einem Lächeln.
Als der Magier gegangen war, spürte er die Gegenwart des alten Vampirs noch deutlicher. Dessen Gedanken vibrierten in den unterirdischen Gängen wie winzige Erdbeben in papierbespannten Stellwänden. Unlesbar aber erdrückend.
Und dann sprach Racul doch noch zu ihm. Mit rauer Stimme. Auf dem Wege der Menschen. Mit kratzendem Flüstern aus dem Dunkel des hinter ihm liegenden Ganges zur Gruft. Gerade laut genug, dass er ihn hören konnte, trotz der Entfernung.
"Verräter!"
Wilhelm schnellte herum und starrte in den Gang, ohne irgendetwas zu sehen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
"Von Nachtschatten ebenso wie du! Ihr tretet euer Erbe mit Füßen! Seid es nicht wert, euch Vampir zu nennen! Verräter an der eigenen Art!"
Dem Wächter krampfte sich der Magen zusammen.
"Und Ophelia ist keinen Deut besser! Was habe ich ihr alles beigebracht! Sie hat es allein meiner Geduld zu verdanken, dass sie ihr Problem inzwischen einigermaßen im Griff hat! Aber gäbe es dafür die angemessene Anerkennung von ihr? Mitnichten! Morgen... einige wenige lumpige Stunden noch, ehe sie unsere Bindung offiziell verleugnen will. Ehe sie durch eine Formalia meinen Einfluss auf ihr mickriges Leben zunichte machen will. Morgen! Einen verfluchten Termin hat sie vereinbart, gegen meinen Befehl. Sie will es wirklich darauf ankommen lassen."
Wilhelm brauchte einen Moment, ehe er in seiner Erschöpfung verstand, um was es dem Greis gehen mochte.
"Ah... der Registereintrag zum... Eigentum?" Er hatte auf ebenfalls verbalem Wege geantwortet, ehe er es sich versah.
Racul schnappte regelrecht nach seiner Antwort. "Als wenn sie jemals irgendwem anders als mir gehören könnte!"
"Sie gehört dir nicht, tat es noch nie!" Die bedrohliche Aura des Alten machte ihn fürchterlich nervös und dessen Aussage irritierte ihn. "Und... woher weißt du überhaupt von dem Termin?"
Die krächzende Stimme wisperte spöttisch durch die Tunnel.
"Sie ist ganz passabel darin geworden, fremde Gedanken abzublocken. Und selbst ihre eigenen hat sie normalerweise im Griff. Aber es gibt Ausnahmen. Und wenn sie dabei direkt an mich denkt, dann erst recht. Ich sage doch, dieser Plan ist eine lächerliche Farce! Sie gehört einzig und allein in meinen Zugriff."
Wilhelm ließ betroffen die Schultern hängen. "Das... du... du betrittst weiter ihre Gedanken? Trotz der Geltendmachung derer von Nachtschatten, trotz der noch ausstehenden Rechtsprechung? Du... du hältst dich nicht an die Regeln... du ignorierst die Traditionen!" Der Gedanke, was dies bedeuten mochte, wenn es publik würde, wenn die Anderen oder gar der Patrizier davon erführen... ihm wurde schlecht. War das eine Information, die er gezwungen wäre, weiterzugeben? Wusste Ophelia selber davon? Begann alles von neuem, was sie abgewandt geglaubt hatten, im Anschluss an die Rettungsaktion?
Der Tausendjährige lachte schallend.
"Du Naivling! Ich betrete wohl kaum ihre Gedanken, wenn sie selber mich darin begraben hat! Somit bin nicht ich es, der mit den Traditionen bricht. Das ist sie! Also darf ich auch darauf reagieren."
"Aber..."
"Schluss mit deinen ständigen Widerworten!" Die Stimme war wie der Biss einer exotischen Natter. "Was bildest du dir ein, Schneider? Denkst wohl, du könntest mich Nacht für Nacht ungesühnt herausfordern? Aber weit gefehlt! Diese Barrieren können mich nicht auf ewig halten. Sie können meiner Macht schon jetzt nicht gerecht werden!" Die Wut in der Stimme wich immer mehr einem eiskalten Hass.
Wilhelm schlang sich die Arme um den Oberkörper. Er erinnerte sich daran, dass ihm jedwedes Gespräch mit dem alten Vampir untersagt gewesen war. Er verstieß hier gegen einen direkten Befehl!
"Ihr widerlichen kleinen Maden! Ihr denkt, Stein und Magie könnten euch vor mir schützen, denkt, der Patrizier könnte es. Dabei ist er ebenso machtlos gegen mich, wie du es bist! Mag sein, dass Ophelia andernorts und zu einer anderen Zeit eine Gefahr für mich wäre. Aber hier und jetzt ist sie mein goldenes Los! All die weichen Herzen, die ihr zufliegen, all die zwischenmenschlichen Verstrickungen, sind das reinste Sicherheitsnetz. Selbst der Versuch, sie mir mithilfe der Statusrechte zu nehmen, kann nicht verschleiern, dass ihr euch im Grunde hilflos windet, in dem Wissen, dass euch die Hände gebunden sind. Denn was wollt ihr mir schon noch antun, das ihr nicht bereits versucht hättet, hm?" Raculs Stimme wurde kräftiger, voller Hohn. "Ihr habt mir meine Zurückgezogenheit genommen, meine Anonymität. Meinen Assistenten mit all seinen beachtlichen Fähigkeiten, sich um meine Bedürfnisse zu sorgen. Ihr begebt euch auf das niederste Niveau herab, indem ihr euch darum bemüht, mich ausbluten zu lassen! Ihr verwehrt mir meine angemessenen Mahlzeiten aus eurem Kleinkrämertum heraus, in der Hoffnung, mich damit genug zu schwächen, um es überhaupt außerhalb dieser Zauber mit mir aufnehmen zu können. Und sei es nur für wenige Stunden. Ihr lauert auf Schwachstellen und könnt doch nicht handeln. Wo ist euer letztes Ass? Welche Drohung wollt ihr noch wie ein flatterndes Friedensfähnchen vor meinem Gesicht schwenken, wenn euch doch längst nichts mehr geblieben ist?"
Wilhelm zwang sich, nicht noch einmal zu antworten. Aber in seinem Kopf rasten die Gedanken. Der Alte hatte Recht. Sie standen auf verlorenem Posten. Was konnten sie noch tun? Ophelia würde von Raculs Zugriffen wissen. Eigentlich wussten sie doch alle darum! Der Alte hatte sie nie offiziell auf mentaler Ebene ziehen lassen, beziehungsweise war das ja von Anfang an das eigentliche Problem gewesen. Dass er es nicht konnte. Vielleicht hatte Ophelia diesem sogar selber die Informationen zukommen lassen, bewusst, um ihren Vorsatz zu bekräftigen? Dass sie damit lediglich dessen Wut geschürt hatte, mit welcher nun Wilhelm zurechtkommen musste... das hatte sie ja nicht wissen können. Er würde allerhöchstens versuchen können, mit ihr selber über dies hier zu sprechen. Er würde es ganz sicher nicht in dem Bericht an die Kollegen und den Kommandeur erwähnen und damit lediglich die Gefahr steigern, das Augenmerk des Herrschers der Stadt neuerlich darauf zu richten. Es war schlichtweg unnötig, alle an etwas zu erinnern, das vermutlich nur er selber vergessen hatte. Jetzt ging es Ophelia besser, jetzt war sie endlich bei den Ihren und durfte sich erholen, war in vertrauter Umgebung und am Tageslicht. Das war tausendmal besser, als zuvor. Er würde die Situation für sie nicht erneut auf die Probe stellen. Der Schein musste gewahrt bleiben, dass sie sich vollständig abschirmen könnte. Und wer wusste schon, ob es in zwei Tagen nicht ohnehin ein Aufatmen geben könnte und sogar die stehende Verbindung zwischen ihr und Racul mithilfe des Besitzsiegels ausgelöscht würde? Das Wissen bahnte sich bei ihnen allen seinen Weg, unaufhaltsam wie ein Fieber: Nicht mehr lange!
Raculs Stimme wurde seltsam leise. Kalt und scharf, wie zerklüftetes Eis. Da war er wieder, dieser unverhohlene Hass auf Alles und Jeden. Nur dass er sich zu verdichten begann. Auf ein einziges, klar erkennbares Ziel. Der Tausendjährige hatte sich in Rage geredet und einen Fokus für die überschäumende Wut gefunden.
"Ich habe genug von dir! Eure Einschränkungen beginnen mich zu langweilen. Euer Herabwürdigen meiner Person muss sanktioniert werden. Es wird Zeit dafür, die Vergangenheit abzustreifen. Sebastian war ein herber Verlust. Der zweifellos gerächt gehört. Aber es gibt Prioritäten. Und eine davon bist du. Ich bin deine penetrante Gegenwart leid. Befreie mich! Löse das Siegel!"
Wilhelms Augen weiteten sich vor Schreck. Er stieß ein ungläubiges Lachen aus. Vergessen war der Vorsatz, dem Greis nicht zu antworten.
"Selbst wenn ich das wollte, wäre es mir nicht möglich. Das weißt du doch!"
"Du weigerst dich also, meinem Befehl Folge zu leisten?"
Wilhelm knetete nervös den Stoff seiner Hosenbeine.
"Ich... nein. Ja! Ich meine... das geht doch nicht einmal! Und... du bist nicht weisungsberechtigt. Du bist ein Gefangener! Aus gutem Grund. Und... ich kann auch gar nicht aus meinem eigenen... Bereich hinaus, könnte gar nicht vor deine Gruft hintreten und... das weißt du!!!" Er konnte hören, wie seine Stimme gepresst und zittrig klang vor Angst. Der Alte wirkte plötzlich so bestimmt und selbstsicher, als wenn er die vergangenen Nächte nur dafür benötigt hätte, einen Plan auszuformulieren. Als wenn ihm sehr viel mehr Möglichkeiten offenstünden, als ihnen allen eingefallen waren. Hatten sie etwas übersehen? Sie hatten etwas übersehen, nicht wahr? Wie bei dem toten Knaben. Es gab irgendeine Lücke!
"Denkst du immer noch, du wärest auf der sicheren Seite? Dass dein kleiner Zauberer dich schützen könnte? Oh, ich werde dich bis zum Ende deiner jämmerlichen Existenz jagen. Es wird mir eine Freude sein, dir klar zu machen, dass es für dich keine Sicherheit mehr geben wird! Nie wieder!"
Und dann veränderte sich etwas an der Luft.
Wilhelm spürte es mit allen seinen Sinnen und ahnte sofort, was geschah. Furcht ließ ihn erstarren. Er blickte sich gehetzt nach allen Seiten um.
Als erstes sah er die Nebelschwaden, die auf Bodenhöhe den Gang entlang auf ihn zu gekrochen kamen. Sie wälzten sich ihm durch die Schatten entgegen, wie lebendige Wesen. Ein leises Heulen hub an, wie wimmerndes Wehklagen, während Wind aufkam, der durch Türritzen, um die Ecken und durch die Kamine in den offen stehenden Gefangenen-Zellen zog.
Und dieser Wind griff in Wilhelms Haar und zerwühlte dessen Frisur.
Er begann zu zittern.
Raistans Bannspruch hält diese Machtausläufer nicht auf. Der Zauber erkennt sie nicht als bösartig und künstlich herbeigeführt. Er kategorisiert sie automatisch als natürliches Wetter, als normale Elemente, wie die Luft zum Atmen...
Der ohnehin schlecht beleuchtete Standort verdunkelte sich weiter, als an der Decke schwarze Schwaden zu kondensieren begannen, die sich zu dunstigen Wirbeln wanden und dabei immer tiefer sanken. Das Licht der Fackeln im Hauptgang spukte und sprotzte, als die Luftfeuchtigkeit rapide anstieg. Es roch nach feuchtem Keller, nass geregnetem Laub und Blechdächern im Sommer. Elektrische Funken knisterten über den Zauberbann und die Wände... und über seine Haut. Ein rollender Donner ließ den Boden beben. Wilhelms Blick schnellte hinauf, an die Decke. Der Donnerschlag war von weit oben durch die Erde erklungen.
Der alte Vampir ließ seine Kräfte spielen. Wo hatte er diese noch verborgen gehabt? Wie konnte er nach all der Zeit in seiner Einzelhaft hier unten, abgeschnitten von Blutnachschub, trotz seiner mentalen Rundumschläge, noch immer solche Macht in sich bergen? Dies war ein heraufbeschworenes Unwetter, wie es nur die wirklich alten Meister unter den Vampiren erschaffen konnten. Wilhelm würde hier unten nur einen Bruchteil davon mitbekommen, schlussfolgerte er. Aber er machte sich nichts vor. Wenn Racul etwas so Gewaltiges einzig und allein zu dem Zwecke heraufbeschwor, ihm damit zuzusetzen - und ein Ausbruch wäre dem Uralten damit schließlich nicht möglich - dann würde dieser auch dafür sorgen, dass die Botschaft ankäme.
Raculs Lachen wurde von neuem Grollen durch die sie umgebenden Wände untermalt.
"Deine Angst stinkt bis hierher. Du bist solch eine Jammergestalt! Soll ich dir einen Tipp geben? Anerkenne es einfach, dein Schicksal. Bleibe stehen und finde dich damit ab. Dann hast du es schneller hinter dir."
Und während er noch fieberhaft darüber nachdachte, was der Tausendjährige damit meinen würde, dass er 'stehen bleiben' solle, lud die Luft sich prickelnd auf und eine weißglühende Entladung schlug direkt zu seinen Füßen ein. Rausgesprengte Steinsbrocken splitterten an Wilhelms Hose und brannten heiße Löcher in den Stoff. Schmerz kratzte leicht über seine Schienbeine. Er sprang zurück und schnappte erschrocken nach Luft.
"Hahrharharharrr... herrlich! Das ging daneben, oder? Aber vermutlich nicht viel?"
Das Lachen klang völlig falsch in Wilhelms Ohren, viel zu freudig, viel zu aufrichtig. Er starrte entsetzt auf den in den Boden geschlagenen winzigen Krater mit der kaum sichtbaren Rauchfahne, die sich filigran empor wand.
"Na, macht ja nichts. Es war schließlich nur ein erster Anlauf. Beim nächsten Versuch treffe ich besser. So groß ist das Areal ja nicht."
Wilhelms Blick schoss empor und hielt nach den Wolken über seinem Kopf und jenen zu seinen Füßen Ausschau. Und endlich löste er sich aus seiner Schockstarre. Der Bodennebel floss, gleich einer flachen Welle, in seinen Bereich und über seine Füße hinweg. Der Kontakt ließ ihn die Zähne zusammenbeißen, so eisig hieb sich die Kälte in seine Füße. Das Knistern einer sich aufbauenden Energieladung setzte wieder ein und diesmal war er vorbereitet. Er sprang beiseite, der Blitz verfehlte ihn, stattdessen gab es ein weiteres Loch im Boden.
Das heisere Lachen setzte neu ein. Und diesmal wollte es nicht wieder aufhören.
"Hast du schon mal einen Vampir brennen sehen, Schneider? Ich schon. Unsereiner hat eine natürliche Begabung dafür. Falls du also sonst nichts kannst, wird dir meine Intervention immerhin zu einem spektakulären Abgang verhelfen. Wenigstens ein nennenswerter Fakt, zu deiner schnell verblassenden Existenz auf dieser Scheibe. Es ist zwar nur ein kurzes Spektakel, dafür aber mit bemerkenswerter Strahlkraft. Ich könnte darauf wetten, dass dein spezieller Freund eine Eintrittskarte dazu zu schätzen gewusst hätte."
Er spürte auch den nächsten Blitz, bevor dieser auslöste und wich schnell zurück. Etwas traf ihn im Rücken. Der Gang schien in giftigem Grün zu explodieren und Schmerz fraß sich in derselben Sekunde wie ein Schlag von den Schulterblättern und von den Rückenmuskeln zu seiner Vorderseite durch. Er schrie und fiel wie hingeschmissen auf den Boden. Kälte brannte sich in seine Haut, in seine Lunge, seine Augen. Er blinzelte und stemmte sich instinktiv mit den Händen aus dem eisigen Bodennebel. Doch die Hände krampften sich wie gefriergetrocknet zusammen. Torkelnd und halb blind kam er auf die Beine. Die Orientierungslosigkeit ließ ihn schwanken. Ein einziger Gedanke begann ihn auszufüllen, während das Lachen an seinen Nerven sägte.
In Bewegung bleiben! Nicht wieder die Banngrenzen treffen beim Ausweichen! Wenn ich die Stunden bis zum Sonnenaufgang durchstehen will, dann darf ich nicht stillstehen. Mich nicht treffen lassen. Schnell sein! Es gibt nur einen Weg, wie ich schnell bin...
Er hatte den Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, als er bereits alles Überflüssige aufgegeben hatte und mit lautlosem Flattern in eine etwas unsichere Kurve sackte, ehe er sich wieder fing und empor schwang.
Ein Regenguss aus dem Nichts brach los und spülte den Bodennebel im Tunnel fort. Sofort bildete sich stattdessen eine aufspritzende Wasserfläche. Der schwere Regen traf ihn wie Bolzenschüsse und verwirrte seine Sinne zusätzlich. Sein Sonar spielte verrückt, überall fallende Wände, in Streifen geschnitten, fort und wieder da. Der nächste Blitz streifte haarscharf an ihm vorbei, brachte die Luft zum Brüllen und den Regen in diesem Bereich zum Verdampfen. Wo die Energie einschlug, flackerte für eine Sekunde blaues Feuer tanzend über das Wasser, breitete sich flächig aus, ehe es erlosch. Der Boden schien zu kochen, brodelte! Wilhelm flatterte gegen die Wassermassen an, die seinen Körper aus dem Flug niederreißen wollten. Die Muskeln taten ihm weh. Die Augen schmerzten von der unerträglichen Helligkeit der Blitze. Blind fiel er in die ohnehin kaum zu erahnende Magiebarriere. Wieder. Er fühlte sich abstürzen, spürte, wie er heißes Wasser schluckte, schlug um sich, um wieder aufzusteigen. Es wurde schwerer, immer schwerer, das Unten vom Oben zu trennen und weiter in Bewegung zu bleiben. Da war nur noch so wenig Kraft in ihm. Und die Nacht war so lang. Sie hatte ja gerade erst begonnen. Das Lachen war zu erbittertem Schweigen verstummt, doch die Frequenz der Einschläge schien sich noch zu steigern.
Und da verstand Wilhelm, dass er sterben könnte. Dass es wirklich und wahrhaftig in den nächsten Minuten so weit sein könnte. Nicht während Ophelias Rettung aber doch noch im Nachgang dazu. Nicht durch den Feuerdämon, der es als erster darauf angelegt gehabt zu haben schien, sondern durch jemanden seiner eigenen Rasse, der ihn erst seiner Erinnerungen und Überzeugungen beraubt und dann sogar im Spott seinen Sohn genannt hatte. Kein Ende zum Vorzeigen, sondern eines als jämmerlicher Lumpenhaufen, halb verbrannt und halb ertränkt, zu Tode gehetzt wie ein Opfer auf der nächtlichen Jagd, von jemandem, der die alten Traditionen großschrieb. Ohne eine Möglichkeit, Abschied zu nehmen von seinem Vogelherzen...
Der nächste Blitz zerteilte die Luft und verdrängte diese Gedanken.
Ausweichen! Die Barriere...
Grüne Magie der Untotenabwehr, die sich wie schwarzes Öl in ihn ergoss und ihn wimmernd vor Schmerz nach Luft schnappen ließ. Zu oft! Er durfte die Barriere nicht noch häufiger berühren, sie entlud sich mit jedem Treffer heftiger und er verkraftete jetzt schon nichts mehr! Wasser in seinen Lungen. Seine Flügel schlugen panisch über den Boden, versanken im nachgiebigem Widerstand und zähem Ringen mit dem flüssigen Element. Die Welt explodierte in blauem Feuer, das auf ihn zuraste und seine Sicht löschte. Er reckte den Kopf in die Höhe und schlug wie wild mit den Lederschwingen, befreite sich aus dem Wasser, ließ es hinter sich, wie es schien, denn es fraß sich nicht in seinen Körper.
Eine Stimme schrie. Er schrie. Aber ohne Sinn. Hier würde ihn niemand hören.
In Bewegung bleiben!!!
Er kämpfte kraftlos um ein weiteres Emporschrauben in die Höhe. Längst war sein Flug nicht mehr elegant zu nennen. Seine Sicht flimmerte nur noch bruchstückhaft in ihn zurück.
Er prallte neuerlich ab. Aber inzwischen hatte er so allgegenwärtige Schmerzen, dass er keine zusätzlichen mehr spürte. Alles pulsierte vor Agonie, wie ein riesiges blutrotes Herz, dass ihn verschlingen und...
Die Stimme schrie immer noch und drang zu ihm durch.
Herzschlag...
Das ist keine Einbildung...
Hände bargen ihn an einer pulsierenden Brust, drückten ihn an trockenen, warmen Stoff, schirmten ihn vor den einschlagenden Wassermassen ab. Und noch immer brüllte die laute Stimme.
"...kannft noch so sehr toben, daf wird dir nicht daf Geringste nutzen, du widerliche Mumie! Daf ist das letzte Mal, dass du ihn in deine Fänge bekommen haben wirft! Ich schwöre dir..."
Rogi!
Das warnende Prickeln setzte wieder ein. Die überreizten Sinneswahrnehmungen schillerten in allen Farben. Der wahrscheinliche Brennpunkt des nächsten Energiestoßes begann sich in der Luft bereits zu sammeln, ein Bereich voller Spannungen, nahe diesem Herzen. Etwas in seinem Inneren schrie auf und wollte warnen, der stärkere Instinkt hingegen reagierte lediglich und stieß sich von dem Gefahrenbereich ab. Seine Flügel brachen den Halt der warmen Hände panisch auf und seine Krallen kratzten sich frei. Er war in der Luft, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, als sie der Blitz traf. Aus seiner Perspektive glich sie kurz einem lautlosen Wetterleuchten. Ein Negativbild mit glühenden Konturen. Ihre Haare stellten sich dort, wo nicht der magisch aufgeladene Stirnreif als geistiger Schutz gegen Racul thronte, auf, wie eine Wolke aus Zuckerwatte. Der Reif selber glühte, wie frisch aus einer Esse. Und ihre Augen schimmerten silbern. Dann kehrte mit einem Krachen der Ton zurück und der Boden zu ihren Füßen explodierte.
Er fühlte Trauer. Sie würde fallen, nach allem, was sie für ihn getan hatte, was sie davor schon für Ophelia getan hatte. Eine winzige Erinnerung leuchtete in seinen Gedanken auf und verblasste sofort wieder, ganz genau so, wie die Blitze der letzten Stunden: Die kindliche Gedankenform der Igorina, die ihn über den Sargrand hinab so frei und entspannt angrinste.
Dann klärte sich sein unsteter Blick etwas. Und sie stand nicht nur noch immer direkt vor ihm, während seine Flügelschläge immer kraftloser wurden und er gen Boden zu torkeln begann. Nein! Sie lachte sogar laut auf! Trotz der deutlich sichtbaren Verbrennung ihrer Haut dort, wo der Metallreif auf ihrem Kopf saß. Dann sah sie ihn mit neuer Aufmerksamkeit an und fing ihn schnell mitten aus seinem Fall auf, in ihre bereit gehaltenen Hände. Wilhelm spürte, wie seine Schwingen sich an ihre warmen Handflächen legten und wie die Schwäche ihn zu fassen bekam. Ein krampfartiges Zittern befiel ihn und erfasste ihn von Kopf bis Kralle. Aber sie hielt ihn! Er musste nicht mehr weiterschlagen, keine Kraft investieren. Er konnte einfach aufhören. Kurz schwanden ihm die Sinne vor Erleichterung und er gab es auf, gegen das Rauschen in seinem Körper anzukämpfen.
Als Sicht und Gehör wieder zurückkehrten, wie eine langsame Dämmerung, da hüllte ihn Wärme ein. Sanft massierende Wärme. Er hörte sich wie von Ferne selber fiepen und seine Flügel zuckten vom Schmerz der Überanstrengung.
Die Wärme wurde etwas von ihm abgehoben und als er blinzelte, erkannte er, dass er sich in einem Handtuch befinden musste, in welchem er vorsichtig getrocknet wurde. Rogis Gesicht tauchte vor ihm auf, als sie ihn, noch immer halb in das warme Tuch gewickelt, anhob. In dem wenigen Licht der Fackeln und Kerzen hier schimmerte sie regelrecht von der schweren Nässe, die ihr in Haar und Wimpern hing und ihre Haut überzog. Sie sah ihn sehr ernst an.
"Ef tut mir leid, Wilhelm. Daf hätte nicht passieren dürfen. Daf war deine letzte Nachtschicht bei ihm, ich schwöre ef! Egal, was Bregs dafu fagt. Ich rede mit ihm. Ich denke zwar, dass der Alte fich damit nun wirklich völlig verausgabt hat... kaum hatte ich deinen Bannkreis aufgelöst, war daf Schlimmste vorbei... aber trotzdem. Ich übernehme alle verbleibenden Schichten. Ef können eh nicht mehr viele fein. Wenn ich denke, waf hätte passieren können, wenn ich nicht ein wirklich üblef Gefühl gehabt und mich auf den Weg gemacht hätte... Wie geht ef dir? Kannft du dich zurück verwandeln?"
Wilhelm war sich nicht sicher. Aber die Frage verlangte nach einer Antwort. Er zog schwach die Flügel an und sie setzte ihn sogleich mitsamt dem Handtuch auf dem Boden ab. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, sein humanoides Abbild in sich zu sehen. Der Vorgang war anstrengend wie nie zuvor. Es war, als wenn er einen Scherbenhaufen zusammenkehrte und diesen in seine Arme schloss. Erst, als er sich einigermaßen sicher war, sich zu erkennen, gab er den Impuls zur Wandlung frei.
Als er die Augen wieder öffnete, lag er auf dem Boden des unterirdischen Arbeitszimmers und starrte an die Decke. Er hatte es nicht ganz geschafft, sein ursprüngliches Abbild wiederherzustellen. Die Selbstheilung verweigerte sich noch seinem Zugriff. Die Kraftreserven waren endgültig leer. Beides zugleich war einfach nicht gegangen.
Er spürte, wie seine Kleidung, durchtränkt vom Regen, schwer an seinem Körper hing und eine Wasserlache um ihn herum in den Teppich sickerte. Sein Haar klebte ihm kreuz und quer übers Gesicht. Er stank nach verkokeltem Stoff und versengtem Haar. Und er spürte jeden Zentimeter. Die Muskeln brannten und die Haut war allenthalben zerschrammt und mit offenen Wunden übersät. Und er zitterte sacht am ganzen Körper.
Rogi beugte sich über ihn.
Die unverhohlene Sorge in ihrem Blick traf ihn - so viel Freundlichkeit dahinter! Und das, so unmittelbar im Anschluss an all den Hass, den Racul über ihn geschüttet hatte... Er lächelte sie dankbar an. Dann fielen ihm wieder die Augen zu. Alles zu anstrengend.
"Bift du irgendwo ernsthaft verletzt? Was ich auf den erften Blick fehe, wirkt nicht so..." Er versuchte, zu antworten. Wirklich. Zu sagen, dass alles... gut war? Er war nicht zerstört worden. Es gab einen Körper, der noch funktionierte. Er konnte weitermachen. Aber anscheinend schaffte er es nicht, seinen Mund das aussprechen zu lassen, was er ihr gedanklich sagen wollte. Es schien ein Augenblick des Wartens zu vergehen, in welchem sie ihn wohl aufmerksam beobachtete. Dann begann sie ihn nach eigenem Gutdünken abzutasten. "Du geftattest?" Er spürte ihre starken Hände auf der Suche nach tieferen Schnitten oder Brüchen über seine Haut gleiten. Sie schob seine zerstörte Kleidung stellenweise empor, drehte seinen Oberkörper seitlich, um den Rücken und seinen Hinterkopf abzutasten. Ab und an zuckte er aufgrund der Schmerzen zusammen, bei ihren Berührungen. Sonst aber tat er nichts, außer an die Decke oder über den Boden zu schauen. Seine Augen wollten nicht mehr richtig fokussieren. Dunkle Flecken tanzten immer wieder vor ihnen, wie auslaufende Tinte auf rauem Papier. Eine umfassende Schwere zog an ihm und er fühlte sich, als wenn er damit begänne, mit dem kalten Boden zu verschmelzen. Als wenn es ok wäre, zu Stein zu erstarren. Erst recht, wo er nicht mehr in die Welt der Lebenden gehörte. Seine Gedanken wurden immer träger und drehten sich langsam im Kreis, wie ein gefallenes Herbstblatt in einem Strudel, der es hinab zu ziehen begann.
...mein Platz hier ist längst nicht mehr vorgesehen... ich hätte zusammen mit meiner Familie sterben sollen... er hätte den Zufall korrigiert und mich ausgelöscht... und er hat seinen Plan nicht geändert... er wird einfach nur die nächste Möglichkeit abwarten... und ich bin hilflos gegen ihn... er wird es wieder machen... ich bin verurteilt... ein wandelnder Toter... es gibt keine Sicherheit mehr für mich...
"Komm schon! Rede mit mir!"
Rogi schob ihre Hand unter seinen Oberkörper und wollte ihm aufhelfen. Mit der anderen klopfte sie ihm an die Wange. So nahe, roch sie stark nach verbranntem Haar. Er sah sie teilnahmslos durch die fast geschossenen Augenlider an. Er schaffte es zwar, ihrer Anweisung zu entsprechen, seine Stimme klang dabei aber brüchig und leise.
"Hätte ich einfach stehnbleiben sollen? Es hinter mich bringen?"
Rogi starrte ihn fast böse an.
"Du meinft, du hätteft dich umbringen lassen sollen? Falscher Anfprechpartner, Wilhelm. Aber, falls du mich fragst... lass den Blödsinn! Kommt nichts Gutef dabei raus. Und daf kommt erst Recht nicht in Frage, wenn der Alte ef dir eingeredet hat. Fteh auf! Los jetzt!"
Sie zog ihn, im Nacken gepackt, in eine sitzende Position. Er versuchte sitzen zu bleiben, als sie ihn los ließ. Aber er sackte sofort zurück, weil ihm die Arme einknickten. Sie griff hastig zu und fing seinen Fall ab, nur um ihn etwas schonender zurück auf den Boden abzulegen, als das sonst geschehen wäre. Ihm war schwindlig. Und mit einem Schlag wirklich übel. Er schaffte es gerade so, sich etwas zur Seite zu drehen, ehe er das geschluckte Wasser aus seinem Körper erbrach. Dann fiel er wieder auf den Rücken zurück und atmete schwer.
"Ok. Nicht gut. Ich vermute mal, du benötigst Blut?"
Sie wartete seine Antwort nicht einmal ab, sondern entblößte einfach nur kurzerhand ihren Arm. Und hielt ihm dann ihr Handgelenk vor.
Wilhelm sah müde auf das sanfte Pulsieren ihrer Haut. Der Gedanke war nahe liegend, es nicht zu tun. Wozu kämpfen?
Traurigkeit sickerte in ihn. Oder aus ihm heraus?
Es gab keinen wirklichen Platz für ihn, an den er gehört hätte. Keine Familie. Und Freunde? Na ja... war es nicht vielmehr so, dass Racul Recht hatte und sie alle ihn nur duldeten, weil er in irgendeiner Weise für sie nützlich war? Es tat weh, das zu denken, es zu fühlen, natürlich. Aber wenn es die Wahrheit wäre?
Das Handgelenk verschwand aus seiner Sicht und Rogi legte ihre Finger so unter sein Kinn, dass sie seinen Blick auf sich lenkte. Er blinzelte langsam. Sie seufzte genervt.
"Ef gibt nur einen logischen Grund dafür, in deinem akuten Zustand auf ein solchef Angebot fu verzichten. Racul. Waf hat er dir weifgemacht, hm?"
Seine Augen wollten ihren ausweichen aber sie hielt den Blick. Er musste schwer schlucken und räusperte sich.
"Ich... passe nirgendwo dazu. Bin überflüssig. Lästig. Werde... geduldet."
Rogi schnaubte herablassend.
"Die Beschreibung trifft ja wohl eher auf ihn felber fu. Ficher, dass er dich gemeint hat?"
Wilhelm sah den gutmütigen Spott und etwas an dem Gesagten und ihrem Verhalten gab ihm innerlich wieder Platz. Ein zittriger Atemzug löste sich in seiner Brust.
"Und waf daf 'überflüssig' angeht...", sie grinste ein klitzekleines bisschen, als sie das sagte. "Daf ist Blödsinn! Ef gibt ganz bestimmt mehr alf nur eine Person, der etwas Wichtiges fehlen würde, ohne dich. Aber diese eine Person gibt es so sicher, wie Unwetter in Überwald: Senray!"
Das Vogelherz! Der Gedanke riss ein emotionales Abdecktuch von seinen Gedanken. Ihre Worte brachen die Dunkelheit in seinem Inneren auf, wie Sonnenstrahlen eine finstere Wolkendecke.
Schmerz traf ihn, wie eine Ohrfeige. Hart aber schnell. Kaum war er zusammengezuckt, war es auch schon wieder vorüber und das Echo davon verlor sich in den unzähligen anderen Schmerzherden in seinen Gliedern. Nach all dem davor, war dieser Nachhall gut auszuhalten.
Racul!
Richtig, die Barriere war gefallen. Rogi hatte sie aufgelöst, um ihn zu retten. Ein Wall aus magischem Schutz bestand in diesen Sekunden nicht mehr, um den lautlosen Einfluss des Alten zu blockieren. Der Schatten von Ankh musste wahrlich geschwächt sein nach diesem Unwetter, wenn er die vorliegende Situation trotzdem nicht dazu ausnutzte, ihn gedanklich zu zerschmettern. Wilhelm war sich nach diesem letzten Hieb nur zu bewusst, wie ungeschützt und hilflos er auf dem Präsentierteller lag! Er hatte nichts mehr, was er einem neuerlichen Angriff entgegenzusetzen gehabt hätte. Und doch war dem Greis nicht viel mehr verblieben, als einen Tarnschleier über die Gefühle des Jüngeren zu werfen, um ihn seine letzten Stützpfeiler aufgeben und die Hoffnung fahren zu lassen? Um ihn zu einem 'freiwilligen' Aufgeben zu verlocken? Aber wie hatte der Alte es schaffen können, ihn Senray ausblenden zu lassen und sei es auch nur für wenige Momente?! Nein, sein Vogelherz hätte kein Verständnis dafür, wenn er aufgeben würde. Senray würde ihn weitermachen sehen wollen und dabei betonen, dass er in jedem Fall einen Platz an ihrer Seite sicher hätte.
Und wenn er darüber nachdachte... es gab auch immer noch Familie für ihn... oder vielmehr 'wieder'. Elisa hatte ihn zum Onkel erkoren und die übrige Familie des Mädchens hatte sich diesem Wunsch angeschlossen. Sicher, Racul verleugnete die Echtheit jener Emotionen. Aber Gefühle waren so oder so subjektiv und konnten immer für den einen echt sein und für den anderen gleichzeitig nicht. Er durfte sich an die Hoffnung klammern. Und wenn irgendwann alles besser würde und er wieder klar denken könnte... vielleicht entpuppte sich diese Hoffnung dann sogar als objektiv gerechtfertigt? Er musste das nicht jetzt entscheiden und seine Existenzberechtigung davon abhängig machen! Hoffen...
Und Freunde? Rabbes Bild tauchte vor ihm auf. Wie sie locker mit ihm plauderte. Wie sie ihm ernste Dinge anvertraute. Wie sie ihn schweigend ansah und ihm zuhörte. Wie sie ihm empört eine Schelle verpasste. Und wie sie ihm lachend mit den Händen die Frisur zerwuschelte. Freundschaft...
Er räusperte sich leise.
"Tut mir leid... dass ich mich gehen lassen habe... du hast Recht..."
"Ja, habe ich. Alfo? Trinkft du nun?"
Er nickte. Ihr Handgelenk näherte sich ihm wieder und er ließ so viel Vorsicht walten, wie nur irgend möglich. Mochte sein, dass sie nur das Aufsetzen der Zähne auf ihrer Haut spürte und danach nicht viel mehr als ein kühles Prickeln.
Die ersten Blutstropfen lösten ein enormes Schwindelgefühl aus. Hätte er nicht bereits gelegen, so wäre er spätestens jetzt gefallen.
Und dann traf ihn der Hunger.
Er trank. Bald schon in gierigen großen Schlucken, ohne zu denken. Es gab keine Konsequenzen mehr! Kurz streifte ihn der beunruhigende Gedanke, dass Racul noch nicht vollständig von ihm abgelassen haben könnte, dass auch dieser Hunger stärker mit ihm spielte, als er es sollte. Dann aber wieder war es nur logisch, dass er sich gierig fühlte, wie nie zuvor. Schließlich hatte er auch noch nie zuvor solch eine Tortur überstehen müssen, wie in dieser Nacht. Oder? Egal...
Er bekam nicht einmal mit, dass er ihren Arm plötzlich mit stählernen Klammergriffen beider Hände hielt und fest zu sich zog. Jeder Herzschlag ein Atemholen, Wärme, die ihn füllte, Kraft, die in seine Muskeln schoss. Es war, als wenn nichts mehr von ihm übrig gewesen wäre. Und sie gab ihm, was er benötigte, um sich neuerlich aus der Traufe zu erheben. Er hatte nicht geahnt, wie viel schon gefehlt hatte, wie unvollständig er gewesen war. Wie nahe daran, zu verschwinden. Der kalte Boden unter dem Teppich fühlte sich jetzt unangenehm an und längst nicht mehr einladend, um mit ihm zu verschmelzen. Der Gedanke ans Aufgeben klang absurd, wo es solch einen Rausch des Lebens gab und er ihn immer wieder neu zu entdecken vermochte. Mehr! Er wollte wach werden, sehen, fühlen, satt sein! Er wollte ihren Geschmack auskosten!
Seine Wunden schlossen sich und er konnte spüren, wie die Schmerzen verblassten.
Der Blutnachschub ruckte an seinen Lippen, als wenn eine Abkopplung angestrebt wäre.
Wilhelm knurrte ungeduldig und musste nachfassen, damit der Arm ihm nicht davon rutschte.
Stimmen im Hintergrund seiner Wahrnehmung. Eine, die immerzu seinen Namen rief. Und eine, die heiser lachte.
So berauschend! Blut rann warm seine Kehle hinab und der Duft nebelte ihn ein. Noch ein Schluck! Aber warum war dieser so klein gewesen, so kümmerlich im Vergleich zu den vorigen? Er wollte doch mehr, nicht weniger. Mehr! Wie konnte der Nachschub schon versiegen, wenn er doch noch immer... versiegen? Nachschub? Von einem lebenden Körper! Versiegen...
Raculs Stimme, leise aber glasklar inmitten seiner Gedanken, die Häme darin fast unerträglich.
"Gibst du endlich deinen naturgegebenen Trieben nach, ja? Das ich das noch erleben darf! Eine einzige nächtliche Jagd lehrt dich deine Rolle im Gefüge besser, als alle Nächte zuvor..."
Wilhelm krampfte sich der Magen zusammen. Rogi? Versiegen bedeutete...
Er ließ panisch von ihr ab.
"Rogi! Es tut mir so leid! Das wollte ich nicht! Bitte..."
Racul lachte bösartig in seinem Sinn.
Rogi hingegen kniete noch immer an seiner Seite und sah ihn nur sehr blass an.
"Na endlich! Bift ja regelrecht verbissen, wenn du einen schlechten Tag haft. Mit Reden allein kommt man dann nicht mehr durch bei dir, hm?"
Seine Vorgesetzte trat einen Schritt zurück und legte sich, mithilfe der Uniformjacke, geübt einen leichten Verband an. Dann erst löste sie den Gürtel von ihrem Arm.
Wilhelm starrte Rogi an.
"Eine Adernkompresse?"
Sie grinste.
"Waf denn? Hat doch gewirkt, oder?"
Wilhelm nickte betroffen.
"Für einen Augenblick dachte ich wirklich, ich hätte... Es tut mir sehr leid!"
"Daf war der Sinn der Fache. Geht ef jetzt wieder?"
Wilhelm war sich nicht sicher, ob er vielleicht doch zuviel von ihr getrunken hatte, auch wenn sie stehen konnte und taff tat. Seine unausgesprochene Sorge darum ignorierte sie jedoch fast provokativ und ihr Blick schien ihm davon abzuraten, nachzuhaken.
Er fügte sich dem und versuchte sich stattdessen daran, sich aufzurappeln. Er kam langsam wieder auf die Beine, mühsam und etwas unsicher. Und in der Aufrechten angelangt, hielt er sich erst einmal an dem Schreibtisch fest. Aber immerhin.
"Ja. Ich denke, du brauchst dir keine Sorgen machen. Danke! Das müsste erst einmal wieder genügen." Er betrachtete seinerseits Rogi und deutete auf die verbrannte Haut unter dem Stirnreif. "Das sieht übel aus..."
Rogi lächelte matt und winkte ab. "Nichts, waf sich nicht mit einer guten Falbe beheben ließe." Sie nickte zufrieden.
Und schickte ihn heim.
"Wenn du laufen kannft, dann geh jetzt. Ab mit dir! Geh nach Haufe und ruhe dich gründlich aus. Daf ist ein direkter Befehl von deiner Vorgesetzten, Gefreiter!"
Eigentlich war er hin und her gerissen, ihr noch in irgendeiner Weise behilflich zu sein. Aber sie blockte schon den Versuch ab. Und letztlich war es ihm nur recht. Er wollte heim. Sich hinlegen. Das frische Blut wirken lassen und nur noch liegen. Weswegen er ihr letztlich gehorchte und ging.
Er ließ sie allein in dem Gang zurück, an der Gabelung zur Gruft. Mit ihrem vom Zauberer gravierten Stirnreif, als mobilem Untotenbann. Sie würde sich gegen Racul behaupten. So, wie es irgendwie jeder besser konnte, als er selber. Aber das war gut so, dass sie es konnte. Und es war richtig, dass sie ihn fortschickte. In seinem jetzigen Zustand wäre er nur eine Belastung für sie, etwas, das sie im Ernstfall zusätzlich schützen müsste, statt sich auf ihre eigene Sicherheit zu besinnen...
Das Gefühl der Nutzlosigkeit machte sich wieder stärker in ihm bemerkbar, schon als er ihr nur den Rücken zuwandte, um das Labyrinth hinter sich zu lassen. Aber es fühlte sich inzwischen fast schon vertraut an, so dass er es gut ignorieren konnte.
Kurz informierte er den oberirdisch postierten Kollegen der Nachtwache über den Vorfall und darüber, dass die Igorina seine Schicht an der Gruft übernommen hatte. Dann schleppte er sich heimwärts, quer durch die nächtliche Stadt. Er betrat das Haus durch die Werkstatttür. Die Arbeitsräume und der Verkaufsraum lagen still in undurchdringlicher Dunkelheit, die Schatten so tief und schwarz, dass es ihn fröstelte. Die Treppe zu seinen Wohnräumen hinauf war lang. Jede Stufe eine Herausforderung. Und dann - endlich - stand er vor seinem Bett. Und seine Beine gaben nach. Er ließ sich einfach nur noch fallen.
Seine Augen verschlossen sich der Welt und seine Ohren blendeten alle Geräusche aus, noch ehe er die Laken im Fall berührte. Sein Bewusstsein sank in gnädiges Nichts.
Regenerieren.

TAG 40

Etwas zerrte an seiner Wahrnehmung, wie ein Hund an einem abgenagten Knochen. Etwas so Grundlegendes, dass er es erst nicht zuordnen konnte. Außerdem war er tief gefallen und der Aufstieg ans Licht extrem anstrengend. Der Körper fühlte sich wie eine weit entfernte, viel zu steife Hülle an, die nicht mehr passen wollte. Unangenehme Erinnerungs-Echos trieben durch diese Hülle, erzählten von Erschöpfung und Schmerz und er hätte sie wirklich liebend gerne noch lange gemieden. Aber das schien ihm nicht vergönnt zu sein. Das Außen forderte auf irgendeine Art und Weise penetrant seine Aufmerksamkeit ein! Er dämmerte dem Pulsieren von anwesendem Leben entgegen.
"...es tut mir nur so leid für ihn und ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit. Aber ich bin auch einfach mit meinem Wissen am Ende, Frau Maior. Ich habe wirklich alles versucht, was sonst gut funktioniert. Er wird einfach nicht wach! Wenn Sie meinen, dass das üblicherweise selbst Tote weckt..."
"Denken Sie bloß nicht, mir würde das Spaß machen! Er muss wach werden und es ist meine Aufgabe das hinzubekommen. Ich bin ja nicht blind. Es ist mehr als offensichtlich, was er hinter sich hat. Aber ich habe nun mal einen Auftrag, der nicht verschoben werden kann. Wenn ich ihn nicht schnellstens wach bekomme, steht ihm vielleicht noch Schlimmeres bevor."
"Nein, das möchte niemand, schon gut. Machen Sie nur weiter! Oh... um der Götter Willen, Frau Maior, verschließen Sie das scheußliche Glas wieder, er kommt zu sich!"
Das Etwas, das sich in ihn verbissen und in seinen Eingeweiden gewütet hatte, während er auf den gedanklichen Ebenen des Nichts dahin getrieben war, schien ihm über den Pfad der Atemwege sämtliche Schleimhäute zu verätzen. Er krampfte sich zu einem stöhnenden Klumpen zusammen und versuchte instinktiv, sich mit Armen und Beinen zu schützen, verbarg seinen Kopf vor dem olfaktorischen Angriff.
"Wunderbar! Hatte ich doch geahnt, dass uns so was weiterbringen könnte. Komm schon! Mach die Augen auf! Ist wichtig!"
Wilhelm erkannte Nyrias Stimme, sowie diejenige Hannahs. Und auch ihrer beider Herzschläge. Er versuchte, die umfassende Benommenheit abzuschütteln und einen klaren Gedanken zu fassen. Wo war er? Und warum waren die beiden Frauen bei ihm?
Er schlug unendlich langsam die Augen auf, gerade, als die Werwölfin nach ihm griff und ihm den Arm vom Gesicht zog. Er blinzelte heftig gegen das helle Licht an. Sie beugte sich dicht über ihn und strahlte ihn regelrecht an. Ihre Stimme verbreitete einen unangemessenen Enthusiasmus, als sie fröhlich ausrief, "Hallo, Wilhelm!" und ihn dabei breit angrinste. "Na? Schon aufnahmefähig?"
Er krächzte matt. "Nein." Und sortierte weiter die einzelnen Eindrücke um ihn her in ein irgendwie geartetes Raster, um sich möglichst schnell zu orientieren. Es war hell. Tag. Hannah war da... also während der Geschäftszeiten. Bestimmt wurde sie eigentlich unten benötigt, bei den Kunden. Ja, unten. Er befand sich in seinem Schlafzimmer, auf dem Bett. Angekleidet. Wenigstens das. Aber trotzdem! Was hatten dann diese zwei Frauen hier zu suchen? Hannah, ok, das konnte vorkommen... aus verschiedenen Gründen. Aber Nyria? Dafür gab es keinen logischen Grund. Oder?
Hinter Nyria trat Hannah näher ans Bett und sah mit gerunzelter Stirn auf ihn hinab.
"Wilhelm? Sie ist mehr oder weniger hier hereingeplatzt. Ich bin zwar froh, dass sie dich aus diesem komatösen Zustand herausgeholt hat... immerhin siehst du wirklich grauenhaft aus und es war bis eben nicht für mich erkennbar, ob du die letzte Nacht in diesem unzumutbaren Dschob wirklich überstanden hättest... aber gerade, weil du völlig mitgenommen aussiehst: Wenn es dir zu viel wird, dann sag einfach Bescheid! Dann hole ich Ezra nach oben und lasse sie rausschmeißen, ja? Sie ist etwas zu aufdringlich für meinen Geschmack und für deinen Zustand."
Er schluckte schwer und schüttelte schnell den Kopf. Er griff nach Nyrias Hand, um diese vor unbedachten Worten zu bewahren, ehe er mehrmals tief Luft holen musste und wieder die Augen öffnete.
"Lass es gut sein, Hannah... sie wird Gründe haben... gebt mir nur... gebt mir nur einen kurzen Moment... bitte." Womit er die Hand wieder freigab und mehrmals durchatmete. "Verflucht, Nyria... was war das für Zeug in dem Glas?"
Die Kollegin lachte harsch auf.
"Ankh-Schlamm mit Minzöl. Heftigste Kombi, die ich kenne. Selbst erprobt. Zwangsläufig. Lärm ist ja nicht zu dir durchgedrungen, so einen gesegneten Schlaf, wie du hast."
"Ich schlafe nicht, das ist kein... egal..." Wilhelm rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Nyria blickte kritisch und mit vor der Brust gekreuzten Armen auf ihn hinab.
"Jetzt? Kann ich jetzt? Es ist wirklich dringend, Wilhelm, sonst hätte ich dich nach der letzten Horror-Nachtschicht nicht geweckt, glaub mir."
Er konzentrierte sich auf sie und nickte.
Sie öffnete ihre Haltung und seufzte leise.
"Ok. Der Kommandeur hat an alle...", sie sah kurz zu Hannah und sprach nur merklich ungern weiter, "von uns Brieftauben rausgeschickt. Auch an dich. Aber du hast nicht reagiert und die an dich geschickte Taube kam unverrichteter Dinge zurück. Deswegen hat er mich hinterher geschickt, um auf Nummer Sicher zu gehen, dass du deine Warnung ebenfalls bekommst."
Seine Stirn legte sich verständnislos in Falten.
"Warnung?"
Nyria blickte grimmig drein, als sie nickte.
"Ja, Warnung. Es steht jetzt fest, dass...", wieder flog ihr Blick unbehaglich zu Hannah, "der Alte sein Urteil im Wachhaus verlesen bekommt. Vom Kommandeur. Im Auftrag des Patriziers. Und zwar heute Abend. Und der Kommandeur will, dass wir alle untertauchen zu dieser Gelegenheit. In den Untergrund gehen. Uns verstecken, bis es vorbei ist. Die ganze Nacht, bis in den späten Morgen hinein. Nur, falls der Kerl auf größenwahnsinnige Ideen kommt, ganz gleich, wie das Urteil ausfällt." Sie beobachtete ihn genau. Als wenn sie auf eine Reaktion warten würde. Langsam ergänzte sie die vorangegangenen Informationen, während sein Gesicht emotionslos blieb, so sehr stand er unter Schock. "Wir sollen möglichst alle einzeln untertauchen. So weit weg und in Sicherheit, wie nur irgend möglich. Und uns morgen im Laufe des Vormittags im Wachhaus direkt bei Bregs zurückmelden, wenn nötig in Form von Klackernachrichten."
Wilhelm fühlte sich, als wenn er wieder fallen würde. Freier Fall aus großer Höhe. Sämtliche Instinkte in Alarmzustand. Aufprall auf festem Stein in wenigen Sekunden. Zerstörung in Sichtweite, nur ein Blinzeln entfernt.
Im Wachhaus... der Tausendjährige wird den Bannkreis verlassen... frei sein... nicht zu halten...
Er starrte unfokussiert in die Luft, während sich vor seinem inneren Auge Schreckensbilder manifestierten. Seine Lippen bebten und er flüsterte nur, als sein Blick plötzlich gehetzt zu Nyria ruckte.
"Er wird mich umbringen... jeden, den er in die Finger bekommen kann... Senray! Uns alle..."
"Nicht, wenn du rechtzeitig die Mücke, oder in deinem Fall die Flatter, machst."
Wilhelm sah sie mit großen Augen an und nickte halb hoffnungsvoll, nur um gleich darauf schon den Kopf zu schütteln und panisch zu widersprechen.
"Das ist kein Spiel. Er macht ernst. Er wird uns jagen... er wird wieder damit anfangen... er findet uns... ich..."
Sein Körper machte ihm einen Strich durch die Rechnung, als er nach Nyrias Arm griff, um sich an diesem vom Bett in eine aufrechte Sitzhaltung emporzuziehen. Seine Finger krallten sich zu fest in den Stoff ihrer Kleidung und übertrugen das Zittern sehr deutlich, das ihn allein bei der Vorstellung des verlöschenden Untotenbanns um den Alten unwillkürlich ergriffen hatte. Hemd und Hose klebten seltsam an ihm fest, teilweise zerknittert angetrocknet, teilweise noch immer fleckig und feucht vom Regenwasser. Aus dem Augenwinkel sah er all die Risse, Schnitte und Löcher, die in der letzten Konfrontation mit Racul in die Stoffe geschlagen worden waren und wenn er etwas nach vorne wankte, fiel ihm sein Haar strähnig ins Gesicht.
Nyria seufzte schwer.
Hannah unterbrach ihn mit ernstem Ton.
"Wer wird dich jagen und umbringen, Wilhelm? Hat das mit deinem aktuellen Zustand zu tun? Was war letzte Nacht?"
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie das nichts angeht, Frau... Goldig? Nichts für ungut aber das sind Interna, mit denen wir nicht..."
"Der alte Vampir in Einzelhaft. Der, von dem ich dir letztens erzählt habe. Bei dem ich die Sonderschichten abgeleistet habe, Hannah. Um der Götter Willen! Er weiß von dir. Von euch. Er hat meine Gedanken gelesen. Er weiß, dass ich mich um euch sorge und euch in Sicherheit wissen will! Du musst untertauchen! Du musst auch in den Untergrund! Und Ezra mit seiner Familie auch. Sag ihm sofort Bescheid! Wir schließen das Geschäft für zwei Tage und flüchten. Vielleicht geht die Gefahr dann wenigstens an euch vorüber. Schnell!"
Sein Gehör schnappte etwas auf und sein Kopf ruckte wieder herum, diesmal mit Blick zur Tür. Er versuchte, sich von der Bettkante zu erheben, war aber viel zu schwerfällig und wacklig. Leichte Schritte flogen nahezu in die erste Etage hinauf, eilten eine Etage tiefer in der Wohnung umher, erst in der Küche, dann im Wohnraum. Zuletzt rannte das Vogelherz mit rasendem Herzschlag die Stiege hierher herauf. Sie platzte ins Schlafzimmer wie ein Sturm, das Haar stand ihr wild zu allen Seiten ab, ihr Atem ging keuchend, als wenn sie einen sehr weiten Weg gerannt wäre, und ihre Augen suchten mit fast wahnsinniger Intensität die seinen. Sie sah ihn und blieb wie angewurzelt im Rahmen stehen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich mit schmerzhaft anzuschauender Schnelligkeit und ihre Pupillen weiteten sich geschockt, als sie seine gesamte Erscheinung erfasste.
"Oh mein... Wilhelm!"
Nyria stieß ihren Atem mit einem genervten Ächzen aus und von Hannahs Seite her vernahm er einen leisen, fast resignierten, Seufzer.
Doch Wilhelm hatte nur noch Augen für Senray. Und die Panik in ihm kippte. Er stand schnell auf, zu schnell, knickte fast sofort wieder halb ein.
"Senray! Oh, Sen! Hast du schon gehört? Wir müssen untertauchen! Racul kommt raus und wird sich frei bewegen können, er wird seine Jagd auf uns eröffnen. Er hasst mich und er weiß, dass ich dich liebe. Es tut mir so leid! Es ist alles meine Schuld! Ich wusste nicht, wie ich es verheimlichen sollte und nun kommt er frei und ich kann nichts machen, ich kann dich nicht beschützen! Was sollen wir nur tun? Ich habe keine Ahnung, wo ich dich in Sicherheit bringen könnte und..."
Senray ignorierte alles andere und eilte zu ihm. Sie fing sein Torkeln ab und stützte ihn, legte einen Arm um seine Hüfte, so nah, und verschwand fast unter seinem Arm, so fühlte es sich an, als wenn er einen Umhang über sie gebreitet hätte. Sie strich mit der flachen Hand immer wieder über seine Brust und drängte ihn dazu, sich wieder zu setzen. Ihr Puls ging so stark, dass er ihn fast schon in schneller Folge anzustoßen schien, spürbar auf der Haut.
"Schhhh! Ganz ruhig! Ja, ich habe davon gehört. Bekam eine Taube. Und bin sofort zu dir los." Sie sah besorgt zu Nyria. "Was ist mit ihm passiert?"
Nyria hob abwehrend beide Hände und schnaufte leise.
"Die letzte Nachtschicht ist ihm passiert. Der Alte hat zugeschlagen. Ein unterirdisch heraufbeschworenes Unwetter. Laut Rogi hat er ihn mit Blitzen gejagt. Richtig?"
Wilhelm nickte, konnte sich aber kaum auf das Gesagte konzentrieren.
"Wir müssen weg!"
Hannah trat in seine Sicht, vor das Bett, ihre Hände sittsam vor dem Körper aneinander gelegt. Ihr Blick war ungewöhnlich dunkel und distanziert, während er gleichzeitig in ungesagten Gedanken zu ertrinken schien.
"Wilhelm? Ich kümmere mich um Ezra und den Laden. Bring du dich mit... ihr... in Sicherheit, ja? Versprichst du mir das?"
Er nickte und sah sich sogleich wieder hektisch um.
"Was soll ich nur machen? Ich will ja! Aber es gibt keine Sicherheit! Wir können uns nicht verstecken. Er wird uns finden..."
Senrays Hände tasteten unsicher über seine zerfetzte Kleidung und strichen ihm das strähnige Haar aus dem Gesicht.
"Schhhh! Schon gut. Beruhige dich, Wilhelm! Ich bin ja jetzt da. Lass mich nur machen! Ich kümmere mich um alles, in Ordnung?"
Er nickte hilflos, sah sie unsicher an.
Nyria packte das Glas mit dem Schraubverschluss ein. Und zog eine selbst gerollte Zigarette aus ihren Utensilien.
"Ihr kommt klar? Na, ich geh mal davon aus. Du weißt, was du tust, ja? Eigentlich sollen wir uns ja trennen aber in seinem Zustand... vielleicht ist es da als Ausnahmefall wirklich besser, wenn du bei ihm bleibst. Aber mach es ordentlich, ok? Nimm das mit dem sicheren Versteck nicht auf die leichte Schulter! Vampire und ihre Sinne... weißt schon..."
Senrays Anblick erstaunte ihn, denn sie wirkte fast wie eine andere Person. Nicht im gruseligen Sinne, sondern in der Weise, als träte eine Variante ihrerselbst zu Tage, die deutlich älter und lebenserfahrener wäre... selbstbewusster. Ihre Haltung war aufrecht, sie bot allem die Stirn und ihre Stimme klang fest, ohne das leiseste Zittern oder Verhaspeln.
"Keine Sorge! Ich kümmere mich um Wilhelm. Ich bringe ihn in Sicherheit."
Nyria sah sie skeptisch von Kopf bis Fuß an.
"Kannst du das denn? Wirklich?"
Und sein Vogelherz hob leicht ihr Kinn an.
"Ja, das kann ich. Und mehr werde ich niemandem sagen, damit es auch nicht aus einem dritten Kopf herausgelesen werden könnte."
Er hätte sie am liebsten in seine Arme geschlossen.
Hannah wollte an Senray vorbei den Raum verlassen, blieb aber noch kurz auf gleicher Höhe zu ihr stehen und blickte sie lange mit Wehmut an. Senray konterte ihren Blick, ohne ihm auszuweichen. Hannah nickte traurig, presste ihre Lippen mit einem letzten Blick zu ihm zusammen, lächelte fast entschuldigend und ging wortlos nach unten.
Senray löste sich aus ihrer wartenden Haltung. Sie strich ihm sanft über die Wange und er schloss kurz die Augen, genoss die warme Berührung. All die aufwühlenden Ängste in ihm rannten Sturm gegen die Ruhe, die Senray auf ihn ausstrahlte.
Die Hand löste sich von ihm.
"Ok. Du musst dich waschen. Und neue Sachen anziehen. Geh ins Bad und fang schon mal an, du wirst ja sicherlich etwas Zeit brauchen, so langsam und erschöpft wie du wirkst. Ich hole das warme Wasser aus der Küche. Es steht doch sicherlich wieder der Teekessel auf dem Ofen bereit? Ich setze gleich einige Töpfe zusätzlich auf und feuere den Ofen an. Ich bringe es dir, sobald es warm ist. Und die neuen Sachen auch. Hemd und Hose, Strümpfe... deine Lieblingskombination hattest du erst letztens geplättet, wenn ich mich richtig erinnere, die lag zum Wegräumen aus? Und dann was zum Mitnehmen..." Sie ergriff seine Hände und zog ihn von der Bettkante, schob ihn dann sogleich in Richtung Bad weiter. "Mach nur! Ich kümmere mich um den Rest. Brauchst du Verbandszeug, Salben?"
Er war so dankbar für ihr Eingreifen, für ihre sachliche Gelassenheit und dafür, dass sie die Führung übernahm.
"Nein, nein... kein Verbandszeug oder so... hab schon geheilt... Rogi hat mir zu trinken gegeben... sonst hätte ich es gestern gar nicht erst nach Hause geschafft... das ist alles wieder geheilt..." Der Druck ihrer Finger um die seinen verstärkte sich, als er Rogis großzügige Spende aufgrund seines vorangegangenen Zustandes erwähnte. Hatte er zu offen über die Verwundungen gesprochen? Aber die waren doch schon wieder Vergangenheit! Doch das Bedauern darüber, vielleicht zu viel für ihr empfindsames Gemüt preisgegeben zu haben, war bereits dem nächsten Panikschub gewichen. "Können wir uns das überhaupt zeitlich leisten, dass ich erst ins Bad..."
"Ohne gehst du mir nirgendwo hin, Wilhelm. Du solltest dich mal sehen! Die Zeit wird reichen. Er kommt erst heute Abend frei, um ins Wachhaus eskortiert zu werden. Und wir wissen nicht, wie lange wir fort bleiben müssen. Ob alles klappt. Also bereiten wir uns optimal vor. Ab ins Bad! Wenn du Hilfe brauchst, rufe. Ansonsten packe ich deine Sachen. Meine Tasche steht schon unten."
Er setzte sich langsam in Bewegung - und begegnete Nyrias Blick die, beide Hände in die Hüften gestemmt, im Weg stand und ihn fast ungläubig mit hochgezogenen Brauen ansah.
"Was...?"
Sie ließ die Hände sinken und schüttelte nur den Kopf.
"Nichts. Ich mach mich dann auch mal auf, in den Untergrund. Viel Glück! Man sieht sich!"
Wilhelm schleppte sich ins kleine Bad und begann mühsam, sich aus den Kleidern zu schälen, die noch immer seltsam an seinem Körper klebten. Er blätterte eine zerknautschte Schicht Stoff, um die nächste von sich und ließ einfach alles auf die blank gescheuerten Dielen fallen. Die Sachen waren unbrauchbar gemacht worden, konnten weggeworfen werden.
Er war froh, dass er sich bei der letzten Gelegenheit die Mühe gemacht und den Wasserkrug zur gestrigen Mittagsstunde aufgefüllt hatte. Dadurch brauchte er nun lediglich in den Zinkbottich klettern. Seife und Lappen lagen auf dem Beistelltischchen bereit. Er griff nach dem Krug und schüttete etwas von dem kalten Wasser über sich, bevor er damit begann, sich einzuseifen.
Er war so langsam. Und er konnte erahnen, dass seine Bewegungen sogar noch langsamer wurden, trotz des Zeitdrucks. Ein Teil von ihm fehlte noch, hing in der Trance fest und forderte ihn zurück. Die Wiederherstellung war längst noch nicht abgeschlossen gewesen. Er hätte eigentlich noch nicht zurück gedurft, ans Licht...
Er riss sich bewusst zusammen und schrubbte sich kräftiger die Arme.
Es war nicht zu ändern. Er musste durchhalten. Senray beschützen, so gut er das vermochte. Es war nicht viel, was er ihr zu bieten hatte. Aber jede andere Verhaltensweise kam schlichtweg nicht in Frage.
Ein kurzes Klopfen ließ ihn aufschrecken. Er war mit offenen Augen weggedriftet gewesen.
"Ich komme rein, ja? Habe das warme Wasser dabei. In Ordnung, Wilhelm?"
Er nickte, ehe er sich darauf besann, dass sie ihn so nicht hören konnte.
"Ja, alles gut. Komm rein!"
Sie öffnete die Tür, den schweren Kessel am Henkel mit sich führend. Und stockte kurz, als sie ihn seifig eingeschäumt aber nichtsdestotrotz nackt im Bottich sitzen sah. Soweit sie das denn sehen konnte, trotz des hohen Wannenrandes. Ihr Herzschlag beschleunigte und ihr Gesicht wurde hochrot. Sie schlug ihren Blick nieder.
"Ich, also, das Wasser, wo soll ich das, beziehungsweise wenn du möchtest, ich könnte es dir hier bereitstellen oder, aber nur, wenn du willst, vielleicht wäre es besser, ein Wenig davon gleich in die Wanne, obwohl du... du... ich... nichts ausmachen würde..."
Er grinste matt.
"Danke! Stelle es einfach hier neben den Krug, ich kümmere mich darum."
"Gut, gut, ja, also... und deine Sachen liegen nebenan auf deinem Bett, die Sachen zum Anziehen... Oder soll ich sie herbringen?"
"Alles gut, Senray. Ich gehe nach nebenan, um mich anzuziehen."
Kurz darauf war sie wieder unten und er konnte sie in der Küche rumoren hören.
Das Anziehen dauerte ewig. Seine Gedanken drifteten immer wieder fort. Er ertappte sich dabei, wie er vornüber gebeugt auf der Bettkante saß, ein Bein an den Körper gezogen und die Socke halb über den dazugehörigen Fuß gestülpt, völlig in das Strickmuster versunken. Er schüttelte den Kopf, versuchte die Benommenheit loszuwerden, schaffte es aber einfach nicht. Seine Hände zogen träge an der Socke.
Als er die Küche betrat, stand Senray ratlos mit zwei Broten zum Mitnehmen vor der Anrichte, in jeder Hand eines, und er konnte ihrem Anblick im Profil entnehmen, dass sie verwirrt oder verunsichert war.
"Was ist es, kleines Vogelherz?"
Sie schrak auf, drehte sich zu ihm um... und beruhigte sich sofort wieder, mit einem verlegenen Lächeln.
"Tut mir leid, Senray, ich wollte mich nicht anschleichen. Was stimmt nicht?" Er nickte zu den Broten in ihren Händen hin.
"Oh... ich... das ist so dumm von mir. Ich hatte gedacht, dass ich alles für uns vorbereite und... du... also, dann ist mir eben erst aufgefallen, dass du ja keine Brote zum Mitnehmen benötigst..." Sie errötete zauberhaft und sah ihn schüchtern an.
"Das ist kein Problem. Pack sie trotzdem ein, hm? Du kannst ja für zwei essen." Er versuchte sich an einem Zwinkern aber irgendwie schien der Scherz nicht gut anzukommen. Schnell entschuldigte er sich wieder. "War nicht so gemeint. Guter Hunger ist nichts Schlimmes, weißt du? Und... ich mach es schlimmer, oder?"
Sie lachte kurz, schüttelte dann aber eher mitfühlend den Kopf.
"Darum geht es doch gar nicht. Als wenn ich abstreiten würde, dir die Haare vom Kopf zu futtern, wenn du mir die Gelegenheit dazu ließest..." Sie wickelte das vorbereitete Essen in Wachstücher und schnürte diese Päckchen dann zu. Sie barg sie tief in einem Rucksack, der schon prall gefüllt aussah und eher einem Reisesack mit Tragegurt glich. Dabei blickte sie verschüchtert zu ihm. "Kennst du ein... Geschäft... irgendeinen... Imbiss oder so... in dem wir schnell noch etwas für dich zum Mitnehmen besorgen könnten?"
Er setzte sich nickend auf einen der beiden Küchenstühle und beobachtete sie beim Packen.
"Ja, das sollte machbar sein. Sag, wo bringst du uns hin, kleines Vogelherz? Dann könnte ich dir genauer sagen, welche Möglichkeiten für einen Zwischenstopp sich uns bieten werden."
Ihr Herzschlag wurde etwas kräftiger und sie konzentrierte sich darauf, den Rucksack fest zu verzurren und zwei seiner schlichtesten Umhänge zur Hand zu nehmen.
"Das möchtest du nicht wissen. Glaube mir! Es genügt, wenn ich es weiß. Aber es wird dort sicher sein. Vertraue mir! Und jetzt zieh dir bitte deine Schuhe an!" Sie trat dicht an ihn heran und legte ihm den längeren der Umhänge um die Schultern. Die Umhangkapuzen verbargen ihre Gesichter zum größten Teil und waren bei den noch immer relativ kühlen Temperaturen zum Abend hin ein völlig vertrauter Anblick auf den lebhaften Straßen.
Sie verließen das Haus, durch das totenstille Erdgeschoss. Mit Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass seine Angestellten bereits gegangen waren und das Geschäft mit einem Aushang in der Tür darüber informierte, aus dringlichem geschäftlichem Anlass für die nächsten zwei Tage geschlossen zu haben. Sie traten auf die Straße hinaus und er sperrte die Tür zweifach ab.
Der Trubel in den Gassen schluckte sie. Zwei unbekannte Reisende in der großen, gleichgültigen Stadt. Wilhelm versuchte, sich dicht an sie zu halten. Doch obwohl seine Beine länger waren, als die ihren, war sie es, die zielstrebig voran ging. Mehrmals verbot er es sich, danach zu fragen, wohin sie gingen. Nur, als sie an einem der Schnellimbisse für Untotenbedürfnisse vorbeikamen, hielten sie kurz an. Senray ging hastig auf seinen Hinweis ein und drängte ihn dann nahezu, sich nur ja zu versorgen, mit allem, was er bräuchte. Gleichzeitig mied sie jedoch spürbar die Nähe des Standes und blickte hastig in eine andere Richtung, als er seinen Becher entgegen nahm und diesen schnell an Ort und Stelle austrank. Er bat nicht einmal um einen Deckel für den Transport. Das wollte er ihr nicht zumuten. Und besser wurde das abgestandene Blut solcher Stände schließlich auch nicht, wenn man es mit sich herumtrug und aufhob. Das schlechte Gewissen versetzte ihm einen Stich, bei dem Gedanken an Raculs Worte, die fragwürdige Freiwilligkeit der Spender betreffend und sofort lag ihm das Blut schwer wie ein Klumpen im Magen, als wenn es mit einem Wimpernschlag geronnen wäre. Kein Vergleich zu Rogis Gaben... und keinesfalls erfrischend.
Sie liefen lange. Aber vielleicht fühlte es sich auch nur so an, dermaßen ausgezehrt, wie er war? Senray war flink zu Fuß unterwegs, er selber hingegen tat sich schwer damit, ihr Tempo durchzustehen. Immer wieder musste sie sich nach ihm umsehen, bis sie irgendwann wortlos dazu überging, ihn bei der Hand zu nehmen und hinter sich her zu ziehen. Dabei trug sie sowieso schon die ganze Last ihrer beider Habseligkeiten! Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, den schweren Rucksack auf ihren zerbrechlichen, schmalen Rücken zu schultern. Er fühlte sich so nutzlos. Und als sie irgendwann ihm zuliebe sogar vorschlug, dass er sich doch wandeln könne, um sich auch noch als Fledermaus von ihr tragen zu lassen, da hatte er betroffen zusammengezuckt und kurz ihre Hand losgelassen. Nein, das wollte er nicht. Er wollte nicht zur Last fallen! Er würde laufen und er würde seine Sinne beisammen halten, um sie beschützen zu können, falls sie auf der Flucht erkannt und angegriffen würden, auch wenn es noch nicht spät genug dafür schien. Aber er traute dem Alten viel zu.
Wilhelm musste ständig die schleichende Erschöpfung zurückdrängen. Sein Blick senkte sich andauernd von selbst zu Boden, so dass er kaum mitbekam, in welche Richtung sie sich bewegten. Dann standen sie vor einer Kneipe. Einer Zwergenkneipe. Und Senray ging einfach hinein und zog ihn mit sich.
Die Tür fiel schwer hinter ihnen zu und seine Sicht stellte sich auf schummrigeres Licht ein. Es roch nach Fisch, Brot und Bier. Und die wenigen Gäste waren wirklich Zwerge. Welche nun schweigend von ihren Humpen aufsahen und die verschatteten Neuankömmlinge kritisch musterten.
Senray lächelte ihn kurz an und ließ seine Hand los, um ihre Kapuze zurückzustreichen. Er folgte ihr mit größer werdendem Abstand. Sie fügte sich mit bemerkenswerter Leichtigkeit in die Umgebung ein, er hingegen sah sich fast schüchtern um.
Senray wandte sich der Zwergin hinter der Theke zu, einer jener Vertreterinnen ihrer Art, die selbst für Außenstehende an dezenten Hinweisen erkennbar waren. Geflochtene dunkle Zöpfe, eine vergleichsweise figurbetonte Schnürschürze, eine dekorative Miniaxt-Kette... und eine besonders herzliche Begrüßung der Wächterin. Das Vogelherz und die Zwergin wechselten einige schnelle Worte in einem harten Sprachrhythmus und strahlten sich dabei an.
Senray konnte Zwergisch?
Langsam zog auch er seine Kapuze zurück und nickte der Bardame, als deren Blick ihn streifte, zurückhaltend zu.
Das Gespräch der Frauen schien ernsthafterer Natur zu werden, denn sie wechselten schnelle Fragen und Antworten, nunmehr ohne zu lächeln, bei denen ihn immer wieder kurze Blicke trafen. Er sah zu Boden. Das war einfacher. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal seine Schuhe geputzt? Sie sahen staubig aus, mit Schlammspritzern überzogen. Und mit solchem Schuhwerk trat er als Bittsteller in ein zwergisches Heim ein? Jeder wusste, dass Zwerge es mit Ordnung und blank polierten Dingen genau nahmen!
Er schloss resigniert die Augen und seufzte tonlos. Wie tief war er gesunken! Er schwankte leicht vor Erschöpfung, gerade, als er seinen Namen aus Senrays Mund hörte, umrahmt von den harten Schnörkeln zwergischer Ausführungen. Er öffnete die Augen und blickte zu ihr und sie wandte sich ihm mit einem warmen Lächeln zu. Die Bardame nickte und bat sie weiter in die Örtlichkeit hinein, tiefer in die hinteren Räume. Sie folgten ihr und Senray wechselte kurz ins Ankh-Morporkische.
"Tut mir leid, dass ich dich dabei gerade etwas außen vor gelassen habe. Aber jetzt wird alles gut. Wir können hier über Nacht bleiben. Und sind in Sicherheit."
Er nickte verhalten und sah sich um, auf dem Weg durch den Flur. Die Zwergin gelangte zu einem Separee rechterhand, zu dem sie ihnen bereits die Tür öffnete. Da trat ein massiv wirkender Zwerg mit dunkler Mähne und ebenso dunklem Bart aus der Küche heraus. Er trug ein leichtes Kettenhemd, dafür aber darüber eine schwere Lederschürze in leichter Übergröße. Er roch intensiv, als wenn er bis eben Fische ausgenommen und geräuchert hätte. Und vielleicht war das gar nicht so abwegig.
"Senray!" Auch diese Begrüßung kam von Herzen. So, wie man ein Familienmitglied oder einen lieben Freund empfing. Ein Eindruck, der auf der Stelle erstarb, als der Blick dieses Zwerges auf ihn fiel. "Was macht so einer hier? Der hat hier drinnen nichts verloren. Senray! Du kennst die Regeln." Die Augen des Zwerges bohrten sich voller Misstrauen und Verachtung in Wilhelms und er wich dem Blick automatisch aus, unter dessen Eindruck er sich wie ehrloser Dreck vorkam, dem man nicht vertrauen durfte. Dem man den Ausgang nahe legte, um ihn loszuwerden. Die Erkenntnis, diesmal nicht einmal geduldet zu werden, entzog ihm den Boden unter den Füßen. Sie nahm ihm den inneren Halt, den er gerade erst nach der Panik der letzten Stunden in Senrays Gegenwart wieder gefunden geglaubt hatte. Er musste schwer schlucken und ahnte, in den nächsten Sekunden mit Schwung auf das Kopfsteinpflaster draußen hinaus zu stolpern.
Die Zwergin trat von der Tür des Rückzugsraumes weg und auf den angriffslustigen Gesellen zu. Sie wollte diesen offensichtlich beschwichtigen, doch ihre Worte änderten nichts an dem mutwilligen Blick des Küchenzwergs. Die Diskussion wurde hitziger. Irgendwann mischte Senray sich mit gerunzelter Stirn ein und alle drei debattierten lautstark in der Mitte des engen Flures.
Wilhelm war unsicher, verwirrt und in Gedanken nur einen winzigen Schritt von der Angst vor dem Tausendjährigen entfernt. Sorge nagte an ihm vor den Stunden der bevorstehenden Nacht, von denen er beim besten Willen nicht wusste, wie er sie überstehen, ja, noch viel wichtiger, wie er sein Vogelherz schützen sollte! Aber er war nicht blind oder ignorant. Es war klar zu erkennen, dass er hier nicht willkommen war.
Senray schon.
Wenn das bedeutete, dass sie hier Schutz finden konnte für die Nacht, Schutz, den er ihr nicht zu schenken vermochte, dann wäre er von Herzen gerne dazu bereit einzugestehen, dass sich hier und jetzt ihre Wege trennen mussten. Vorerst. Er hatte einfach keine Kraft mehr, um zu debattieren und zu kämpfen. Alles war besser, als Senray mit ins Ungewisse zu nehmen und der Gefahr auszusetzen, die er darstellen musste. So sehr, wie Racul ihn zu hassen entschieden hatte.
Mitten in einer flüssig vorgetragenen, sehr emotionalen Tirade, brach Senray mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Aussage ab. Sie biss die Zähne zusammen und holte zischend Luft, die Augen fest geschlossen.
Das war es! Keine Minute länger! Er durfte nicht daran Schuld sein, dass sie den Zorn des Dämons auf sich zog, zusätzlich zu all dem anderen, nur um ihn zu verteidigen und Dinge zu erklären.
Wilhelm trat schnell näher und fasste sie vorsichtig am Arm, während er leise auf sie einredete.
"Sen, nicht! Lass es gut sein, bitte! Ich habe verstanden. Ich möchte mich nicht aufdrängen. Es ist gut so. Bitte, nimm die Gastfreundschaft deiner Freunde an. Ich suche mir etwas anderes. Lass es uns nicht unnötig in die Länge ziehen, besser, ich nutze jede verbleibende Minute, um etwas für mich Passendes zu finden." Er zog seine Hand von ihrem Arm fort und wich zurück, um zu gehen. Allein, der Gedanke, sich von ihr zu trennen und sich trotz der lauernden Erschöpfung selbst etwas Neues suchen zu müssen, fühlte sich unüberwindbar an. Aber wenn es nicht anders ginge... vielleicht war es ohnehin besser so? Falls Racul ihn suchen und finden würde, sollte Senray keinesfalls in seiner Nähe sein. Überhaupt! Vielleicht sollte er gleich alle anderen Menschen um sich herum schützen und Senray nur in dem Glauben lassen, sich eine andere Unterkunft zu suchen? Was, wenn er die Nacht über in Bewegung bliebe und einfach immer weiter aus der Stadt hinaus liefe? Damit würde er die Gefahr für das Leben um ihn her minimieren, oder?
Senray drehte sich bestürzt zu ihm um und packte seine Hand.
"Was? Nein! Wilhelm nein, das kommt nicht in Frage, ich... warte!"
Sie drehte sich dem finster dreinblickenden Zwerg zu, ergriff Wilhelms Hand in der ihren noch fester und ballte ihre andere zu einer entschlossenen Faust.
Wilhelm betrachtete ihrer beider Hände. Wie sie so nachdrücklich die seine umfasst hielt. Der Anblick ließ ihn ergeben lächeln. Diese zarten kleinen Hände hielten sein Herz so fest umschlossen!
Sie fluchte laut und schleuderte dem Koch etwas mit enormer Vehemenz und großer Emotionalität auf Zwergisch entgegen.
Einen Moment war es still im Flur und der Zwerg und Senray starrten einander reglos an. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Der Blick, der Wilhelm traf, war mörderisch. Dann fluchte der Mann mit der Axt - Wann hatte er diese gezogen gehabt? - und schleuderte seine Waffe vor Wut in einen nahen Balken. Er ließ sie dort stecken, machte wortlos auf dem Absatz kehrt und stapfte erbost in die Küche, in der er verschwand.
Senray atmete mehrmals tief durch und straffte die Schultern.
Die Zwergin wandte sich auf Ankh-Morporkisch direkt an Wilhelm.
"Es tut mir leid. Bitte nimm es nicht so ernst. Er hat viel Temperament. Und er meint es nur gut." Sie deutete auf den offen stehenden Raum und entschuldigte sich auch bei Senray. "Du bist ihm halt wichtig, das weißt du, nicht? Er kriegt sich wieder ein. Du kennst ja den Weg. Ich kümmere mich um etwas zu Trinken für euch. Richtet es euch so bequem wie möglich ein!"
Senray atmete erleichtert auf. Sie zog ihn mit sich in das kleine Hinterzimmer. Dort wandte sie sich ihm zu.
"Wilhelm, so hätte es nicht laufen sollen. Es tut mir sehr leid. Aber jetzt ist alles geklärt und es wird nichts mehr dazwischen kommen. Es ist ein gutes Versteck. Du kannst dich hinsetzen und etwas zur Ruhe kommen, in Ordnung?"
Senray drückte sanft auf seine Schultern, woraufhin er sich auf eine der Bänke an den Tisch fallen ließ. Gerade, als sie den schweren Rucksack abgesetzt hatte und die Tür von innen schließen wollte, setzte vorne im Schankraum Tumult ein. Eine laute, feste Stimme verkündete etwas auf Zwergisch und als klar und deutlich die Worte "Wilhelm Schneider" fielen, zuckte er zusammen. Sein Blick flog ängstlich zu Senray, die ebenfalls inne gehalten hatte, um zu lauschen, ihn nun aber mit leuchtenden Augen anstrahlte.
Ein Schauer durchfuhr ihn und ließ seinen ganzen Körper prickeln. Er sah sie mit großen Augen an.
"Sie... sie hat mich formal eingeladen... ins Haus gebeten?"
Senray grinste und nickte.
Ein fast schon kriegerisches Rufen setzte ein und dann gab es einiges an Scharren und schwerem Rücken, laute Stimmen und das Pochen aneinander gestoßener Krüge.
Wilhelm sah sie fragend an. Und Senray schien regelrecht vor Stolz zu glühen.
"Wir sind absolut sicher heute Nacht. Sie haben eine Wacht eingerichtet."
Sie schloss die Tür beinahe sanft und trat wieder näher, um einige der Sachen aus dem Rucksack auszuräumen. Der kleine Raum verwandelte sich schnurstracks in eine überraschend heimelige Notunterkunft. Die Brotpäckchen landeten auf dem Tisch, ihre Umhänge zu Kissen zusammengerollt auf der Bank.
Sein Blick wanderte sehnsüchtig zu den verlockend aussehenden Stoffballen. Aber das kam nicht in Frage. Er musste konzentriert bleiben. Für den Fall, dass Racul sie finden würde, jetzt oder in einigen Stunden. Er musste seine Gedanken beieinander und sein Bewusstsein aufnahmefähig halten. Ein Gespräch könnte helfen. Zumindest war das anzunehmen.
"Kleines Vogelherz, ich wusste gar nicht, dass du Zwergisch sprichst! Wie kommt das?"
Die Freundin unterbrach das Umräumen der Tasche, drehte sich zu ihm um und wirkte einen Moment irritiert. Als wenn seine Frage abwegig gewesen wäre und sie erst überlegen müsse, was er meine. Dann lächelte sie scheu.
"Lange Geschichte!"
Er versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln und breitete leicht seine Hände aus, in dem Bemühen, den Raum und die Situation damit einzufangen.
"Es scheint mir so, als wenn wir auch eine lange Nacht vor uns haben."
Senray hielt inne und sah ihn nachsichtig an. Nach kurzem Zögern setzte sie sich über Eck mit an den Tisch zu ihm. Sie beugte sich vor auf ihre aufgestützten Unterarme und war ihm dadurch unerwartet nahe. Sie duftete nach kaltem Wind, achatenem Essen und Papier, nach kräftigem Tee und nach... Geborgenheit. Ihre Augen nahmen ihn regelrecht gefangen und füllten schon bald seine Sicht aus, als sie zu erzählen begann.
"Eigentlich ist es ganz einfach. Ich meine natürlich, wie ich Zwergisch gelernt habe, nicht das Zwergisch selbst. Wobei es das für mich damals irgendwie auch war. Na ja. Aber von vorne... Also, ich denke, ich hatte dir schon mal davon erzählt, dass mein Vater Schuster war, nicht wahr? Wahrscheinlich sogar der beste in den ganzen Spitzhornbergen!" Sie konnte ein stolzes Funkeln in den Augen bei diesen Worten nicht unterdrücken. "Auf jeden Fall gut genug, dass er oft mit den Zwergen gehandelt hat. Und, na ja..." Als sie weiter erzählte, wich sie seinem Blick immer wieder zurückhaltend aus, wie ein Reh auf freier Lichtung. Ihre Mimik schwankte, zwischen einem sanften Leuchten und den Schatten von Traurigkeit. Falls er es richtig deutete. Aber da war er sich nicht sicher. Zumindest schien es ein ambivalentes Thema zu sein, woran auch immer das liegen mochte. Er liebte ihre Stimme, lauschte mit aller Aufmerksamkeit, die er aufbringen konnte. Aber er ahnte zugleich, dass ihm ausgerechnet heute viel entging. Es war ihm nicht möglich, zwischen ihren Zeilen zu lesen und ihren Blick auszuloten. "Ich habe ihn furchtbar gerne begleitet, wann immer das ging. Und darüber bin ich an die Sprache geraten. Es war schön, sie zu lernen. Ich erinnere mich immer noch daran, wie er..." Wilhelm beobachtete sie beim Erzählen, sah ihre kleinen Gesten und das immer wieder kurz aufscheinende erinnerte Glück in ihrem Gesicht, als sie über ihren Vater sprach. Bevor sich etwas anderes mit ebensolcher Regelmäßigkeit wieder darüber zu legen schien. Etwas Dunkleres? Er konnte es partout nicht zuordnen. Sein Blick trübte sich immer mehr, während er ihr andächtig lauschte. Und irgendwann gerieten seine Gedanken ins Stocken. Er sah sie noch immer reden, auch wenn ihm die Augen für einige Momente zufielen. In steter Häufigkeit. Aber da war ihr scheues Lächeln. Er spürte die Wärme, die sie sowohl körperlich, als auch emotional ausstrahlte, mit der sie ihn umfing. Doch er verstand längst nicht mehr, was sie ihm sagte.
Ein lautes Krachen ließ ihn zusammenzucken und mit einem Schlag ins Hier und Jetzt zurückkommen. Er blinzelte und sah zuerst einen großen Metalltopf vor sich auf der abgenutzten Tischplatte stehen, bis zum Rand gefüllt mit Kartoffeln. Ein Schälmesser kullerte dicht vor ihn bis an die Tischkante. Er blickte verständnislos auf, direkt einem Zwerg auf Augenhöhe ins Gesicht.
"Mach dich nützlich, Vampir!"
"Glam!" Senrays Ausruf klang empört. Doch der Zwerg beachtete sie überhaupt nicht, sondern starrte Wilhelm nur reglos unter finster zusammengezogenen Augenbrauen an.
"Nur weil Bror dich rein gelassen hat und Senray und sie uns dazu zwingen, deine Anwesenheit hier zu schlucken, heißt das noch lange nicht, dass Bo und ich genauso blauäugig an die Sache ran gehen, wie sie. Es gibt einige bei uns, die nicht ganz glücklich mit der Wahl unserer Kleinen sind. Wir behalten dich im Auge, Blutsauger. Und wehe, du nimmst dir zu viel raus!"
Wilhelm nickte langsam und griff, wie schon einige Stunden zuvor Nyria gegenüber, nach Senrays Hand, um sie zu besänftigen. Sein Blick jedoch blieb auf diesen neuen Zwerg gerichtet. Er hatte enorme Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Aber die Situation war schlicht genug - und deutlich genug artikuliert worden - um sie selbst in diesem Zustand zu begreifen.
"Ich soll Kartoffeln schälen, damit ich sinnvoll beschäftigt bin und niemanden bedrohe. Und damit ich mir den Platz in eurem Schutz verdiene. Ist gut. Kein Problem..." Und nach einigen Sekunden des anhaltenden Starrens des Zwerges fügte er vorsichtshalber hinzu: "Trotzdem danke... für die Zuflucht in diesem Haus und eure Duldung!"
Der Zwerg mahlte sichtlich mit den Zähnen und ließ seinen Unterkiefer knirschen. Ohne ein weiteres Wort drehte er ab und verließ den Raum mit einem lauten Schließen der Tür.
Senray seufzte.
"Er meint das bestimmt nicht ganz so schlimm, wie es wirkt. Sonst ist er ganz anders. Und die anderen auch. Glaub' mir! Er... sie alle stehen unter Anspannung. Sie sorgen sich um mich..."
Wilhelm nickte und ließ ihre Hand los. Er griff nach dem Schälmesser und nach der ersten Kartoffel.
"Schon gut, Senray. Das ist nicht zu viel verlangt. Was ist schon ein wenig Hilfe für die Küche, im Gegenzug dafür, dass sie ihr Leben in die Waagschale werfen, um neben dir einen Unbekannten zu beschützen, hm? Ich kann das verstehen."
"Wilhelm, lass mich das machen!"
Sie wollte nach dem Messer greifen, doch er zog es vorsichtig aus ihrer Reichweite und grinste sie herausfordernd an.
"Traust du mir nicht einmal mehr zu, dass ich mit einem Messer umgehen kann? Ich meine... ich bin kein Assassine... aber mit ein paar Kartoffeln werde ich wohl noch fertig werden, oder? Deren Gegenwehr ist nicht so fürchterlich."
Senray zögerte und betrachtete ihn erst kritisch, ehe sie nachgab. Sie zog spöttisch die Brauen hoch.
"Sei dir da mal nicht so sicher. Ich habe schon von gruseligen Geschichten über Kartoffelaufläufe gehört."
Er entspannte sich etwas und sah betont erschrocken auf den Topf und dessen Inhalt.
"Dann umso mehr. So eine Gefahr sollte im Keim erstickt werden!" Sie lachte leise und ließ ihn gewähren. Nach den ersten routinierten Bewegungen beim Schälen blickte er zu ihr auf und fand sich beobachtet. "Hm?"
Sie winkte leicht ab. "Ach, nichts."
Er konzentrierte sich auf seine viel zu langsamen Bemühungen und versuchte, den Anschluss an das vorige Gespräch herzustellen, als wenn nichts gewesen wäre.
"Erzähl bitte weiter! Ich höre dir gerne zu. Was hattest du als letztes gesagt?"
Sie schien etwas abzuwägen. Verwarf den Gedanken aber wohl wieder, denn sie setzte irgendwo mitten in der vorigen Erzählung an und ließ ihre Kindheit vor seinen Augen entstehen. Ein Dorf in den Bergen, Wälder... es brauchte nicht viel, um zu verstehen, dass Senrays Herz an ihrem Vater gehangen hatte, dem sie gefolgt war, wann immer er ihr das gestattete. Aber es hätte mehr seiner Aufmerksamkeit benötigt, um wirklich zu verstehen. Das zumindest merkte er. Da waren Gefühlsschwankungen, die sie während des Erzählens ausstrahlte. Und diesen stand er ziemlich hilflos gegenüber. Und manchmal wurden ihre Augen fast schon traurig, nicht wahr? Oder bildete er sich das nur ein? Aber das konnte nicht sein... Wenn er nur imstande gewesen wäre, den Bildern eine Bedeutung zuzuordnen!
Während dessen glitt das Messer in seinen Händen über die Kartoffeln und er schälte bedächtig eine nach der anderen. Er starrte die geringelten Schalen an, wie sie sich von ihm fortschlängelten. Senrays Stimme begleitete seine Gedanken in melodischem Auf und Ab. Ihr Herzschlag wurde ruhiger, gab den Rhythmus vor, in dem dieser Raum warm um ihn pulsierte.
"...und natürlich war das eine völlig falsche Übersetzung. Aber sie hat nur gelacht und das war sehr nett von ihr..."
Er setzte die Hand mit dem Messer auf der Tischplatte auf und starrte benommen auf die raue Kartoffel in seiner anderen Hand. Fühlte die Struktur ihrer Oberfläche an seinen Fingerspitzen.
Ein kräftiger Herzschlag betrat den Raum und die Zwergin und Senray redeten leise auf Zwergisch miteinander. Es duftete plötzlich würzig nach Eintopf und frischem Brot. Die Stimmen schienen leiser zu werden. Er ließ seinen vertunnelten Blick mühsam beiseite wandern und sah einen kleinen Brotkorb, abgedeckt mit einem blütenweißen Tuch. Die Sicht schwand immer häufiger, während er gegen die Benommenheit anblinzelte.
Kurz erschrak er, als Senrays Hand ihn berührte und ihm das Schälmesser fortnahm.
Die Augen fielen ihm zu.
Die Stimmen traten in den Hintergrund.
Ich habe zu lange gewartet... Der Gedanke hätte neuerliche Panik auslösen sollen, denn er bedeutete nichts anderes, als dass er sein Vogelherz gleich im Stich lassen würde. ...keine Sicherheit mehr... Aber selbst dieser Gedanke wurde ausgelöscht von der Macht, mit der jener Teil seines Wesens nach ihm verlangte, welcher nicht in den erwachten Zustand hinauf gerissen worden war, sondern der noch immer in der Regeneration driftete. Kein weiteres Hinauszögern! Er kämpfte mit einem letzten Impuls dagegen an, wollte die Notwendigkeit verleugnen. Er stemmte sich gegen den inneren Sog und förderte seine Reserven zu Tage. Aber alles, was das brachte, war eine spontane Wandlung.
Er spürte sich fallen, spürte die Tischplatte unter sich, als er mit den Lederschwingen auftraf.
Dann schlossen seine Augen sich endgültig und er sank in die innere Dunkelheit zurück, unaufhaltsam, wie ein Stein in schlammiges Gewässer. Jenem Vergessen entgegen, aus dem er sich nur Stunden zuvor mühsam herausgekämpft hatte.

TAG 41

Die Welt war freundlich zu Wilhelm. Milchig sanft erhellt, weich, warm und nach Kräutertee duftend, gebettet im Pulsieren von Senrays Herzschlag. Und er fühlte sich etwas besser, was inzwischen völlig ungewohnt war.
Alles in allem also Grund zur Sorge. Eine Falle? Nach den letzten Torturen in Raculs manipulativen Fängen war das der wahrscheinlichste Gedanke. Zumal... Racul!
Panisch riss Wilhelm die Augen auf.
Rot! Alles was er sah war blutrot!
Er setzte sich in einem Schwung auf und blickte sich gehetzt um, tastete bereits nach den kalten Ausläufern des Alten in seinem Geist, ehe er auch nur registriert hatte, in seiner humanoiden Form erwacht zu sein. Dann erst nahm er die Umgebung wahr. Senrays Büro im Boucherie. Er saß auf dem Bett. Das allumfassende rot dieses Mikrokosmos', das ihn begrüßt hatte, war der grundlegende Farbton der hiesigen Inneneinrichtung, allem voran der Baldachin über ihrem Himmelbett, mit den umlaufenden Vorhängen. Sie hatte bis eben am Schreibtisch gesessen und sich deutlich erschöpft über die Tischplatte gebeugt. Jetzt drehte sie sich ihm zu.
"Wie gut! Ich hatte mir schon ernsthafte Sorgen gemacht. Wie geht es dir?"
Sie stand auf und kam herüber, setzte sich ihm zugewandt auf die Bettkante.
Er blickte zum Fenster, durch welches helles Tageslicht hereinfiel.
"Wir haben es überstanden, ohne dass er uns gefunden hat?"
Sie lächelte matt und nickte.
Wilhelm blickte sich irritiert um.
"Warum... wie kommen wir hierher? Wir waren doch bis eben... haben uns die Zwerge doch nicht dort gelassen? Musstest du... ich habe mich gewandelt und du hast mich getragen, oder?"
Senrays Lächeln vertiefte sich.
"Ja, habe ich. Alles ist gut, Wilhelm. Du hast offenbar länger gebraucht, um wieder zu dir zu kommen, als ich es erwartet hätte. Wir waren die ganze Nacht bei Bror. Und es gab keinen Zwischenfall. Aber ich musste heute früh ja auch wieder in mein Büro, damit kein Verdacht aufkommt. Und da konnte ich dich natürlich nicht dort lassen. Selbst wenn das gegangen wäre, ich hätte nicht... oder jedenfalls, das hätte niemand von mir erwarten können, dich dort zu lassen..."
Er räusperte sich verlegen. Seine Kehle fühlte sich ganz trocken an.
"Es tut mir leid, dass ich nicht durchgehalten habe! Ich wollte wirklich an deiner Seite wachen! Und nun hast stattdessen du über mich gewacht. All die Sorgen... es tut mir leid! Ich mache das irgendwie wieder gut, ganz bestimmt, in Ordnung, Senray? Ich nehme es mir fest vor!"
"Du brauchst dich nicht entschuldigen. Ich hab das gerne gemacht. Wann auch immer du meine Hilfe brauchst, wobei auch immer! Das war kein leeres Versprechen, weißt du?"
Er nickte zögerlich.
"Danke!"
"Sehr gerne, Wilhelm!"
Sie blickten einander an und er konnte spüren, wie er dabei immer mehr in ihren Augen zu versinken begann. Er riss sich zusammen, atmete einen tiefen, erleichterten Atemzug ein und strich sich das Haar mit einer Hand zurück, während er etwas verlegen beiseite sah.
Was sie mit einem Grinsen kommentierte. Ihre Hand strich mit kleinen Bewegungen die Falten aus der Zudecke.
"Was die Rückmeldung an den Kommandeur angeht..." Er schrak automatisch zusammen und sah sie aufmerksam an. "Ich habe ihm von uns beiden eine Taube geschickt. Das ist also auch erledigt. Die anderen haben die Nacht übrigens auch gut überstanden, wie aus einer Antwort hervorging."
Er merkte erst in diesem Moment, unter welch großer Anspannung er noch immer gestanden haben musste, als er sich bei ihren Worten erleichtert in die Kissen zurückfallen ließ und einfach nur tief durchatmete. Ein Knoten schien sich in seiner Brust zu lösen. Oder ein Gewicht von seinem Brustkorb herab gehoben zu werden.
Senray beobachtete ihn noch immer und er grinste sie aus den Kissen heraus an. Ihre Mundwinkel hoben sich ebenfalls. Allerdings wirkte sie unsagbar müde. Wenn er seine Sinne auf sie konzentrierte, dann war da sogar mehr, als nur Müdigkeit. Ihr Kreislauf lief schleppend und angestrengt, es umgab sie Langsamkeit der Gedanken, wie eine Wolke aus Sirup. Ihr Herzschlag war besänftigend, weil ungewohnt verzögert. Aber dafür waren die einzelnen Schläge schwer und angestrengt. Schnell setzte er sich wieder auf und griff nach ihren Schultern, um sie zu stützen.
"Senray! Du musst dich hinlegen! Du bist vollkommen übermüdet! Du warst die ganze Nacht ohne Pause auf, richtig? Und jetzt auch! Und... wann hast du dich überhaupt das letzte Mal hingelegt?!"
Sie zögerte mit einer Antwort, ehe sie ihm mit einem lakonischen Lächeln eingestand, was er längst ahnte.
"Ist schon eine Weile her." Ihr Blick wanderte zu dem Papierkram auf dem Schreibtisch. "Ehrlich gesagt freue ich mich auch schon darauf, endlich mal wieder zu schlafen. Einfach nur hinlegen und ausruhen. Du musst dir also nicht befürchten, dass ich die Chance dazu unnötig hinausschieben würde, in Ordnung? Ich muss nur noch für diese Schicht den Schein wahren und die paar Berichte dort durchsehen. Das schaffe ich jetzt auch noch. Glücklicherweise steht kein Ausseneinsatz an. Nur ein paar Sachen sichten. Lesen und abhaken. Machbar."
Wilhelm hätte am liebsten widersprochen. Aber er kannte sie inzwischen gut genug, um es besser zu wissen. Ihr Pflichtbewusstsein war etwas, das sie auszeichnete und von dem er nicht sicher war, ob irgendwer im Gefüge der Wache, es jemals in angemessener Weise würdigen würde. Sie war so tapfer!
Voller Zuneigung strich er ihr mit dem Handrücken sacht über die Wange.
Senray blinzelte kurz überrascht, ehe sie errötete und sich fast beschämt mit dem Gesicht an seine Hand schmiegte.
Er lachte leise und zog die Hand vorsichtig an sich zurück, ehe er dem Wunsch verfallen mochte, ihr liebevoll die Frisur zu zerzausen.
"Ich werde dir nicht widersprechen. Nur darauf hoffen, dass du dir nicht zu viel zumutest. Dass du dir keine zusätzlichen Aufgaben aufbürden lässt."
Sie nickte nur. Dann schien ihr etwas einzufallen.
"Es kam noch eine Nachricht. Eine Einladung. Für uns beide."
"Uns beide?"
"Ja. Es ist eine Abschlussparty geplant. Für den Rettungszirkel. Zur Feier des Tages. Um den Umstand zu würdigen, dass der alte Vampir ins Exil verbannt wurde und wir alle endlich von ihm befreit sind und unsere Ruhe haben. Ist als private Feier angekündigt, nur für die, die dabei waren. Und findet bei Rach und Jules statt, in deren Wohnung. Mit dem Kommandeur ist wohl nicht zu rechnen. Falls doch irgendwer Wind davon bekäme. Aber sonst, scheinen alle anderen aufzutauchen. Das Ganze soll gleich heute Abend stattfinden. Man braucht auch nichts mitbringen, nur hinkommen."
Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden Hände und streichelte diese. Selbst eine so ungewöhnlich nahe Berührung konnte ihrem Puls nur ein kaum wahrnehmbares Stolpern abverlangen, ehe jener in gleich bleibend schleppender Mühsal weitermachte. Wilhelm drückte sanft ihre Hand. Er brauchte ihre Antwort nicht wirklich zu hören, um diese zu wissen, als er sie zurückhaltend fragte:
"Du wirst nicht hingehen?"
"Richtig. Ich bin einfach zu müde. Ich muss mich hinlegen." Sie sah ihn mit warmem Lächeln an. "Aber ich vermute, dass es gut wäre, wenn du hingehen würdest, Wilhelm, hm?"
Seine Finger verschränkten sich mit den ihren und er spürte auf emotionaler Ebene, wie sehr sie ihm etwas Gutes wünschte. Wie sehr sie hoffte, dass er im Kreise der Anderen Geborgenheit und Zuspruch fände.
"Du denkst, dass es mir gut tun würde, mit den... Kollegen zu feiern?"
"Vielleicht, oder? Nimm es mir nicht übel, Wilhelm, aber ich bin so erschöpft. Ich wäre heute keine unterhaltsame Gesellschaft. Du hingegen hast jetzt ziemlich lange geschlafen. Geruht. Jedenfalls irgendwie... dich erholt. Wenn du bei mir bliebest... oder bei dir daheim... manchmal ist es gar nicht so verkehrt, mit Anderen zusammen zu sein. Erst recht, wenn es einen so guten Grund zum Feiern gibt. Es sei denn natürlich, du hättest dich trotzdem noch nicht ausreichend erholt, das kann ich jetzt nicht so genau einschätzen..." Ihr Blick musterte ihn besorgt.
"Nein, schon gut. Es geht mir schon viel besser, als gestern. Vielleicht hast du Recht. Du kennst mich eben sehr gut. Allein daheim, ausgerechnet heute, mit meinen Gedanken, die doch nur immer und immer wieder um den Alten kreisen würden..."
Senray nickte bedeutungsvoll.
Er betrachtete sie nachdenklich, ehe er schließlich zustimmte.
"Ist gut. Wenn du mir versprichst, dich einfach nur darauf zu konzentrieren, dich richtig schön zu erholen, dann gehe ich zu der Party."
Sie nickte schnell und lächelte ihn erleichtert an. Und ihr Lächeln fühlte sich für ihn an, als wenn es seinen ganzen Körper wärmen würde.

~

Die Zeit bis zum Abend war wie im Fluge verstrichen. Wilhelm hatte es gerade eben so geschafft, in seiner Wohnung nach dem Rechten zu sehen, Ezra und Hannah Nachrichten an deren Adressen zu schicken mit der Information, dass es vorbei sei und sie und ihre Familien wieder auftauchen könnten, sowie sich etwas frisch zu machen und umzuziehen. Dann war es bereits dunkel und er auf dem Weg zur Bleibe des Inspektors.
Der Gedanke war seltsam, Zutritt zu dessen privatem Domizil gewährt zu bekommen. Wo es schließlich kein Geheimnis war, wie wenig sie miteinander anfangen konnten. Sicher, er wusste inzwischen mehr über Rach. Und er gestand diesem sogar bis zu einem gewissen Grad zu, dass seine Abneigung gegen ihn begründet sein mochte. Aber letzten Endes hatten sich die vielen kleinen Reaktionen des Kollegens unwiderruflich in Wilhelms Erinnerungen eingegraben. Er würde niemals völlig ignorieren oder gar vergessen können, wie rücksichtslos Rach sich Rogi Feinstich gegenüber benommen hatte. Oder wie dessen Blick ungerührt auf ihn gerichtet war, als Rach ihn probeweise mit dem Gift bedachte, das später Racul zusetzen sollte. Es hieß schließlich nicht umsonst, dass sich erst in schwierigen Situationen offenbarte, was für ein Mann man war.
Seine Lippen pressten sich bei diesem Gedanken unwillkürlich fester aufeinander. Das galt umgekehrt für ihn selber natürlich ganz genauso, nicht wahr? Als was für eine Person hatte er sich in den letzten Wochen präsentiert? Musste er sich zu Recht Rücksichtslosigkeit vorwerfen lassen? Er versuchte, sich an die verstrichenen Tage und Nächte zu erinnern. Nein, er hatte niemandem wehgetan, weder körperlich, noch psychisch. Er müsste sich bei niemandem entschuldigen. Außer die kleine Anekdote, Senray gegenüber, bei der er versehentlich ihre Hand zu fest hielt. Aber das war... etwas anderes. Oder die Sache mit Rabbe. Aber das war schließlich auch keine Absicht gewesen, das war...
Wilhelm blieb unvermittelt mitten auf der nächtlichen Straße stehen.
Seine Erinnerungen spielten ihm einen steten Strom von Bildern ab, in denen er zwar keine Arroganz an den Tag gelegt hatte, wie es Rachs Art zu sein schien. Aber dafür Bilder, in denen er Schwäche gezeigt hatte. Schwäche in unterschiedlichster Form. Täglich demonstriert. So erbärmlich!
Konnte es sein, dass er auf gewisse Weise sogar schlimmer war, als Rach Flanellfuß? Jener handelte wenigstens nachdrücklich und seinen Überzeugungen entsprechend. Etwas, das von starkem Charakter bei einem Mann zeugte, oder? Er selber hingegen...
Wie konnte das Vogelherz nur irgendetwas Positives oder Liebenswertes an ihm finden? Er hatte unter Druck versagt und sein wahres Ich bloßgelegt. Eine bemitleidenswerte Ansammlung von Unzulänglichkeiten, mit denen sich niemand sonst länger aufhalten würde. Vermutlich war auch diese Einladung nur pro forma an ihn ergangen, weil...
Wilhelm trat auf dem Gehweg etwas beiseite, um einen Troll passieren zu lassen. Dabei legte er den Kopf in den Nacken, blickte über die verschatteten Dächer hinaus, hoch in den wolkenverhangenen, dunklen Himmel und atmete mehrmals tief durch.
"Genug! Das wäre das, was Racul wollen würde, nicht wahr? Dass ich mich selber verurteile und nur das Schlechte zu erkennen vermag? Sind das wirklich meine Gedanken, meine ganz eigenen? Aber so ist es nicht! Ich habe geholfen. Ich habe auch gute Seiten! Werde ich den Alten denn niemals wieder los? Seine Einflüsterungen und Böswilligkeiten? Ich habe lange durchgehalten und mein Bestes gegeben. Das ist eine 'Abschlussparty', zu der ich unterwegs bin und sie kann nur deswegen so heißen, weil wir alle zusammengearbeitet haben und die Sache zu einem guten Ende brachten. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen. Ich gehöre dazu... irgendwie jedenfalls."
Er straffte die Schultern und setzte den Weg fort. Auch, wenn die Unsicherheit weiter an ihm nagte. Wie gerne hätte er in diesem Moment Senray an seiner Seite gehabt!
Dann stand er vor dem Haus, in dem Ophelias Verlobter lebte.
Wilhelm lehnte sich leicht zurück und ließ seinen Blick an der Fassade empor wandern. Das hier war eindeutig gehobeneres Klientel. Eines jener Häuser, in denen man als Wächter im Dienst nur dann den Vordereingang benutzen durfte, wenn der Portier gerade verhindert war.
"Typisch!", murmelte der Vampir vor sich hin, während er das Treppenhaus betrat und in Richtung der oberen Stockwerke aufstieg. "Passt zu ihm. Der Kerl hätte es wahrlich nicht nötig, in der Wache zu spionieren."
Andererseits... was wusste er schon über dessen politische Verwicklungen? Für seine Lordschaft zu arbeiten konnte sicherlich Einiges abverlangen, wenn man nach dem Hörensagen ging. Und freiwillig war Flanellfuß nicht in seinem aktuellen Wirkbereich tätig, das war ziemlich offensichtlich gewesen.
Er erreichte den Treppenabsatz und das muntere Stimmengemisch hinter der Wohnungstür kündete davon, dass er nicht der erste Gast sein würde.
Wilhelm betätigte die Glocke.
Die Tür flog auf und Nyria strahlte ihn mit einem süßlich riechenden, alkoholischen Getränk in der Hand - inklusive buntem Papierschirmchen - an.
"Wilhelm! Na endlich! Komm rein!"
Sie winkte ihn ran und wandte sich bereits wieder dem kurzen Flur und somit dem Weg ins Wohnzimmer zu.
Er wollte ihr folgen. Doch sein Fuß verharrte über der Türschwelle.
"Echt jetzt? Nicht wirklich, oder?"
Er blickte ihr nach und hob schon halb eine Hand, um sie aufzuhalten, dann aber ließ er diese wieder sinken. Wollte er ihr wirklich erklären müssen, woran das mit dem Dazugesellen gerade zu scheitern schien? Und dann war sie ja ohnehin der falsche Ansprechpartner für dieses spezielle Problem, nicht wahr? Schließlich war sie nicht der Hausherr. Das war so dermaßen peinlich! Sonst hatte er doch auch kein Problem mit so was. Was sollte er denn jetzt tun? Sein Blick klebte vorwurfsvoll an der unscheinbaren Holzleiste am Boden.
"Hast du es dir anders überlegt?"
Sein Blick schnellte nach oben und begegnete Jules' amüsiertem Grinsen, der ihn beobachtete und sich interessiert mit verschränkten Armen an die Flurwand anlehnte, während im Hintergrund das muntere Treiben seinen Gang nahm.
Wilhelm atmete tief durch und gab sich möglichst gelassen. Er lächelte bewusst.
"Nein, durchaus nicht. Insofern mein Erscheinen noch immer gewünscht ist, würde ich gerne eintreten."
Jules' Mundwinkel zogen sich noch ein Stück in die Höhe.
"Worauf wartest du dann?"
Er seufzte schwer.
Jules lachte leise. "Hätte ich jetzt ehrlich gesagt gar nicht gedacht. Du bist eigentlich nicht der Typ dafür. Ist aber ein äußerst interessantes Detail." Der Assassine stieß sich gut gelaunt von der Wand ab und kam zu ihm rüber. "Tritt ein, für diesen Abend, Wilhelm Schneider!"
Aus einem fast ängstlichen Impuls heraus zögerte Wilhelm. Was, wenn das nicht genügte? Wenn es Rachs Zustimmung sein musste?
Jules streckte ihm plötzlich beide Arme entgegen.
"Wenn du vermeiden möchtest, dass wir Rach herholen, dann bliebe als Alternative nur, dass ich dich höchstpersönlich über die Schwelle trage."
Wilhelm machte im Schreck einen Schritt vor - und war in der Wohnung.
Jules lachte herzlich und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter, während sie gemeinsam in den Wohnraum eintraten. "Rach? Ich glaube dieser Gast braucht was zu trinken. Mixe ihm mal was Nettes, ja?"
Rachs Mitbewohner schob ihn regelrecht zu einer Mischung aus Arbeitsbereich, Durchreiche und Theke, die sich mittig zwischen Wohnraum und Küche befand. Von dahinter sah Rach Flanellfuß ihm aufmerksam entgegen, während jener mit kraftvollen Bewegungen einen silberfarbenen Metallzylinder schüttelte. Das rhythmische Scheppern von Eiswürfeln übertönte kurz die Gespräche im Raum. Und jene auf der Terrasse. Eine offene Glastür führte auf einen schmalen Balkonstreifen mit hoher Brüstung. Frische Luft kam von dort herein und Wilhelm konnte mit einem flüchtigen Rundumblick erkennen, dass anscheinend fast alle anderen Rettungszirkelmitglieder bereits da waren und sich gut unterhielten. Nur Magane fehlte. Und Senray natürlich.
Der Assassine ließ ihn mit einem neuerlichen Schulterklopfen vor der Bar stehen und Rachs Blick schien sich regelrecht in Wilhelm zu bohren, während er die benötigten Handgriffe blind vollführte. Kurz darauf glitt eine leicht cremige, rosa Masse in ein hohes Glas. Eine in Scheiben geschnittene exotische Frucht landete aufgesteckt auf dem Glasrand.
Wilhelm zuckte leicht zusammen, als Kanndras Hand dicht an seiner Rechten vorbeilangte, um das Getränk entgegen zu nehmen.
"Hallo Wilhelm! Schön, dass du auch kommen konntest. Wir haben von den Ausfälligkeiten Raculs gehört. Unglaublich! Dabei war ja wirklich davon auszugehen gewesen, dass er bereits am Ende seiner Möglichkeiten angekommen war! Geht's wieder?"
"Oh, hallo Leutnant! Ja, schon viel besser. Danke!"
Rachs Mimik kündete von Zufriedenheit und spöttischer Gelassenheit, als er sich ihm zuwandte.
"Was darf es für dich sein?"
"Ein Glas Rotwein? Habt ihr so was da?"
Rachs Aufmerksamkeit wirkte ungewohnt konzentriert. Als wenn er zum ersten Mal seit langem wirklich wach wäre. Im Gegensatz zu Wilhelm, der sich schon jetzt ziemlich ausgelaugt fühlte.
"Klar, kein Problem. Ein guter Roter, kommt sofort."
Eine Flasche tauchte auf und wurde professionell entkorkt. Wilhelm nutzte die kurze Schweigepause, um sich dezent zu räuspern.
"Senray kann nicht kommen. Sie hat die letzten zwei Tage quasi kein Auge zu getan und ist sehr müde. Sie muss Schlaf tanken."
Rach beobachtete ihn sehr genau. Aber er reichte Wilhelm gleich bleibend freundlich das Glas.
"Wir haben davon gehört. Aber nett von dir, extra noch mal Bescheid zu sagen. Bitteschön! Genieße den Abend!"
Er nickte etwas verunsichert und drehte sich den anderen Gästen zu. Mit wem sollte er reden? Zu welcher Gruppe sich dazu gesellen?
Wilhelm nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas.
"Hmmm! Außergewöhnlich gut." Dem ersten Schluck folgten deutlich bedächtigere, deren Geschmack er mit geschlossenen Augen auf sich wirken ließ. Dann erst entschloss er sich für eine Richtung - und steuerte auf die Gruppe mit dem Leutnant zu. Mal sehen, was der Abend zu bieten haben würde!

Es musste bereits einige Zeit verstrichen sein, denn selbst Magane war irgendwann aufgetaucht und hatte sich schweigsam und zurückhaltend in das Gesamtbild der feiernden Mannschaft eingereiht. Bei ihrem Anblick war ihm mit siedend heißem Schuldgefühl eingefallen, dass er am Morgen einen Termin bei ihr gehabt hätte, um ihr weiter beizustehen. Er war zu ihr geeilt, um sich für seine Saumseligkeit bei ihr zu entschuldigen. Aber sie winkte nur freundlich ab. Das sei in anbetracht der Umstände doch absehbar gewesen. Und ihr selber sogar ganz gut zu pass gekommen. Immerhin hatte auch sie über Nacht ihre Lieben in Sicherheit bringen müssen. Die Ernsthaftigkeit ihrer Aussage ließ ihn knapp nicken. Sie verstanden sich.
Dem ersten Glas Wein waren wohl weitere gefolgt, denn Wilhelm konnte sich vage sowohl an Jules', als auch an Rachs Schulterklopfen und Grinsen erinnern, die jeweils einem Glasaustausch vorangegangen waren. Mehrmals. Als das rot im Glas einer seltsam irisierenden blauen Flüssigkeit mit kleinen, schwebenden Eiskristallen darin gewichen war, hatte er kurz innegehalten und nachgefragt. Die Antwort lautete schlicht: "Vertrau mir! Trink einfach!" Und auch, wenn er mit Vertrauen dem Gastgeber gegenüber bis zu einem gewissen Grad seine Probleme hatte, so konnte er sich gleichzeitig nicht einmal im Traum vorstellen, dass dieser ihm hier und jetzt etwas antun würde. Schon mal gar nicht zu einem so freudigen, gemeinsamen Anlass, in seiner eigenen Wohnung!
Sie hatten sich in einer lockeren Runde in den gepolsterten Sitzgelegenheiten niedergelassen. Ein Teil der Gruppe war gefangen im steten Pendelstrom zwischen Küche und Sofa. Selbst die Arm- und Rückenlehnen mussten als Rastplätze herhalten. Nyrias laute Stimme gab sich einen Wettkampf im Erzählen lustiger Anekdoten, mit Jargons leiser, trockener Stimme, die die jeweiligen Aussagen in beinahe ironischem Tonfall kommentierte. In schöner Regelmäßigkeit brach sich die Heiterkeit in lautem Gelächter Bahn.
Wilhelm ließ das Getränk langsam in seinem Glas kreisen, wodurch die Eiswürfel in dem flüssigen Gold aneinander klimperten. Ihn schwindelte leicht, was ihn amüsiert lächeln ließ. Vermutlich die Erschöpfung. Das Vogelherz machte es eigentlich richtig. Aber andererseits... sie verpasste einen grandiosen Abend unter Freunden!
Kanndra stand ihm gegenüber und sein Blick verfing sich in dem ihren, als er lächelnd über den Glasrand zu ihr sah.

"Wat? Wer bist du denn?"
Wilhelm erstarrte regelrecht mit dem Glas in der Hand.
Nur den Bruchteil einer Sekunde hatte es gedauert, ohne eine Art Übergangsritual oder mit einer bewussten Anstrengung seinerseits verbunden. Und nun war er nicht mehr dort, sondern... hier. Auf mentalem Territorium. Die Menschen waren ebenso verschwunden, wie Mina von Nachtschatten oder Nyria. Er sah sich vorsichtig im plötzlich leeren Wohnzimmer um. Und wurde sofort von einem Wesen abgelenkt, das aus dem Nichts heraus materialisierte, ihn angrinste, einen kleinen Sessel entstehen ließ und sich ihm gegenüber setzte.
"Also ich hab dich nicht rein gebeten, kleiner... Blutsauger."
Seine Hand schloss sich etwas nachdrücklicher um das Abbild des Drinks. Er spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Ein schlaksiger Bursche mit ungesund blasser Haut und viel zu stark zurück gegeelten Haaren. Die Art, wie jener sich bewegte, hatte etwas Träges an sich. Als wenn er alle Zeit der Welt hätte. Dessen Augen waren unscheinbar, schienen aber irgendeinen seltsamen Funken in sich zu bergen. Mordlust? Wahnsinn? Das war jedenfalls definitiv niemand, den er bisher kannte. Dennoch! Irgendwas an dem Geschöpf wirkte fast schon ernüchternd vertraut auf ihn. Da war etwas, dass sich fatal nach einer Wiederholung anfühlte und ihn in den Knien zittern ließ... oh! Wann war er von der Sitzfläche aufgesprungen? Der Geschmack von Asche ließ seine Kehle trocknen.
"Wer... bist du?"
"Hmmm... rat mal! Wir sind in Kanndras Birne. Und du bist einfach so reinspaziert. Kommt dir das irgendwie bekannt vor, die Situation? Das kennst du doch, oder? Grenzen, Territorien, Zuständigkeiten, bla! Hast einen Kumpel von mir auf die Art kürzlich kennen gelernt, richtig? Stell dich wenigstens vor, du Flitzpiepe! Wie heißt du?"
Fast hätte er aus reinem Reflex heraus geantwortet. In letzter Sekunde jedoch zuckte er davor zurück. Kanndras Kopf! Dämonische Kräfte. Halbdämon! Und der letzte Dämon, mit dem Wilhelm in Kontakt gekommen war, hatte ihn mit Schmerzen auf die Knie gezwungen, um an genau diese, so scheinbar lapidar angefragte, Information zu gelangen. Um ihn dann damit an sich zu binden!
Er verschluckte sich bei dem Gedanken an dem Getränk, das er noch immer an seine Lippen gehalten hatte, und stellte es dann vorsichtig am Boden ab.
Sein Gegenüber grinste boshaft. Während dessen verwandelten ihre Sitzmöbel sich in gestürzte Bäume, überzogen von Moos und Lianen. Flanellfuß' Wohnung verblasste und wich einer dicht zugewucherten Sumpflandschaft mit hohen Bäumen, grotesken Luftwurzeln, brackigem Flusslauf und sirrenden Insektenschwärmen. Die Luft fühlte sich feucht und schwer an und lastete auf ihm. Wilhelm wurde es unangenehm warm. Sein Hemd begann an der verschwitzten Haut des Oberkörpers zu kleben und er konnte spüren, wie ihm kleine Schweißperlen auf der Stirn entstanden. Der Boden zu seinen Füßen wurde merklich weicher und begann, ganz allmählich nachzugeben. Als er vorsichtig einen Schritt zurückweichen wollte, blieb sein Fuß in der zähen Pampe stecken. Er musste regelrecht etwas Kraft investieren, um jenen mitsamt Schuh herauszuziehen. Dabei wich er dem Blick des Wesens aus und nickte gespielt gesellig.
"Ein fahrender Reisender auf den Gedankenwegen. Ich komme in freundlicher Absicht und werde auch gar nicht lange stören."
Als er eine Sekunde später wieder aufblickte, stand der unansehnliche Kerl so dicht vor ihm, dass dessen Grinsen keine Handbreit von Wilhelms Gesicht entfernt war. Er hatte nichts gemerkt von diesem Standortwechsel! Er zuckte dermaßen panisch im Reflex zurück, dass er stolperte und sich nur noch ungenügend am Boden mit den Händen hinter seinem Rücken abfangen konnte.
Das Wesen grinste inzwischen diabolisch und sprang ihm regelrecht nach. Es hockte sich über seine Beine, stützte sich auf den eigenen Knien mit den aufgelegten Unterarmen ab und beugte sich nahe über ihn. Der Blick wanderte schweigend und gemächlich über Wilhelms Körper, wobei der wahnsinnige Funke in den Augen irrlichterte.
Wilhelm spürte das leichte Angstzittern in seinen Gliedern und lehnte sich noch weiter auf den inzwischen angewinkelten Armen zurück. Keine gute Idee. Sein Gegenüber folgte der Bewegung kichernd. Eine der über den Knien herabbaumelnden Hände zeigte mit kreisendem Finger auf Wilhelms Brust.
"Schick!"
Wilhelm musste sich räuspern. "Was genau meinst du?"
Ein fast schon anzüglicher Blick deutete auf das feuchtgeschwitzte, nun durchscheinende, weiße Hemd. Der Augenaufschlag wirkte begehrlich, während der locker kreisende Fingerzeig seine Bewegung änderte und sich mit verhaltener Gier dem vernarbten Handabdruck näherte. Der schlaksige Kerl leckte sich hastig die Lippen.
"Das da. Du bist keine Jungfrau mehr, was unsereins angeht. Du bist schon", die Stimme wurde ein raues, erotisches Flüstern, "ein gebranntes Kind!"
Wilhelm zuckte dermaßen zusammen, dass ihm die Arme wegknickten und er vollends auf den Rücken fiel. Er erstarrte regelrecht, einem hypnotisiertem Kaninchen nicht unähnlich.
Das Wesen lachte aus vollem Halse los und klatschte sich vergnügt in die Hände, ehe es sich wieder beruhigte, mit einem glücklichen Seufzer ausatmete, die Arme auf seinen Knien verschränkte, seinen Kopf darauf abstützte und ihn versonnen von oben herab betrachtete.
"Vampirchen, Vampirchen, was machen wir jetzt mit dir, hm? Dir ist schon klar, dass mehreren Paktabschlüssen nichts im Wege steht? Dämonen sehen das mit dem 'Fremdgehen' nicht so eng. Solange du dich nicht für was... Intimeres entscheidest, darf jeder mal ran. Insofern du leichtsinnig genug dafür bist. Was du natürlich nicht wärst, klar, oder?" Das Wesen richtete den Oberkörper in der Hocke auf und sah sich mit gespielter Überraschung um, ehe es ihn mit einem höhnischen Grinsen bedachte. "Opsi! Oder doch?"
Wilhelm konnte nicht mehr klar denken. Erinnerungen blitzten in seinem Sinn auf, feurige Flashbacks, ihr Gesicht mit diesem so ähnlichen Ausdruck bösartiger Freude, ihre ebenso höhnische Stimme. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass er sich in genau der gleichen Situation wiederfand? Er wollte das nicht! Der Gedanke, dass sich die Schmerzen und der Zwang wiederholen könnten...
"Nicht! Bitte..."
Der bleiche Kerl legte seinen Kopf leicht schief und fragte in mitleidigem Tonfall: "Was 'nicht'? Was möchtest du nicht, Vampirchen?"
"Bitte... lass mich gehen. Lass mich bitte einfach nur gehen. Ich werde sofort verschwinden und niemals wiederkommen. Ich achte und respektiere die Person in der du residierst von ganzem Herzen und würde ihr niemals etwas zuleide tun. Ich unterstütze sie! Bitte..."
"Hmmm..."
Wilhelm deutete das Zögern und den seltsam milder werdenden, nachdenklich wirkenden Blick als Grund zur Hoffnung. Als eine Chance, die er nicht verstreichen lassen durfte. Gab es vielleicht auch freundlicher gestimmte Dämonen, deren Persönlichkeit es zuließe, eine Beute doch entkommen zu lassen? Die vielleicht... wählerischer waren?
"Es war ein Versehen. Ich bin nur hier gelandet, weil ich nicht vorsichtig genug war. Jetzt wäre ich ja vorgewarnt und würde es nicht nochmal dazu kommen lassen. Und schau, ich bin wertlos für dich, ganz sicher. Ich bringe nur Ärger, bin unzuverlässig und lästig. Wenn du mich gehen lässt, ersparst du dir viel unnötigen Stress."
Dem Wesen über ihm fiel eine fettige Haarsträhne ins Gesicht, als er es noch weiter schräg legte. "Ich frage mich, wie du den Erstkontakt überhaupt überstehen konntest?" Es grinste ihn breit an... und noch während sich dieses Grinsen bildete, weiteten sich dessen Ausmaße. Das Gesicht deformierte sich und der Kiefer wuchs und wuchs aus der Masse heraus, soweit nach vorne, dass Wilhelm einer Berührung nur dadurch knapp ausweichen konnte, dass er seinen Kopf hastig beiseite drehte. Heißer Atem blies ihm an den Hals und kroch bis zum Nacken, während unglaublich spitze Reißzähne neben seinem Ohr knirschten. Er blickte mit nur einem Auge an einem Krokodilsmaul entlang zum Gegenüber auf. Welches gemächlich kauend den Kiefer bewegte. Geschlitzte Augen funkelten ihn an, noch immer mit diesem Wahnsinn in den Pupillen tanzend.
"Lässt dich gar zu leicht ertappen,
süßer kleiner Saugerhappen.
Deine Neugier, altes Haus,
bläst dereinst dein Lichtlein aus.
Kanny wäre nicht erfreut,
wär dieser Tag schon heut.
Viel lustiger wär's anzusehn,
was passiert, ließ' ich dich gehn."

Wilhelm blinzelte. Und nickte vorsichtig zur Seite gewandt.
"Ja. Ja, mach das ruhig. Bestimmt... bestimmt bin ich lustig zu beobachten. Total."
"Versprochen?"
Wilhelm lag reglos und wusste nicht, was er tun sollte. Ein Versprechen gegenüber einem Dämon? Ausgeschlossen! Nicht schon wieder! Und dann solch ein offen formuliertes! Das könnte ihn auf ewig binden und zu den schrecklichsten Dingen verpflichten. Wie nur sollte er höflich ablehnen?!
Der Krokodilköpfige lachte gurgelnd. Und ließ von ihm ab. Zumindest stand er auf und klopfte sich amüsiert imaginären Staub von der Kleidung, ehe er sich in den plötzlich wieder materialisierten Sessel sinken ließ.
Wilhelm rollte sich schnell auf die Seite und stand ebenfalls auf. Er behielt das Wesen im Auge, während er fieberhaft nach einer Lösung suchte.
Die Gestalt wandelte neuerlich ihr Äußeres und wurde zu einem kleinen Jungen, der ihn mit baumelnden Beinen anstrahlte. Leuchtend grüne Augen glitzerten übermütig, als wenn der Knirps einen Streich begangen hätte. Ein helles Kichern perlte über seine Lippen.
"Du bist so witzig! Gleichzeitig vorsichtig und völlig überfordert. Herrlich! Ich könnte das noch ewig weitermachen. Wenn ich nicht zu träge für solche Spielchen wäre. Bin eben nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt, wie die, vor denen du solche Angst hast." Das 'Kind' zwinkerte ihm zu.
"Die vor denen ich..." In seinem Sinn herrschte auf einmal Leerlauf. Nur ein Gedanke stand einsam und verlassen im Mittelpunkt und verwirrte ihn. "Du... du bist kein... Dämon?"
Der scheinbare Knabe trommelte vor Aufregung mit seinen Fersen gegen den Sessel.
"Lass dir das nicht zu Kopf steigen! Nur weil ich nicht mit der gleichen sadistischen Ausdauer daherkomme wie die, heißt das nicht, dass ich machtlos wäre. Im Gegenteil! Ich bin Kanndras Schutzgeist. Und auch wenn ich den Dschob jetzt nicht so prall finde, ist es ja nicht so, dass ich ihn einfach in die Ecke pfeffern dürfte, richtig? Ist vielleicht nicht dein Spezialgebiet aber lass dir gesagt sein, ich kümmer mich schon drum. Und seien wir ehrlich: Du bist eindeutig eine potentielle Gefahr für ihr Hirn. Einfach so hier reinspazieren und dann noch so tun, als wenn das nichts wäre, pah! Ein 'Reisender auf den Gedankenwegen'... bäh!"
"Ich verstehe."
"Echt? Tust du das? Bin mir da nicht so sicher. Was man hier so mitbekommt, bist du wirklich heftig unbelehrbar. Und soll ich dir was sagen? Ich bin nicht so der geduldige Typ. Jetzt gerade kann ich dich in die Mangel nehmen, wenn ich das will. Bist in keiner guten Position, wenn ich das mal so sagen darf. Und da wäre es vielleicht schlauer, dir eine Lektion zu verpassen, die du nicht so schnell vergisst. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen. Nichts Persönliches. Aber wär schon nicht doof, oder? Wer weiß, ob du bei einem zweiten 'Aus-Versehen' genauso unvorbereitet reinplatzen würdest, nicht? Deswegen wäre es mir lieber, du kämst gar nicht mehr auf so dumme Gedanken, sondern wärst tendenziell mehr so in Todespanik oder so, als Kanndra zu nahe zu kommen. Meinetwegen sogar in permanenter Todespanik, wenn es so was bei euch Blutsaugern gibt? Hätt ich kein Problem damit." Das Abbild des Kindes popelte eine Weile gedankenverloren in seiner Nase, als es offensichtlich das Für und Wieder einer drakonischen Folter als freundlich gemeinter Präventivmaßnahme abwägte. Kurz entschlossen steckte es den Zeigefinger in den Mund und sah ihn, am Finger nuckelnd und vorbei nuschelnd, wieder an. "Ach, was solls. Du bist so dermaßen niedlich in deiner Hilflosigkeit, dass ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen kann, dass du gefährlich werden wirst. Egal in welcher möglichen Zukunft. Wenn ich mir vorstelle, wie du mit dem echten Dämon klargekommen sein sollst... keine Ahnung. Ist wahrscheinlicher, dass der dir den Gar aus macht, bevor du überhaupt eine Gelegenheit dazu hättest, hier noch mal reinzuschneien." Der seltsame Blick des Schutzgeistes irrlichterte zwischen Wilhelms Augen und dem zu erahnenden Paktmal unter seinem Hemd hin und her.
Wilhelm lachte schwach.
"Sehr beruhigend."
Der kleine Junge nickte sinnierend. Plötzlich jedoch blickte er sich aufgeschreckt um und sah in die undurchdringlich gewucherte Wand aus Sumpflandschaft.
"Klingt jetzt vielleicht melodramatisch und hart übertrieben, wie wenn ich einen auf Theaterbühne machen will... aber... ich bin hier nicht der einzige, den du fürchten solltest, Nachtfreund. Kanny... die ist nicht nur... nett. Sie hat dir das mit ihrer dämonischen Seite gesagt, richtig? Nimm das nicht auf die leichte Schulter, ok? Sie geht damit zwar nicht offen hausieren oder so. Aber... die Sache ist die: Sie wurde von deinen tollen Freunden vor 'ner Weile exorziert. Nicht sehr nett, meiner Meinung nach. Soll man Freunde nicht so akzeptieren, wie sie sind, statt sie ändern zu wollen? Jedenfalls... wie du zu deinem Leidwesen ja schon feststellen durftest - wenn ich richtig informiert bin - gibt man die Verbindung zu einem Dämon nicht einfach mal so auf. Nope. Vergiss es! Und das klappt noch weniger, wenn du selber einer bist, egal wie klein oder groß das Stück davon Teil deines Wesens ist. Entweder es zerreißt dich oder... naja... Sie waren dann irgendwie zufrieden damit, dass man Kannys leuchtende Seite nicht mehr sieht. Wobei, ihr würdet vermutlich ihre 'dunkle Seite' sagen, oder? Tja! Gesehen hat man die nach außen hin seitdem nicht mehr. Scheint ja auszureichen. Weg isse deswegen aber trotzdem nicht. Nicht richtig. Nur... ins Unterholz getrieben? Wenn du hier rumlungerst könnte es jedenfalls passieren, dass ihr Bekanntschaft schließt. Und dann will ich nicht dabei sein. Sie kann mal einen guten Tag haben, klar. Wäre jetzt aber auch nicht verwunderlich, wenn es anders wär, sag ich mal. Vertrau mir da einfach, ob's dir nun in den Kram passt oder nicht, ok?"
Wilhelm folgte dem Blick mit dem seinen und versuchte dort, hinter den triefenden Lianen, inmitten des kränklich grünen Zwielichts und der wabernden Luftfeuchte irgendwas außer der Mückenschwärmen zu erkennen.
"In Ordnung", sagte er gedehnt, "Ich nehme mir deine Warnung zu Herzen."
Der Schutzdämon blickte zu ihm zurück und dessen Äußeres wandelte sich erneut. So etwas wie ein Wald-Elf schälte sich aus der vorigen kindlichen Erscheinung heraus, wuchs zu einer großen, schlanken Shilhouette heran, die nunmehr auf einem goldenen Thron posierte. Langes blondes Haar fiel dem schönen Mann gleich einem glänzenden Wasserfall über den Rücken. Seine Augen waren grüne Juwelen... die mit einem gänzlich unpassend wirkenden, wahnsinnigen Feuer von innen heraus zu lodern schienen.
"Die gelbe Eule fängt ihre Beute mit scharfer Weisheit,
Samt und Seide bringen Linderung und Klarheit.
Totes Fleisch in blutigen Krallen,
wehrhaft bis zum Letzten und dennoch gefallen!
Ohne Leben, kein Leben.
Dem Feuer gegeben.
Es ist nicht alles Silber was glänzt.
Mit Sicherheit, das Haustier umkränzt.
Vergib! Alles!
Jetzt und sofort!
Reue kommt zu spät.
Weit entfernt in der Erde, ein dunkler Ort.
Und der Kreis, er birgt Licht.
Und du siehst. Und siehst nicht..."

Der Schönling auf dem Thron blickte melancholisch in die Ferne, ehe er wie ermattet die Augen schloss.
"Äh...
Der Schutzgeist sah ihn mit Spott und leisem Lachen an.
"Geh!"
Wilhelm wiederholte innerlich die Worte, die ganz klassisch nach einem Orakel oder einer Weissagung klangen. Unheilvoll. Und völlig unverständlich. Sollte ihm das etwa helfen? Aber wie? Und warum? Nein, das war unwahrscheinlich. Und wenn es eher so war, dass...
Der Schutzgeist sah ihn mit neuer Intensität an, Zorn loderte in seinem Blick auf, ebenso unerwartet, wie unerklärlich.
"Ich sagte: Geh! Jetzt sofort! Ich will dich nie wieder hier antreffen, blutiger Jäger!"
Wilhelm löste sich aus seiner Passivität und sah sich hastig nach einem Ausgang um.
"Gerne. Sofort. Wenn ich nur wüsste, wie!"
"Wie kann man nur so unsagbar unselbständig sein! So, wie du auch hergefunden hast natürlich! Du hast es während unseres Gespräches nicht einmal getestet, ob du von selbst wieder verduften könntest, stimmts? Los! Verschwinde! Ich mag dich nicht mehr sehen."
Scham überschwemmte ihn bei dem messerscharf richtig geschlussfolgerten Vorwurf. Er hatte es wirklich nicht mal versucht gehabt, Kanndras Gedanken von sich aus zu verlassen. Zu sehr war ihm die Erinnerung an den Bann des Feuerdämons gegenwärtig gewesen, bei dem ihm solch eine einfache Flucht verwehrt gewesen war. Er hatte sich unreflektiert selbst beschränkt und in eine nicht vorhandene Falle manövriert!
Er konzentrierte sich sofort auf die elastische Verbindung zu seinem Körper - und löste sich aus Kanndras Gedanken.

Wilhelm blinzelte in seinem eigenen Körper und blickte die FROG ihm gegenüber an. Die Party war wieder gegenwärtig, ebenso wie der leichte Zigarettenrauch, der durch die offene Tür hereinwehte, und das Klirren von Gläsern und die Stimmen der anderen Gäste... welche soeben verstummten. Während sich nach und nach alle Blicke auf ihn richteten. Nein, nicht nur auf ihn. Auch auf Kanndra. Die ihm direkt in die Augen sah und zu lachen begann.
Nyrias Stimme dicht neben ihm: "Ist jetzt nicht wahr, oder?" Er konnte regelrecht ihr Augenrollen hören.
Wilhelm spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Und auch in der Realität klebte ihm sein Hemd am Oberkörper fest. Er zupfte es nervös ab, ehe er die Hand wieder sinken ließ. Neben seinem Fuß stand der vorige Drink, dessen Eis geschmolzen. Die kühle Nachtluft ließ ihn frösteln und wenn es ihm möglich gewesen wäre, dann hätte er drauf wetten können, dass er blasser als gewöhnlich aussah. Der Schrecken saß ihm in den Knochen. Es hatte sich so sehr nach ihr angefühlt gehabt! Die Erinnerungsbilder an den Feuerdämon geisterten wie sacht glühende Aschewolken durch seinen Hinterkopf.
Minas eisiger Blick, der sich ihm ins Genick bohrte, zusammen mit ihrem Schweigen.
Raistans Stirnrunzeln.
Jules trockene Antwort über den Rand eines geschwenkten Glases hinweg: "Oh doch! Das war sträflich leichtsinnig und sehr offensichtlich. Benimmt man sich dieserart als Gast in einem fremden Heim, Wilhelm? Wo wir dich doch so nett willkommen geheißen haben..."
Hinter dem Tresen zur Linken konnte Wilhelm aus dem Augenwinkel erkennen, wie Rach seine Arme vor der Brust kreuzte und sich offensichtlich nur mit Mühe einen Kommentar verkniff.
Leicht zu seiner Rechten schüttelte Magane fast unmerklich aber mit heimlichem, sanftem Lächeln den Kopf.
An der Terrassentür lehnte Esther mit abfällig empor gezogener Augenbraue und sog genüsslich an ihrer Zigarette: "Wenn ihr mich fragt, braucht er sich um den Feuerdämon keine ernsthaften Sorgen machen. So unbelehrbar, wie er seine Gewohnheiten betreffend ist, bringt ihn irgendwer anders schon viel eher um die Ecke."
Jargon, der direkt neben ihm auf dem Sofa saß, seufzte nachdrücklich. "Wilhelm! Hatten wir nicht gesagt, dass du Leute auch einfach fragen kannst?"
Und mit einem Schritt in seinem Blickfeld, angriffslustig vorgebeugt, Rogi: "Du hast Glück, daf wir hier unter Freunden sind!"
Er wäre am liebsten im Boden versunken. Einzig, dass das Vogelherz in diesem Moment nicht ebenfalls anwesend war, ließ ihn etwas aufatmen. Er fixierte einen Punkt direkt vor seinen Füßen. Was er aber, seiner Neugier geschuldet, nicht lange durchhielt. Schnell blickte er zu der noch immer grinsenden Kanndra hinüber, die seinen Blick weinselig erwiderte.
"Das war keine so gute Idee, Wilhelm, das ist dir bewusst, nicht wahr? Das hätte deutlich unangenehmer werden können, als das, was offenbar vorgefallen ist." Sie nippte an ihrem rosa gefüllten Glas. So lange konnte man sich doch gar nicht mit nur einem Getränk aufhalten, oder? Andererseits, wenn er sie genau betrachtete, dann wurde klar, dass sie nur gut angeheitert aber nicht betrunken war. Er nickte zurückhaltend. Sie klopfte mit einem Finger an ihr Glas und lachte wieder leise. "Du bist ihm begegnet, oder?" Wieder nickte er.
"Ma'am... was soll das bedeuten? Was er zum Schluss sagte."
Kanndra zuckte nur grinsend mit den Schultern.
"Ich konnte euer Gespräch nicht in dem Sinne mitverfolgen. So gesehen... wer weiß das schon? Er redet immerzu in seltsamen Reimen. Ich nehme an, das war es, was dich verwirrte? So ist er halt. Entweder man interpretiert ewig daran herum. Oder man ignoriert es. Falls was dran ist, versteht man es ohnehin meistens erst, wenn es vorbei ist."
Als sie nichts weiter sagte, drehte er sich leicht dem schweigsamen Rach zu.
"Könnte ich vielleicht... also... ich könnte wirklich gut noch einen von diesen blauen Drinks vertragen."
Rach blickte ihn fast finster an, griff aber zu seinen Utensilien.
"Liegt das an dem, was du schon intus hast? Oder ist es dir immer noch gleichgültig, in wessen Köpfen du herumwühlst?"
Der Vorwurf in Rachs Worten war unüberhörbar. Wenn man es aber genau nahm, war das noch das kleinste Übel im Vergleich zu dem, was er soeben durchgestanden hatte. Sollte Rach doch schmollen. Hauptsache er mixte ihm noch einen dieser ordentlichen Drinks.
Er winkte schweigend ab und nahm stattdessen das neue Glas in Empfang. Rach blieb neben ihm stehen und blickte kühl auf ihn herab.
Die wärmende Flüssigkeit rann ihm gerade in großzügigen Schlucken die Kehle hinab - was auch immer Rach da für ihn zu mixen begonnen hatte, der Versuch hatte wirklich exakt dermaßen genau Wilhelms Geschmack getroffen... das Zeug könnte regelrecht süchtig machen! - als Nyria etwas pikiert einwarf:
"Eigentlich hatten wir ja einen ganz anderen Drink für dich geplant, heute Abend... Nach dem Ding eben bin ich mir allerdings nicht mehr ganz sicher, ob du dich genug im Griff hast? Andererseits... so bin ich ganz nah dran und kann dich mit Nachdruck an deine Manieren erinnern..."
Wilhelm sah beim Trinken zu ihr und ließ das geleerte Glas dann baumelnd in lockerer Fingerhaltung zwischen seinen Knien sinken.
"Was genau meinst du?"
Nun stahl sich doch so etwas wie ein schelmisches Funkeln in ihren Blick. Sie nickte in Raistans Richtung.
Wilhelm sah verwirrt zu diesem.
Raistan räusperte sich, zögerte kurz und griff dann zu einer Kladde, die er anscheinend schon die ganze Zeit in seiner Nähe behalten hatte. Darauf waren Notizzettel und ein Stift festgeklemmt. Nyria tauchte wieder in seinem Blickfeld auf und reichte dem Zauberer einen Beutel. Es klirrte kaum hörbar. Dann entnahm Raistan dem Beutel einen gläsernen Kelch und ein Spritzbesteck, welche er mit unsicherem Blick aber fast demonstrativer Geste, zusammen mit der Kladde, auf dem niedrigen Tischchen in der Mitte platzierte.
"Ich schulde dir noch was, Wilhelm."
Der Vampir starrte entgeistert auf die unzweideutigen Utensilien, dann auf den bezaubernden jungen Mann in Magierrobe.
"Hier? Jetzt?"
Raistan erwiderte seinen Blick mit fast emotionsloser Direktheit, das grau seiner Augen glich dabei einer stürmischen Abendstunde am Meer.
"Ich gehe davon aus, dass der anzunehmende Wert eines Wirkgrades des magischen Einflusses meines Blutes auf dich als Vampir, nicht nennenswert von Umgebungsfaktoren beeinflusst wird, sondern dass er einer auf- und abschwellenden Konstante gleicht. Eher mit der Wirkung von Alkohol auf einen durchschnittlichen Menschen vergleichbar."
Wilhelm blickte kurz in die erwartungsvollen Gesichtsausdrücke der Umstehenden. Was er sah, kündete von Aufregung, Unsicherheit und Neugier. Oder, wie bei Mina von Nachtschatten, von ungläubiger Verwunderung darüber, ob das jetzt ernst gemeint sein konnte. Er vermutete, dass sein eigenes Verhalten direkt zuvor nicht gerade hilfreich gewesen war, um nun von seinen Freunden Vernunft einzufordern.
Sie waren doch Freunde? Meine Güte, ja, natürlich waren sie das! Warum kamen ihm nur immer wieder diese Zweifel? Freunde! Ein klein wenig abenteuerlustige und neugierige Freunde. Aber das konnte gerade er ihnen nicht vorwerfen, richtig? Selbstverständlich wollten sie zusehen. Er war ja selber neugierig darauf, wie es schmecken und was dann passieren mochte! Und eine gewisse Schadenfreude, ihn ausgerechnet nach einem solchen Faux Pas mit ihrem Vorschlag in die Enge zu treiben, war ebenfalls nachvollziehbar.
Er betrachtete die Utensilien und dann Raistan. Dessen Herzschlag war erstaunlich ruhig, fast zu ruhig, so als wenn der junge Mann innerlich mit bewusster Anstrengung dagegen hielt. Ebenso dessen zarte Emotionsschleier.
"Oh Raistan! Du bist nervös und willst das partout nicht zugeben. Wie... verlockend..."
Wilhelm konnte nicht verhindern, dass seine Lippen ein leichtes Lächeln umspielte.
"Ich habe bereits eine nicht unbeträchtliche Menge profanen Alkohol in mir, wenn ich richtig vermute. Bringt das die Werte nicht durcheinander?"
Jules warf mit übertriebener Empörung von der Seite ein:
"Hey! Du undankbarer Kostverächter! An unseren Kreationen ist nichts profan!"
Raistans Blick flackerte kurz zu Nyria, während er nun doch Verunsicherung zeigte.
"Nein, das... das ist schon ok. Dein Metabolismus scheint die chemischen Bestandteile des klassischen Alkohols ganz gut zu vertragen. Wie sich ja bereits mehrfach gezeigt hat, den Erzählungen entnehmend, die die Runde machen, deine Eimer-Besuche betreffend."
Aus seinem Lächeln wurde ein Grinsen.
"Du hast Informationen über mich eingezogen?"
Raistan blickte jetzt in fast offener Hilflosigkeit zu Nyria.
"Selbstverständlich habe ich zum Objekt meiner Forschungen gewisse Hintergrundinformationen eingeholt... das... ich meine..."
"Hey, Wilhelm! Ich hab ihm von dem einen oder anderen Feierabend erzählt, als er genau den gleichen Einwand vorbrachte. Wohlgemerkt auf meinen Vorschlag hin, dich heute damit zu überraschen. Also ärger ihn nicht! Die Situation ist doch ideal? Nach der letzten Nachtschicht kannst du garantiert einen kleinen Schluck von was Exquisitem vertragen. Und weniger als das wird es ganz sicher nicht sein. Kann gar nicht. Ist schließlich Raistan, von dem wir reden. Und obendrein passt es mir zeitlich in den Kram. Denn bilde dir nicht ein, dass ich euch beide das unter euch allein austragen lassen würde!"
Raistan nestelte an seinen Ärmelbündchen herum und räusperte sich.
"Ähm, was sie sagt."
Wilhelms Blick weilte kurz auf dem Glaskelch.
"Bedauerlich, dass du es erst umfüllen willst. Ich hätte dich stattdessen verwöhnt." Er bedachte den jungen Mann mit einem bedeutungsvollen Blick. "Du wurdest noch nie auf diese Art geküsst, nicht wahr? Du weißt nicht, wie angenehm es sein kann, sich zu öffnen... sich... öffnen zu lassen, von jemand Vorsichtigem..."
Der Zauberer wirkte auf einmal so jung auf ihn, so unerfahren, ganz gleich, wie viel Grausames jener bereits erlebt haben und wie stark er sich dabei gezeigt haben mochte. An positiven Erlebnissen schien es in Raistans Leben einen Mangel gegeben zu haben. Fast wünschte Wilhelm sich in dieser Sekunde, das ändern zu dürfen.
"Gek... ich, nein, wurde ich nicht. Nicht so und auch nicht... ich... das sollte... ich glaube, ich möchte einfach nur möglichst schnell das Versprechen einlösen und dabei neutral entnommene, vergleichbare Werte erzielen. Wenn das machbar wäre."
Wilhelm seufzte leise. Dann besann er sich auf den Kern dieses Versprechens: Er würde endlich von dem Magier trinken dürfen, dessen Nähe ihn schon seit so langer Zeit lockte! Er lehnte sich lächelnd auf dem Sofa zurück.
"Na dann..."
Raistan atmete hörbar auf und machte sich mit plötzlicher Eile und fast dramatischer Konzentration an die Arbeit. Er schob seinen rechten Robenärmel zurück und band diesen mit einer ledernen Schnur hoch. Dann legte er sich umständlich ein zweites Lederbändchen über die Armbeuge und begann, den Blutzufluss damit zu stauen.
Wilhelm hatte sich wieder kerzengerade aufrecht gesetzt und konnte seinen Blick nicht mehr von dieser marmornen Beuge abwenden. Die weiche Haut pulsierte gut sichtbar in einem nach und nach stärker werdenden Rhythmus. Und Raistans nicht mehr ganz so gut unterdrückte Nervosität führte dazu, dass dessen Duft den Raum zu dominieren begann. Magie! Seine Augenlieder sanken zu einem genießenden, fast schon leicht verhangenen Blick halb herab, als er dieses berauschende Aroma tief einsog und dessen Prickeln in seinen Lungen nachklingen ließ.
Wieder war es Jules, der mit deutlich amüsiertem Unterton einwarf: "In zwei Minuten Zaubererbeobachten schneller abgefüllt, als durch einen Abend mit mehren Eisdrachen von dir, Rach. Daran solltest du dann wohl noch arbeiten, hm? Vielleicht Raistan zukünftig einmal hinein atmen lassen oder so? Raistan, wie wär's? Kannst du dir eine Karriere hinter der Theke einer Vampirbar vorstellen? Könnte eine Marktlücke sein, wenn ich mir das so anschaue..."
Dicht hinter sich knurrte ihm leise Nyria ins Ohr.
"Komm auf keine dummen Ideen, Wilhelm!"
Er schüttelte sanft lächelnd den Kopf.
Dann aber geschah einen Moment lang nichts, bis Raistans erstaunlich dünne Stimme erklang.
"Ähm... kann das vielleicht jemand anders machen?"
Wilhelm öffnete wieder gänzlich seine Augen und sah den Magier an, wie dieser etwas unbedarft und ratlos die Spritze in Rogis Richtung hochhielt.
Rogis Antwort kam prompt.
"Nein. Auf keinen Fall! Daf mach mal fön selber. Du hast diefes Theater vereinbart. Jetzt fteh auch zu den Konsequenzen."
Wilhelm spürte, wie sein Lächeln immer breiter wurde, als Raistan erst unsicher in die Runde sah, aus welcher sich niemand allzu gerne gegen Rogis Entscheidung behaupten mochte. Selbst Nyria schien mit sich zu ringen und einzusehen, dass da was dran war. Mina von Nachtschatten schien seine Gedanken zu erahnen, denn sie warf mit fast fatalistischer Resignation ein:
"Wilhelm, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee..."
Da beugte er sich schon zum Zauberer vor, das inzwischen fast süffisante Lächeln auf den Lippen.
"Raistan, lass mich dir helfen! Auf meine Art! Es wird nicht wehtun, das verspreche ich dir! Oder wovor hast du Angst?"
Der junge Mann wich keinen Millimeter zurück und erwiderte mit gerunzelter Stirn und leichter Empörung:
"Ich habe keine A..."
"Dann tu es!"
"Aber... der Vertrag... die Vereinbarung, die wir ausgehandelt haben..."
Wilhelm strahlte ihn gleichsam an.
"Brauch ich nicht."
"Du... Vampire sind doch auf solche Klauseln festgelegt."
"Nein. Sind wir nicht. Oder vielleicht doch. Immerhin ist Racul ja genau deswegen in seiner Lage. Also vielleicht nicht alle. Ich jedenfalls nicht. Aber ich bin ja auch kein... ich bin nicht... so, weißt du?"
Die Mimik des jungen Zauberers schien ob dieser Offenbarung nicht gerade Glücksgefühle offen zu legen. Und irgendwo am Rande seiner Wahrnehmung spürte er auf einmal Minas geistige Präsenz deutlicher, als in den voran gegangenen Minuten. Sie fühlte sich... besorgt an? Aber das war gerade nebensächlich. Immerhin rang Raistan mit einer epochalen Entscheidung, in welcher er ihn unbedingt unterstützen musste!
"Aber... woher soll ich dann wissen, dass du nicht..."
"Mehr nehme, als du mir zugestehen möchtest? Ganz einfach! Du sagst Stopp." Wilhelm konnte sich ein überdrehtes Kichern nicht verkneifen, strahlte Raistan dann aber wieder an. "So macht man das unter Freunden."
Raistan nahm seine Entschlusskraft zusammen und konterte Wilhelms Blick.
"Also gut. Bringen wir es eben auf deine Art hinter uns. Maximal drei Schlucke!"
Er merkte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, das seinesgleichen suchen musste. Er fühlte sich, wie der personifizierte Sonnenaufgang!
Drei Schlucke sogar? Das geht weit über das ursprünglich Vereinbarte! Freiwillig! Ich hab nichts gemacht! Da werde ich lieber den Mund halten, ehe er es sich anders überlegt.
Wilhelm nickte schnell und griff zügig, wenn auch betont sanft nach Raistans Arm. Seine Hände umfassten diesen. Eine stützte Raistans Ellenbogen, als sie ihn vorsichtig näher zog, die andere legte sich unter dessen Handgelenk und hob jenes, den sacht schlagenden Puls aufwärts gewandt, höher. Er hielt den Blickkontakt und rutschte noch näher.
"Soll ich dich etwas beruhigen? Deiner Nerven wegen? Oder möchtest du lieber darauf verzichten?"
Raistan blickte ihm wie ein zum Tode Verurteilter entgegen und dessen Körper signalisierte Alarmbereitschaft, so sehr der Magier auch dagegen ankämpfen mochte.
"Was genau meinst du damit?"
"Ich könnte dich... besonders anschauen. Eine leichte Hypnose."
Raistan schüttelte vehement den Kopf.
"Auf keinen Fall! Fang einfach an!"
"Na gut. Aber... versuche wenigstens, dich zu entspannen, ja? Dann bin ich mir sicher, dass es dir gefallen würde. Ich geb mir Mühe."
Rogis Herzschlag schob sich überdeutlich an seine Seite. Aus dem Augenwinkel konnte er ihre Beine neben sich sehen. Aber sie griff nicht ein. Noch nicht! Richtig... sie wusste nur zu gut um seine Schwächen. Auch in dieser Hinsicht. Aber das hatte sogar ein klein wenig was Beruhigendes an sich.
Damit konzentrierte er sich auf das nahe Handgelenk und die unüberhörbare, ganz spezielle Trommel des Lebens in seinen Händen. Er öffnete leicht seine Lippen und legte diese auf das zarte Pochen unter der bleichen Haut. Die Berührung allein sandte einen elektrisierenden Schlag durch seinen Körper! Aber einen Schlag, der angenehmsten Art. Der Herzschlag tanzte an seine Lippen, flüsterte in seinen Fingerspitzen und sprang sozusagen auf ihn über, ein allgegenwärtiger Klang, der in seinem Innern nachzuhallen begann. Schwindel erfasste ihn, als wenn die Welt in sich selbst zusammenfiele und sich zugleich ausstülpte. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu fassen. Dieser Duft! Als er einigermaßen das Empfinden hatte, in Raistan einen Ankerpunkt zu finden, presste er die Lippen fester auf dessen Haut. Er konnte körperlich erahnen, dass Raistan sich in Erwartung von Schmerzen völlig verkrampfte. Doch so würde es nicht sein. Nicht wenn Wilhelm trank. Er hatte das stets geliebt und zu einer zärtlichen Kunst, einer Liebkosung erhoben. Das hier war etwas, für das ihm die Damen zu Füßen lagen. Er würde den Zauberer überraschen.
Wilhelm ließ alle seine Möglichkeiten zum Zuge kommen, die er in den Jahren vervollkommnet hatte - ausgenommen die Hypnose und das sanfte Betten der Gedanken. Aber es gab noch andere Werkzeuge der Jagd, wenn ein Opfer es mit einer Spezies wie jener der Vampire zu tun bekam. Er umhüllte den kleinen Zauberer mit Emotionen. Mit Zuneigung und Geborgenheit, mit Verständnis und Unterstützung. Er löste durch gewisse Botenstoffe ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit in seinem Opfer aus. Er aktivierte heimlich gewisse Druckpunkte an Ellenbogen und Handgelenk, um einige Nervenbahnen für wenige Sekunden lahm zu legen, so dass Raistan sich fast zwangsläufig für den Moment entspannte, und förderte andere, um den Blutzufluss deutlich zu steigern, was einerseits das Trinken erleichterte, natürlich, zum anderen aber auch eine steigende Temperatur und damit ein unterstreichendes Wärmeempfinden auslöste. Und nicht zuletzt... es ließ sich nicht leugnen... wenn er trank, dann schwang fast immer auch Gefühl mit. Meistens Beschützerinstinkt. Den das Gegenüber zwar schwer benennen konnte, den es aber spürte. Die meisten reagierten beim ersten Mal mit Überraschung darauf. Und mit dem Bedürfnis, sich dem unterzuordnen. Wie es bei Raistan wäre, das wusste er nicht. Aber das war ja das Spannende daran, nicht wahr?
Seine Zähne versanken im Fleisch und lösten sich sofort wieder, hinterließen ein starkes schmerzstillendes Serum - und zwei Löcher.
Raistan schmolz quasi in seinen Händen und entspannte sich mit einem lautlosen Seufzer.
Wilhelm schloss die Augen vollends und genoss jeden der drei Schlucke, ohne auf die Umwelt zu achten. Lediglich das emotionale Wetterleuchten des jungen Mannes war wichtig und er steuerte mit seinen Möglichkeiten ausgleichend dagegen, fing die Unsicherheiten mit dem Gefühl von Schutz ab, linderte unangenehme Empfindungen mit Dankbarkeit und Wertschätzung. Er hielt Raistans Psyche sozusagen in der Schwebe, so dass sie nirgendwo anecken konnte, während sein eigenes Sein glücklich unter einem Sturzbach aus funkelndem Rausch standhielt.
Eins - zwei - drei!
Er versiegelte die Trinkwunde und das vampirische Element des Vorgangs heilte die Bissmale innerhalb von Sekunden.
Dann erst ließ er den Arm los und sah Raistan wieder an. Er beobachtete diesen fast etwas schüchtern. Hatte er ihm Gutes tun können, trotz des eigenen Genusses? Oder hatte er ihm zu viel zugemutet? Raistans Gefühle, zumindest die, welche nach außen drangen, ließen darüber keinen endgültigen Schluss zu. Sie kündeten lediglich von tiefer Verwunderung. Aber das ließ darauf hoffen, dass diese intime Erfahrung zwischen ihnen, denn nichts anderes war solch eine ungewöhnliche Nähe auf den unterschiedlichsten Ebenen, kein Trauma verursacht hatte.
"Raistan?", fragte Nyria hinter ihm, "Alles in Ordnung?"
Der Zauberer sah irritiert auf sein Handgelenk. "Ja. Das... das war..." Er wackelte wie zur Probe mit seinen Fingern, dehnte und streckte sie, als wenn er sich nicht sicher war, was er davon zu halten hätte und ob die verschwundenen Wunden wieder auftauchen müssten, wenn er die Haut nur genug anspannte.
Wilhelm hätte zu gerne die Antwort auf Nyrias Fragen gehört - in der ausführlichen Version. Er sehnte sich danach, Raistans Bewunderung oder doch Anerkennung zu erfahren. Er hatte in den letzten Wochen viele Schläge gegen sein Ego einstecken und erfahren müssen, dass es scheinbar kaum etwas gab, in dem er als talentiert gelten durfte. Und die Wirkung, seiner Art vom lebenden Objekt zu Trinken, gehörte inzwischen zu den wenigen Dingen, die er sich noch zugute hielt. Oder unterlag er wie so oft einer Fehleinschätzung? War er nicht gut genug für einen Zauberer? Doch Raistan griff auf bewährte Verhaltensweisen zurück - und verschloss sein Inneres. Der junge Mensch sah zwar zu ihm auf und hielt diesen Blickkontakt auch eine merkliche Zeitspanne aufrecht. Doch er blieb dabei stumm und undeutbar.
Während dessen setzten die Kommentare der Umstehenden ein. Kanndras Stimme stach in amüsiertem Tonfall heraus, obwohl sie sogar mit gesenkter Stimme sprach, als wenn sie den Gedanken mit einem Augenzwinkern direkt an ihn gerichtet hätte.
"Hartnäckigkeit zahlt sich manchmal doch aus."
Raistan schüttelte seine Ärmel über den bloßen Arm zurück, auf welchen außer den runden Narben der HEX-Anschlüsse keine Spuren irgendeines Aspekts ihrer Bekanntschaft zurückgeblieben waren. Der Magier griff betont gelassen nach der Kladde und begann, mit gewissenhaft sauberer Schrift winzige Eintragungen darauf zu machen. Als er seinen Blick neuerlich hob, war da nur noch das kalte grau des Wissenschaftlers bei der Observierung eines Versuchsobjekts.
Wilhelm lehnte sich mit leisem Bedauern zurück, hielt dem Blick jedoch lächelnd stand.
Das ist der Zauberer, dem Ophelia begegnet ist. Jetzt verstehe ich ihr Empfinden, in seinem Universum an Wert einzubüßen, je weniger verwertbares Datenmaterial man zu bieten hat... Ach, Raistan! Wir sind so viel mehr, als nur Zahlen und Strukturen...
Er sah ihm freundlich entgegen und musste sich selbst Gewissheit verschaffen.
"Geht es dir wirklich gut? Ich habe dich nicht verschreckt?"
Raistan errötete leicht und schüttelte abwehrend den Kopf, wobei ihm die störrische Haarsträhne wieder einmal ganz charmant ins Gesicht fiel. Er wehrte die Fürsorge fast unangenehm berührt ab und mied seinen Blick.
"Schon gut! Es ist alles gut. Du hast nicht zu viel genommen und... ich meine... es war... nicht unangenehm."
Wilhelm las ebenso zwischen den Zeilen wie Nyria, die inzwischen unauffällig neben Raistan getreten war. Auch wenn deren Geruchssinn vermutlich einige Unterkapitel aufschlug. Nyria starrte Wilhelm wortlos an. Und er erwiderte ihre unausgesprochenen Vorbehalte mit einem breiter werdenden Lächeln.
Es war mehr, als nur 'ok' für ihn. Er hat es genossen. Ich bin so erleichtert.
Nun denn! Dann stand dieser amüsanten Observation seiner selbst und einem entspannten restlichen Abend nichts mehr im Wege. Das wundervolle Nachglühen im Inneren genießen, die Gesellschaft dieser freundlichen Menschlein auskosten, keinen Erwartungen entsprechen müssen... einfach nur er selber sein. Er atmete tief ein und streckte sich glücklich. Sein Körper schien von Kopf bis Fuß zu kribbeln. Er fühlte sich ein wenig, wie eine humanoide Wunderkerze, sprühend und energisch, euphorisch, funkelnd! Seltsam, dass davon offenbar nichts äußerlich zu sehen war. Aber er war sehr zufrieden. Er schob kurzentschlossen mit seinen Zehen die Schuhe mitsamt den Socken von den Füßen und zog seine langen Beine unter sich, auf das Sofa. Er saß zwar aufrecht und nicht an die Lehne zurückgesunken, seine Haltung glich dabei aber einer leicht abgewandelten Meditationsübung. Und war absolut entspannt. Er richtete seinerseits das Augenmerk auf Raistan, als wenn nun er den Zauberer einer freundlichen Studie unterzog. Er konnte diesen wunderschönen speziellen Menschen nun uneingeschränkt betrachten, ohne dass jener deswegen weglaufen würde. Herrliche Aussichten!
Raistan füllte noch eine Zeile auf seinem Papier aus. Während dessen suchten sich nunmehr selbst diejenigen Sitzgelegenheiten, um sie näher heran zu ziehen, die bis eben unruhig im Zimmer umhergelaufen waren. Nyria setzte sich kurzentschlossen auf den Boden, direkt zu Raistans Füßen. Es breitete sich spürbar eine nervöse Erwartungshaltung aus. Wilhelm reagierte darauf, indem er sich kurz in der Partygesellschaft umschaute. Ja, die Blicke richteten sich wirklich abwartend auf ihn. Womit sie wohl rechneten? Was, wenn es nichts zu sehen geben würde? Würde das ihnen den Abend verderben? Und was, wenn doch?
Wilhelm wandte sich wieder dem Zauberer dicht vor ihm zu. Dem Kunstwerk! Er ließ seinen Blick über jenes wandern. Über die hageren Gesichtszüge. Über das zurückhaltend gebändigte, wundervolle Haar. Die schlanken Finger und Handgelenke. Und die Augen! Wer wollte ihn schon davon abhalten, sich in diesem wechselhaften grau zu verlieren?
Raistan blickte vom Klemmbrett auf - und sofort wieder hinab. Er drehte verwirrt den Stift zwischen seinen Fingern.
"Gut. Am besten beginnen wir mit der Ist-Analyse, solange wir davon ausgehen dürfen, dass die Wirkung sich in diesen Sekunden erst noch etwas entfalten muss. Falls es denn überhaupt eine nachvollziehbare Wirkung gibt. Die erste Frage an dich, Wilhelm: Wie geht es dir jetzt?"
Der Vampir tat ihm den Gefallen, wenigstens kurz innezuhalten, um ernsthaft über diese Frage nachzudenken.
"Gut."
"Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei die eins für elendig und miserabel, und die zehn für grandios oder in festlicher Stimmung stehen, wie würdest du da dein aktuelles Wohlbefinden einstufen?"
Er lächelte den Zauberer mit stetig wachsendem Enthusiasmus an.
"Da wäre es eine zehn."
Raistan hob erstaunt beide Brauen, trug seine Antwort jedoch protestlos ein.
"Hast du irgendeine ungewöhnliche Körperempfindung?"
Wilhelm musste an Rabbe denken, und daran, wie jene diese Frage betont hätte. Er lachte. Und versuchte sich dann trotzdem an einer Antwort. Was nicht ganz leicht war.
"Ich fühle mich prima. Wie ein Achatenes Feuerwerk in der Dose."
Esther hatte sich dicht an Jules angelehnt und bot ein ungewohnt sanftes Bild, so untergehakt, als Wilhelms Blick kurz zu ihr huschte, als sie seine Worte gewohnt trocken kommentierte.
"Klingt nach der Büchse der Pandora."
Wilhelm grinste. Sein Blick wanderte zu Raistan zurück und im Reflex strich er dem Zauberer die Haarsträhne freundlich hinter dessen Ohr zurück.
Raistan zuckte leicht zurück, fing sich aber sofort wieder.
Jargon räusperte sich, worauf Wilhelm ihn mit einem Schulterzucken angrinste.
Das Blatt auf der Kladde wurde hektisch umgeblättert.
"Kommen wir zur nächsten Frage: Irgendwelche ungewöhnlichen Regungen auf mentaler Ebene?"
"Hmmm... vielleicht? Vielleicht bilde ich es mir nur ein. Aber es könnte sein, dass die..." Er zögerte kurz, weil das eigentlich für seinen Geschmack zu viel verriet, dann aber war es eigentlich egal. Es war vorbei. Sie waren hier schließlich alle gemeinsam auf einer Abschlussfeier! Er durfte sich im Dienste der Gefälligkeit für den Zauberer diese Blöße geben. Das hatte nichts zu bedeuten. Abseits von dessen Notizen. "Es könnte sein, dass die Schmerzen weniger geworden sind. Und die Kälte."
"Du redeft von der Kälte Raculs? Daf, waf einem in den Nachtschichten dort in die Knochen gekrochen ift? Dann ging es nicht nur mir fo."
Er nickte Rogi lächelnd zu, um deren Worte zu bestätigen.
Aus dem Hintergrund erklang plötzlich Maganes leise Stimme und alle drehten sich zu ihr um. Die Hexe sah ihn an, richtete die Frage dabei aber auch an den Zauberer.
"Ich könnte nachsehen, wie es dir wirklich geht, wenn du dir unsicher bist und Klarheit möchtest. Wie wir es daheim bereits gemacht haben."
Raistans Wissbegier sprang sofort an.
"Der Vorschlag ist interessant. Wäre das möglich?"
Wilhelm hob seine Hände und streckte sie ihr leicht entgegen. Sein Lächeln vertiefte sich, als sie aufstand und zu ihnen zum Sofa herüber kam.
"Nein, nein, bleibt ruhig sitzen", winkte sie dabei ab, als er Anstalten machte, für sie etwas beiseite zu rücken. "Ich stehe lieber." Sie blickte kurz auf Raistan hinab. "Die Hexensicht beleuchtet eine sehr grundlegende Ebene. Ich kann dadurch Energieströme und Fremdeinflüsse in einem Körper 'sehen'. Und bei Wilhelm kommt dazu, dass ich seine bisherigen Werte in der letzten Zeit bereits einer Untersuchung unterzogen habe. Ich habe also einen Referenzwert. Wobei das kein Wert im Sinne von einer messbaren Größe ist. Eher... ein umfassender Eindruck davon, wie gut sein Organismus als Einheit zusammenarbeitet." Sie wandte sich ihm zu. Doch im Gegensatz zur letzten entsprechenden Gelegenheit legte sie ihre Hände beidseitig an seine Schläfen. Sie sah ihn an und er konnte das unterschwellige 'Tasten' ihrer Magie fühlen. Ihr zuerst freundlich-zurückhaltender Blick wurde fast sofort herzlich. Sein eigenes Lächeln schien auf Magane überzugehen. Eigentlich war sie mit dieser Art der Prüfung fertig, da war er sich sicher. Ihr Daumen strich zufrieden über seine Wange, fast als wenn sie ihre kleine Tochter vor sich und etwas an Elisa zu loben hätte. Er sah zu ihr auf, mit breitem Grinsen. Sie nutzte den direkten Körperkontakt, um ihn in ihr Inneres einzuladen. Wilhelm hätte am liebsten laut aufgekichert, bei dieser Heimlichkeit vor den Anderen. Er folgte ihrem Ruf mit der Leichtigkeit, die daraus entstanden war, diese besondere Schwelle schon oft überschritten zu haben. Sie stand in dem noch immer finsteren Vorraum mit der glimmenden Feuerstelle.
"Hier sind wir etwas mehr unter uns." Sie sah ihm mit ebenso breitem Grinsen entgegen und er ging eilig zu ihr. "Mein erster Eindruck bestätigt sich somit: Es geht dir wirklich besser." Womit sie seine hiesige Erscheinung mit einem erleichterten Nicken absegnete.
Wilhelm sah an sich hinab. An dieser stets so verräterischen Darstellung seiner Psyche auf mentaler Ebene. Er grinste schief.
"Ich hätte es mir denken sollen, nicht wahr?"
Magane lachte leise.
"Ich weiß nicht was du hast? Es steht dir doch."
Das zerlumpte Sackleinen eines Bettlers war einer bodenlangen weißen Tunika aus Wildseide gewichen und verbreitete einen hellen Schimmer, unterstrichen vom Funkeln und Glitzern winziger Magieentladungen. Die Schulterpartie wurde auf einer Seite asymmetrisch von einer silbernen Schmuckspange gerafft, deren Form etwas von einer sich gemächlich windenden Natter hatte. Er trug den herben Duft wilder Magie mit sich. Die Haut an den bloßen Armen war sauber und geschmeidig, wie nach einem Bad aus Milch und Honig. Und sein vormals so dreckverkrustetes Haar fiel ihm dunkel gelockt in die Stirn, seidig, leicht und verspielt, in einer sanften magischen Brise im Aufwind gefangen.
Wilhelm lachte zaghaft.
"Immerhin... einzigartig."
Die Hexe schmunzelte.
"Ich nehme an, es wäre dir recht, wenn ich das Ergebnis meiner Beobachtungen in... weniger ausführliche Worte kleide? Nichts von gewissen Ähnlichkeiten zu den Bewohnern Cori Celestis sage? Hauptsache du weißt nun mit Sicherheit Bescheid?"
Er nickte erleichtert.
Und schon löste sie wieder ihre Hände von seinen Schläfen und zwinkerte ihm leicht zu. Diesmal richtete sie die Worte direkt an Raistan und sah diesen dabei auch mit genau dem gleichen gelassenen Blick wie zuvor an.
"Es geht ihm wirklich deutlich besser. Bestimmte Bereiche, die in den letzten Tagen in Mitleidenschaft gezogen waren, wirken jetzt... wiederhergestellt. Ein Umstand, den man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit direkt der Magie zuschreiben darf, wenn ich das richtig sehe."
Raistan nickte ernsthaft und notierte wieder etwas. Magane derweil kehrte an ihren Platz in zweiter Reihe zurück und nahm das schlichte Wasserglas wieder auf.
Wilhelm sah in die Runde und fühlte sich geborgen.
"Danke! Euch allen. Ja, sogar dir, Rach. Es tut mir leid, wenn ich irgendwem in den letzten Wochen auf die Füße getreten bin. Es war gewiss keine Absicht. Ich bin wirklich froh, dass ich dazu gehören durfte, Ma'am, auch wenn du überhaupt nicht begeistert warst, als ich in deinem Büro aufgekreuzt bin."
Die Vampirin konterte seinen Blick ruhig und ließ ihn einfach weiterreden - wie man das mit Betrunkenen wohl klugerweise tat. Trotzdem! Er meinte das ernst! Sie sollten wissen, dass sie ihm ans Herz gewachsen waren!
"Ihr seid ganz wundervolle Menschen. Und Werwölfe. Und Vampire. Und Zauberer... wobei das auch als Mensch zählt. Da bin ich mir fast sicher..."
Jargon grinste ihn breit an.
"Mann, wir haben anscheinend wirklich heute Abend deinen Höchstpegel entdeckt - und überboten, Wilhelm. Jetzt kommen die ganz emotionalen Sachen? Pass auf, dass du dich nicht gleich wieder um Kopf und Kragen redest."
Wilhelm räusperte sich vor Rührung.
Rach fragte in süßlichem Tonfall:
"Trockene Kehle? Soll ich dir Nachschub reichen?"
Wilhelm grinste Rach an und lehnte dankend ab.
"Nicht nötig, werter Kollege. Auch wenn ich deine Sorge zu schätzen weiß. Aber ich fühle mich auch so noch dermaßen beflügelt, dass..."
Es gab einen ledernen Schlag und er reagierte instinktiv damit, sich mit ausgebreiteten Schwingen in der Luft abzufangen. Nur, dass die Flügel größer waren, als gewöhnlich. Sehr viel größer! Zwei Schläge der Schwingen, katapultierten ihn sofort gegen die niedrige Zimmerdecke, er prallte daran ab und stürzte zu Boden. Wo er kurz leicht benommen liegen blieb. Er blinzelte und zog die Flügel etwas zu sich, wodurch sie über den Teppich strichen.
Von oben richteten sich jede Menge fragende Blicke auf ihn.
"Das ist keine Fledermaus!"
"Ich wusste gar nicht, dass Vampire auch zu Flughunden werden können."
"Ift auch nicht üblich."
"Wilhelm? Was wird das denn? Brauchst du Hilfe?"
"Gefreiter?"
"Wie wäre es, wenn wir uns wieder wichtigeren Dingen zuwenden würden? Wie beispielsweise einer neuen Runde? Rach, wärst du so lieb?"
"Warte kurz, Esther! Das ist nicht uninteressant. Ich würde vermuten, dass das genau eine der Wirkweisen ist, die Raistan notieren wollte."
"Ich bin schon dabei. Ihr sagt, das hat er zuvor noch nicht gemacht? Das ist neu?"
"Du warst doch selber beim FROG-Training dabei... so hat er da nicht ausgesehen."
"Schon. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass er generell niemals eine solche Form angenommen hat bisher."
"Ef ist Vampiren möglich, auch andere Formen anzunehmen. Bekanntere Beifpiele sind Nebel oder Dunft. Aber ein Flughund... ift mir bisher noch nicht untergekommen. Düfte fwierig sein. Zumindest in seinem Alter."
"Er ist über 100, wenn ich das aus dem Blick in seine Personalakte richtig in Erinnerung habe, oder?"
"Ma'am, mit Verlaub... wenn du mir die Bemerkung aus eigener Erfahrung gestattest? Der allgemeine Konsens in unseren klassischen Familienstrukturen geht dahin, dass dies kein Alter ist. Wollte man Wilhelms Alter auf menschliche Maßstäbe übertragen... sagen wir so... das würde viele seiner Eskapaden in einem etwas verständlicheren Licht erscheinen lassen. Zumindest aus der Perspektive nachsichtiger Eltern. Wobei ich betonen möchte, dass ich dieser Sicht nicht zustimme."
"Also mit hoher Wahrscheinlichkeit eine magisch bedingte Auswirkung. Erst recht in Anbetracht der aufzubringenden Energie für solch eine Wandlung, ebenso wie in Hinblick auf die ungewöhnliche Präsenz der physischen Form. Selbst innerhalb der natürlichen Gattung dürften seine Flügelspannweite und die Ausprägung der Schwungmuskulatur die durchschnittliche Norm gerade deutlich überbieten. Bemerkenswert!"
Jules beugte sich begeistert vor und seiner Stimme war deutlich anzuhören, dass er sich prächtig amüsierte und den Abend genoss.
"Diese schwarzen Knopfäuglein! Wie er da so liegt und verwirrt in die Gegend blinzelt! Es hat nicht zufällig jemand einen Ikonographen mit Schnellzeichner-Imp zur Hand? Zu schade! Ich würde so gerne sein Gesicht sehen, wenn man es ihm danach vor die Nase halten könnte."
Wilhelm drehte vorsichtig den Kopf, um sich zu orientieren. Irgendwie war alles unangenehm hell.
"Hmmm... was mich wundert ist... was war der Auslöser? Er wirkte nicht so, als wenn er das geplant gehabt hätte. Es schien ihn mitten im Satz zu überraschen."
"Und wenn es von außen kam?"
"Das bringt mich auf den Gedanken, selber noch zu überprüfen, inwieweit magische Felder hier im Raum aktiv sind."
Wilhelm krabbelte über den Teppich, indem er sich mit den Flügelkrallen voran zog. Dann blieb er doch wieder still liegen, als ihm aufging, dass er gar nicht wusste, wohin es ihn zog. Erst mal nachdenken.
"Tatsächlich. Wilhelm strahlt eine magische Aura aus. Andere Kraftfelder oder gar Spruchrückstände kann ich jedoch nicht ausmachen."
"Aber was war Schuld?"
"Also geredet hatte er in dem Moment, als es geschah, selber als einziger. Aber man verhext sich ja schließlich nicht selber, oder?"
Raistan schien die Antwort ernsthaft abzuwägen.
"Es ist unwahrscheinlich. Sich selbst zu verzaubern ist noch schwieriger, als es bei anderen zu tun. Und selbst da bedeutet die Manipulation der physischen Grundformen das Aufbringen enormer Kräfte."
"Wenn man an Menschen denkt, auf jeden Fall. Aber bei Vampiren? Könnte etwas einfacher sein, oder? Immerhin muss man bei denen doch theoretisch nur das morphische Feld aus dem Gleichgewicht schubsen?"
"Was enorm schief gehen kann! Ist ja nicht so, als wenn man nur 'Wolf' sagen muss und schon eine Verwan..."
Wilhelm hörte ein Geräusch, als wenn jemand ein Daunenkissen aufschüttelte. Dann musste er niesen. Langes, hell schimmerndes Fell schmiegte sich um ihn. Er trat verwirrt von einer schlanken Vorderpfote auf die andere.
"Wow!"
Nyria klang ungewohnt. Bewundernd und eifersüchtig
Jules Stimme, tief und warm, vibrierte in einem Lachen, das tief aus dem Bauch heraus kam.
"Bist du etwa neidisch?"
Wilhelm empfand es als Verbesserung, sich mit dieser Form zumindest nicht mehr auf Bodenniveau zu bewegen. Dennoch verspürte er eine gewisse Verunsicherung und senkte leicht den Kopf.
Plötzlich tauchte Esther direkt vor ihm auf, legte ihm ihre flache Hand unter die Schnauze und hob damit seinen Kopf soweit, dass er gezwungen war, ihr in die Augen zu sehen. Sie strich mit der anderen Hand fast besitzergreifend über seinen Kopf und das Fell. Ihr Blick ließ ihn frösteln.
"Wenn ich gezwungen wäre, mich zum Vollmond jeweils in einen Vierbeiner zu verwandeln, dann wäre ich an ihrer Stelle auch neidisch. Wer hätte das gedacht? Vielleicht sollte er überlegen, diese Form beizubehalten? Ich habe noch nie einen silbernen Wolf gesehen. Dazu seine schlanke Gestalt und diese verschüchtert grazile Haltung, das herrlich seidige Fell... so weich! Und dieser Blick! Treu und scheu. Ein echtes Goldstück. Da wäre ich in Versuchung, ihn mir als Haustier zuzulegen."
"Du hast schon eines, Schwesterherz, wenn ich dich dran erinnern darf? Und es wohnt bei mir, weil du dann festgestellt hast, gar keine Zeit für ein krallenbewährtes Fellbündel zu haben. Und ich beherberge nicht auch noch den Gefreiten, in welcher Form auch immer."
"Hach, wie kann man nur so nachtragend sein?!"
Von der Seite beugte sich Magane zu ihm herab und betrachtete ihn neugierig.
"Du hast Glück, dass Elisa nicht hier ist, Wilhelm."
Eine Bewegung lenkte Wilhelm ab und bannte seine Aufmerksamkeit. Raistan beobachtete ihn und ließ dabei immer wieder den Stift gegen dessen Lippen tippen.
"Sollte es wirklich möglich sein, dass die reine Einnahme meines magisch kontaminierten Blutes zu einer Instabilität seines morphischen Feldes von solcher Tragweite geführt hat?"
Nyria schien nicht länger gewillt, den Anblick solcher Pracht in ihrem ureigenen Fachgebiet zu ertragen.
"Lässt sich leicht rausfinden. Pinguin!"
Diesmal war es ein leises Säuseln, wie von Samt, der über Samt rieb. Er blinzelte. Und sah an sich hinab. Ein weiß befiederter Bauch und leuchtende große Füße mit Schwimmhäuten. Er krächzte entsetzt. Und verspürte den plötzlichen Wunsch, zu entkommen. Schnell rannte er zur Wohnzimmertür. Oder wollte das zumindest. Beinahe gleichzeitig hörte er zwei unterschiedliche Kommandos.
"Hamster!"
"Schmetterling!"
Er kam schlitternd auf vier winzigen Krallenpfötchen zum Stehen und schnüffelte aufgeregt in die Luft.
Dann ein Geräusch, wie reißender Stoff.
"Ein Morpho Menelaos? So passend... aber... wo kommt der denn her? Von einem Schmetterling hatte doch keiner was gesagt..."
"Aber hübsch! Und auch vermutlich kein Standardexemplar. Ich würde ihn glattweg aufpinnen und als Wandschmuck nutzen. Meine Güte! Natürlich nicht, wenn ich um seine wahre Natur wüsste. Aber seht ihn euch doch an! Er sieht wie ein lebender Diamant aus! Die Farbflächen wirken wie durchleuchteter Saphir, dazu die schwarzen Zeichnungen, die geschwungene, schweifige Form der Flügel... da braucht man nichts anderes mehr als Hingucker an der kompletten Wand eines Zimmers!"
Wilhelm begannen die Sinne zu schwirren. Redete Rachs Schwester wirklich gerade davon, ihn als Wanddeko in Erwägung zu ziehen? Aber das konnte sie nicht ernst meinen! Wichtiger war, diese Sache hier zu verstehen und in den Griff zu bekommen. Allein mit Willenskraft kam er nicht dagegen an. Es genügte nicht, sich in seine ursprüngliche Form zurückzuwünschen. Irgendwie fühlte es sich an, als wenn sein Wille gegen einen reißenden Strom aus goldenem Lametta ankämpfen und schlicht mitgerissen würde, wenn er es auch nur versuchte. Zumindest wusste er im Gegensatz zu den anderen, wo die zweite Anweisung hergekommen war. Er richtete sich hoch auf, auf seine nadelfeinen Beine und sah Magane vorwurfsvoll aus den Facetten seiner Insektenaugen an. Seine wunderschönen Staubflügel zerteilten fächelnd die Luft und zogen mit den langen Frackschwingen blau funkelnde Bahnen über den Tisch.
Sie erwiderte seinen Blick mit einem heimlichen Lächeln.
Er seufzte innerlich. Vermutlich war sie einfach nur neugierig gewesen, ob ein rein gedanklich erfolgender Befehl ebenfalls für den Effekt genügte. Ihm wäre es ja an ihrer Stelle ähnlich gegangen. Der Fakt, dass sie ihn überhaupt nach den letzten gemeinsamen Übungen so direkt auf diesem Wege kontaktieren konnte, war auffallend genug. Nur... irgendwie hätte er diesen Teil des abendlichen Unterhaltungsprogramms jetzt gerne hinter sich gelassen.
Und warum auch nicht? Er konnte sich ja erstmal zurückziehen und irgendwie zurückverwandeln, oder?
Wilhelm hob federleicht ab und schwebte im leicht torkelnden Tanz der Schmetterlinge aus dem Raum.
"Halt! Nicht abhaun! Schildkröte!"
Es macht 'klonk', als sein Panzer auf der Holzleiste zum Flur aufsetzte. Noch während er verzweifelt mit den Füßen zu rudern begann, um sich dennoch voran zu schieben, wurde er emporgehoben - und auf den Rücken gelegt!
"So! Damit du nicht wegläufst und wir in Ruhe darüber nachdenken können, was hier gerade passiert."
"Ich vermute, dass das magische Wirkspektrum sich in einer Nische seines Seins ausgebreitet hat. Sein morphisches Feld muss wohl die Stelle sein, die als erste dem Druck nachgegeben hat. So ähnlich wie der Effekt bei Überschwemmungswiesen. Die Energie, die ansonsten zu stark wäre, um sie zu bändigen, wird sozusagen in ein relativ harmloses Territorium abgelenkt, um sich dort ohne größere Schäden zu verlaufen."
"Ich bin wirklich nicht gerne der Spielverderber aber... ich möchte darum bitten, den Gefreiten nicht weiter zu diesen Wandlungen zu zwingen. Es scheint mir recht offensichtlich zu sein, dass er selber kaum Einfluss darauf hat, während, wie Raistan bereits erwähnte, jede Verwandlung ein beträchtliches Energiepotential verschlingen muss. Ihr wisst, dass er es in den letzten Wochen schwer hatte. Und ich würde mir nicht zutrauen einzuschätzen, für wie viele dieser Wechsel seine Kraft dann noch reicht."
Wilhelm merkte einen dezenten Schubs, der seiner akuten Weltsicht einen neuen Dreh verpasste. Er schloss schnell die Augen. Was sollte das jetzt werden? Flaschendrehen mit ihm in der Hauptrolle? Er mochte nicht mehr mitspielen.
"Nyria!"
Ein genervter Seufzer, dann Maganes Hände, die ihn hochhoben. Sie barg ihn in ihren Armen und der warme Geruch nach Kräutern und ihrer stillen Magie war vertraut und beruhigend.
"Hey! Was soll das?"
"Das soll unseren Kollegen vor den Folgen des Alkohols schützen. Nicht nur des Alkohols, den er selber konsumiert hat. Ich stimme Mina zu. Er braucht jetzt Ruhe. Ich kümmere mich um ihn und nehme ihn mit nach Hause, wo er seinen Rausch und... das magische Blut ausschlafen kann."
Wilhelm blinzelte heftig bei dem halb verwirrten und halb protestierenden Gedanken hinter seinen Schläfen.
"Vampire 'schlafen' nicht! Wie oft denn noch?! Wir... ich... mache was anderes!"
"Aber... was ist mit meinen Aufzeichnungen? Die Abfragen haben doch gerade erst..."
"Tut mir wirklich leid, Raistan. Aber da lasse ich jetzt nicht mit mir verhandeln. Du hattest deine Gelegenheit. Quetsch ihn später noch mal aus, im Nachgang, wenn er wieder bei Verstand ist und dir auf dem üblichen Wege antworten kann. Das wäre doch jetzt ohnehin etwas umständlich, oder? Er braucht Ruhe - er bekommt Ruhe. Ihr könnt sehr gerne noch die ganze Nacht durchfeiern. Aber ich nehme ihn jetzt mit zu mir nach Hause. Soweit ich weiß, möchte er morgen früh einen Termin wahrnehmen, der ihm wichtig ist. Und das sehe ich unter den hiesigen Umständen so nicht."
"Oh..."
Wilhelm zog Kopf und Beine in den Panzer ein und schloss ergeben die Augen. Gut, dass Magane ihn nicht nur so erschreckend gut kannte, sondern auch bereit war, ihm auf ihre unnachahmlich rigorose Art beizustehen. Gute Hexe!
"Lasst euch nicht davon stören, dass ich mich dann schon jetzt auf den Heimweg mache. Das passt ohnehin, da ich den Kindern noch gerne Gute Nacht sagen möchte. Genießt den Abend!"
"Mag?"
"Ja, Kanndra?"
"Vergiss die hier nicht!"
Wilhelm blinzelte erschöpft aus dem Panzer heraus, gerade, als Magane ihre freie Hand ausstreckte, um seine Schuhe mit den hinein gestopften Socken in Empfang zu nehmen.

TAG 42

Wilhelm schlug die Augen auf und grinste vorfreudig.
Maganes Blick ruhte von etwas weiter über ihm, wo sie auf dem Sofa saß, während er noch immer leicht zusammengerollt auf dem Boden lag, besorgt auf ihm.
Sie brauchte sich keine Sorgen mehr um ihn zu machen! Er fühlte sich gut. Verdammt gut! Und heute würde er das Vogelherz wieder sehen!

Der Abend auf der Party hatte zwar für ihn zum Ende hin seltsame Züge angenommen und ihn dann auch schnell erschöpft. Aber schon als die Hexe ihn zu sich nach Hause getragen hatte, füllte ihn immer mehr dieses glückliche Summen aus. Euphorie und Optimismus brachten die Nacht zum singen. Und sein Körper signalisierte ihm mit Kraft in den Muskeln und wachem Nervensystem vollständige Bereitschaft - wozu auch immer. Bei Magane angekommen, hatte sie zuerst den Kindern und David Bescheid gesagt und deren neugierigen Augen ihr Mitbringsel präsentiert. Tom hatte erst etwas erschrocken geguckt, dann mit distanzierter Neugier. Ihr Mann hatte von Herzen gelacht, bis er sich daraus resultierend mit einem Hustenanfall wieder hinlegte, wenn auch immer noch lachend. Und Elisa war hoffnungslos entzückt gewesen, so sehr, dass sie von ihrer Mutter bald schon dazu ermahnt wurde, "Onkel Wilhelm" endlich mit dem Salatblatt in Ruhe zu lassen und ins Bett zu verschwinden, wo sie längst hingehörte. Wilhelm konnte sich schlecht verständlich machen, was zu einer permanenten Flucht vor dem Salatblatt führte. Er war alles andere, nur nicht hungrig! Aber im Grunde hatte er sich über die Bemühungen des Mädchens vor allem amüsiert. Magane hatte ihm einen flachen Teller mit Wasser neben das Sofa gestellt und ihm, in anbetracht seiner offenkundigen Rastlosigkeit geraten, sich auf den Streifzügen durch die dunkle Wohnung an den Rändern der Räume entlang zu bewegen, damit niemand auf der Suche nach einem nächtlichen Trunk versehentlich auf ihn treten würde. Er kannte jetzt jeden Zentimeter Bodenfläche dieser Familie. Erst im Morgengrauen hatte der Bewegungsdrang etwas nachgelassen und ihm die Möglichkeit geboten, neben dem Teller zur Ruhe zu kommen. Er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Und nachgedacht.
Es gab so viel, wofür er dankbar sein durfte! Eine schier endlose Liste voller Annehmlichkeiten und Vorrechte entrollte sich vor seinem inneren Auge, wie eine längst überfällige Erinnerung daran, das zu schätzen, was ihm zwar nicht unbedingt von den Göttern aber vom Universum anvertraut worden war. Er hatte überdauert; sowohl damals, bei dem frühen Verlust seiner Familie, als auch in neuerer Zeit, beim Verlust eines Teils seines Selbst oder seiner Würde. Und so schwer dieses Geschenk an vielen Tagen auch zu schultern sein mochte, es hatte doch einen ganz eigenen Wert, unabhängig von persönlichen Befindlichkeiten. Zu existieren bedeutete, immaterielle Dinge, wie Ideale und Hoffnungen, Wissen und Unterstützung weiterreichen zu dürfen. Gute Dinge, positive Energien in einer Welt, der diese ab und an verloren gingen. Er hatte die Talsohle durchwandert, das Schlimmste ertragen, einen Tag auf den anderen folgend. Er hatte durchgehalten, nicht etwa dadurch, dass er sich besonders hervorgetan hätte, sondern vielmehr dadurch, dass er letztlich nicht diesen entscheidenden einen Schritt rückwärts gegangen war! Und genau dadurch hatte er sich selbst bewiesen, dass es das Gute gab. Wie lautete das oftmals so leicht dahin gesagte Sinnbild für diese elementare Wahrheit? Wo es Schatten gab, da musste es auch Licht geben! Er gehörte dazu. Nicht nur in diesen Kreis der Freundschaft, entstanden durch die unterschiedlichen Persönlichkeiten seiner Mitstreiter im Sinne der Gerechtigkeit für Ophelia; jede einzelne Person davon ein strahlender Stern am Firmament der Guten Dinge, an die er sich erinnerte. Sondern auch zu dem großen Gefüge, das über allem stand. Er konnte sich frei entscheiden, ob er dem Licht oder dem Schatten angehören wollte. Und, ja, es war nicht immer eindeutig, welche dieser Seiten als moralisch integer und erstrebenswert gelten durfte. Aber die Wahl blieb ihm dennoch und sie war genauso kostbar, wie die Sekunden voller Erinnerungen, aus denen die Vergangenheit sich zusammensetzte, um das eine einzige Individuum zu bilden und zu erhalten, das ihn darstellte: der widersprüchliche Vampir namens Wilhelm Schneider, der sich für alle seine Facetten entschieden hatte, statt irgendeine aufzugeben, nur weil ein verbitterter Alter oder ein bösartiger noch Älterer das rücksichtslos von ihm einforderten. Ja, auf Blut von Menschen angewiesen zu sein, während ihm gleichzeitig das Wissen neuerdings zusetzte, dass diese Gabe vielleicht nicht freiwillig erfolgt war, das Wissen somit, höchstwahrscheinlich täglich zum Komplizen unbekannter Verbrecher zu werden, setzte ihm zu. Und degradierte ihn bis zu einem gewissen Grad zu einem traurigen Klischee. Doch selbst im Kern einer solchen Tragödie gab es Schönheit! Auch jenen Menschen war die Möglichkeit eröffnet, sich frei zu entscheiden, geistige Gaben zu empfangen und weiterzugeben oder nach Wegen zu suchen, die ihre Pfade aus dem Morast der Passivität erhoben. Solange es möglich war, zu reagieren, solange gab es Hoffnung. Und Hoffnung war nicht nur die Droge, die es in den finstersten Stunden ermöglichte, an Ort und Stelle auszuhalten. Sie war auch das Heilmittel, das im Nachgang für das Halten der Stellung belohnte und den Schmerz der empfangenen Schwertstreiche milderte. Dagegen wirkten die vielen unverhofften Alltagsfreuden, wie Wilhelm sie immerzu versehentlich erleben durfte, fast klein und unscheinbar. Und doch! In dieser Nacht füllten sie seine Gedanken aus wie warme Sommerböen, ließen ihn emotional aufatmen, als wenn er auf der Klippe einer Küste stünde, mit freiem, weitem Blick. Elisas Kinderlachen. Maganes wissendes Lächeln. Rogis besorgte Aufmerksamkeit. Deren Blutgeschenke, als er diese so nötig gehabt hatte. Raistans wundervolle Wissbegier, wenn jener wie ein unantastbares Wunder durch eine Welt voller Schatten navigierte. Mina von Nachtschattens beherzte Bereitschaft zu Taten, ihr Handeln entgegen den eigenen Ängsten. Rachs glühende Liebe zu Ophelia, die jenen dazu gebracht hatte, allem zu trotzen, Druck vom Patrizier ebenso, wie dem Spott und der Verachtung eines zu Beginn schon voreingenommenen Kollegiums, um weiter an sie zu glauben. Ophelias unglaubliche Stärke, ein Drachen, verborgen hinter Glas, so zerbrechlich anmutend. Kanndras Gelassenheit im Umgang mit den sie umgebenden Menschen, wo sie doch heimlich etwas Mächtiges in sich barg, das brutal von eben jenen beschnitten worden war. Der Duft frischer Kräuter. Senrays Apfelkuchen... Senray!
Der Gedanke an diesen besonderen Segen ließ ihn bis zum Morgen nicht mehr los und so war es der Anblick des Vogelherzens, der beim sanften Schütteln seiner Schulter zerstoben war.

"Wilhelm? Geht es dir heute früh besser?"
Er zog die Schulter im Liegen hoch - eine echte Schulter! Kein Flügel, keine Flosse oder sonst etwas - und schmiegte seine Wange grinsend an Maganes Handrücken.
"Du riechst gut."
Sie zog leise lachend ihre Hand zurück und schnipste ihm mit dem Finger gegen die Nase.
"Das war nicht die Frage, Onkel Wilhelm!"
Er lachte gelöst und strahlte zu ihr auf.
"Nein, war es nicht. Ist trotzdem eine wichtige Feststellung! Aber gut... die Antwort lautet: Ja! Eindeutig und unzweifelhaft ja! Es geht mir wundervoll. Ich fühle mich erholt, voller Energie. Als wenn eine schwere Wolke über mir gehangen hätte und gestern weiter gezogen wäre. Als wenn ich immerzu atmen sollte, tief und frei. Die Kälte in den Knochen ist verschwunden und wie ausgetauscht, mit der Wärme meiner Empfindungen. So viele positive Gedanken und Gefühle! Und die Schmerzen... sie sind weg."
Sie nickte zufrieden.
"Scheint, als wenn Zaubererblut dir wirklich rundum gut getan hätte. Du verträgst Magie sehr gut. Besser sogar, als ich es ehrlich gesagt erwartet hätte." Sie tat ernst und nachdenklich. "Vielleicht sollte man immer ein wenig Raistan im Haus haben?"
Wilhelms Blick huschte automatisch mit breitem Grinsen zu Toms Zimmer. Dem Herzschlag hinter dessen Tür nach zu urteilen, wurde der junge Mann soeben wach.
"Ich würde jedenfalls nicht ablehnen."
Magane folgte nachdenklich seinem kurzen Blick und lachte dann leise.
"Trotz der Nebenwirkungen?"
"Na jaaaa..."
Magane sah ihn mit übermütigem Grinsen an, fast schon ein wenig lauernd.
"Schmetterling!"
Ein Funkenschauer schien durch seinen Körper zu rieseln und für eine Sekunde hatte er das alles dominierende Empfinden von Flügeln auf seinem Rücken, die sich mit aller Macht entrollen und der Sonne entgegen ausbreiten wollten.
Er blinzelte.
Die Hexe grinste breiter.
"Sieh an! Es ist noch genug Restmagie vorhanden, um dich zu irritieren. Aber nicht mehr genug, um dich zu überrumpeln. Ein bisschen ausgenüchtert sozusagen über Nacht."
Wilhelm räusperte sich würdevoll, was etwas konterkariert wurde von dem Umstand, dass er noch immer auf dem Wohnzimmerboden lag, inzwischen lediglich auf den Rücken gedreht und mit einem angewinkelten Arm als Polster hinter den Kopf gelegt.
"Soll ich daraus etwa schlussfolgern, dass ich der Dame in dieser Form nicht genug zu bieten habe?"
"Schwerenöter! Es geht dir wirklich besser."
Sie sahen einander wieder an und Wilhelm wurde etwas ernsthafter.
"Danke, dafür dass du mich gestern aus der Situation rausgeholt hast! Ich kann den lustigen Aspekt daran nachvollziehen. Und es war ja auch nichts, was geschadet hätte oder böse gemeint gewesen wäre. Aber..."
"Keine Ursache! Das habe ich gerne gemacht."
Kurz schwiegen sie. Dann klopfte Magane leicht mit der flachen Hand auf das Sofa, als wenn sie zum Aufbruch auffordern würde. Was sie auch tat.
"Es gibt gleich Frühstück. Du könntest dich nützlich machen, indem du den Tisch deckst. Oder die Eier brätst. Was dir lieber ist. Aber ich erinnere mich da an ein delikates Frühstück zu dritt, bei dem ein gewisser Vampir bemerkenswerte Fähigkeiten am Herd unter Beweis stellte. Und jener Vampir scheint mir aktuell kein präventives Alibi vorweisen zu können."
Wilhelm schloss nur kurz die Augen, um sich genüsslich zu strecken, ehe er sich aufrappelte. Dabei murmelte er lächelnd: "Armer Vampir!" Kaum jedoch betrat er die Küche, öffnete sich die Kinderzimmertür zu Elisas Reich und jene kam eilig hinter ihm in den Raum gestürmt. Sie begrüßte ihn noch, bevor sie überhaupt ihrer Mutter einen guten Morgen wünschen konnte, klammerte sich dazu kurz aber nachdrücklich um sein linkes Bein und plapperte munter los.
"Onkel Wilhelm! Du bist noch da! Bleibst du hier? Magst du mein Brot haben, wenn wir essen? Warum hast du dir nicht die Haare gekämmt? Ich habe mir schon alles ordentlich gemacht, siehst du? Du hast hier übernachtet, oder? Warum bist du keine Schildkröte mehr? Du warst eine ganz tolle Schildkröte! Ich habe dir ein Bild gemalt, von den schönen Farben auf deinem Panzer aber dann war der grüne Stift auf einmal alle und ich musste mit blau weitermalen aber das war auch ok, weil da auch blau dabei war. Und schwarz. Aber das sieht komisch aus, wenn man mit viel schwarz malt, auch wenn es in echt so war. Ich mach dir wieder deinen Tee! Den musst du dann trinken. Weißt du, was ich geträumt habe..."
Tom folgte seiner kleinen Schwester deutlich gemächlicher und wich ihr sofort gekonnt aus, während er nach einer bestimmten Tasse im Schrank griff und ihm knapp zunickte.
"Wilhelm... morgen!"
Und dann stand auch schon Maganes frisch gebackener Ehemann grinsend im Türrahmen.
"Ah! Ein Wilhelm! In Ganz und in Farbe! War wohl eine wilde Party gestern, hm? Brauchst du die Schuhe noch? Ich frage nur, weil du sie anscheinend nicht oft trägst, obwohl sie echte Qualitätsarbeit sind. Schmählich geschmähte Schuhe! Wo wir doch eine ähnliche Größe haben dürften."
Wilhelm sog das Glück in sich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser.

Zwei Stunden später war er gemeinsam mit Magane aufgebrochen. Sie trennten sich vor dem Haus, um in unterschiedliche Richtungen zu gehen, in dem Wissen, doch in derselben Sache unterwegs zu sein. Die Hexe würde zum Haus derer von Nachtschatten gehen, um dort Ophelia abzuholen. Es war geplant, dass sie sich eine Kutsche kommen ließen und dass Magane Ophelia darin zum vereinbarten Treffpunkt begleiten würde. Während dessen sollte Wilhelm sich an eben jenem Ort mit Senray treffen, um alles für das inniglich herbeigesehnte Wiedersehen der beiden Frauen vorzubereiten. Senray hatte dafür ein Haus ausgesucht, dass keinerlei verwertbare Dinge mehr enthalten sollte. Eben weil dort vor gar nicht allzu langer Zeit bereits eine Feuersbrunst getobt und alles Brennbare verzehrt hatte. Ihre Wahl war auf eine Ruine gefallen, die einst einen Trakt der Alchimisten-Gilde beherbergt hatte. Alles Entflammbare fortzuschaffen, um diese seltsame Reaktion zwischen Ophelia und ihr zu vermeiden, bei der Kerzen ausschlugen, Zündholzer in Stichflammen aufgingen und bereits Glühendes nicht mehr zu löschen war, war der jungen Frau sehr wichtig gewesen. Sie wusste um das Restrisiko und wollte es noch weiter minimieren, weswegen sie einen Raum, in der als geschlossen geltenden Ruine, komplett frei zu räumen gedachte, inklusive gründlichen Auskehrens.

Der Weg flog regelrecht unter seinen Füßen dahin. Er war zeitig von Magane aufgescheucht worden und das Treffen sollte erst am frühen Nachmittag stattfinden. Ausreichend Zeit dafür, dem Vogelherzen beiseite zu stehen bei ihren Vorbereitungen. Sowie, sich einen Seitenraum zusätzlich grob herzurichten, um sein Versprechen zu wahren. Er würde sich zurückziehen, sobald Ophelia auch nur in der Nähe des Hauses eintraf. Sie sollten einander nicht zu Gesicht bekommen. Offiziell wäre er nicht mehr hier. Weder Magane, noch Ophelia wussten von seiner Anwesenheit. Ophelias Erfahrungen mit Vampiren waren zu belastend gewesen zuletzt, als dass diese einen Kontakt mit ihm gewünscht hätte. Im Gegenteil. Sie hatte auf schriftlichem Wege in sehr höflichem aber doch diplomatisch zurückhaltendem Ton klar gemacht, dass sie "noch nicht soweit sei", ihn persönlich kennen zu lernen. Selbst nicht, wo er zu ihrer Rettung beigetragen hatte. Was für ihre Verhältnisse besonders aussagekräftig war. Aber auch wenn ihn diese Zurückweisung stärker getroffen hatte, als er zugeben wollte. Er verstand sie. Und er würde sie nicht anrühren, weder ihre Gedanken, noch ihre Emotionen. Bloß fort zu gehen, das konnte Senray nicht von ihm verlangen. Da hatte er sich ihrem Wunsch verweigert. Er sorgte sich um ihr Wohlbefinden. Wenn sie sogar selber so lange im Voraus nervös und zaghaft gewesen war, eben weil sie die Nähe des Feuerdämons in diesen Momenten fürchtete, dann sicherlich mit gutem Grund. Dann konnte er Senray nicht sich selbst überlassen und einfach gehen. Also ein abseitiger Nebenraum für ihn, heimlich und nur für den Fall. Sie wusste, dass sie ihn nur rufen musste und er wäre innerhalb eines Sekundenbruchteils bei ihr. Allein das würde ihr schon gut tun. Aber so vorsichtig wie sie war, würde es vermutlich gar nicht dazu kommen. Stattdessen galt es Holzreste fortzuschaffen und fleißig Staub aufzuwirbeln.

Das Gebäude kam in Sicht und er tat, wie ihm geheißen, indem er es möglichst unauffällig durch eine Seitengasse zur Hälfte umging und dort schnell die von Senray mit einem Zweitschlüssel im Voraus geöffnete Tür des Lieferanteneingangs nutzte.
Ihr Herzschlag begrüßte ihn und er blieb einen Moment stehen, einfach nur, um dieses schönste aller Geräusche der Scheibe mit geschlossenen Augen in sich aufzunehmen.
Er war so glücklich. All die nächtlich ausgestoßenen Drohungen des Alten begannen zu verblassen, wenn man im sanften Schatten solch eines Lebensbaumes zur Ruhe kommen durfte! Sobald dieses Treffen vorbei und das Vogelherz wieder etwas beruhigter wäre, würde er ihr seinen Arm zum Geleit anbieten und sie in ein Café ausführen. Das würde ihr gewiss gefallen. Kleine Küchlein oder süße Pfannkuchen mit Sirup... Hunger hatte sie schließlich fast ununterbrochen und wenn erst die Aufregung vorbei wäre, würde ihr das schnell wieder bewusst werden. Ja, so wollte er es machen.
Wilhelm folgte ihrem Herzensklang, betrat den entsprechenden Raum und klopfte an das trockene Holz des leeren Türrahmens.
Die junge Frau drehte sich erschrocken mit einer umgebundenen Schürze und einem Kopftuch zu ihm um, den Reisigbesen fest in beiden Händen. Als sie ihn sah, strahlte sie ihn an. Und er erwiderte diese Geste purer Zuneigung auf der Stelle.
"Wilhelm! Da bist du ja!"
"Warum bist du schon so früh da, Sen? Da war ich so stolz darauf, pünktlich zu sein, trotz des vergangenen Abends, und dann bist du trotzdem vor mir da?"
Die schlanke Frau lachte etwas angespannt und strich sich nervös einige Haarsträhnen in das Koftuchgebinde zurück.
"Ach! Ich musste etwas tun. Das Warten macht mich unruhig." Sie schmunzelte nach einem genaueren Blick auf Wilhelm. "War es schön gestern? Du wirkst regelrecht erholt, wie kann das sein?"
Sie drückte ihm den Besen in die Hand - und er begann zu kehren und dabei zu erzählen.
"Du hättest dabei sein sollen, kleines Vogelherz. Ich war der Star des Abends..."

- ENDE -




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Feedback:

Von Jargon Schneidgut

30.9.2018

Eine schöne, detailverliebte Geschichte. Rein objektiv gesehen ein sehr großes Stück Arbeit, übersichtlich im Verlauf und voller interessanter Entwicklungen.
Allerdings auch sehr lang. Für meinen Geschmack fast etwas [i]zu[/i] detailliert.
Trotzdem, mit viel Zeit, angenehm zu lesen. Man fühlt sehr mit Wilhelm mit (und möchte ihn manchmal hauen), und wünscht sich sehr, dass er aus dem lernt, was geschieht.

Von Senray Rattenfaenger

30.9.2018

♥️
Armer kleiner Wilhelm O:)

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