Beim Jahresessen der Gilde der Ornithologen, Ornithographen und Ornitometer wird der Vorsitzende tot aufgefunden. Unmittelbar davor hatte Hauptmann Pismire einen heftigen Streit mit ihm. Und in Salathiel Brommkes Rücken steckt Pismires Dolch...
Können Mina von Nachtschatten und Rabbe Schraubenndrehr als Team den Fall lösen?
Dafür vergebene Note: 13
Auch ein einzelner Flügel kann fliegen,
wenn man ihn aus dem Fenster wirft.
Achatene Weisheit
Sonntag, der 23. Sektober im Jahr der trudelnden Maus
"... und bleibt daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt unserer Untersuchungen der Hauptverdächtige." Korporal Rabbe Schraubnndrehr klappte den Block scheinbar gleichmütig zu, ein Geräusch, das in der Stille im Raum ziemlich laut klang.
"Äh, ja, prächtig ..." Drei Augenpaare richteten sich entsetzt auf den Kommandeur der Wache, der am Ende eines langen Tages mit ziemlich unerfreulichen Terminen Rabbes Ausführungen über den bisherigen Ablauf der Ermittlungen in diesem Mordfall nicht mit der gebotenen Konzentration gelauscht hatte. Lediglich die stellvertretende Abteilungsleiterin von RUM und zweite Ermittelnde im Team, Mina von Nachtschatten, hob weder eine Augenbraue noch löste sie den Blick von dem imaginären Punkt an der Wand hinter Araghast Breguyar, dem bereits während des gesamten Vortrags von Rabbe anscheinend ihre Aufmerksamkeit gegolten hatte.
"... ich meine äh, gut erörtert, auch wenn das Ergebnis natürlich fatal ist. Also bleibt Hauptmann Pismire der Hauptverdächtige." Der Halbvampir lehnte sich unbehaglich im Sessel zurück.
"Ja. Genaugenommen der einzige Verdächtige – bisher", warf die Vampirin ein. "Er hat ein – vielleicht bizarres – Motiv, er war im entscheidenden Zeitraum mit dem Opfer in einem Raum ..."
"Allein?"
"Seiner eigenen Aussage nach, ja. Sir." Der Raum schien mit der Unterbrechung ein wenig kälter zu werden. "Im Gebäude befanden sich natürlich – wie bereits erwähnt – eine Reihe von Personen: neben der Gastgeberin sowie dem späteren Opfer und dem Hauptmann sieben weitere Gäste, außerdem der Butler und eine Hausdame, das normale Personal bestehend aus der Zofe, drei Hausmädchen, dem Gärtner, der Köchin und fünf weiteren Bediensteten. Zusätzlich das Personal für den Abend: Ein Koch, zwei zusätzliche Küchenhilfen und zwei Lohnkellner." Mina von Nachtschatten brauchte keinen Blick in die Unterlagen, um die Liste der am Tatort befindlichen Personen aufzuzählen. "Aber in dem Raum, in dem der Mord stattfand, war der Hauptmann mit dem Opfer allein. Zwar sagt er aus, der Mann sei nachdem er den Raum verlassen habe noch am Leben gewesen, aber bisher haben wir für diesen Teil der Aussage keinen weiteren Zeugen, wohl aber für einen heftigen Streit zwischen ihm und dem Opfer."
"Den er aber auch nicht abstreitet", warf Feldwebel Mangane ein.
Mina nickte, machte eine kurze Pause, vielleicht eine weitere Anmerkung erwartend und fuhr dann fort: "Wie bereits gesagt, Sir: Das Personal des Hauses schließen wir aus: Keinerlei sichtbares Motiv – wir haben die Ergebnisse der Befragungen in einer Übersicht am Ende des vorläufigen Berichts zusammengefasst. Soweit wir wissen hatte keiner der Dienstboten eine nähere Beziehung zum Opfer. Das Hauspersonal der Familie Tachyerii kannte ihn natürlich, auch der Gärtner und sein Gehilfe, die auch für den Teil des Außenanlagen des Geländes zuständig sind, in dem sich Einrichtungen der Gilde befinden, den Mietlingen für den Abend sagte er nichts."
"Ist das überprüft?"
"Stichprobenartig, Sir." Rabbe zuckte mit den Achseln. "Wir behalten das natürlich im Auge und kümmern uns drum, wenn sich was ergibt. Allerdings spricht bisher nichts dafür, dass einer der Leute gelogen hat. Ich meine – mehr als üblich. Lügen sowieso alle."
"Was die Vorstandsmitglieder der Gilde...", hub Mina von Nachtschatten an.
"Wie heißt die noch mal?"
"Gilde der Ornithologen, Ornithographen und Ornitometer, Sir. Ihr Gildensitz ist das Haus der Familie Tachyerii am Entenplatz. Da fand gestern Abend das jährliche Thot-Essen statt."
"Thot-Essen?"
Dem djellibibischen Gott Thot, der mit dem Ibiskopf, Sir", warf Rabbe ein. "Daran nehmen alle Vorstandsmitglieder, die des erweiterten Vorstandes und gestern auch der Hauptmann teil. Der kein Mitglied ist."
"Wie gesagt: Wir sind erst ganz am Anfang der Ermittlungen", ergriff Mina erneut das Wort. "Die Dinge brauchen halt ihre Zeit. Wir haben heute rund sechs Stunden mit den Verhören im Haus Tachyerii, der gründlichen Untersuchung des Tatortes und dem sonstigen Kleinkram verbracht. Hauptmann Pismire befindet sich auf freiem Fuß, steht aber unter Bewachung. Wir haben uns entschieden, ihn heute noch nicht zu verhören, da wir noch auf die Aussagen weiterer in den Fall möglicherweise involvierter Personen angewiesen sind. Seine erste Befragung hat ja durch die Kollegen von den SEALS stattgefunden, bis sich herausstellte, dass er möglicherweise der Täter ist. Und bevor geklärt war, in welche Abteilungszuständigkeit der Fall gehört. Wie dem auch sei: Wir brauchen weitere Ergebnisse von S.u.Si. Sonst noch Fragen?" Die Vampirin schaute fragend in die Runde. Als keine Reaktion kam, erhob sie sich und fuhr fort: "Sobald das endgültige Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung und der Befund von der Untersuchung der Kleidung aus dem Labor vorliegen, sehen wir vielleicht weiter."
"Ich möchte zeitnah auf dem Laufenden gehalten werden", merkte der Kommandeur an. "Und vollständig."
"Selbstverständlich." Die Vampirin nickte den Anwesenden zu. "Sirs, Mäm." Mit einer knappen Handbewegung war das Ermittlerinnenteam entlassen. Die anwesenden Abteilungsleiter von SuSi und RUM würden noch eine Weile bleiben müssen.
**Vor dem Besprechungsraum bemerkte Mina von Nachtschatten betont freundlich zu ihrer Co-Ermittlerin: "Wir sollten uns noch auf unser morgiges Vorgehen verständigen, Korporal."
Kurze Zeit befanden sie sich in Minas jetzigem Büro. Während der Chief-Korporal ein wenig Aktenablage betrieb und den Kaffeedämon in Gang brachte, musterte Rabbe das nahezu unveränderte ehemalige Büro der Ziegenberger und ließ derweil den heutigen Tag Revue passieren.
Heute Morgen, unmittelbar bei Dienstantritt war sie sofort in das Büro von Romulus gerufen worden und dort mit einer groben Übersicht: Mordfall in einem Familiensitz am Entenplatz, ein bereits identifizierter Toter, Todesursache augenscheinlich eine Stichverletzung im Bereich des Rückens, Waffe ein so genannter Zeremonialdolch, versehen worden. Anfänglich hatte noch Unklarheit bestanden, wer zuständig war. Erst hieß es, dass vermutlich die D.O.G. zuständig sei, dann aus irgendeinem verfahrenstechnischen Grund doch RUM, und dann gab es da noch das Problem, dass – und ab hier widmete sie ihre Aufmerksamkeit den Erläuterungen ihres Abteilungsleiters mit 150prozentiger Aufmerksamkeit – ein Mitglied der Stadtwache nicht nur involviert war, sondern es nicht ausgeschlossen werden konnte, dass der Gerichtsmediziner Hauptmann Pismire als Täter in Frage kam.
Angesichts ihrer eigenen Vorgeschichte in der Wache und insbesondere ihrer in der Personalakte dokumentierten Verfehlungen konnte sie ihrem Abteilungsleiter nur zustimmen: die Chance, wesentlicher Teil dieses Ermittlerteam zu sein und ihre Arbeit gut zu machen, wäre der beste Beweis, dass sie das von ihm und dem Kommandeur in sie gesetzte Vertrauen verdiente. Sie war eine gute Ermittlerin und dieser Fall hier würde das zeigen. Und dafür – das wusste sie auch – war es notwendig, bestimmte Dinge einfach mal auf sich beruhen zu lassen. Das verdammte Ziegenbergerproblem erst einmal in eine der Schubladen in ihrem Geist zu packen und dort fein säuberlich verschlossen zu halten. Nicht vergessen, aber verschlossen.
Als sie sich nun mit einem Kaffee gegenüber saßen, musterte Rabbe ihre stellvertretende Abteilungsleiterin mit einem Gesicht, dass keinerlei Aufschluss über ihre Gefühle preisgeben sollte, dennoch war sich Mina bewusst, dass die Frau ihr ebenso wenig traute wie sie ihr. Innerlich seufzte sie: Das Leben in der Abteilung RUM war seit der Sache mit Ophelia kompliziert geworden. Was immer den Abteilungsleiter veranlasst hatte, ausgerechnet sie beide zu einem Team zusammenzutun, war ihr unbekannt. Vielleicht hatte Romulus von Grauhaar auch keine weiteren Hintergedanken, sondern einfach nur die Konsequenz aus der vorhandenen personellen Ausstattung gezogen.
"Wie war das eigentlich jetzt noch einmal mit der D.O.G.?", fragte Rabbe, bevor das Schweigen unbehaglich zu werden drohte. Im Rahmen des Versuchs, möglich viele Abteilungen der Wache zu durchlaufen und sich dabei ein eigenes Bild von den jeweiligen Spezialisierungen machen zu können, hatte Rabbe zwar bereits Abordnungen bei FROG und S.u.Si absolviert, bei D.O.G. hatte sie lediglich im Rahmen ihrer Ausbildung an einem Einsatz im Boucherie Rouge im Mai des Jahrs den komplizierten Affen teilgenommen, an den sie sich nicht wirklich gerne erinnerte.
[1] "Die D.O.G. hat mit diesem Fall nichts zu tun. Sie ermitteln nicht und wir brauchen auch keine Rücksprache mit ihnen halten", erwiderte der Chief-Korporal freundlich.
"Aber das Ding heißt doch eindeutig:
Gilde der Ornithologen, Ornithographen und Ornithometer." Und für den Fall, dass ihr Gegenüber es überhört haben könnte wiederholte Rabbe hartnäckig: "Gilde."
"Ja, das Ding heißt Gilde, aber in den Statuten der Gilde steht, Moment..." Die Vampirin zog zwei aneinandergeheftete Zettel aus dem Konvolut der mittlerweile durch die Protokolle der Gespräche mit dem Personal im Haus Tachyerii bereits fingerdicke Ermittlungsakte, klappte den ersten um und überflog den Text auf dem zweiten: "Ah ja hier, ich zitiere –
verzichtet die Gilde aus Gründen der Schwafelschwafelschwafel – ich lass das Unwesentliche einfach aus o.k.?" Ihr gestreckter Zeigefinger glitt in Schlangenlinien über den Text: "...mehr Schwafel,
das Recht – außer in den Fällen die lediglich die internen Angelegenheiten und hier insbesondere Fälle von blablabla
betreffen, auf das den Gilden der Stadt Ankh-Morpork vom Patrizier verbriefte ihnen eigentümliche Recht der freien Jurisdiktion und Judikative, zugunsten der von dem oben genannten Patrizier dazu berufenen Organen, wie sie sich auch außerhalb der Gilden bewegen." Sie klappte den ersten Zettel wieder nach vorne. "Auf jeden Fall meint dieser Rechtsexperte von den SEALS..."
"Jargon Schneidgut", dachte Rabbe, sprach den Namen aber nicht aus.
"...dass das bedeutet, dass in diesem Fall die D.O.G. mit dem Fall nichts zu tun hat und wir auch nicht mit ihnen Rücksprache halten müssen. Anscheinend ist diese Gilde zwar nominell aber nicht defakto eine Gilde, sondern entspricht von ihren Statuten und ihrer Organisationsstruktur her eher einem Verein. Oder einem Club. Wenn ich die Ausführungen von diesem..."
"Schneidgut, Jargon Schneidgut", murmelte Rabbe
"...genau, danke, richtig verstehe."
Als sie die Bürotür hinter sich schloss brummte Rabbe der Kopf. Der morgige Tag würde eine Menge an Lauferei und noch mehr Papierkram mit sich bringen. Zum Glück behinderten die fehlenden Finger ihrer linken Hand sie nicht bei der Arbeit mit dem Protokollblock.
Als erstes stand ein auf den Grundlagen der heute gewonnenen Erkenntnisse fußendes ausführliches Verhör des Gerichtsmediziners an, danach würden sie hoffentlich weitersehen. Außerdem würde sie, Rabbe, sich mit der Kostümverleiherin unterhalten, von der der Hauptmann sein Kostüm hatte. Dabei war – anders als bei dem Gespräch davor – keine zweite Wächterin nötig. Die Nachtschatten hatte noch die Mietkellner auf dem Programm. Wobei, das mit dieser Madam Molchkinn könnte sie doch jetzt gleich noch erledigen. Soweit sie wusste, hatte der Laden sowieso bin kurz vor Mitternacht geöffnet. Und ein wenig Bewegung in der Stadtluft konnte ihr nur gut tun.
**"Ja, sicher hat er sich das Kostüm bei mir geliehen." Madam Molchkinn brauchte nicht einmal in ihr dickes Buch mit den Verleihvorgängen des Jahres zu schauen – ein Kostüm, das bei einem Mordfall auch noch in der Gegend verwendet worden war, hatte ihre volle Aufmerksamkeit verdient. Und eine Wächterin mit einem Block, die alles aufschrieb, was sie so zu sagen hatte, kam ihr wie gerufen.
"Ja, eines meiner besten Kostüme, das muss ich schon sagen, obwohl ich hier nur erstklassige Sachen habe. Aber wem sage ich das. Ich vermute mal, dass sich ja auch Wächter kostümieren – hin und wieder. Hab ich in einer Zeitschrift gelesen. Nennt sich
"anderkawwer". Aber dazu gehört das Santeria-Kostüm ja wohl kaum. Ich meine – der wird das ja nicht dienstlich geliehen habe, oder? Und überhaupt: Wenn das jetzt ein wichtiges Beweisstück ist, das eigentlich mir gehört – denn geliehen war es ja nur für einen Tag, also 24 Stunden und die Frist ist schon längst um – dann steht mir doch auf jeden Fall eine Entschädigung zu, nicht wahr?"
Rabbe verdrehte innerlich die Augen. Habgier, Verschlagenheit und das Ganze bei pausenlosem Gerede, ihre Zeugin ging ihr gehörig auf die Nerven, zumal es ziemlich offensichtlich war, dass die Sache hier – ermittlungstechnisch gesehen – voll für den Eimer war. Die alte Sabbelhexe hatte dem Hauptmann ein Kostüm geliehen – bedauerlicherweise den Fummel, in dem er einen Mord begangen hatte und zu dem die Tatwaffe in Gestalt eines Zeremonialdolches gehörte – und das war's auch schon. Obwohl die Alte nicht aufhören wollte zu reden. Immerhin betrieb sie den Laden jetzt schon seit fünfzig Jahren hier im Viertel in unmittelbarer Nähe zum Haus Tachyerii. Vielleicht konnte sie das Gespräch mal in diese Richtung lenken. Flüchtig nickte sie, als die Alte, bevor sie zu weiteren unvermeidlichen Betrachtungen über den Verfall der Sitten im Allgemeinen und im Besonderen seit dem Zuzug aller möglicher Gestalten von Sonst-woher nach Grausensen anhub, noch einmal das Thema der Entschädigung streifte.
"Nun, wenn's nach mir ginge – aber das müssen natürlich meine Vorgesetzten", bedauerliches, gleichsam entschuldigendes Schulterzucken, "entscheiden", schmierte sie der alten Vettel Honig ums Maul, wohlweislich mit dem solidaritätsstiftenden Klischee "die da oben, wir da unten" hantierend.
"Diese Gilde, wegen deren Essen sich Hauptmann Pismire dein Kostüm geliehen hat" – mein Güte, hatte der Mann denn eigentlich keinen Nachnamen? Oder hatte er keinen Vornamen? Rabbe beschloss, sich nach diesem Umstand gelegentlich zu erkundigen. Magane. Ja, die hatte die Akten ihrer Mitarbeiter. Sie sollte das eigentlich wissen...
"… das denn ahnen!? Ist ja nicht das erste Mal. Ich meine – der leiht das Kostüm schon seit zwei, drei Jahren aus. Oder länger? Ich könnte nachsehen..."
"Musst du nicht", dachte Rabbe und winkte einfach nur ab. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Vor fünf Jahren – im Jahr des randalierenden Zwerghamsters – hatte der damalige Oberleutnant sich in einer verzweifelten Situation
[2] an die bereits verwitwete Lady Hattie gewandt und ihr letztendlich in der billigen Verkleidung eines gennuanischen Wuuduu-Priesters Saugi, das unschöne und immer hungrige Maskottchen der Pathologie, abgeschmeichelt.
[3] Im Gegenzug dazu musste er – und das war Lady Hatties einzige Bedingung gewesen – ihr in der bereits erwähnten Verkleidung gelegentlich als amüsanter Escortservice (beglaubigt von Lady Hattie, ihrem Butler Chuan und dem Hauptmann selbst) zu Diensten sein. Und zwar hauptsächlich als Begleiter zu den langweiligen Gildenessen (mit Kostüm) oder in die Oper (in Galaumhang der Wache). Angesichts der Vermögensverhältnisse von Lady Hattie und dem Äußeren ihres hochgewachsen, gut geformten und attraktiven Butlers namens Chuan (
"Mit einem gehauchten "ch" wie in Charisma, meine Liebe") bezweifelten Rabbe und Mina entschieden, dass die Dame anderweitige Interessen an dem in die Jahre gekommenen Schamanen haben konnte.
Während ihre Gedanken sich auf eigenen Bahnen mit den Personen des Falls beschäftigten, blieb sie dennoch mit mehr als halbem Ohr bei dem Gefasel der alten Frau. Ermittlungsarbeit war eigentlich mit der Arbeit von Paul König, Ankh-Morporks König vom goldenen Fluss zu vergleichen – man musste nur lange genug ein Sieb in die Scheiße halten, irgendwann blieb was Wertvolles kleben. So wie jetzt.
"Moment", unterbrach sie Madam Molchkinn. "Du kanntest Salathiel Brommke? Und er war hier Kunde?"
"Natürlich, wer in der Gegend kannte ihn nicht? So ein stattliches Mannsbild. Ein äußerst ansehnlicher Charakterkopf, allerdings: mit nicht viel drin, sozusagen. Und die Gilde ist eine wichtige gesellschaftliche Institution in Grausensen. Was meinst du denn, wer die jährliche Verbrennung des Entenmanns organisiert!?"
Und als Rabbe sie fragend anschaute, fuhr sie in einem Tonfall, den sie vermutlich für die besonders Schwachsinnigen ihrer Kunden reserviert hatte betont langsam fort. "Das jährliche Fest der Verbrennung des Entenmanns? Das die Rettung der Seelenkuchenente aus den Fängen des Bösen feiert? Das wirst du doch kennen? Das ist DIE Attraktion in Grausensen. Immer am Vorabend des Seelenkuchenfestes wird die Puppe des Entenmanns – den wirst du doch kennen!? – nach einem feierlichen Umzug auf den Entenplatz verbrannt – sonst könnte die Seelenkuchenente doch gar nicht ankommen. Der Entenplatz – der große Platz neben dem Haus Tachyerii? Das große Anwesen, wo der Mord stattfand? Eben. Und die Gilde der Ornithologen, Ornithographen und Ornithometer ist der eigentliche Ausrichter des Volksfestes am Montagabend."
Rabbe winkte ab, der Gildenklimbim konnte warten – die Tatsache, dass das spätere Mordopfer ebenfalls bei Madam Molchkinn Kunde gewesen war, hatte ihre Neugierde geweckt. Aber das Kostüm, in dem der Vorsitzende der Gilde den Festumzug in der Entennacht – sie versuchte, sich genau an die Führung im Tachyerii-Anwesen und die dabei gehörten Erläuterungen zur Gilde zu erinnern – anführte oder eröffnete, gehörte zu den Attraktionen der Sammlung der Gilde und war daher keiner der Molchkinnschen Fummel.
"Aber du hast gerade gesagt, dass das ja niemand ahnen konnte, als er vor drei Wochen in deinen Laden gekommen ist. Also mehr als bekannt: als Kunde."
"Hab dich!", dachte Rabbe, als sie das hektische Flackern im Blick der Kostümverleiherin bemerkte.
"Also: Was wollte Brommke? Kannst du in deinen Unterlagen nachsehen, welches Kostüm er sich ausgeliehen hat?", hakte sie nach und lehnte sich über den Tresen, den Blick fest auf Madame Molchkinns Geschäftsbuch gerichtet.
"Nun ja, jetzt wo du es erwähnst – er hat sich eigenartigerweise ebenfalls für das Santeria-Kostüm interessiert. Hat mich schon gewundert, weil er sonst seine Kostüme fürs Theaterspielen ja bei seinem Schneider machen lässt weil das besser passt und so. Aber das hier hat er sich sogar ausgeliehen, obwohl es ihm eigentlich ein wenig zu kurz war. Aber er hat es auch prompt und pünktlich am nächsten Tag zurück gebracht."
Hm, dachte Rabbe, das erklärte, woher er wusste, dass es sich bei dem vermeintlichen Santeria um einen Betrüger handelte. Sie wollte das Gespräch an diesem Punkt schon abbrechen, bevor die Alte ihr weiter das Ohr abkauen konnte, als ihr noch eine Frage einfiel: "War Brommke allein bei dir?"
"Ja sicherlich, wieso willst du das wissen?"
"Schade", dachte Rabbe, entgegnete aber nur: "Reine Routine, Madam Molchkinn."
<8D~Oktotag, 24. Sektober im Jahr der trudelnden Maus
"Also gut. Aber was können wir mit dieser Information anfangen?", fragte Mina von Nachtschatten sich halblaut, nach der Lektüre von Rabbes Bericht über das Gespräch mit der Kostümverleiherin. Sie lehnte sich nachdenklich zurück. So. Dieser Brommke hatte offensichtlich den Verdacht gehabt, dass es mit Lady Hatties exotischem Ehrengast der Gilde eine besondere Bewandtnis hatte, dass der Mann ein Schwindler – oder ein Schwindel – war, und er hatte sich aufgemacht, die Herkunft dieses Santerias zu ermitteln. Und er musste auch nicht lange suchen, um fündig zu werden. Haha, im wahrsten Sinne des Wortes: im Fundus von Madam Molchkinn. Und dann? Er hatte sich das Kostüm ausgeliehen und es am nächsten Tag wieder abgegeben. Dass er es tragen wollte, war wohl unwahrscheinlich, oder? Sie mussten seine Hausgenossen zu diesem Tag befragen, dann würde man weitersehen.
Rabbe war währenddessen in den Bericht der Gerichtsmedizin und die Notizen aus dem Labor vertieft. Es war den beiden Frauen zeitsparender erschienen, einfach die jeweiligen neuesten Berichte auszutauschen.
Beim Lesen versuchte der Korporal, ihre Erinnerungen an ihr mehrwöchiges Praktikum bei SuSi außen vor zu lassen. Sicher: Die Arbeit im Labor war ebenso faszinierend wie lehrreich gewesen, die Einblicke in die Arbeitsweise in der Pathologie waren es definitiv nicht. Dennoch schätzte sie Feldwebel Magane als ebenso gewissenhaft wie kompetent ein. Wie sie diese Gewissenhaftigkeit und Kompetenz einer derart widerwärtigen ... egal.
Rabbe beschloss, sich auf diesen Fall zu konzentrieren und ihr Augenmerk auf den Bericht des Labors zu richten.
Was die Untersuchung von Kleidungsstücken anging war die Laborantin, Lady Rattenklein von der Natur aus im Vorteil. Wo andere mit der Lupe suchen mussten, konnte die Gnomin über die ausgebreitete Stofflandschaft spazieren und ihre Proben nehmen.
"Keine Fingerspuren am Dolch – der Täter trug also Handschuhe. Soweit O.K. Aber auf den Handschuhen von diesem Wuuduu-Priester-Kostüm waren keinerlei Blutspuren. Und sie waren trocken", wunderte sich Rabbe. "Also zieht er die weißen Stoffhandschuhe aus, andere Handschuhe – nach Lady Rattenkleins Vermutungen aller Wahrscheinlichkeit nach aus Gummi – an, bringt diesen Brommke um, wechselt wieder die Handschuhe und lässt das zweite Paar verschwinden. Oder er zieht das zweite Paar über das erste? Und dann ohne zu Kleckern wieder aus? Und auch auf der Kleidung findet Lady Rattenklein nichts. Also jedenfalls kein Blut." Ihre Augen arbeiteten sich durch den Laborbericht zu der Kleidung: "Spuren von Bratensaft auf den Knien, ein wenig Suppe am Revers, Rotwein am Ärmel und der Abdruck eines Rosenkohl am Ellbogen ..."
"Tja, wollte ich jemals so viel über menschliche Essgewohnheiten wissen?", murmelte die Vampirin und brach dann etwas verlegen ab.
Rabbe grinste in sich hinein, weniger wegen den Essgewohnheiten, als vielmehr wegen der Schilderung, die ihr von den SEALS über die Reaktion des Gerichtsmediziners berichtet worden war, als dem Mann klar war, dass ihm seine gesamte Bekleidung als vorläufig sichergestelltes Asservat für den Heimweg nicht mehr zur Verfügung stand.
"Wir sollten auf jeden Fall Pismire dazu befragen. Also zu den Handschuhen."
"Gute Idee. Am besten beginnen wir damit, ihn aufzusuchen."
**Der Hauptmann empfing sie bereits an der Haustür der Kohlschrubbergasse 12.
Noch bevor sie geklopft hatten, riss er die Tür auf: "Chiefkorporal von Nachtschatten, Korporal Schraubenndrehr. Wie unerwartet am frühen Morgen. Ich hoffe, ihr habt für das da vorne“, sein Daumen wies zur Straßenseite, wo – seitdem er unter Hausarrest stand – Rekrut Thymian Erz Stellung bezogen hatte und wie ein mächtiger Felsbrocken in der Kohlschrubbergasse aufragte, "Futter mitgebracht. Die Nachbarn werden schon nervös und befürchten das Schlimmste."
Er drehte sich um und fuhr fort: "Ich darf euch beide ja dann wohl hereinbitten. Und
du kannst dir am besten einfach gleich einen Stuhl vor meine Tür stellen. Sitzen ist in deinem Alter besser für den Rücken als in gebeugter Haltung durchs Schlüsselloch zu starren und dabei vor Anstrengung zu Keuchen", fauchte er seiner Vermieterin zu, die sich für den Satz: "Je eher du ausziehst, desto besser" die Replik: "Die vertraglich vereinbarte und immer noch gültige Kündigungsfrist beträgt selbst in den Mobilien zwei Wochen. Und daran ändert sich auch durch die Tatsache, dass durch meine eigenen Kollegen gegen mich wegen der Verdacht der vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt wird, gar nichts!", einfing.
Er stapfte voran, die beiden folgten ihm. In seinen Räumen angekommen verzichtete Mina von Nachtschatten angesichts der Stimmung auf einleitende Worte.
"Nun, du weißt, warum wir hier sind. Es geht um den Mord an Salathiel Brommke am Abend des 22. Sektober. Hiermit belehren wir dich über deine Rechte als da ..."
"Schon gut. Ich kenne den Text", unterbrach er sie barsch. "Ich dürfte den Kollegen vorgestern Abend alles gesagt habe, was ist weiß. Ja, ich kannte Brommke, nein ich war nicht mit ihm befreundet, weil er ein ziemlicher Idiot war, ja, ich war in einer – absolut leicht zu durchschauenden – Verkleidung, Klammer auf: wie schon in den Jahren davor, Klammer zu, beim jährlichen Gildenessen, weil ich mit Lady Hattie weitläufig befreundet bin, nein, ich bin kein Mitglied der Gilde und möchte für den Rest des Jahres mit diesem Haufen von nichtsnutzigen Vollidioten auch nichts zu tun haben , ja, Lady Hattie beliebte es hin und wieder ihre Kröpfe, Schnäbel, Seher, Flügel, Ständer – und wie die offiziellen Titel von dem Gildengesocks noch weiter lauten mögen – damit zu schockieren, ihnen anzudrohen, mich zum Ehrengefieder der Gilde zu erklären, nein, ich habe diesen Trottel von Vorsitzenden nicht aus dem Leben befördert, obwohl, ja, er mir angedroht hat, mein – und hiermit zitiere ich den Vollkoffer aus dem Gedächtnis –
"schäbiges Geheimnis, dass ich mir unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen das Vertrauen einer ehrbaren Dame erschlichen habe, schonungslos und ohne Rücksicht der Öffentlichkeit preiszugeben". Und das war's dann ja wohl."
"Nicht so hastig", knurrte Rabbe. "Du weißt gar nicht, was für Fragen wir noch haben."
"Na – dann überrasche mich doch mal, Korporal."
Am Ende eines langen Verhörs standen sie nach Rabbes Eindruck auch nicht schlauer da als am Anfang. Der Gerichtsmediziner leugnete entschieden, mit dem Ableben von Brommke irgendetwas zu tun zu haben, obwohl er sich auch nicht erklären konnte, wer an seiner Statt dem Besitzer des Handelskontors Brommke & Cie. ein Messer in den Rücken gestoßen haben konnte.
"… und zwar so exakt, dass der erste Stich tödlich war. Das Messer hat das Herz glatt durchstoßen. Laut Feldwebel Maganes Bericht war der Mann binnen Sekunden tot. Du willst mir doch nicht erzählen, dass das ein anatomischer Laie gemacht hat?"
"Korporal – ein Teil der Mitglieder der Gilde war früher auch Mitglied in der Gilde der Taxidermisten, bevor der Gildenvorstand in die Statuten einen Unvereinbarkeitsbeschluss aufnahm. Das sind alles keine anatomischen Laien, bei denen geht es auch nicht nur um das Zeichnen und Beschreiben von Vögeln. Frag den Bürzel, Penunsius Borgen. Der redigiert die Mitgliederzeitung
Gut zu Vögeln und weiß mehr über Anatomie, als gut für
ihn und seinen inneren Frieden ist, wobei er die weibliche Anatomie wohl eher vom Hörensagen oder aus Zeitschriften zu kennen scheint. Aber egal. Und Herr Abbelhabbel ist Metzger in der Zehntes-Ei-Straße."
"Und wie soll der Mörder nach dir in den Raum gekommen sein? Vor der Tür stand ein Diener. Und der sagt aus, dass er niemanden durch die Tür eintreten sah zwischen dem Zeitpunkt, an dem du den Raum verlassen hat und er hineinging um Brommke daran zu erinnern, dass der Salon – also diese Veranstaltung mit Vorträgen nach dem Dinner, gleich eröffnet werden würde. Genau der Diener, dem du selber beim Verlassen des Raumes gesagt hast, Herr Brommke wolle eine Weile nicht gestört werden. Und keine 10 Minuten später findet er in dem Raum die Leiche."
Der alte Mann zuckte mit den Achseln: "Das aufzuklären ist ja wohl eure Arbeit, meine Damen. Ich kannte den Raum vorher nicht und habe ihn mir – auch wenn euch das erstaunen mag – nicht auf weitere Eingänge oder Ausgänge hin angeschaut. Und im Übrigen sollte der Diener auch ausgesagt haben, dass ich noch in der geöffnete Tür mit Brommke gesprochen habe."
"Nein, Hauptmann, der Mann konnte mir – also uns – lediglich bestätigen, dass du :
"Ich sag's ihm", in den Raum gesprochen hast. So wie du die Tür geöffnet hast, konnte er definitiv
nicht in den Raum sehen. Und Brommkes Antwort gehört hat er auch nicht ", entgegnete Mina von Nachtschatten, die beim Verhör mit dem Hausdiener Amsel akribisch diesen Punkt, wieviel der Mann wirklich hatte sehen und hören konnte, eruiert hatte.
"Und mein Mordmotiv ist in der Angst davor begründet, Lady Hattie könne erfahren, dass ich gar kein Santeria bin – hupps, das weiß die Gute aber schon seit fünf Jahren. Oder, nein, besser: Erst einmal von ihr in den Vorstand der Gilde eingesetzt, bemächtige ich mich Saugis – ach nein, den habe ich ja schon …" Belustigt brach er ab.
"Dein Spott bringt dich nicht weiter", bemerkte die Vampirin.
"Ja, und euch auch nicht. Also würde ich vorschlagen, dass ihr langsam anfangt eure Zeit mit der Suche nach dem
echten Mörder und seinen
echten Motiv zu verbringen. Ich hingegen werde mich – charmant von einem schlecht zu übersehenden Troll als eine Art mobiler Fußfessel gefolgt – auf Wohnungssuche machen. Wie schön!"
Als die beiden draußen waren meinte Mina: "Ich weiß nicht. Irgendwo hat er Recht – der Streit dürfte ziemlich schnell beendet gewesen sein, als Brommke klar wurde, dass diese Lady Hattie das Spiel eingefädelt hat und nicht das Opfer war. Dass er da eine Weile allein sein wollte, kann ich mir schon vorstellen. Gesichtsverlust und so."
"Aber wer sollte es sonst gewesen sein?", widersprach Rabbe. "Selbstmord scheidet ja wohl aus."
"In der Tat. Wir müssen mehr Hintergrundinformationen über diese Gilde haben, und vor allem über ihre Mitglieder – wer wen mochte, wer wen nicht mochte und so. Und auch über Brommke – mögliche Feinde, potentielle Erben und andere Profiteure von seinem Ableben. Also: zurück zum Gildengebäude und dann zu den einzelnen Mitgliedern." Der Chief-Korporal musterte die lange Liste mit Namen und Adressen in der Hand und seufzte innerlich.
"Ich freu mich drauf", dachte Rabbe ein wenig rebellisch.
**Ein weiteres Gespräch mit Lady Hattie brachten den beiden Frauen keine weiteren Erkenntnisse, außer der, dass der Tagesablauf der Dame vermutlich wegen einem ausgiebigen Sherryfrühstück ihr
"viel zu wenig" Zeit für den morgendlichen Ausflug zu Pferde in die Umgebung ließ. Und dass sie von den Vermutungen der Wache, Hauptmann Pismire könne der Täter sein, gar nichts hielt.
"Was ich in meiner Freizeit mit wem wo mache und wen ich wie wo vorstelle ist ja wohl meine Sache – und das hätte ich Salathiel auch so ins Gesicht gesagt. Du meine Güte, er war schon – auch wenn man das über einen so unzeitig aus dem Leben geschiedenen Freund nicht sagen soll – nicht gerade Patinas Jünger, der arme Salathiel." Und auf den fragenden Blick der Beiden setzte sie nach: "Die hellste Kerze auf dem Kuchen, nicht an der Erfindung der flachen Teller, beziehungsweise der Holzbrettchen beteiligt. Dumm wie Brot. Muss man leider so sagen. Leider. Prost!" Und mit einer eleganten Geste leere sie ihr Sherryglas, das der Chuan, der Butler, dienstbeflissen augenblicklich auffüllte.
"Wie kommt er dann an den Gildenvorsitz?" fragte Rabbe. "Wenn er so dumm war?"
"Er sah richtig gut aus – in seiner Jugend sogar schön – und war immer noch ein stattlicher Mann. Außerdem hat er – ich meine: hatte er – genau die richtige Statur für den Umhang und die Maske des Königsvogels. Ihr erinnert euch – dieser bunte Umhang, den ich euch gestern gezeigt habe, den das Haupt der Gilde zum Fest der Rettung der Seelenkuchenente trägt. Und er sah mit der zeremoniellen Krone aus Saphiervogelfedern einfach umwerfend aus. Ach ja, und was die Belange der Gilde angeht – was ist schon ein Gildenvorsitzt? Ihm standen als Haupt ja die anderen Vorstandsmitglieder mit Rat und Tat zur Seite: also Ischvi Wirt, der Schnabel, dann der Seher, Amiran Lawerenz, und zu guter Letzt Brutus Mordgesell, der Kropf, als Vierter – das operative Tagesgeschäft liegt sowieso hauptsächlich bei denen. Wie auch die Arbeit."
"Eine gerade Zahl?", wunderte sich Mina von Nachtschatten. "Das ist für Gildenvorstände ungewöhnlich, oder?"
"Keine Ahnung – ich meine das mit der geraden Zahl bei anderen Gilden. Außerdem und wie schon gesagt: Ich bin die Krone. Mit lebenslänglichen und unveräußerlichen Rechten ausgestattet als das offizielle Oberhaupt der Gilde durch meinen verstorbenen Gemahl, Lord Ruster, den Gründer unserer geliebten Gilde. Und damit ist es eigentlich doch wieder eine ungerade Anzahl. Allerdings halte ich mich im Allgemeinen aus dem operativen Geschäft der Gildenleitung heraus und nehme auch nicht an deren Sitzungen teil. Ursprünglich sollte die Vierzahl der Vorstandsmitglieder dafür sorgen, dass es nicht zu Kampfabstimmungen kommt. Alles sollte konsensuell diskutiert werden in Harmonie – das war Pumpsis Idee. Äh, die von meinem teuren verblichenen Gemahl. Prost!"
**"Wir sollten uns beeilen, wenn wir unsere Ergebnisse vor dem Termin mit dem Kommandeur noch in eine einigermaßen übersichtliche Form bringen wollen", meinte Mina von Nachtschatten am Ende eines langen Arbeitstages voller Laufereien und Gesprächen und beschleunigte den Schritt ein wenig. "Und außerdem würden wir dann aus dem Nieselregen kommen."
Ein Viertelstunde später saßen die beiden Frauen in Minas Büro und sortierten die Ergebnisse der Gespräche mit der ebenso trinkfesten wie auskunftsfreudigen Lady Tachyerii und mit weiteren Teilnehmern des Thod-Dinners. Sie waren nicht der Rangfolge innerhalb der Gilde nach vorgegangen, sondern hatte sich an den Adressen der zu Befragenden orientiert – eine Vorgehensweise, die Rabbe als zeitsparend vorgeschlagen hatte, auf die aber einige Mitglieder, die sich dadurch in der Gildenhierarchie herabgestuft sahen, verschnupft reagiert hatten.
"Bah, dieses ganze Gildenzeug ist ja sowas von – ich weiß nicht", bemerkte Mina.
"Überflüssig kompliziert", ergänzte Rabbe trocken.
"Also da haben wir den Vorsitzenden, genannt Haupt, Salathiel Brommke", mit diesen Worten legte Mina einen Zettel mit Brommkes Namen links oben auf den Tisch.
"Dann als weitere Mitglieder im Vorstand: seinen Stellvertreter, der "Schnabel", weil er so etwas wie ein Gildensprecher ist. Das ist dann Ischvi Wirt, Mensch, 68 Jahre alt, Hotelier." Ein weiterer Zettel.
"Der war ziemlich nervös", meinte Rabbe, "dafür, dass er sich genau in der Viertelstunde des Mordes, die Voliere angeschaut hat, wofür es einen Zeugen gibt. Dem sollten wir auf jeden Fall nochmal auf die Pelle rücken."
Mina nickte. "Dann sein Zeuge: Brutus Mordgesell, Anwalt – dafür kann er nicht – und Kropf der Gilde. Oder auch der
"nahezu gleichberechtigter stellvertretender Vorsitzende". Gleichalt mit Brommke und – einer der seltenen Momente der übereinstimmenden Aussagen bei allen Befragten – seit seiner Jugend des Opfers bester Freund." Noch ein Zettel.
"Der einzige, der ihn nicht für einen kompletten Idioten hält. Na ja, als Freund muss er das ja wohl."
"Bei dem Namen wäre er in einem billigen Heftchenkrimi der Verdächtige Nummer Eins. Und in einem gehobenen Krimi genau deswegen aus dem Schneider, und im richtigen Leben – wir werden sehen...", nachdenklich schob die Vampirin den Zettel mit Mordgesells Namen neben den von Wirt. "Er war mit Wirt bei der Voliere."
"Damit wohl aus dem Schneider", schnaubte Rabbe.
Mina schob beide Zettel nach rechts an den Rand.
"Dann bleibt noch der 54 jährige Amiran Enobarbus Lawerenz, der Teppichhändler vom Nilpferd, als letztes Mitglied des Vorstands." Ein Zettel in die Mitte.
"Der hat ja so was von gar kein Alibi. Angeblich eine Viertelstunde im Bad."
"Ja, das sollten wir uns nochmal genauer ansehen – beziehungsweise: den. Und natürlich die Mitglieder des erweiterten Vorstandes. Wie heißen sie nochmal im Gildenjargon? Ach ja: Die Flügel. Als da wären: Linke Flügel, Bacchus Prost, 38 Jahre alt Teehandelskontorist bei "Bröckli und Stink – Kräuertees aller Art" am Platz der Gebrochenen Monde. Rechter Flügel. Polonius Hemden. Was macht der nochmal? Zeichner in einem Konstruktionsbüro in der Straße schlauer Handwerker. Die sind dazu da, dem Kropf auf die Finger zu sehen – sinnvoll bei Finanzen." Zwei weitere Zettel in die Mitte.
Sie fuhr fort: "Dann die beiden Ständer. Links Bert Eimermann. Mit derzeit 95 Jahren das älteste Mitglied – und ein verdammt klapperiges dazu. Der Kopf mag ja noch in Ordnung sein, aber rein physisch kann ich mir kaum vorstellen, wie der den Brommke erdolcht haben soll... Der braucht doch allein schon fürs Hinsetzen zehn Minuten."
Rabbe nickte zustimmend: "Ich denke auch. Das Nickerchen nach dem Essen in der Gildenbibliothek klingt plausibel. Um von da ins Clubzimmer zu kommen, braucht der fast die ganze Zeit zwischen dem Zeitpunkt als Brommke angeblich laut Pismires Aussage noch gelebt haben soll und dem Zeitpunkt als Amsel den Toten gefunden hat. Eimermann ist raus." Dieser Zettel wanderte zu Wirt und Mordgesell.
Mina nickte: "Dann wäre da noch der zweite Ständer: Metzger Abbelhabbel, der laut Pismires Aussage eine Menge von Anatomie versteht. Seine Geschichte, er sei zum fraglichen Zeitpunkt in der Küche gewesen, um das ordnungsgemäße Verpacken der Essensreste zu überwachen scheint aber zu stimmen – das Küchenpersonal hat dasselbe ausgesagt. Offensichtlich geht das jedes Jahr so: Er schmiert den Koch ein wenig, sackt die Reste ein und verscherbelt sie am nächsten Tag für gutes Geld über seine Mittagstisch in der Metzgerei. Klar, da will er natürlich nicht übers Ohr gehauen werden von seinen feinen Kumpanen. Doch damit ist er auch raus." Mina schob den Zettel ein wenig weg von den übrigen, neben den von Eimermann, den sie vorher schon zur Seite gelegt hatte.
"Bleibt noch der Bürzel. Passt irgendwie, der Titel, ein ekliger Typ", brummte Rabbe. "Kein Satz geradeaus, konnte einem nicht in die Augen sehen und geschwitzt wie ein Schweinsbraten. Ich verwette mein Werkzeug, dass bei diesem Penunsius Borgen nicht alles mit rechten Dingen zugeht."
"Ich würde nicht dagegen setzen", meinte Mina trocken. "Er arbeitet bei den Klackern. Vermutlich kommt das mit dem Schwitzen von irgendwelchen Drogen. Oder von den Pilzen. Nachdem was man so hört, ist das unter den Klackerleuten ziemlich weit verbreitet." Ein vierter Zettel im Zentrum.
Nachdenklich musterten die beiden Frauen die ausliegenden Namen.
"Also wie sieht es aus? Lady Hattie hat ein Alibi – bestätigt vom Butler und somit vice versa. Die sind raus. Genauso wie in meinen Augen das übrige Personal – mangels Motiv und wegen teilweisen Alibis. Womit auch Abbelhabbel eins hätte: in der Küche mit krummen Geschäften beschäftigt. Eimermann scheidet aus physischen Gründen, vulgo:
allgemeiner Klapprigkeit, aus – auch wenn er de facto mit
"ein Verdauungsschläfchen in der Gildenbibliothek" kein Alibi hat. Mordgesell und Wirt an der Vitrine – Alibi. Lawerenz angeblich eine Viertelstunde im Bad – definitiv kein Alibi. Mögliches Motiv? Noch unbekannt. Bacchus Prost hat die Pause genutzt und im Arbeitszimmer in seiner Funktion als stellvertretender Kropf die Bücher gegengezeichnet. Keine Zeugen – kein Alibi. Rein für die Unterschriften braucht man keine Viertelstunde. Und für eine gründliche Buchprüfung eigentlich länger – vermute ich. Bleibt definitiv auf der Liste." Mina machte eine Pause.
"Auch Polonius Hemden, der Stellvertreter von Prost und dieser Bürzel bleiben im Rennen", ergänzte Rabbe grimmig. "Er – Hemden – sei wahrscheinlich in der entsprechenden Zeit in der Gildenbibliothek gewesen, aber leise um Eimermann nicht zu stören. Und das Studium des großen Gemäldes von Leonardo da Quirm
"Die Vögel der Scheibe" im Eingangssaal nehme ich Borgen nicht ab. Vom Personal hat ihn dort keiner gesehen, obwohl eines der Stubenmädchen mit der abendlichen Lieferung Kohlen für das Schlafzimmer ihrer Bardamenschaft durch die Halle musste. Da ist was faul. Und wieso war dieser Hemden nicht bei der Rechnungsprüfung dabei?"
"Weil er", Mina blätterte durch ihre umfangreichen Aufzeichnungen, "davon nach seinen eigenen Angeben eh nichts versteht. Als Zeichner sieht er sich eher als Künstler – und nicht als simplen Buchhalter."
"Blödsinn. Künstler."
"Und er kann nicht genau sagen, wo er war. Interessant."
**"Also ist der Gerichtsmediziner mehr oder weniger aus dem Schneider", fasste der Kommandeur nachdenklich zusammen. "Gegen ihn als Täter spricht das Fehlen jeglicher Spuren auf seiner Kleidung, wenn ich das richtig sehe? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein derartiger Stich keine Blutspuren beim Täter hinterlässt?"
Magane zuckte mit den Schultern. "Nach unserer Erfahrung gibt es immer minimale Blutspuren, auch wenn in diesem Fall zu bedenken ist, dass die Kleidung des Opfers einen Großteil davon aufgefangen haben mag. Darüber hinaus hat die Wunde wenig geblutet und der Dolch, der noch steckte, verhinderte sicherlich ein weiteres Austreten von Körperflüssigkeit. Dennoch: am Griff des Dolches war Blut, der Täter muss Handschuhe getragen haben, und der Wechsel der blutigen Handschuhe in so kurzer Zeit...", sie spreizte vielsagend die Handflächen nach außen. "Wir sind uns ziemlich sicher, dass das Fehlen von Blut ein starkes Indiz gegen Pismire Täterschaft darstellt. Und ich weiß, das Lady Rattenklein ausgesprochen gründlich gearbeitet hat. Allerdings bin ich mir auch absolut sicher, dass das alles vor Gericht keinerlei Gewicht hätte. Ein guter Anwalt würde das Gutachten auseinandernehmen."
"Wie glaubhaft ist sein Teil der Aussage, dass der Streit ziemlich abrupt endete, als Brommke die Wahrheit über die Täuschung erfuhr?", fragte Araghast Breguyar weiter.
"Ziemlich. Die Tachyerii bestätigt das in ihrer Aussage: ein seit Jahren ein abgekartetes Spiel zwischen ihr und dem Hauptmann", merkte Rabbe an.
"Wir behalten die Sache mit dem Hauptmann natürlich im Auge", ergänzte Mina, "aber zur Zeit sieht es so aus, als ob da jemand die Gelegenheit beim Schopf gepackt und seine eigene Rechnung mit Salathiel Brommke beglichen hat. Das Problem ist das ziemliche enge Zeitkorsett für die Tat: Das Essen beginnt um halb Acht und dauert bis Neun. Danach, in der offiziellen halbstündigen Pause zwischen dem Essen und dem Zeitpunkt, an dem Lady Hattie die Sitzung im Salon eröffnet und die in der Regel bis gegen Mitternacht andauert und bei der es normalerweise irgendwelche Vorträge von Gildenmitgliedern oder ähnliche Darbietungen gibt, bittet Brommke den angeblichen Wuuduu-Priester in das Herrenzimmer. Ungefähr so gegen Fünf nach Neun. Der Hausdiener, Knut Amsel, überbringt die Nachricht und führt den Hauptmann in den Raum, schließt von außen die Tür und bleibt davor stehen, um Störungen zu vermeiden. Großer Streit, ein paar Minuten später kommt Pismire aus dem Raum, sagt, Brommke wolle nicht gestört werden. Um fünf vor Halb geht Amsel in den Raum und findet die Leiche."
"Der Raum hat einen zweiten Eingang", ergänzte Rabbe. "Zwar von innen verschlossen, aber lediglich nur mit einem normalen Zimmerschlüssel. Kann jeder Depp von außen mit einer kräftigen Pinzette wieder abschließen. Und da Eimermann, das ist das uralte Vorstandmitglied, gerne mal den Schlüssel verlegt, sich einschließt oder ähnlichen Unfug treibt, ist der Bart von dem Schlüssel so verkratzt, dass man mit diesen Spuren gar nichts anfangen kann. Und darüber kann man sämtliche Zimmer sowieso auch mit dem Schlüssel vom Nachbarzimmer öffnen."
"Und wo führt der Ausgang hin?"
"Auf einen kleinen Flur. Zum Abort."
"Auf dem sich – nach eigenen Angaben – Vorstandsmitglied Lawerenz gerade die Seele aus dem Leib... egal." Mina brach ab.
"In Hörweite des Raums?" Mit einem gespannten Ausdruck im Gesicht schob sich Romulus von Grauhaar im Sitz nach vorne.
"Hängt von der Lautstärke ab. Und den Ohren. Wir werden das noch überprüfen. Aber ich sehe noch nicht genau, worin hier der Erkenntnisgewinn liegen kann, Sör."
**Als sie die Besprechung verließen war Mina sich nicht sicher, wie ihr Bericht aufgenommen worden war. "Wenn noch jemand einen Groll gegen Brommke hegte, dann müssen wir mehr über dessen Hintergrund erfahren. Irgendwo dort muss etwas sein."
Rabbe nickte. "Also fangen wir nochmal bei diesem Anwalt an. Mordgesell ."
"Brommkes bester Freund sollte uns mehr über mögliche Motive sagen können."
"Bester? Wohl eher sein einziger."
**"Ah, die Damen von der Wache nochmal, kommen Sie doch herein." Mit einem freundlichen Lächeln wies Brutus Mordgesell ihnen den Weg in sein Arbeitszimmer.
Hohe Bücherschränke voll gestellt mit juristischen Bänden harrten wohlverstaubt der Ewigkeit, woran sich seit heute Morgen nichts geändert hatte.
Lediglich ein Regal mit kleineren Bänden fiel ihr jetzt ins Auge: Soweit Mina sehen konnte, handelte es sich um bunt gemischte Kriminalromane und machte einen viel besuchten Eindruck. Mordgesell bemerkte ihren Blick und schmunzelte.
"Tja, als Anwalt komme ich in meiner Freizeit auch nicht von meinem Beruf los – aber wenigstens ist das eine angenehmere Lektüre als diese trockenen und verstaubten Schwarten. Aber ich nehme nicht an, dass Sie mit mir über meine Bücherschränke fachsimpeln wollen. Darf ich Ihnen Tee anbieten?"
Obwohl ihr um die Uhrzeit ein Starkbier lieber gewesen wäre, nickte Rabbe.
Mordgesell klingelte nach seinem Faktotum, und kurze Zeit später stand heißer Tee vor ihnen.
"Also: Womit kann ich Ihnen jetzt noch helfen?"
"Beim Versuch den Mord Salathiel Brommke aufzuklären..."
"Meinem alten Freund. Ja, es ist immer noch alles so unwirklich. Wir kannten uns seit über Fünfzig Jahren, und jetzt ist er einfach nicht mehr da." Mordgesell blickte traurig in das Feuer im Kamin.
Mina ließ das Gesprochene einfach so stehen, was hätte sie als Ermittlerin auch schon tröstliches sagen können?
"Nun, sie beide machen nur ihre Arbeit. Notwendige Arbeit. Also?"
"Bezüglich Ihres Freundes gibt es da noch einige Fragen. Offene Frage."
"Sie möchten gerne mehr über ihn wissen, ja? Aber warum? Ich denke, der Täter ist überführt“, deutet der Anwalt auf ein Exemplar der Abendausgabe des "IKON!", von dessen Titelseite blutrote Riesenlettern
"GILDEN-MORD: WÄCHTER ENDGÜLTIG ÜBERFÜHRT?" schrien.
"Drecksblatt", murmelte Rabbe.
"Nun, wir schätzen eine vollständige Aufklärung", lächelte Mina von Nachtschatten, ohne allzu sehr die Zähne zu zeigen. "Dazu gehören Täter, Ausführung der Tat, das Motiv, aber natürlich auch das Opfer. Und das führt uns zu Ihnen."
"Ach, Sie meinen diese moderne püschologische Betrachtungsweise, die die Persönlichkeit des Opfers ins Zentrum rückt – nun, ich muss gestehen, dass ich davon nicht viel halte, auch wenn ich natürlich gelegentlich vor Gericht im Interesse meiner Mandantschaft püschologische Methoden anzuwenden weiß. Aber in diesem Fall? Mein Freund war ihrem Kollegen auf die Schliche gekommen, seine Entlarvung drohte, ein Dolch war zur Hand..." Er zuckte mit den Achseln.
"Wo wir gerade beim Thema
Entlarven wären – hat Brommke Sie vorher kontaktiert? Ich meine: bezüglich des Schwindels?"
Nachdenklich rieb Mordgesell sein Kinn und zupfte dann an einer Warze auf der Wange, eine Angewohnheit, die Rabbe schon beim ersten Gespräch mit dem Mann aufgefallen war.
"Nein, und das wundert mich auch nicht. So sehr ich Salathiel schätzte, ich kann nicht umhin, ihm ein klein wenig Eitelkeit zu unterstellen. Er liebte es im Mittelpunkt zu stehen, und ich nehme an, er wollte unser aller Erstaunen genießen, wenn er mit der spektakulären Entlarvung dieses Betrügers aufwarten konnte. Und das natürlich vor Lady Hattie. Das besonders." Er lächelte verschmitzt.
"Sie meinen...?"
"Nun, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, aber ich weiß, dass Salathiel eine kleine Schwäche für die Dame hatte. Und das auch schon, bevor sie Tachyerii geheiratete hat. Eigentlich schon seit seiner Jugend. Und wenn er sie vor einem Betrüger gerettet hätte – wer weiß?"
"Aber Lady Hattie wusste doch von Anfang an Bescheid – im Gegenteil, das war Ihre Idee gewesen, die Verkleidung, die Teilnahme an den Gildenessen uns so."
"Ach!" Der hagere Mann sah sie erstaunt an. "Tatsächlich? Sie wollen doch damit nicht andeuten, dass die Dame Tachyerii... Ach du meine Güte. Was soll ich dazu sagen!?"
Nachdenklich fummelte er sich wieder im Gesicht herum. "Natürlich... Warum nicht!? Sie ist schon eine kleine Schalksnatur, die gute Hattie. Eigentlich hätte man sich das ja denken können. Aber ich wäre nie darauf gekommen. Warum hat sie das gemacht?", fragte er neugierig.
"Fragen Sie sie selbst", meinte Rabbe lakonisch. "Schien ihr Spaß zu machen."
"Nun abgesehen davon", versuchte Mina das Gespräch wieder auf andere Bahnen zu lenken. "Wir sehen damit natürlich das bisherige Motiv für die Tat mit anderen Augen."
Mordgesell nickte. "Das erscheint mir nachvollziehbar."
"War Brommke in der letzten Zeit anders als sonst? Bekümmerter, sorgenvoller, fröhlicher, sonstwas?"
Nachdenklich lehnte der Anwalt sich zurück. Dann schüttelte er den Kopf. "Nun, wenn Sie mich so fragen – aber das ist natürlich jetzt schwierig, wissen Sie? Im Nachhinein ist man ja immer schlauer. Gesagt hat er auf jeden Fall nichts – und wenn er schon seinem besten Freund nichts gesagt hat.... Und dazu kommt ja auch, dass es in der Gilde vor dem Seelenkuchenfest, das ja der Jahreshöhepunkt unseres geselligen Lebens darstellt, immer recht betriebsam zugeht, da ist so viel zu tun." Er brach ab.
"Also gut. Mal angenommen, Hauptmann Pismire ist
nicht der Täter. Und dass jemand sich von außen zum Haus Tachyerii Zutritt verschafft hat schließen wir aus. Da wir auch bei der Dienerschaft kein Motiv sehen – wer käme denn dann Ihrer Meinung nach als Täter in Frage?"
"Sie meinen... Ja, natürlich, dann müsste es einer von uns gewesen sein. Ein Mitglied der Gilde?" Mordgesells Blick huschte fragend von Mina zu Rabbe.
"Jepp. Einer von euch."
"Nun, wenn ich es nicht war, und Ischvi kann es ja auch nicht gewesen sein: Er stand ja die ganze Zeit mit mir an der Voliere. Er genießt es, sich die Vögel im Mondlicht anzusehen, wissen sie? Ein klein wenig sentimental, der Gute. Er ist immer so versunken, dass er kaum etwas von seiner Umwelt wahrnimmt – ich beobachte genauso gerne ihn wie die Vögel", merkte der Anwalt ein wenig verschmitzt an. "Aber ich schweife ab. Und von meinem Kollegen Eimermann kann ich mir so etwas gar nicht vorstellen – rein physisch schon, verstehen sie? Was die übrigen von uns angeht: Wo läge das Motiv? Ich sehe kein Motiv!", entgegnete Mordgesell immer noch ein wenig außer Fassung.
**"Sehr ergiebig war das nicht", merkte Mina an, als sie das Haus verließen. "Brommke wollte offensichtlich die Lorbeeren als Retter der bedrohten Unschuld für sich. Warum er wohl das Kostüm mit nach Hause genommen hat?"
"Eitelkeit – sich ausgiebig vom Spiegel spreizen, der kleine Pfau", grinste Rabbe.
Mina blinzelte skeptisch. "Vielleicht. Könnte sein. Nach Aussage seines Faktotums war er ein leidenschaftlicher Theaterspieler, auch Mitglied im Laientheaterverein
"Bühne frei" Grausenesen – möglich wäre es."
"Ziemlich umtriebiger Vogel. Theaterverein, Vogelgildenvorstand, im Vorstand der Kaufmannsgilde, Mitglied im Verein der Gewerbetreibenden Grausensen, Mitglied im Komitee für den Gartenwettbewerb." Rabbe rekapitulierte die Liste von Brommkes gesellschaftlichen Aktivitäten.
"Er hatte ein Handelskontor. Gute gesellschaftliche Kontakte sind da das A und O. Man kennt sich, man macht Geschäfte miteinander. So läuft das." Die Vampirin zuckte mit den Achseln.
"Also gut", dachte Mina laut nach. "Der Mann leiht sich das Kostüm aus. Er will es sich ansehen, gut. Aber warum nimmt er es wirklich mit? Es reicht doch vermutlich auch so, es gesehen zu haben, um den vermeintlichen Santeria mit der Wahrheit zu konfrontieren. Was will er damit?"
"Die Befragung in Brommkes Haus über den Abend wo er sich das Kostüm ausgeliehen hatte war total für'n... sinnlos. Wenn sich überhaupt jemand an diesen Dienstag vor drei Wochen erinnern konnte, war Brommke zu Hause", fasste Rabbe die Befragung der Bewohner der Simpelgasse 26 zusammen. "Ob er Besuch hatte? Weiß keiner. Der Mann lebte allein, der Diener hatte Ausgang. Regulären Ausgang." Dann stutzte sie: "Mooooment! Da war was im Protokoll von Pismires erster Aussage."
Sie kniff die Augen zusammen um sich besser an den Text des Protokolls zu erinnern, da sie beide bei der ersten Befragung des Schamanen am Entenplatz durch Seals und unmittelbar nach dem Mord, als noch niemand ahnen konnte, in welche Richtung der Fall sich entwickeln sollte, nicht dabei gewesen waren.
Mina stoppte abrupt, zog ihre Unterlagen aus der Tasche und begann zu blättern, bis sie das Gesuchte hatte.
"Der Dolch", entfuhr es beiden Frauen gleichzeitig.
"Hier!" Minas Augen glitten über den Text.
"...hielt mir den Dolch unter die Nase und faselte irgendwas davon, dass sie mich mit diesem Imdizium überführt hätten. Ich habe mir erlaubt, den Mann darauf aufmerksam zu machen, dass es korrekterweise Indiz mit
"n" und nicht mit
"m" und ohne das alberne
ium heißt, dass Speichel offiziell nicht zu den Argumenten zählt und dass er sich darüber hinaus sein Indiz dorthin stecken könne, wo die Sonne es nicht zu sehen bekommt."
"Wieso hat Brommke so auf dem Dolch insistiert, was meinst du!?", fragte Rabbe.
"Es scheint so, als habe der Dolch ihn das Kostüm zweifelsfrei erkennen lassen", meint Mina nachdenklich. "Zeit, der ehrenwerten Madam Molchkinn einen weiteren Besuch abzustatten. Eigentlich hätten wir aus so drauf kommen können: Was soll ein scharf geschliffener Dolch an einem billigen Kostüm!?"
**"Du hast gelogen, gute Frau", eröffnete der Korporal mit hörbarem Ärger in der Stimme das Gespräch und baute sich in voller Größe vor Madam Molchkinn auf."
"Ach du heilige Anoia der offenen Schubläden, gratuliere zu der Erkenntnis – das tue ich bereits, wenn ich dir einen guten Abend wünsche!"
Aus dem Schatten Rabbes glitt nun die Vampirin mit ihrem abgrundtiefsten Lächeln. "Du möchtest doch der Wache bei den laufenden Ermittlungen helfen, nicht wahr? Braver Mensch. Und damit wir gar nicht erst auf die Idee kommen, du könntest versuchen, in diesem Fall die Herkunft eines entscheidenden Indizes zu verschleiern, würde ich dir empfehlen, es einmal mit der Wahrheit zu versuchen. Komm schon, einmal ist keinmal." Vielsagend hob sie eine Augenbraue und gab Madam Molchkinn eine Gelegenheit ihre Zähne zu bewundern.
"Das ist verboten – das ist Angstmachen und so."
"Soll ich mal versuchen dir Angst zu machen, alte Frau – ich meine: richtige Angst? Kennst du das erregende Gefühl, nie wieder die Augen schließen zu wollen, weil man weiß, was in Dunkelheit lauert? Möchtest du in deinem Kopf immer wieder das leise Wimmern zu hören, das das Verlöschen der letzten Kerze begleitet?" Minas Stimme wurde zu einem Flüstern.
Innerlich genoss Rabbe das Schauspiel, dann schob sie sich scheinbar schützend zwischen die Ladenbesitzerin und ihre Kollegin. Madam Molchkinn schluckte laut.
"Ich konnte ja nicht ahnen, dass der die Waffen vertauschen würde", krächzte sie.
"Wer?"
"Na, Brommke. Leiht sich erst das Kostüm und als er es wiederbringt, steckt ein echter Dolch in der Scheide. Scharf und aus so einem seltsamen schwarzen Eisen. Und mit einer mächtig teuren, juwelenbesetzten Scheide. Die überhaupt nicht zu dem Kostüm passt. Aber der Dolch war wie dafür gemacht. Ich hab dann eine neue Scheide aus schlichtem weißem Leder angefertigt. Und sieh da – das ganze Kostüm sah gleich viel besser aus. Ich meine: noch besser. Mit mehr Authentifizi… echter halt"
"Und die Scheide – ich meine: die ursprüngliche?"
"Habe ich hier." Die Alte bückte sich und kramte ein wenig unter dem Tresen herum. Man hörte das Zuschlagen einer massiven eisenbeschlagenen Truhe, dann richtete sie sich wieder auf und hielt eine in der Tat eine wertvolle Dolchscheide in der Hand.
Rabbe griff danach. "Eindeutig eine gennuanische Arbeit. Und passt somit eigentlich gar nicht zu dem Dolch, der garantiert aus Ecalpon stammt. Du warst uns eine große Hilfe, Madam Molchkinn."
**Nach dem Besuch bei der Kostümverleiherin hatten Mina und sie sich auf
Feierabend geeinigt – Morgen war auch noch ein Tag. Auf dem Heimweg ging der Fall Rabbe weiter im Kopf herum. Irgendetwas kam ihr eigenartig vor, sie wusste nur nicht, was. Dass ein Wächter in Verdacht geriet, kam hin und wieder vor.
"Immerhin haben wir ja sogar einen ganzen Spezialitätenzirkus für den Fall der Fälle", dachte sie grimmig beim Gedanken an den ihr verhassten IA-Stammagenten. Aber natürlich, bei den hohen Tieren konnte natürlich nicht einfach Intörnal Affairs tätig werden. Mit dem kleingewachsenen Mistkerl konnte sich das niedere Volk herumplagen. Wobei – ermahnte Rabbe sich zur Ehrlichkeit – es in diesem Fall keinen Anlass für das unnütze Wirken von IA gab. Wenn dieser Leichenfledderer schuldig war, dann war das kein Fall interner Ermittlungen, denn was auch immer er getan hatte – er war nicht im Dienst gewesen. Außerdem war er vermutlich nicht der Täter. Dennoch hatte er sich in dieser lächerlichen, billigen Aufmachung unter falscher Identität bei diesem Gildenessen herumgetrieben. Aus angeblicher Freundschaft für diese Lady Hattie. Das war auch so ein Weibsbild, murrte Rabbe innerlich. Hochgearbeitet im wahrsten Sinne des Wortes. Von der Bardame im "KrullZ", einem stadtbekannten Etablissement, das selbst einem Profizyniker wie Cim Bürstenkinn ein anerkennendes Pfeifen abgenötigt hätte und in der der Abschaum der feinen Gesellschaft in jedweder absurden Verkleidung jeglicher Couleur seine Orgien feierten zur hochwohlnoblen Lady Tachyerii. Und das nur, weil irgend-so-ein mit dem goldenen Löffel in der Schnauze geborener Vollidiot wie Lord "Pumpsi" Tachyerii sich von ihr hatte aufs Kreuz legen lassen – im Gegenzug dafür, dass er sie später aufs Kreuz legen durfte. Immerhin – nach allem was Mina und sie mittlerweile aus dem Klatsch, Tratsch und der bodenlosen üblen Nachtrede des Viertels herausdestilliert hatten, war die ehemalige Hattie Holly klug genug gewesen – anders als ihre zahllosen Vorgängerinnen aus mehr oder weniger einfachen Häusern – sich erst mit einem goldenen Ring am Finger ausstatten zu lassen, bevor sie sich… ach was auch immer.
Der goldene Ring ließ ihre Gedanken zu den drei goldenen "O" der Gilde dieser Vögelfreunde abdriften. Irgendetwas kratze an den äußeren Rändern ihrer Wahrnehmung. Da war was. Sie hätte viel darum gegeben, jetzt zu wissen, was es war. Drei Ringe... drei... Zahlen? – da war es wieder weg. Sie schnaubte abschätzig.
Gilde der Ornithologen, Ornithografen und Ornithometer: Auch so ein Schwachsinn, mit dem sich Leute mit zu viel Geld die Zeit vertrieben. Nicht dass sie etwas gegen die intensive Beschäftigung mit einem Thema hatte – ihr eigenes Interesse an Nautologie zeugte davon. Und auch Wissen über die Vögel der Scheibenwelt – von denen es eine Menge verschiedener Arten geben musste; allein wenn sie sich die verschiedenen gesehen Vögel im Laufe ihrer Wanderjahre auf der Scheibenwelt ins Gedächtnis rief, und seien sie dort auch nur wegen ihrer delikaten Art der Zubereitung hängen geblieben... Ach ja, Vögel mochten interessant sein. Aber doch nicht in der Form, in der diese durchgeknallten Gildenheinis das betrieben. Allein die lächerlichen Namen: Schnabel, Bürzel, rechter Flügel, linker Flügel. Linker Ständer. Rechter Ständer. Sie stutzte. Etwas kratzte wieder. Egal. Also diese Bardame krallt sich Lord Hastnichgesehen, der diesen ganzen Gildenkrempel ins Leben gerufen hat. Warum nochmal? Ach ja. Rabbe erinnerte sich noch genau an das Gespräch mit Bert Eimermann, dem linken Ständer. Und das in seinem Alter. Wie dämlich war das denn.
Sie rief sich seine geschwätzige Aussage ins Gedächtnis:
"Uns allen war klar, dass diese Art, den wirklichen Vögeln einfach zu wenig Raum in der Wappengestaltung zu geben, nicht so weitergehen konnte. In einer Vorstandssitzung im Jahr des dressierten Wanderhamsters ging's hoch her, Fräulein Wächterin, das kann ich ihnen sagen. Lord Ruster schmetterte diesem feisten Vorsitzenden der Wappenmalergilde ein: "Ich werde die vorsätzliche Verfärbung der Vögel der Sto-Ebene nicht länger klaglos dulden!", ins Gesicht. Und furchtlos fuhr er dann mit erhobener Stimme fort: "Ich fordere alle ehrbaren Mitglieder der Wappenmalergilde auf, bei diesem schändlichen Treiben nicht länger Handlanger einer skrupellosen Farbenmafia zu sein. Zeigen wir die Vielfalt der Vögel in ihren natürlichen Farben. Weg mit den unnatürlichen Gestalten, zu denen eine dekadente Wappenmalerei ihre natürliche Form pervertiert. Wer fühlt wie ich, der hebe die Hand." Tja, leider waren wir nur zu dritt: Salathiel, Brutus – keine drei Monate waren sie dabei – und meine Wenigkeit. Und damit waren wir raus aus der Gilde. Aber wir trafen auf andere, Gleichgesinnte, Verbündete. Neue Geister, die sich ebenso wie wir für die Vögel der Scheibenwelt interessierten. Und seien wir mal ehrlich: Allein die verschiedenen Arten von Vögeln, die Pumpsi, äh, ich meine Lord Ruster über seine Cousins im diplomatischen Korps dem Bestand der Gildenvoliere zuführen konnte, war superb. Schnell hatten wir die nötigen Mitglieder für die Gründung einer eigenen Gilde zusammen." Das lag jetzt nahezu vierzig Jahre zurück.
Mist, das, was sie gesucht hatte, war wieder weg.
Also gut. Brommke kommt irgendwie auf die Idee, dass der Gildengast nicht echt ist. Er stellt Nachforschungen an, findet den Kostümverleih, leiht sich das Kostüm aus, vertauscht den Dolch um sicher gehen zu können, dass – im Fall der Entlarvung – er einen materiellen Beweis hat. Schlaues Vorgehen. Schien ganz so, als hätte Mordgesell, der ihnen immer versichert hatte, sein Freund sei ein ziemlich gewitzter Mann gewesen, Recht. Dennoch gab es da eine Sache bei der Konfrontation mit dem Hauptmann, der ihr keine Ruhe ließ. Sie beschloss, den Feierabend noch ein wenig zu verschieben.
**Als Rabbe bei Emerenzia Hüppunter klopfte, öffnete ihr die alte Dame mit eisiger Mine die Tür.
"Um die Uhrzeit kein Damenbesuch. Aber – naja – du bist ja keine. Und putz dir gefälligst die Schuhe ab, junge – äh – Frau. Die Treppe ist da vorne. Du weißt, wo er wohnt." Damit drehte sie sich abrupt um, lauthals schimpfend über die Unverschämtheit, mit der ehrsame Leute sich zu nachtschlafender Zeit in ihren Wohnungen belästigen lassen mussten und über die Unzumutbarkeit derartige Personen überhaupt ins Haus lassen zu müssen, ohne die Anwesenheit des Korporals weiterhin mit mehr als einem Schnauben zur Kenntnis zu nehmen.
Rabbe sah ihr ungerührt nach ging zu der angewiesenen Treppe. An deren obigem Ende fand sei die schlichte Tür, deren Schild darauf aufmerksam machte, dass hier Hauptmann Pismire wohnte. Aus den Räumen dahinter drang leises Stimmengemurmel, offensichtlich war der Alte nicht allein.
Sie klopfte deutlich, wartete allerdings ein
"Herein" nicht ab sondern trat durch die Tür. Sie stand mitten dem rechteckigen Raum, der als Wohnzimmer diente und musterte ihn gründlicher als heute Morgen beim Verhör. An den Seitenwänden rechts und links befand sich jeweils eine Tür, die allerdings beide geschlossen waren. Ihr gegenüber gingen zwei Fester nach draußen, dazwischen war ein deckenhohes Regal, das komplett mit Büchern und Bücherstapeln vollgestopft war. Hier und da ragten Schriftrollen aus dem Chaos, Landkarten lagen eingerollt auf den Büchern, und Rabbe war sich sicher, dass sich zumindest im unteren Regalbord ein Stapel Steintafeln befand. Recht davon vor dem Fenster war ein Tisch, der ebenfalls mit Schriftgut überhäuft war. Davor befanden sich einige geöffnete Kisten, die offensichtlich zum Verpacken von Dingen bereit standen. In der linken Ecke vor dem Fenster stand ein Lesesessel mit einer gepolsterten Ablage für die Füße davor, direkt unter dem Fenster ein kleiner Tisch auf dem zwei Teetasse, eine Teekanne sowie zwei mit ausgeprägt dunkelrotem Wein gefüllte Gläser befanden. Im Sessel thronte eine schwarz verschleierte Dame mit einem extravaganten, spitzen Hut sorgsam in ein aus schwarzem Spitzenstoff mit gleichfarbigem Jett besticktes bodenlanges Kleid mit weit ausgestelltem Rock geschnürt. Hätte Rabbe auch nur einen Funken für Mode übrig gehabt, hätte sie gewusst, dass der Schnitt das Kleid als Fischschwanzkleid auswies. Und dass diese Art Kleider zurzeit völlig out of fashion waren, ebenso wie die eleganten schwarzen Spitzenhandschuhe.
In der rechten Hand hielt die Person eine ziemlich lange Zigarettenspitze, die sie gerade unter dem Gesichtsschleier hindurch zum Mund führen wollte, während sich auf ihrem ausgestreckten rechten Zeigefinger ein blaues Flämmchen zum Anzünden der Zigarette befand. Außerdem registrierte Rabbe mit Befremden, dass sich unter dem Gesichtsschleier ein ausgeprägt bärtiges Kinn mit einem exakt gestutztem Kinnlinienbart befand.
Vor dieser eigenartigen Person auf dem Hocker saß Pismire und unterbrach den Satz, den er gerade begonnen hatte. Er musterte die Eingetretene kühl über die Schulter für den Bruchteil einer Sekunde, dann bemerkte er sichtlich verärgert: "Was soll das, Korporal? Selbst dir sollte klar sein, dass eine Befragung durch nur ein Mitglied der Wache selbst bei permanent laufendem Protokolldämon keinerlei Aussagekraft hat und du unser Gespräch somit – sollte es denn überhaupt stattfinden, was ich mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu bezweifeln erlaube – unter:
Nicht stattgefunden verbuchen kannst. Und wie heißt es so schön: Quod non est in actis non est in orbem."
"Och Götter, Pismire, sei doch nicht so streng mit dem armen Ding. Das ist auch nur ein hart arbeitendes Mädchen, das hier nur seinen
Tschobb erledigt."
"Nein, tut sie nicht. Wenn sie ihren 'Tschobb' – wie du dich auszudrücken beliebst – korrekt erledigen wollte, dann wäre sie nicht allein hier. Weil das nämlich nicht zu ihrem Tschobb gehört, allein bei einem Tatverdächtigen rumzulungern. Wächter ermitteln zu zweit. Nach dem Vier-Augen-Prinzip und so."
Seine letzten Worte wurden von seinem Besuch, der – oder die – mit ihrer behandschuhten Rechten das Treiben eines Sockenpuppenspielers nachahmte, und dazu
"blabla" murmelte ohne Pismires Redefluss zu unterbrechen, gestisch kommentiert. Rabbes Augen huschten von links nach rechts, um nichts von dem Schauspiel zu verpassen.
"Deine Manieren waren mal über jeden Zweifel erhaben... Du könntest mich der Dame auch erst einmal vorstellen", schmollte das Wesen intensiv. Rabbe musste sich zusammenreißen, um sich nicht nach der vorzustellenden Dame umzusehen.
Pismire schnaubte genervt. "lst gut. Vorstellung gewünscht. Weißt du, manchmal...", wandte er sich an die Person im Sessel, die mittlerweile mit einem Schnippen das Flämmchen an ihrer Fingerspitze gelöscht und den Schleier von Gesicht mit einer schwungvollen Geste seiner Hand zurückgeworfen hatte. "Ach egal..." Der Alte machte eine wegwerfende Geste mit der Hand.
Rabbe musterte nun den Besuch und blickte in das schmale Gesicht eines vermutlich fünfzigjährigen Mannes mit dem bereits erwähnten modisch knapp geschnittenen Kinnbart, üppig geschminkten, tiefroten Lippen, schwarz getuschten Wimpern von beachtlicher Länge und Dichte, von deren Echtheit Rabbe nicht wirklich überzeugt war, und einer gebogenen Hakennase. Die Haut war perfekt gepudert, ein dezentes Rouge betonte die Wangenknochen.
"Darf ich vorstellen: Madame LaManda, eine Freundin – Korporal Rabbe Schraubenndrehr, Mitglied der Abteilung RUM – Raub und unlizensierter Mord also – derzeit ein Mitglied des Ermittlerteams in Sachen Mord an Salathiel Brommke durch einen bis dato unbekannten Täter.
"Oder Täterin! Soviel Zeit muss sein ..."
"Jaja, TäterIN. Wie konnte ich nur...
Rabbes blick huschte zwischen den Sprechern hin und her. Offensichtlich schienen Teile des Dialogs häufiger vorzukommen.
"Also gut, Korporal, was willst du?"
"Wie sicher bist du, dass du mit Brommke allein warst, als ihr euch gestritten habt?", platzte Rabbe heraus.
Was soll das?", fragte der Schamane zurück. "Ich habe bereits gesagt, dass ich – meines Wissens nach – mit Brommke allein war."
"Ja, aber du hast zu Protokoll gegeben", Rabbe schloss die Augen und zitierte aus dem Gedächtnis, "Zitat:
und faselte irgendwas davon, dass sie mich mit diesem Imdizium überführt hätten. verstehst du? Du hast:
"SIE" und
"HÄTTEN" gesagt. Aber du sagst nicht das, was Brommke wirklich gesagt hat, sondern fasst es mit deinen Worten zusammen. Und du sagst nicht:
er hätte, sondern
sie hätten. Kannst du dich an Brommkes genaue Worte erinnern?" Gespannt sah sie ihn an.
Pismire kratzte über sein stoppeliges Kinn, schloss die Augen, überlegte eine Weile und sagte dann: "Wörtlich sage er: "Und mit diesem Imdizium haben wir dich überführt, du vermaledeiter Schwindler!", zog mir den Dolch aus der Scheide und fuchtelte damit vor meiner Nase herum."
"Du meine Güte", kicherte Madama LaManda, "Vermaledeit? Salathiel war Zeit seines Lebens ein prätentiöser Wicht – immer das Publikum vor Augen. Möge er in Frieden ruhen. Prost."
"Publikum?" Rabbe sah sie an.
"Laienschauspieler. Ihr habt doch sicher herausgefunden, dass Salathiel auch Mitglied vom Grausensener Laientheater war."
Unwirsch winkte Pismire ab. "Ja, ja, schon gut."
"Ich kann auch gehen...", schmollte der Besuch.
"Bringt euch das jetzt irgendwie weiter?"
Rabbe zuckte die Achseln. "Nein. Vielleicht. Wir müssten wissen, ob noch jemand im Raum war oder nicht." Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: "Kannst du uns nicht mit magischen Mitteln helfen?"
"Pismire verzog das Gesicht: "Du meinst retrospektives Borgen um zu sehen, wer hinter der Gardine lauerte!?"
"Na, na, na – vergessen wir da nicht die Galdur Wetterwachssche multiversal-thaumaturgische Temporalrestriktion?", warf Madame LaManda ein und wackelte verneinend mit dem Zeigefinger.
Und auf die mit einem Fragezeichen versehenen Blicke der beiden Wächter richtete sie sich auf und erläuterte: "Kurz gesagt: Ein auf Magie basierendes Multiversum sagt:
Finger weg von der Vergangenheit. Lernt man spätestens im zweiten Semester."
"Du warst gar nicht auf der UU, obwohl sie dich wegen deiner thaumaturgischen Begabung genommen haben, weil du darauf bestanden hast, eine Hexe zu sein, obwohl du – eigentlich – ein Mann bist", knurrte Pismire gereizt.
"Pfft. Ich bin, was ich sein will. Und ich wäre die begabteste Hexe meines Jahrgangs geworden. Und diese engstirnige Bande zauseliger Schnösel in vollkommen aus der Mode gekommenen, mottenzerfressenen Bademänteln, die sich Zauberer nennt, kann mich mal. Bücher kann man auch so lesen. Auf jeden Fall", fuhr sie zu Rabbe gewandt fort: "wenn man mit magischen Mitteln versucht, bereits geschehene Dinge über einen nicht-menschliche Geist klarer sehen zu können, kann es sein, dass man entweder die verwendetet Wahrnehmung manipuliert oder – mit einer Chance von 1:1000000 – die Vergangenheit ändert. Ersteres nützt euch nichts und letzteres hätte fatale Folgen. Habt ihr denn keine anderen Methoden bei der Wache? Werwölfe oder so? Ich meine, wenn jemand hinter den Gardinen stand, dann kann ein Werwolf das doch riechen. Und auch wenn derartig Beweise nicht vor Gericht anerkannt sind, hättet ihr doch schon mal eine Richtung für weitere Ermittlungen, oder?"
"Zimt", warf Rabbe ein. "Jeder Idiot weiß, dass das die Nase eines Werwolfs außer Gefecht setzt. Hinter den Vorhängen hatte jemand eine Zimtbombe gelegt."
"Tja, dann ist der gute Pismire ja wohl endgültig aus dem Schneider – nicht wahr?", strahlte die Figur im Sessel die Wächterin an und prostete ihr zu.
"Wieso?"
"Na, wer immer das Verbrechen begangen hat, hatte es offenbar von langer Hand geplant. Und wenn Salathiel unseren hauptmännlichen Oberschurken hier persönlich überführen wollte, wird er es ihm ja wohl kaum vorher verraten haben, gell? " Mit diesen Worten leerte sie das Glas und fuhr mit einem Blick durch den Raum fort: "Weißt du was, Pismire, ich denke, wir packen den Rest morgen ein. Ich bin müde und der Korporal hier kann mich nach Hause begleiten. Mit einer Wächterin an meiner Seite fühle ich mich doch gleich viel sicherer."
Gleichmütig zuckte der alte Mann mit den Schultern.
"Du hast Recht, Madeleine, es ist schon spät."
"Packen?" Rabbe räusperte sich vernehmlich.
"Tja, meine Großcousine dritten Grades mütterlicherseits Emerentia Kohlschrubber, auch liebevoll Emmie genannt, hat dem Hauptmann hier natürlich gekündigt. So jemanden kann sie doch unmöglich weiterhin als Mieter haben – oder? Und da seit Petersils Tod – Petersil war mein Mann, musst du wissen – bei mir viel zu viel Platz im Haus ist, habe ich Pismire angeboten, bei mir einzuziehen. Nicht zum ersten Mal, aber bisher war der Gute zu faul, seine Siebensachen und seine Ziege zu bewegen. Nun allerdings... Du kannst ja schon mal die neue Adresse zu euren Unterlagen nehmen. Du kannst sie dir persönlich von meiner Haustür abschreiben, meine Liebe."
<8D~ <8D~Montag, der 25. Sektober im Jahr der trudelnden Maus
Mina hörte sich Rabbes Bericht zu Ende an.
"An der Überlegung, dass das kein spontanes Verbrechen war, ist was dran. So oder so bin ich mir mittlerweile ziemlich sicher, dass wir den Hauptmann endgültig streichen können. Wie heißt deine – äh – Informant, Informantin, was auch immer – noch einmal?"
"Markus Wehschläger, besteht allerdings seit seiner Kindheit auf dem Namen Madeleine. Vertreibt unter dem Namen Madame LaManda mehr oder weniger magische Hilfsmittel aller Art. Mittlerweile 58 Jahre alt, ist früher unter dem Namen
Huppert Unterwech, das bärtige Sangeswunder als Sängerin im Tingeltangel – auch im "KrullZ", wo die Tachyerii gearbeitet hat – aufgetreten. War verheiratet mit Petersil Hüppauf, der vor rund zehn Jahren – im Jahr des spendablen Grottenolms – ermordet wurde. Pismire und er – vielmehr sie – kennen sich seit den Ermittlungen. Hat ein eigenes Haus, in dem sie auch wohnt am Fetten Bogen 12.
"Des Hauptmanns neue Adresse."
"So ist es."
"Wusste sie sonst noch was?"
"Genug Klatsch und Tratsch für drei Aktenordner. Unseren gegenwärtigen Fall betreffend vermutlich nur eine interessante Sache: Sie ist – wie alle in der Gegend – um ein paar Ecken mit der Tachyerii verwandt, und die hat ihr gesagt, dass bei der diesjährigen Spendensammlung für die Seelenkuchenfeier bei den Geschäften in der Gegend so wenig zusammen gekommen ist, dass sie was zuschießen musste. Bei der LaManda klang das so:
Hattie sah sich genötigt, ein erkleckliches Sümmchen für die Feier aus ihrer eigenen Schatulle zuzuschießen. Nicht dass ihr das wehtut, aber sie fand es ganz erstaunlich, weil bisher das gesammelte Geld immer ausreichend war.", beendete Rabbe die gut getroffene Sprachparodie. "Und Chuan, der schönste Butler der Welt, heißt eigentlich Bruno Hüppauf, ist auch mit allen in Grausensen verwandt, war fast zehn Jahre lang in der klatschianischen Fremdenlegion, wurde hoch dekoriert auf eigenen Wunsch vor drei Jahren entlassen und ist seither als Butler im Haus Tachyerii tätig."
"Mit anderen Worten: Lady Hattie hat einen Bodyguard?"
"Jepp."
**"Wenn Sie schon mein Hotel betreten, dann könnten Sie das doch wenigstens durch die Hintertür oder den Lieferanteneingang machen – wir haben ziemlich exklusive Gäste, von denen niemand gerne in einem Hotel wohnt, in dem die Wächter ein- und austrampeln", zeterte Ischvi Wirt ungehalten mit Blick auf Rabbe, als Chiefkorporal Nachtschatten und Korporal Schraubenndrehr die "Goldene Gans" an der Kickelburststaße betraten.
Unbeeindruckt musterte Rabbe den dicken Mann zurück. Wirt war Gildensprecher (oder auch Schnabel) und ein paar Jahre älter als Brommke es gewesen war. Und aus ihrer Wanderung über die Scheibenwelt waren ihr insbesondere Wirte, die sich hochnäsig 'Hoteliers' nannten als – häufig glücklicherweise nur im übertragenen Sinne – blutsaugende, arrogante, räuberische, knauserige und betrügerische Spezies in Erinnerung geblieben. Und dieser Fettsack war da keine Ausnahme. Sollte Mina sich doch mit ihm rumplagen.
"Die Entscheidung, ob wir noch Fragen an den Zeugen eines schweren Verbrechens haben, Herr Wirt, und wie wir Kontakt zu ihm aufnehmen, können Sie getrost uns überlassen", fertigte Mina ihn verärgert von oben herum ab. "Und je länger Sie uns mit ihrer Lamentiererei aufhalten, desto länger stehen wir hier."
"Schon gut, schon gut. Worum geht es denn. Ich habe doch schon alles gesagt, was ich weiß. Ich war an der Vitrine, als der Mord geschah, und habe die Vögel beobachtet." Und auf Mina fragenden Blick fuhr er fort: "Ich freue mich da jedes Jahr drauf, wissen Sie? Ich bin ja nicht nur Geschäftsmann, ich habe auch einen Sinn für das Schöne", begann er zu schwärmen. Auf Rabbes Sympathieskala begab sich Wirt gerade mit der Pike in den Stollen und legte nochmal ein Untergeschoss nach, während er weiter über Gefieder und Gesang im leichten Licht des Mondes salbaderte.
"Und Mordgesell war bei Ihnen? Haben Sie miteinander gesprochen?"
"Ich muss gestehen, es mag ein wenig unhöflich wirken, wenn man sich dann so gar nicht mit jemandem in selben Raum unterhält, aber ich bin immer so versunken, dass ich meine Umwelt kaum wahrnehme. Und Brutus kennt mich ja auch gut genug, um mir das nachzusehen."
"Nun gut. Wir haben erfahren, dass in diesem Jahr Lady Hattie genötigt war, eine ziemliche Summe für das Fest am Seelenkuchenvorabend zuzuschießen“, wechselte Mina das Thema.
"Ach ja? Nun, da müssen sie Kropf und Flügel fragen, ich befasse mich nicht so mit den Gildenfinanzen. Nun ja, könnte es an der wirtschaftliche Lage...?" Vage brach er ab.
"A propos Finanzen. Dafür zuständig ist der Kropf – also Brutus Mordgesell – und als seine Buchprüfer Bacchus Prost und Polonius Hemden, richtig?"
Wirt stimmte ihr mit einem Nicken zu.
"Wieso Hemden? Der Mann sieht sich doch selber als Künstler und nicht als Buchhalter?"
Wirt sah die Wächterin fragend an und bemerkte dann: "Ich war ja auch erst ein wenig skeptisch, aber, nun ja, Brutus meint, Hemden sei genau der richtige Mann für diese Position, da er mit seinem künstlerischen Blick auf die Sache neue Aspekte sehen könne, die einem gewöhnlichen Buchhalter – und Prüfer entgehen könnten. Und er hat mich da völlig überzeugt."
"Und bei der diesjährigen Buchprüfung war Hemden er nicht dabei – weil?"
Verlegen blickte Ischvi Wirt auf seinen Bauch. "Ich denke, das ist eine Privatangelegenheit, die hier nichts zu suchen hat", nuschelte er verlegen.
"Privatangelegenheit!?
Privatangelegenheit!?", baute Rabbe sich vor ihm auf. "Hier ist nichts privat. Es geht um Mord. Komm uns bloß nicht auf die Tour!"
**"Ob das stimmt?" Rabbe blickte auf ihren Notizen. Mina zuckte mit den Schultern.
"Warum sollte er lügen. Allerdings, wenn das stimmt, erklärt das so einiges."
Rabbe nickte.
"Und Lawerenz hätte ein Alibi. Auf der Herrentoilette nach dem Dinner ein kleines Stelldichein mit Hemden, damit Frau Lawerenz mit der fetten Erbschaft und dem Teppichlade nichts von der Affäre ihres Mannes erfährt", fuhr sie Vampirin fort.
"Tja, Geschmackssache", entgegnete Rabbe lakonisch. "Mein Fall wären beide nicht. Lass uns das sofort klären."
**Noch bevor die beiden Wächterinnen das Teppichgeschäft "Klatschianaische Oase" am Nilpferd, dessen Geschäftsführer Amiran Enobarbus Lawerenz war und der zur Gänze Mephrodite Lawerenz gehörte, die der ausgesprochen wohlhabenden und in Grausensen hoch angesehenen Familie Hüppauf entstammte, begann es erneut zu nieseln.
"Mistwetter", grummelte Rabbe und zog den Umhang fester.
Mina seufzte nur. "Wenn der Fall gelöst ist, dann freue ich mich richtig auf eine Runde Büroarbeit im Warmen und Trockenen", merkte sie an.
Rabbe grunzte zustimmend. "Ich bin gespannt, was uns Lawerenz zu sagen hat."
"Nicht nur du."
"Um Himmels Willen – leise, leise", flehte Lawerenz, als Rabbe ihn gut gelaunt mit der Aussage von Ischvi Wirt konfrontierte. "Ich – ja, ich – was soll ich sagen?"
"Die Wahrheit. Zur Abwechslung mal."
Der Teppichhändler zuckte wieder zusammen. "Ja, gut, ich war nicht allein, auf dem Abort. Ich, äh, wir, das Essen... Ich hatte immer schon den Verdacht, dass an der Mohrrüben-und-Austern-Pastete mehr dran ist, als der schlichte Name vermuten lässt. Und der Nachtisch war angeblich auch ein Rezept aus Lancre – irgendwas mit Bananen. Es ist mir – uns – einfach zu Kopf gestiegen. Und da haben wir die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, Polli und ich. Ich meine Hemden – Polonius Hemden. Und Mephrodite ist in letzter Zeit so misstrauisch, was die Gilde angeht. Es war einfach..."
"Eine gute Gelegenheit...", ergänzte Rabbe. "Nun gut – dein Privatleben interessiert uns nicht. Aber das Herrenzimmer ist doch praktisch neben dem Abort. Da musst du doch was von dem Streit gehört haben?"
Lawerenz räusperte sich. "Äh, nein, leider nicht. Polli und ich – wir, äh..."
"Schon gut. Ihr wart lauthals beschäftigt."
**"Ist ein wenig wie Heiße Kartoffel", bemerkte Rabbe als sie aus dem Laden kamen.
"Wie bitte?"
"Na das Spiel. Heiße Kartoffel. Man wirft eine heiße Kartoffel im Kreis umher und wer sie fallen lässt, gibt ein Pfand. Also muss man sie so schnell wie möglich weiterwerfen, bevor man sich verbrennt. Schmiede spielen das manchmal mit Kohlen."
"Ja und?"
"Ist bei Ermittlungen genauso. Kaum kratzt man an der Oberfläche und fördert was Unangenehmes zu Tage, schon kriegt man eine Info, die man gegen jemand anderen verwenden kann – so nach dem Motto: Schau nicht bei mir nach, schau bei dem nach. Der nächste, der dann die heiße Kartoffel hat."
Und als Mina nicht reagierte fuhr sie fort: "Ischvi erzählt uns, was Lawerenz und Hemden getan haben. Lawerenz sagt uns dafür, dass der Bürzel eigentlich aufs Klo wollte, aber weil da besetzt war, er seine Pilze letztendlich in der Halle eingeworfen hat. Deswegen hat er sich vermutlich weggeduckt, als die Dienerin mit der Kohlenfuhre da durchgelatscht ist. Jetzt hat der die heiße Kartoffel und versorgt uns, als wir ihn damit konfrontieren, dass er gehört hat, dass Mordgesell nicht nur in finanziellen Schwierigkeiten steckt sondern darüber hinaus auch Schulden bei Chrysoppras haben soll."
"Hm. So hab ich das noch nie gesehen – aber an der Sache mit der Heißen Kartoffel, da ist was dran. Aber da Brommkes weltliche Habe an einen Neffen aus Bums geht, der mit der ganzen Gildensache nichts zu tun hat, ist die Kartoffel mittlerweile kalt."
**"Trotzdem bin ich nicht der Ansicht, dass meine Geschäfte Sie irgendetwas angeht. Wenn ich aus der Küche von Lady Hattie etwas kaufe, dann ist das meine Angelegenheit. Und was ich mit der Ware anfange, ist auch meine Angelegenheit." Metzger Abbelhabbel verschränkte seine Arme vor der Brust und fuhr fort: "Und wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt – es gibt hier auch Leute, die arbeiten müssen."
"Wenn wir für jeden Tipp, was uns was angeht einen Dollar bekämen,
dann müssten wir nicht mehr arbeiten. Ansonsten: Was uns etwas angeht und was nicht, hast du nicht zu entscheiden. Du machst mit Hilfe der Gilde krumme Geschäfte – wer weiß, was du sonst noch so treibst."
"Was ich sonst noch so treibe?" Abbelhabbel, der den rosigen Teint aller Metzger hatte chargierte ins Puterrote, als er noch lauter: "Was ich sonst noch so treibe!", wiederholte. "Ich treibe da gar nichts. Wenn da jemand was treibt, dann ja wohl dieser 'Künstler' und dieser schmierige Teppichhändler."
"Ja, ja, schon gut. Aber die beiden haben ein Alibi."
"Genau wie ich. Frag den Koch."
"Apropos fragen", mischte sich nun Mina ein, der der Geruch in der Metzgerei gehörig auf die Laune schlug. "Was meinst du: Warum war die jährliche Spendensammelei dieses Jahr nicht so erfolgreich wie sonst?"
"Blödsinn"
"Kein Blödsinn. Die Tachyerii hat über die Hälfte für die Kosten der Feier in Grausensen dieses Jahr zugeschustert. Ihre Aussage“, schnauzte Rabbe zurück
"Kann nicht sein. Bei den Händlern hier weiß ich, dass sie jedes Jahr dieselbe Summe geben. Wenn es euch was nützt: ich könnte ja mal fragen: heute ist die jährliche Vorstandsitzung des Verein der Gewerbetreibenden von Grausensen."
"Tu das."
**Nachdenklich beugte Rabbe sich über die auslegenden Zettel auf Minas Schreibtisch.
"Wir übersehen was. Irgendwas."
"Zumindest können wir Lawerenz und Hemden rauslegen", entgegnete die Vampirin und schob die beiden Zettel mit den Namen nach rechts. "Ihr lauschiges Tête-à-Tête bestätigen sie sich gegenseitig. Und natürlich Bürzel, der seine Drogen diesmal wo anders konsumieren musste."
"Ich wette, Brommke hatte einen Zeugen hinter der Gardine."
Mina nickte.
"Und wer immer das war – er ergreift die Gelegenheit und bringt Brommke um. Nachdem er ihm die ganze Sache eingeredet hat."
Wieder ein Nicken: "Dafür kommt nur eine Person in Frage. Mit Motiv."
"Jepp. Aber er hat ein Alibi..." Rabbe stutzte. "Nein", triumphierend hämmerte Rabbes Finger auf die Karte mit dem Namen. "Hat er nicht. Er hat ihn und uns geschickt manipuliert."
**"Da ist noch ein winziges Detail in Ihrer Aussage, dass uns stutzig macht", begann Mina das Gespräch. "Sie haben uns die ganze Zeit über erzählt, dass sie Ischvi Wirt an der Voliere gesehen haben – aber das ist nicht möglich. Denn Sie haben die ganze Zeit hinter der Gardine im Herrenzimmer gestanden."
"Zimtbomben sind eine zweischneidige Sache", warf Rabbe ein.
"Und wenn schon – als Beweismittel vor Gericht sind die Aussagen von Werwölfen nichtzugelassen. Ein olfaktorisches Gutachten ist ohne Bedeutung."
"Wieso Gericht? Wenn die Gilde mit dir fertig ist, braucht es kein Gericht mehr." Rabbe konterte den Einwand des Anwalts gelassen.
"Du warst nicht so schlau, wie du gedacht hast, Herr Anwalt. Hast genug Spuren hinterlassen. Du hast zwar die Gelder bei der Sammlung unterschlagen und auch die Bücher so manipuliert, dass die Summen nicht auftauchen. Und deine beiden Flügel hast du gut gewählt. Prost lebt in der Nähe vom Platz der Gebrochenen Monde, wo er auch arbeitet – der bekommt gar nicht mit, welcher Händler in Grausensen wie viel spendet. Und mit "Ich bin mehr der Künstler"-Hemden als zweiten Prüfer hast du dafür gesorgt, dass du auch von dort nichts befürchten musst. Aber die Geschäftsleute ihrerseits führen auch Buch. Wir wissen nun, wonach wir suchen müssen und glaub mir – die Gilde der Buchhalter, Buchprüfer und vereidigten Bilanzbuchhalter findet sowas", sie schnippte mit den Fingern, "im Handumdrehen. Und mit denen würde ich mich nicht anlegen. Die haben – anders als dein komischer Verein – das vom Patrizier verbriefte
den Gilden der Stadt Ankh-Morpork eigentümliche Recht der freien Jurisdiktion und Judikative nie aufgegeben. Das was du da gemacht hast nennt sich illegale doppelte Bilanzfälschung. Und wenn ich mich richtig erinnere, dann ahndet die Buchprüfergilde das mit einem vierwöchigen Badeurlaub im Ankh, ersatzweise auch mit einer Stelle als Ausbildungsgehilfe bei der Assassinengilde im Fachbereich Gift. Deine Entscheidung."
"Dir steht das Wasser bis zum Hals, nicht wahr?" Minas freundliche und sanfte Stimme ließ Mordgesell hoffnungsfroh aufschauen. "Die Kanzelei wirft nicht so viel ab. Du hast dir von schon mehrfach Geld geliehen, zuletzt von Chrysopras. Allmählich musste ein besserer Plan her: Unterschlagung. Und die Gelegenheit ist günstig. Deine Flügel sind leicht zu übertölpeln. Bei der jährlichen Sammlung zweigst du genug ab, um aus dem Schlamassel zu kommen. Und um zu verhindern, dass die Betriebsnudel Brommke was bei der jährlichen Versammlung der Geschäftsleute von Grausensen aufschnappt, beschließt du, ihn vorher aus dem Weg zu schaffen. Dein Alibi wird Ischvi Wirt dir liefern - wenn du ihm sagt, dass du ihn gesehen hast, wird er natürlich nicht zugeben wollen, dass das er dich nicht bemerkt hat. Er will ja nicht unhöflich sein. Und natürlich hoffst du, dass bei dem auf seinen Tod folgenden Durcheinander niemand einen genauen Blick auf die Bücher wirft. Und in diesem falschen Santeria siehst du einen geeigneten Verdächtigen. Also bringst du deinen besten Freund auf die Spur und wartest auf deinen Chance..."
Mordgesell senkte zustimmend den Kopf. "Wer konnte denn ahnen, dass das einer von euch ist... Dann hätte ich niemals..."
"Tja, du bist wohl doch nicht ganz so clever wie gedacht. Weder als Anwalt noch als Mörder", zerstörte Rabbe die harmonische Stimmung. "Wenn die Bilanzbuchhalter dich erst an den... Ich meine: Wenn sie dich erst in der Hand haben, dann ist es zu spät. Besser du gibst auf."
**Zwei Männer standen an einem Fenster und schauten in die verregnete Nacht auf das in die Dunkelheit ragende Opernhaus, wo zwei Gestalten in Umhängen gerade aus dem Blick verschwanden.
"Ein gutes Team. Ich hätte nicht darauf gewettet, dass es funktioniert"
"Sagt das der Kommandeur oder der Püschologe?"
"Fragt das der Püschologe oder der Abteilungsleiter?"
Sie hoben stumm die Gläser der Dunkelheit entgegen.
[1] Multi: Folge dem weißen Kaninchen[2] die Anzahl der übriggebliebenen Leichen in der Pathologie hatte beängstigende Ausmaße angenommen, und die RAR-Methode von Huitzli (
Rein-
Alles-
Rein – was nichts anderes hieß, als das die Obduzierten, für deren Begräbnisse kein Angehöriger aufkommen wollte, in denjenigen verschwanden, die Verwandte hatten) war ebenso gescheiterte, wie der Versuch die – im wahrsten Sinne des Wortes – fleischlichen Überreste in der Kantine verschwinden zu lassen
[3] Coop: Fett aber glücklichFür die Inhalte dieses Textes ist/sind alleine der/die Autor/en verantwortlich. Webmaster
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